Klaus-Rainer Martin
Immer wenn ich musiziere, denke ich an Kurt
- Kurzgeschichte
- Deutsch
- 1073 Wörter
- Keine Altersempfehlung
- 207
- 15
Mein Cousin Kurt musste 1943 nach Abschluss seiner Lehre als Maschinenschlosser als Achtzehnjähriger in den Krieg. Im Februar
1945 erlitt er eine schwere Verwundung. Eine Granate hatte ihm sein Gesicht völlig zerfetzt. Dabei hat er auch sein Augenlicht verloren. Seine Mutter konnte es nach wenigen Wochen nicht mehr ertragen. Sie bat ihre Schwägerin, meine Mutter, um Hilfe. Meine Mutter hatte Erfahrung im Umgang mit menschlichem Leid. So zog Kurt bei uns ein.
Ein schwer kriegsbeschädigter Musiklehrer bot Kurt an, ihm das Gitarrespiel beizubringen. Ich wurde als Siebenjähriger dazu verpflichtet, dreimal in der Woche vormittags Kurt zu diesem Musiklehrer zu führen, die Unterrichtsstunde da zu bleiben und ihn nach dem Gitarrenunterricht wieder nach Hause zu begleiten.
Und an jedem Nachmittag musste ich Kurt in den Wald begleiten. Wir setzten uns stets unter einen Baum, und Kurt hörte auf jedes Geräusch. Wenn ein Vogel hoch oben im Baum sang, musste ich beschreiben, wie der Vogel aussah, und Kurt riet anhand des Gesangs und meiner Beschreibung, um was für einen Vogel es sich handelte. – So verging der Sommer 1945 und Kurt begann, sich allmählich mit seinem Schicksal abzufinden.
Dann kam das erste Weihnachtsfest nach dem Krieg. Dennoch war es ein beklemmendes Weihnachtsfest. Kurt hatte mir aus Dankbarkeit dafür, dass ich ihn regelmäßig zum Musiklehrer und in den Wald begleitete, eine Blockflöte und ein Jahr Flötenunterricht bei jenem Musiklehrer geschenkt, den ich schon kannte. Nun ging ich regelmäßig zum Musikunterricht. Dort lernte ich nicht nur Blockflöte spielen, sondern auch Noten lesen. Und zu Hause musste ich Kurt jeden Tag auf der Blockflöte vorspielen, was ich gelernt hatte.
Mich begleitet seitdem die Musik. In den folgenden Jahren erlernte ich mehrere Instrumente. Diese Nähe zur Musik wäre bei mir nie entstanden, wenn mir Kurt nicht zu Weihnachten 1945 eine Blockflöte geschenkt hätte.
Diese Kurzgeschichte erreichte beim 63. Dear Diary-Wettbewerb der Gruppe "Biopgraphisches" im April 2016 den 2. Platz. [mehr][weniger]
Stichwörter: Blockflöte, blind, Blindenschrift, Musiklehrer, zweiter Weltkrieg, Kapitulation, Verwundung
Kostenlos