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Vorwort

 

Nebelspiele

Die richtige Verpackung macht vieles möglich, aber nicht alles ...

 

Mein Beitrag zum 62. BX-Schreib-Wettbewerb im Juni 2023 in der Gruppe:  Gemeinsam

 

 

Diese Kurzgeschichte gehört zu einer Reihe von Kurzgeschichten, von denen einige jugendfrei sind und andere nicht. Alle Kurzgeschichten gehören zu einem Projekt mit dem Namen "Schattenglut". Diese Kurzgeschichte kann auch als eigenständige Kurzgeschichte unabhängig von den anderen Büchern der Reihe gelesen werden und fließt in mein Projekt "Himmelfahrt- Das Buch" ein, in dem ich neue Kurzgeschichten sukzessive als Kapitel für mein erstes großes Werk einpflege.

Frühstück

„Marvin! Leg jetzt endlich dein Handy weg, sonst kommst du noch zu spät zur Schule", sagte meine Mutter strenger als notwendig zu mir, weil es ihr überhaupt nicht gefiel, wenn ihr zehnjähriger Sohn mit, aus ihrer Sicht blutrünstigen Spielen auf dem Smartphone oder mit dem iPad herum zockte.
„Papa hat gesagt, dass ich darf und außerdem hat er noch gesagt, dass er richtig stolz auf mich ist, dass ich das schon so gut kann“, maulte ich zurück und zockte schmollend weiter.
Immer nörgelt sie an mir herum, dachte ich …, dabei komme ich in der Schule besser als alle anderen klar und kann als Einziger in unserer Klasse auch schon ganz gut Englisch. Und warum? Nur weil ich so begeistert mit "A blind Legend", das es nur mit englischer Sprachausgabe gibt, zocke … Sie könnte mich ja so wie Papa einfach mal dafür loben, dass ich mit meinen zehn Jahren als Viertklässler schon voll gut auf unserem iPad alle möglichen Sachen machen kann.
„Das wäre das erste Mal, dass ich zu spät komme, Mama …, ich hab noch mehr als genug Zeit“, brummte ich ihr hinterher, während ich mich an den Geräuschen orientierte, die mir über die In-Ears in meinen Ohren ein Bild des Geschehens vermittelten. Das Spiel, in dem ich als Ritter Edward Blake meine entführte Frau retten musste, war gerade ungeheuer spannend, weil ich auf dem Weg zu einer Höhle mit meinem Schild, das ich mit Gesten auf dem Screen des Tablets steuern konnte, dauernd irgendwelche fiesen Pfeile meiner Gegner abwehren musste.
„Du würdest besser lesen üben, Marvin“, sagte meine Mutter und ermahnte mich nicht zu vergessen, dass ich, bevor ich das Haus verlasse, noch mein Frühstücksgeschirr in den Geschirrspüler räumen sollte.
„Ich kann besser als alle anderen in meiner Klasse lesen …“, blaffte ich zurück und zockte weiter.
„Da bin ich auch froh, aber du weißt genau, dass wir uns jeden Tag aufs Neue beweisen müssen, wenn wir den Anschluss nicht verlieren und weiter ernst genommen werden wollen“, nervte sie mich in einem fort.
„Der Blake ist auch blind, Mama! … und Papa sagt mit Recht, dass es die Verpackung macht. Ohne das Zocken hätte sich mein Englisch nie so gut entwickelt", sagte ich in der Hoffnung sie mit diesem Argument zur Ruhe zu bringen.
„So ein Blödsinn … als ob Computerspiele gute Bücher ersetzten könnten“, entgegnete sie mir und drängte weiter darauf, dass ich mich sofort für die Schule fertig machte.
„Hast du dein Schulbrot eingepackt, Marvin?“, rief mir meine Mutter gerade noch nach, als ich schon meine Jacke anhatte und im Türrahmen stehend nach meinem Blindenstock griff, der dort immer neben dem meiner Mutter in der gleichen Ecke lehnte.
„Ja hab ich, … die neue Plastikverpackung, diese Brotbox zum Aufklappen ist viel besser als das Papier, das wir bis vor kurzem nahmen“, sagte ich und fügte hinzu … „Jetzt verschmiert nichts mehr.“
„Die wiederverwedbare Verpackung ist unser Beitrag zum Klimaschutz", rief sie mir nach und ich freute mich auf das Weiterzocken im Schulbus. An der Haltestelle zog meine Jeansjacke, die ich über einem T-Shirt trug, aus und stopfte sie in den Rucksack, aus welchem ich vorher den wohlig weichen Samtpullover herausgenommen hatte, der mir viel besser gefiel und streifte ihn mir über. Die Verpackung, in die mich meine Mutter gesteckt hatte, passte mir schon lange nicht mehr und sie passte auch noch nie zu mir.

Vorlesung

„Ich begrüße sie zu ihrer letzten Vorlesung in angewandter Psychologie vor dem Start in die Praxis."
„In ihr Referendariat!", sagte der Professor und legte eine erste rhetorische Kunstpause ein.
Der Blick, des in Fachkreisen bekannten Verhaltenstherapeuten streifte mit wachem Flackern in seinen Augen über die Schar der Studierenden des Audimax. Er ließ ihn geduldig und fast theatralisch über die Köpfe schweifen. Bei Axel, unserem Rollifahrer, verharrte er kurz bevor er fortfuhr.
„Stellen sie sich doch einmal eine vierte Klasse vor, in der nach den Pfingstferien eine neue Schülerin zur Klassengemeinschaft hinzukommen soll und sie die Klassenlehrerin als Bildungsbegleitende unterstützen sollen“, sagte er, räusperte sich und wartete auf erste Äußerungen aus dem Plenum.
„Ja bitte …“, wandte er sich Maya zu, die sich zur ersten Wortmeldung getraut hatte und nickte aufmunternd.
„Als Sonderpädagogin würde ich ein Assessment außerhalb des Klassenverbandes vorschlagen, um den erforderlichen Förderbedarf zu ermitteln“, Herr Professor.
„Ahh, schon weitere Wortmeldungen …, sehr schön, … bitte direkt dazu!“, bemerkte die Koryphäe, die bei den meisten Studierenden beliebt war, aber von wenigen für den Stil aus der Modeautorenrolle heraus zu dozieren gefürchtet wurde.
„Eigentlich wollte ich ja den Einsatz neuer Medien ansprechen“, sagte die Kommilitonin von Maya, deren Zungenpiercing beim Sprechen immer markant an ihren Schneidezähnen klirrte. Dass der Ring, den die immer schwarz gekleidete Selbstbewusste durch ihre durchstoßene Zungenspitze trug, sie zum Lispeln zwang, schien sie kein bisschen zu stören. Weil sie sich so gab, wie sie sich gefiel, war eher das Gegenteil der Fall. Als bekennende Individualistin hatte sie auch keine Hemmungen, damit anders als andere zu reden und nach Wortmeldungen ihren teilweise unorthodoxen Gedanken voller Genuss freien Lauf zu lassen, was sie dann auch prompt tat.
„Computerspiele kommen in dem Alter besonders gut an und können dabei helfen, Berührungsängste abzubauen sowie Barrieren zu überwinden. Direkt zu Mayas Beitrag hätte ich als Alternativvorschlag noch die Variante ein Assessment, wenn überhaupt, dann aber nur im Klassenverband in Form von gemeinsamen Spielen stattfinden zu lassen. Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Einzelassessments fossile Überbleibsel längst überholter pädagogischer Erkenntnisse sind. Aus dem Kontext gerissene Arbeitsproben spiegeln leider nur momentane Fähigkeiten wider und lassen zu wenig Raum für soziale Aspekte."
„Eine Präferenz für einen gruppendynamischen Handlungsansatz“, kommentierte der Professor und nickte der Studierenden, mit der hexenhaften Ausstrahlung, wohlwollend zu.
„Nun wollen wir das Szenario noch etwas konkretisierend erweitern, meine Damen und Herren und danach sind sie alle dran. Gehen Sie doch bitte ab jetzt davon aus, dass die Klasse schon Erfahrung mit in frühen allgemeinbildenden Schulen zeitgemäß umgesetzter Inklusion hat, weil dort in der ersten Klasse bereits ein blinder Mitschüler in die Klassengemeinschaft mit eingeschult wurde."

„Ja! … sie bitte!", sagte er begleitet von einer einladenden Handbewegung und nickte lächelnd einer anderen Studierenden zu.
„Vielleicht könnte der Lehrstoff für die erste Stunde nach Pfingsten barrierefrei und motivierend so verpacken werden, dass die ganze Klasse die Chance bekommt, ihre Grüppchen selbst neu zu ordnen“, sagte Mia. „Das würde es der neuen Schülerin möglicherweise einfacher machen, eigeninitiativ Anschluss an ihre neue Klassengemeinschaft zu finden.“
„Na prima, dann bilden sie doch einfach spontan acht Grüppchen und bereiten sie bis 11:30, acht Impulsreferate, für unser Plenum vor.“
Noch während der Professor sprach, griff er zu seinem Tablet und entwarf mit dem Beamer stichwortartig acht verschiedene Ausgangssituationen auf der Leinwand.

- Die neue Schülerin hat einen Chromosom 21 Defekt

- Die neue Schülerin ist nach einem Sportunfall
in den fünf Monate zurückliegenden
Weihnachtsferien Rollstuhlfahrerin

- Die neue Schülerin ist seit ihrer Geburt gehörlos

- Die neue Schülerin ist bedingt durch einen Reitunfall
seit einem Jahr gehörlos

- Die neue Schülerin hat Retinis Pigmentosa, ist schon
stark sehbehindert und weiß, dass sie bald
ganz erblinden wird

- Die neue Schülerin kommt aus dem Donbas
und hat mit acht Jahren bei einem Bombenangriff
auf ihre Schule ein Bein verloren

- Die neue Schülerin hat Diabetis und muss
mit Insulin gespritzt werden

- Die neue Schülerin hat ADHS

„Das haben sie zusammen recht ordentlich durchdrungen und auch gut aufbereitet vorgetragen, Kompliment!“, lobte der Professor nach dem Vortrag des letzten Impulsreferates. „Inklusion ist ein Thema, mit dem sich gerade erfahrene Lehrkräfte immer noch sehr schwertun, aber genau das ist für sie, als unser sonderpädagogischer Berufsnachwuchs, auch eine große Chance“, ergänzte er. Ein schneller Blick auf seine klotzige Rolex, erinnerte ihn daran, dass sich seine Studierenden wohl schon recht hungrig auf das Essen in der Mensa freuten.
„Gibt es denn noch Fragen?“, wandte er sich zum Abschluss noch einmal an das Plenum.
„ … bitte!"

„Ist es wirklich so, dass Geburtstaube, die gut sehen können, das, was wir ihnen vermitteln wollen, nicht lesen können? Selbst dann nicht, wenn wir ihnen den Lernstoff gut aufschreiben?", fragte Lina, die, nachdem sie ein behindertes Kind bekommen hatte, nach ihrem ersten Studienabschluss, einem naturwissenschaftlichen Studium, erst vor Kurzem in die Fakultät Sonderpädagogik übergewechselt war.
„Ja natürlich, deshalb habe ich diesen Aspekt ja in ihre Arbeitsaufträge gepackt. Eine wirklich gute Frage, zum Abschluss, Frau …?", lobte der Professor.

„Weber, Herr Professor, Lina Weber“, sagte die Studierende, während der Lehrstuhlinhaber ihre Mitstudierenden zu weiteren Erklärungen zu dem Thema ihrer Frage motivierte. Die Studierenden unterhielten sich danach noch über die Irreversibilität von Sinnen, die im Gehirn wegen fehlender Reize in der sensiblen Phase immer wieder entwicklungsbedingt abhandenkommen.

„Ah, deshalb auch die Cochlea-Implantate bei Babys“, staunte Lina Weber. Dass die sensible Phase dafür ursächlich ist, dass Geburtstaube in den meisten Fällen nur minimale Lesekompetenz erlangen können und aus dem gleichen Grund Farben für alle von Geburt an Blinde nur als auswendig gelernte Vokabeln existieren, war ihr neu.

„Zum Abschluss wünsche ich ihnen allen ein spannendes und ausgefülltes Berufsleben als Pädagogen, das sie hoffentlich immer mit viel Freude an ihrer Berufung erleben“, begann er dann mit dem Abspann.

„In der Lehre können wir sie, was die Theorie angeht, nur auf die Vielfälligkeit, die das Leben bietet, vorbereiten. Aber auch wenn die Motorik nur eingeschränkt funktioniert, einzelne Sinne fehlen, oder verloren gingen, wissen die meisten Betroffenen selbst am besten, wie sie ihnen effektiv helfen können. Scheuen sie sich nicht davor, auch Kinder mit geistigen Beeinträchtigungen in den Klassenverband zu integrieren und die Gesamtheit ihrer Schüler im Umgang miteinander in Toleranz und Respekt zu fördern. Wir Pädagogen sollten uns als Verpackungskünstler verstehen, die die Kunst beherrschen, nicht nur den Lehrstoff zielgruppengerecht zu verpacken. Es kommt eigentlich nur darauf an, alles was wichtig ist so zu verpacken, dass Wesentliches für alle Lernende an Schulen ähnlich gut und intensiv wahrnehmbar ist, Interesse weckt und mit Spannung genussvoll aufgenommen werden will. Lassen sie sich einfach darauf ein und gehen sie respektvoll mit der kulturellen Vielfalt um, die wir in Deutschland als Willkommenskultur sozial und politisch pflegen dürfen. Gehen sie mit diesem Pfund unserer Gesellschaft stets engagiert und verantwortungsvoll um. Wenn sie das so tun, erleben sie jeden Schultag wie einen Urlaubstag in der weiten Welt. Die Inklusion ist eine Art Kulturgut unserer Gesellschaft. In diesem Sinne wünsche ich ihnen allen viel Erfolg bei ihrem ersten Staatsexamen", sagte der Professor und schloss die Vorlesung mit einem ernstgemeinten Appell an seine Studierenden ab.

Deutschstunde

„Guten Morgen, ihr Lieben“, sagte Frau Schulze, die Deutschlehrerin, die, wie ich aus dem Raunen der Klasse heraushören konnte, mit einem recht großen, aber schüchtern wirkenden Mädchen an ihrer Hand unser Klassenzimmer betreten hatte. Matze, der schon zwölf Jahre alt und auch schon einmal sitzengeblieben war, prahlte immer gern vorlaut herum, um sich so bei Sonja, seiner Banknachbarin einzuschmeicheln. Seit er mitbekommen hatte, dass ich als Mädchen, das sich im Körper eines Jungen total falsch verpackt fühlte, etwas anders als die anderen war, ließ er keine Gelegenheit mehr aus, um gegen mich zu stänkern. Aber als Informationsquelle für Dinge, die sich im Raum abspielten, leistete er mir hin und wieder ganz gute Dienste. Dass er mit Sonja, die ein verwöhntes, selbstverliebtes Püppchen war, über die langen schwarzen Haare der Neuen und darüber, dass sie auch schon richtige Möpse hätte, tuschelte, fand ich widerlich. Möpse klang so respektlos wie der ganze Kerl, das passte zu ihm. Aber, dass die Neue schöne lange Haare zu haben schien, gefiel mir und ich war froh es auch mitbekommen zu haben. Auch, dass Frau Schulze heute etwas Besonderes mit uns vorhatte, wusste ich schon bevor das erste Wort von ihr gefallen war. Das hörte ich daran, wie das Abstellen der vollgepackten großen Einkaufstasche klang, die sie wohl am langen Arm, mit ihrer anderen Hand zu uns hereingetragen hatte.

„Das ist Mila, sie wird bis zu den Sommerferien, nach denen ihr alle in neue weiterführende Schulen kommt, zu uns gehören“, sagte Frau Schulze. Zeitgleich forderte sie Mila, der sie ihren Platz auf dem Stuhl hinter dem Lehrerpult zugewiesen hatte, dazu auf, sich zu setzten und sich ihrer neuen Klassengemeinschaft selbst kurz vorzustellen.

„Hallo, … ja, hmm …, also ich bin die Mila. Meine Familie und ich kommen eigentlich aus Albanien, aber ich bin fast ganz hier aufgewachsen", sagte die Neue mit zittriger Stimme, die ihre Unsicherheit für alle sofort erkennen ließ.

„Noch 'ne Blindschleiche, aber wenigstens mal 'ne richtig Hübsche und nicht so’n Zwitter wie der Marvin“, raunte Matze seiner Banknachbarin gerade so halblaut in deren Ohr, dass nur Frau Schulze und vielleicht auch Mila nicht verstehen konnten, was ihm gerade wieder Fieses eingefallen war. Frau Schulze räumte indes ihre Tasche aus und verteilte, ohne sich in das Gespräch einzumischen, eine Menge Dinge, die sie aus ihrer Tasche hervorbrachte, auf dem leeren Pult vor Mila.

„Schön, dass du zu uns kommst, Mila. Ich heiße Mara und wurde schon bevor ich denken lernte vollblind. Aber seit heute bin ich wohl nicht mehr alleine unter den anderen Sehenden hier. Gemeinsamkeiten verbinden vielleicht, oder? Das könnte sogar der Anfang einer neuen Freundschaft werden und … wir könnten, wenn du magst auch zusammen lernen.

Kannst du Braille?", fragte ich sie nach meiner Gesprächseröffnung, die mehr als Ablenkungsmanöver gedacht war und ignorierte Matze so wie immer, wenn er mal wieder aus der Rolle gefallen war.

„Klar kann ich Braille, aber ich kann auch noch bisschen was sehen“, antwortete Mila schon lockerer und zeigte sich froh darüber, dass ihr eine Mitschülerin als goldene Brücke den Ansatz zu einem Dialog ermöglicht hatte.
„Danke Marvin und Mila, sagte Frau Schulze. „Hier vorne seht ihr eine Menge Sachen, die ich euch heute mitgebracht habe. Aber bevor wir uns darüber unterhalten, warum die hier liegen, solltet ihr sie erstmal benennen, dass Marvin sich auch ein Bild davon machen kann. Mila, schau dir gern auch mit an, was alles vor dir liegt, du darfst dich gleich beteiligen und das Gespräch mit deinen Beobachtungen bereichern", sagte Frau Schulze und motivierte den Rest ihrer Klasse so auf besonders herzliche Art geschickt dazu, sich auch mit einzubringen.
„Eine Schere“, sagte Mila sofort, nach dem sie den ersten Gegenstand, den sie kannte, ganz schnell vor sich auf dem Tisch entdeckt hatte. Danach ging blitzschnell alles wild durcheinander.
Prittstift, Tacker, Pappe, Knete, Bindfaden, … und vieles mehr, hallten die von der Klasse heraus gehauenen Worte durch das Klassenzimmer.
„Hey, hey, ist ja gut, ich glaube, das reicht schon und Marvin kann sich die Sachen hier vorne auch gleich noch selbst genauer mit ansehen. Aber bevor hier jetzt gleich alle durcheinanderlaufen, möchte ich mit euch noch klären, warum ich das alles mitgebracht habe und was ihr denkt, was ihr damit zusammen machen sollt?", sagte die Deutschlehrerin und brachte so wieder etwas Ruhe in die Klasse.
„Bastelstunde“, brummte Matze gelangweilt. „Sind wir jetzt wieder im Kindergarten, oder was?“ Sonja giggelte dazu kurz schrill und affektiert. Einen Augenblick später verlor dann aber, gleich als sie feststellte, dass weder Frau Schulze noch irgendjemand sonst aus der Klasse auf den destruktiven Zwischenruf reagierten, vor sich hin schmollend schnell den spärlichen Rest ihrer eh seltenen guten Laune.
„Etwas verpacken?“, fragte ein Junge, dem das Lernen nie leicht fiel, vorsichtig.
„Ja, genau“, piepste die mollige Laura, die nach mir die zweite Klassenbeste war und wegen ihrer Rundungen auch häufig von Matze und den anderen angehenden Proleten, die sich gern um ihn und die zickige Sonja scharten, angepöbelt wurde. „Bestimmt sollen wir uns etwas einfallen lassen um für Mila Willkommensgeschenke zu basteln und wenn wir damit fertig sind können wir sie, bevor wir sie ihr schenken sogar noch schön verpacken.“
„Das ging ja schnell und genau das dürft ihr jetzt gleich zusammen machen, wobei ihr nur Sachen machen dürft, die nützlich sind oder jemandem besondere Freuden bereiten. Dafür habt ihr dann jetzt bis um 9:00 Uhr gar nicht mehr so viel Zeit und vergesst nicht, dass ihr, wie Laura richtig bemerkt hat, auch noch eine schöne Verpackung für euer Geschenk braucht", sagte Frau Schulze mit einem Lächeln und wollte der Meute gerade schon grünes Licht zur Selbstverwirklichung geben.

„Frau Schulze, eine Frage noch …“, meldete sich Matti, der zu den fitteren Jungs gehörte und auch zu mir gelegentlich ganz nett war. Aber auch Matti, konnte mit mir nicht viel anfangen und ich mit ihm auch nicht, weil Mädchen in meinem Alter eher beste Freundinnen haben, anstatt sich mit einem der langweiligen Jungs einzulassen.
Eine beste Freundin, eine zum Pferde stehlen und zocken, dachte ich, das wärs. Aber meine Spiele könnte hier auch dann, wenn ich keine Außenseiterrolle hätte, gar niemand von denen mit mir spielen. Sie können nämlich alle nicht richtig hinhören und würden als Drake schon im ersten Level meines tollen Spiels im Hagel der gegnerischen Pfeile allesamt hilflos sterben. Aber Mila, die kann es bestimmt …

„Ja, Matti?“, hörte ich Frau Schulze den Jungen, der sich noch mit einer Frage gemeldet hatte aufrufen.

„Dürfen wir auch etwas zusammen manchen, also ein richtig großes Geschenk von mehreren von uns?"

„Klar, Matti, Gruppenarbeiten sind natürlich auch erlaubt. Und jetzt noch kurz Marvin, der sich gerade auch nocheinmal gemeldet hat und danach dürft ihr anfangen“, sagte Frau Schulze.

"Mir ist da gerade etwas sehr Nützliches für Mila eingefallen, das ich ihr sehr gerne schenken würde, aber es ist schon fertig. Die Verpackung, die ich dafür brauche, ist aber etwas aufwändig. Geht das auch?", fragte ich.

„Klar, Marvin, wenn die Verpackung so viel Zeit in Anspruch nimmt, wie du sagst, geht das auch, nur faul herumhängen, das geht gar nicht. Aber jetzt an die Arbeit, eure Zeit läuft", sagte Frau Schulze und zog sich in den hinten Teil unseres Klassenzimmers zurück. In Windeseile zog ich meinen großen Braillerahmen aus meiner Tasche, spannte einen Bogen Schreibkarton ein und fing, während ich dem Gemurmel aus Mattis Ecke entnahm, dass der größte Teil der Klasse dabei war, für Mila ein taktiles "Schiffe versenken" zu bastelten, sofort zu schreiben an. Als ich kurz darauf vernahm, dass Matze und Sonja sich der Knete angenommen hatten, schwante mir schon nichts Gutes, aber das war mir egal.

„Kannst du uns auch was für Mila schreiben, Marvin?“, hörte ich Laura, die sich bei mir angeschlichen hatte, kurz darauf in mein Ohr flüstern. „Wir brauchen für unser Spiel ein paar Beschriftungen von dir.“

„Tut mir leid, ich hab keine Zeit, aber frag doch Mila, die kann das so gut wie ich“, bat ich sie um Verständnis für meine Absage.

„Aber, es soll doch eine Überraschung werden“, piepste Laura enttäuscht.

„Fragt sie trotzdem und sagt ihr einfach, was ihr von uns für euer Spiel braucht“, gab ich grinsend zurück. „Schiffe versenken ist doch kein Geheimnis.“

„Du weißt es schon?“, sagte Laura total perplex.

„Klar, und wenn ich gehört habe, was ihr vorhabt, ist es Mila bestimmt auch nicht entgangen“, sagte ich, und grinste Laura entwaffnend an.

Nur Sekunden später stob Frau Schulze wutschnaubend wie ein geölter Blitz durch das Klassenzimmer, entriss Matze die Knete, ballte sie zusammen und warf sie Sonja mit einem dumpfen Geräusch dicht vor deren Füße auf den Fußboden. Laut schimpfend schleifte sie die beiden aus dem Raum, warf krachend die Zimmertür hinter sich und den beiden Übeltätern ins Schloss und ließ uns mit Mila ohne ein erklärendes Wort allein im Klassenzimmer zurück.

„Was ist denn los?“, fragte Mila, die der plötzliche Tumult zu Tode erschreckt hatte.

„Ach nichts“, sagte Matti. „Aber wir brauchen hier unbedingt Deine Hilfe, Mila. Darf dich Laura holen kommen?“

 

 

 

Pause

„Kommt ihr nicht mit raus?", fragte ich, nachdem ich nach dem Läuten der Pausenglocke mit meinem Stock an Mattis Tisch angekommen war. Inzwischen war dort der Rest unserer Klasse mit Mila mit der Beschriftung des schachbrettähnlichen Spielfelds beschäftigt und zum Glück waren sie auch noch nicht fertig. Gleich darauf hörte ich das Rücken von Stühlen und das Rascheln von Jacken und bemerkte, dass Mila mit Lauras Arm schon so gut wie ich mit meinem Stock versorgt war. Unauffällig hielt ich mich im Hintergrund und ließ ich alle bis auf Matti ohne Aufsehen zu erregen vorausgehen, aber Matti hielt ich dezent zurück.
„Haben Sonja und Matze etwa das geknetet, was ich vermute? Einen Pimmel?“, fragte ich ihn so leise, dass es außer Matti niemand hören konnte.
„Dir entgeht wirklich nichts …“, gluckste Matti, der sich offensichtlich fremdschämte.
„Weiß es Mila auch schon?“, bohrte ich nach.
„Von mir wird sie es bestimmt nicht erfahren“, brummte er gequält. „Was schreibst du ihr eigentlich?“
„Eine Spielanleitung für 'A blind Legend'“, sagte ich beiläufig und ergänzte: „Wenn sie dich fragt, musst du’s ihr sagen …“
„Spinnst du?“, zischte Matti mich entsetzt an. Sie ist ein Mädchen. Was hab ich denn mit dem ollen Pimmel mit so dicken Eiern dran zu tun. Ich bin doch nicht wie der Matze, der Depp.
„Dann sag halt Penis, aber diskriminiere sie nicht“, beschwor ich Matti besorgt.
„Sag du’s ihr doch“, stotterte er und ergänzte hilflos: „So irgendwie von Frau zu Frau vielleicht, ich weiß ja auch nicht …, und diskriminieren will ich sie ja auch gar nicht. Ich kann ja einfach sagen, dass ich halt auch nichts gesehen hab.“
„Wenn sie mich fragt, sag ich’s und wenn sie jemand anderen fragt, muss jeder von uns für sich da selbst irgendwie durch. Nur kneifen geht in diesem Fall überhaupt nicht, weil jeder, der ihr was verschweigt, sie damit, nur weil sie blind ist, voll im Regen stehen lässt. Oder was glaubst du, wie sich das anfühlt, wenn der Kopf klar ist, aber manchmal halt bisschen Futter von anderen Augen braucht? Wenn das keine Diskriminierung ist, was ist es dann? Das ist Ausgrenzung und sonst nichts", schalt ich Matti mehr als ich das wollte.
„Oder Frau Schulze macht was, Mara …“, sagte Matti mit einer Stimme, die sich so anhörte, als ob er während des Sprechens einen Kloß im Hals hätte. Er war sichtlich erleichtert, als wir bei dem Rest unserer Clique angekommen waren und ich Mila am Ärmel zupfte, um mein auditives Abenteuerspiel auf meinem iPhone zu zeigen. Dass er mich, als ich so in Rage und er so unter Druck war, Mara genannt hatte, machte vieles wieder gut. Das kam bei Matti nämlich plötzlich voll ehrlich von ganz tief innen und fühlte sich für mich mega gut nach einer Form von Wertschätzung an, die ich vorher so noch von niemand in meiner Klasse erlebt hatte.

Wenn doch nur meine Mutter auch endlich einsehen würde, dass ich ihr Mädchen bin und noch nie ihr Junge war.

„Hier Mila, im Spiel bist du der Ritter Edward Blake, der genaus so wie wir blind ist und zusammen mit seiner sehenden Tochter seine entführte Frau retten will. Du brauchst beide In-Ears, um dich in dem Spiel zu orientieren. Achte genau auf die Stimme deiner Tochter, sie ist meistens irgendwo von dir und wenn du gut aufpasst, kannst du dich an ihren Geräuschen prima orientieren. Auf das Zischen der Bogensehnen musst du selbst aufpassen und heranfliegende Pfeile kannst hier auf dem Bildschirm mit Wischgesten mit deinem Schild abwehren. Bis du so weit", fragte ich und startete kurz danach Milas erstes Spiel. Das, was ich ohne In-Ears hörte, reichte mir, weil ich das Spiel schon gut kannte, auch ohne Raumklang gut genug, um Mila bei ihren ersten Versuchen zu unterstützen. Wirklich lange war das aber nicht notwendig, nachdem sie schnell herausgefunden hatte, wie sie mit den Gesten herannahende feindliche Waffen abwehren konnte. Matti durfte auch noch kurz, aber nach dem dritten Anlauf, rettete ihm die Pausenklingel gerade noch rechtzeitig sein letztes Leben.

Spielzeit

„Ich wusste, dass ich mich auf euch verlassen kann“, lobte uns Frau Schulze mit matter Stimme. Es war schon kurz vor elf Uhr, als sie wieder zurück zu uns in die Klasse kam und uns alle beim Schiffe versenken spielen im Kreis sitzend auf dem Boden vorfand. Wir hatten uns in zwei Mannschaften aufgeteilt und Mila und ich befanden uns mit Unterstützung unserer tapferen Kanoniere als rivalisierende Freibeuterinnen in der finalen Schlacht, wobei unsere Begleitschiffe alle schon versenkt waren und unsere Flaggschiffe auch beide schon mächtig Schlagseite hatten.
„Und was ist mit Marvins Geschenk?", fragte Frau Schulze, die noch neugierig auf die von mir angekündigte Verpackung war.

Auszeit

„Die Seeschlacht war im Nu vergessen, als Mila zum zweiten Mal an diesem Tag Tränchen der Freude aus ihren Augen quollen, während sie Frau Schulze auf hocherhobenen Händen eine filigrane Papierblume entgegenstreckte. Sie schen sich für Mila so zart wie ein dort gelandeter Schmetterling anzufühlen. Vorsichtig teilte Frau Schulze die mit zarten, fast unsichtbaren Punkten übersäten Blütenblätter und sah im Inneren der Blume Marvins In-Ears wie blasse Stempel aus einer geöffneten Tulpenknospe heraus leuchten. Die Verpackung bestand aus mit Wasserfarbe gelb und blau, entsprechend den Farben der Ukraine, eingefärbten Kartonbögen, die alle mit Braille beschriftet waren. Die Verpackung erinnerte an eine aus der Ukraine stammende Babuschka, wobei die weiblichen Figuren dort etymologisch für die Mütterlichkeit stehen und die männlichen Figuren der Symbolik der Kriegstauglichkeit gerecht werden sollen.
„Die In-Ears braucht Mila für das Spiel, das Mara ihr geschenkt hat. Es ist ein auditives Abenteuerspiel, das leider nicht barrierefrei ist. Ohne Hilfe der beiden hätte ich in der Pause um ein Haar innerhalb weniger Sekunden mein letztes Leben verloren", sprudelten die Neuigkeiten aus Matti nur so heraus. „Selbst die Tipps, die Mara Mila für die Bewältigung der einzelnen Spiellevels auf die wie die Levels verschachtelten Blätter der Verpackung geschrieben hat, können nur Mila und Marvi …, ähh, sorry, Mara lesen.
„Nein, Matti, ich hab Mila nur die In-Ears und die Verpackung, bei der ihr mir alle mit den Farben geholfen habt, geschenkt. Das Spiel gibts im Apple-Store für umme", sagte ich und legte den Arm um Milas Schultern.
„Danke Mara, und danke Frau Schulze, endlich hab ich auch eine allerbeste Freundin“, sagte Mila und wischte sich mit dem Handrücken ihre Tränchen weg.
„Warst du wirklich so einsam, Mila?“, fragte Frau Schulze mit einem stirnrunzelnden Unterton in ihrer Stimme.
„Ich durfte ja bisher nicht mal in die Schule und der Privatunterricht war zwar gut, aber außer meinen Brüdern, die mich überall hinführen, kam ja bisher nie jemand so nah wie Mara an mich ran. Zum Glück ist Mara auch ein Mädchen. Einen Umgang mit Jungs würden mir meine Eltern schon wegen unserer Religion nie erlauben. Oh Gott, wenn die das mit Matze und Sonja wüssten …", sagte Mila und schlug sich besorgt die Hände vor ihr Gesicht.
„Keine Sorge Mila, nach den drei Wochen Schulausschluss kommen die beiden auf eine andere Schule und du passt eh viel besser in meine tolle Klasse", sagte Frau Schulze und verabschiedete sich pünktlich zum Läuten der Schulglocke von ihren Schülern.

 

 

Link zum Spiel

Für iPads kostenlos:

https://apps.apple.com/de/app/a-blind-legend/id973483154

Fortsetztung Nebelreise

Nebelreise

Impressum

Texte: ©Lisa Mondschein
Bildmaterialien: ©pixabay
Cover: ©Fizzy Lemon
Tag der Veröffentlichung: 15.06.2023

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für einen Freund, den es gerade etwas grämt, dass ihm etwas abhandengekommen ist, an das er sich gewöhnt hatte. Verbunden mit dem Wunsch, dass weniger auch mehr sein kann und es viele Alternativen gibt, um mit Dingen, die sich manchmal nicht mehr ändern lassen, auch glücklich zu bleiben.

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