Ischtar wartete auf ihren Vater. Der war mal wieder verschwunden, um – wie er sagte – die Sterne zu besuchen. Er hatte sein Feuerschiff bestiegen und war Richtung Sonnenuntergang gen Himmel gefahren.
Sie hatte nie heraus bekommen, welche Art von Wegen er dafür nutzte. Er stieg einfach so nach oben, wie die Vögel. Irgendwann hatte er ihre Mutter mitgenommen und diese war nicht mehr zurückgekehrt. So war Ischtar zur Königin über Uruk geworden. Eigentlich ein Grund zur Freude, wenn da nicht dieser Gilgamesch wäre, ihr König. Zur Hochzeit war er noch erschienen – danach hat er sich keinen Deut mehr um sie gekümmert. Er vertrieb sich lieber die Zeit mit den Jünglingen in Uruk, Frauen spielten in seinem Leben keine Rolle. Wenn es wenigstens eine der anderen Frauen wäre, doch Gilgamesch hatte nur Augen für die Schönlinge der Stadt.
Ischtar konnte fast jeden Mann aus Uruk in ihr Bett bekommen – nur ihren eigenen nicht, jedoch jeden seiner Geliebten. Darüber hätte sie gern einmal mit ihrer Mutter geredet, und wenn nicht mit der, dann wenigstens mit ihrem Vater. Beiden war aber offensichtlich das Leben im Himmel wichtiger. Irgendwann würde sie ebenfalls dorthin gelangen – glaubte sie. Bis dahin musste eine Lösung für ihr ganz irdisches Problem her. In der Stadt redete man bereits.
Gilgamesch und sie waren seit fast drei Jahren verheiratet – und kein Thronfolger in Sicht. Wie es so ist, die Schuld daran wurde ihr zugeschoben. Dass sich ihr Ehemann nur mit Männern vergnügte, spielte dabei keine Rolle. Sie musste sich etwas einfallen lassen, um ihn in ihr Bett zu bekommen. Ihn mit Wein abzufüllen, wäre einfach, jedoch keine Lösung. Er wäre nicht mehr in der Lage, ihre Wünsche zu erfüllen. Vielleicht liesse er sich mit einem anderen Mann eifersüchtig machen, einem Mann, der ebenfalls das Interesse von Gilgamesch erregen könnte. Selbst einem Dreier wäre sie nicht abgeneigt, wenn sie davon schwanger werden würde.
Woher einen solchen Mann bekommen? Die Besten waren entweder vergeben, oder vergnügten sich lieber mit Gilgamesch. Eventuell sollte sie sich mit einer ihrer Vertrauten unter den Dienerinnen unterhalten. Vielleicht mit Schachmat. Die kannte sich in diesen Fragen aus. Vielleicht hatte sie einen Rat für sie. Zumindest stand sie in dem Ruf, die besten Männer der Stadt äusserst gut zu kennen...
Schachmat schlug vor, aus dem Dorf ihrer Eltern, eine Tagesreise entfernt, einen der jungen Hirten nach Uruk zu locken. Den würde Gilgamesch sicher nicht kennen und Ischtar könne so sein Interesse wecken. Sie hätte einen ganz Bestimmten im Sinne. Mit dem sie sich in ihrer Jugend vergnügt hatte. Enkidu war sein Name. Ischtar schickte sie sofort zu ihren Eltern, nicht ohne ihr aufzutragen, sie solle diesen Enkidu in ihren speziellen Techniken unterweisen.
Drei Wochen später stand Schachmat mit Enkidu wieder vor ihr. Diese hatte die richtige Wahl getroffen. Enkidu war das ideale Werkzeug für Ischtars Plan. Wie stellte sie es am besten an, dass Gilgamesch ihm begegnete und eifersüchtig werden würde?
Als Erstes machte sie Enkidu zu ihrem persönlichen Diener. Sie wies ihm eine Schlafstelle im Vorzimmer ihres Schlafgemaches zu. Enkidu begriff schnell, was sie von ihm erwartete. Er schlief nicht lange in ihrem Vorzimmer. Bereits am ersten Morgen beim Frühstück begegneten sich Gilgamesch und Enkidu. Besser konnte es für Ischtar nicht laufen.
Gilgamesch forderte Enkidu zum Zweikampf, vor den Toren des Tempels. Sie kämpften und kämpften, den ganzen Tag. Gegen Mittag schleuderte Enkidu Gilgamesch an das Tor des Tempels, so dass es zerbrach. Dies konnte Gilgamesch nicht auf sich sitzen lassen, und stiess Enkidu gegen eine der Säulen, die jedoch nicht zerbrach, Enkidus Schädel ebenfalls nicht. Da erkannten Beide, dass sie sich nicht gegenseitig besiegen konnten und wurden Freunde, sehr enge Freunde. Zum Ärger von Ischtar. Sie hatte ungewollt ihrem Mann einen neuen Geliebten verschafft, und nicht sich selbst. Da war guter Rat teuer.
Jetzt wollten die Beiden obendrein gemeinsam zu Abenteuern aufbrechen. Irgendwo im Westen, im Gebirge, in den Zedernwäldern, sollte ein Ungeheuer hausen, eine Mischung aus Krokodil, Mensch und Fledermaus. Das hörte sich verdächtig nach einem der Kumpels ihres Vaters an, eventuell dieser Umpapa. Wer weiss? Die sahen doch alle gleich aus.
Menschen alleine waren sicher keine Gefahr für den. Ihre beiden verliebten Helden gemeinsam könnten ihm jedoch gefährlich werden. Sie musste ihrem Vater eine Warnung zukommen lassen. Doch sie hatte keine Ahnung, wo der sich im Augenblick aufhielt. Nicht einmal, ob er auf der Erde weilte oder etwa bei den Sternen. Ihr war klar, sie musste etwas unternehmen. Eventuell war Anumumm, ein anderer Kumpel ihres Vaters, gerade bei seinen Kindern in der Hattistadt im Norden. Dieser Stier in Menschengestalt und mit Flügeln, der selbst mit den Füssen am Boden noch mächtig gewaltig aussah. Im Grunde fürchtete Ischtar sich vor ihm. Wenn der wütend wurde, war die Erde in Gefahr. Deshalb überlegte sie sich ziemlich genau, ob sie ihn kontakten sollte oder nicht. Ihr blieb nichts anderes übrig. Ischtar hoffte nur, dass es Anumumm rechtzeitig in die Zedernwälder schaffen würde - bevor Gilgamesch und Enkidu den Umpapa, oder wer es sonst ist, töten konnten.
Wie es eben so ist: Die Beiden liessen sich durch Nichts und Niemanden aufhalten auf ihrem Weg in die Zedernberge. Dort machten sie so viel Lärm um Nichts, dass der Umpapa umgehend auftauchte. Enkidu stachelte Gilgamesch an, ihn gleich zu erschlagen, so dass Anumumm keine Zeit blieb, ihm zu Hilfe zu kommen. Obendrein nahmen sich die Zwei gleich die grösste Zeder, um daraus ein neues Tor für den Tempel zu zimmern. Dies ärgerte Anumumm allzu sehr – er machte sich sofort auf den Weg zu Ischtar, um sie zur Rechenschaft zu ziehen. Dabei konnte die nichts dafür. Sie wollte den Beiden doch ebenfalls eins auswischen. Glücklicherweise kam ihr Vater rechtzeitig von seiner Reise zurück.
Isch war in der Lage, Anumumm zu beruhigen. Der wollte aber die beiden verliebten Männer tot sehen. Was wiederum Isch egal war, und Ischtar hatte gegen Beide keine Chance.
Schon wartete Alzutoth, ein anderer Freund Umpapas, vor Uruks Toren auf Gilgamesch und Enkidu, um sie zu einem Kampf herauszufordern. Er hatte jedoch nicht damit gerechnet, dass ausgerechnet diese Beiden in der Lage waren, ihn in die Flucht zu schlagen. Sein Leben war ihm am Ende lieber und so machte er sich schnellstens aus dem Staub. Nicht ohne Isch zu warnen und zu verlangen, wenigstens einen der Beiden hart zu bestrafen. Für den Tod seines Freundes aus den Zedernwäldern.
Nun überredete Ischtar ihren Vater dazu, nur Enkidu mit einer tödlichen Krankheit zu bestrafen. Was ihr gelang. Doch der Tod Enkidus trieb Gilgamesch fast in den Wahnsinn. Nicht unbedingt das, was sie erwartet hatte. Männer handeln halt anders als Frauen denken. Von einem Bediensteten erfuhr Gilgamesch obendrein von dem Deal seiner Frau mit ihrem Vater. Der schon wieder davon geflogen war. Von ihm wollte er nun das Leben Enkidus zurückfordern. Irgendwo musste der sich ja aufhalten.
Umgehend machte sich Gilgamesch in Richtung Nordwesten auf den Weg. Ischtar folgte ihm in einem sicheren Abstand. Sie musste sich nicht einmal vorsehen. Gilgamesch jammerte die gesamte Zeit so laut, dass sie problemlos einen sicheren Abstand wahren konnte. Nach einer Weile konnte sie ihm sogar vorausgehen. Sie hatte einen neuen Plan. Sie suchte einen guten Platz, an dem sie sich Gilgamesch unerkannt in den Weg stellen konnte. Sie wollte verhindern, dass er auf ihren Vater traf. Enkidu durfte nicht zurück ins Leben.
Eine passende Stelle zu finden, war dabei nicht so einfach für sie. Sie dachte an eine Art Hütte, an der Gilgamesch unbedingt vorbei kommen musste. Sie wünschte sich, dass er dort übernachtete oder wenigstens eine Pause machen würde. Eine Hütte erst zu bauen, war keine Option für sie, dies würde zu lange dauern. Eine fertige Hütte fand sich jedoch nicht. Entweder lebte in dieser Gegend niemand, oder diese Menschen kannten keine Hütten. Nicht einmal einen Gasthof fand sie. Das war nicht der Luxus, den sie gewohnt war.
Gilgamesch schien dies alles nichts auszumachen, ihr schon. Sie waren bereits Wochen unterwegs, als sie an einen Strand kamen. Dort fand sie endlich die Hütte, die sie so lange gesucht hatte. Deren Bewohner waren gerade nicht anwesend. Eine gute Gelegenheit, um ihren Plan umzusetzen. Sie beschmierte ihr Gesicht mit Dreck, zog sich etwas von den abwesenden Eignern an und setzte sich vor die Hütte. Sie hoffte, dass Gilgamesch sie so nicht erkannte. Er war bereits ziemlich nahe, und dann erkannte sie ihn kaum. Er war nur noch ein Schatten seiner selbst. Sie war sich nicht einmal sicher, ob das überhaupt ihr Gatte war, so dünn und ausgezehrt, wie dieser Mann aussah. Er ging schnurstracks an ihr vorbei und liess sich auf das Lager in der Hütte fallen. Alle Tiere des Waldes rannten um ihr Leben, so laut schlief er.
Da machte sich Ischtar Sorgen. War sie etwa zu weit gegangen? Was hatte ihr Gatte eigentlich vor? Was wollte er wirklich von ihrem Vater? Am Horizont sah sie ein Schiff näher kommen. Was tun? Waren diese Leute freundlich? Oder eher abweisend? Sie entschied sich, aufs Dach zu steigen und sich dort zu verstecken. Besser ist besser. Von oben erkannte sie, dieses Schiff war weiter weg, als sie gedacht hatte. Und es schien gross zu sein und für lange gefährliche Reisen ausgerüstet. Warum eigentlich ein Schiff zu Wasser? Ihr Vater nutzte ein Luftschiff.
Es bestand einiger Klärungsbedarf. Sie überlegte, was sie am besten tun sollte. Wie sie so in ihren Gedanken versunken war, bemerkte sie nicht, dass es unter ihr ruhig wurde. Gilgamesch war aufgewacht und rumorte in der Hütte. Sie stand auf, um besser sehen zu können, was vor sich ging. Was wiederum Gilgamesch auf den Plan rief. Er stürzte aus der Hütte und rief ihr etwas zu. Alles ging so schnell, dass Ischtar nicht so richtig mitbekam, was er eigentlich wollte. Zuerst dachte sie, er hätte sie erkannt. Das war es jedoch nicht. Er verlangte, dass sie herunterstieg und ihm ein Essen zubereitete. Dies wollte sie nicht. Was ihn noch mehr in Wut versetzte. Nun drohte er ihr. Sie blieb ruhig und fragte, wo er denn herkäme und was er hier in der Gegend wolle. Er erklärte ihr, wo er herkam und wen er hier suchte. Sie stellte sich dumm und fragte völlig naiv, wer denn dieser besagte Isch sei. Auch wollte sie wissen, was er denn von diesem wolle. Nur gut, dass sie auf dem Dach sass. Gilgamesch drohte ihr wiederum, dass er sie zur Rechenschaft ziehen würde, wenn sie ihm nicht wahrheitsgemäss antwortete. Er ging davon aus, dass man ihn ebenfalls hier kennen müsste und von seinen Heldentaten gehört hätte. Ischtar hatte nicht davon gehört und empfahl ihm, auf das Schiff zu warten. Der Gesuchte würde vielleicht auf der anderen Seite der See sein. Das Schiff sähe aus, als ob es eine gefährliche und weite Reise hinter sich hätte. Eventuell hatten diese Leute von dem Gesuchten gehört. Gilgamesch rannte sofort los und rief die Schiffer, sie sollten umgehend anlanden.
Ischtar nutzte ihre Chance und verschwand im Wald. Von dort wollte sie das Weitere beobachten. Das Schiff näherte sich wirklich dem Ufer. Man liess ein Boot zu Wasser und ruderte ans Ufer. Dort diskutierten Gilgamesch und die Schiffer eine ganze Weile. Danach ging Gilgamesch in den Wald und begann Bäume zu fällen. Was hatten ihm diese Leute aufgetragen?
Später kam er mit einem riesengrossen Baumstamm zurück. Man verlud diesen und ruderte gemeinsam zum Schiff. Da erkannte sie, was die Leute von Gilgamesch verlangt hatten. Man richtete ein grosses Segel auf und verschwand langsam in Richtung Westen aus ihrem Blickfeld. Diese Schiffer wussten wohl, wen er suchte. Oder zumindest wo man ihren Vater finden konnte. Sie musste sich jetzt etwas einfallen lassen. Sie wollte ebenfalls hinterher zu neuen Ufern. Nur wie?
In diesem Moment sah sie eines dieser Luftschiffe, wie sie ihr Vater und dessen Freunde benutzten. Es kam direkt auf sie zu. Sie rannte dem Luftschiff entgegen und hoffte, man würden sie erkennen, so mit dem Dreck im Gesicht und in zerlumpten Kleidern. Auf die Art konnte sie vielleicht noch vor Gilgamesch bei ihrem Vater sein. Von dem Schiff aus musste man sie lediglich sehen. So hüpfte sie, sprang auf und ab, winkte und schrien. Sie wirkte wie eine aus dem Takt geratene Hexe. Dennoch sah es nicht so aus, als ob man sie erkannte. Das Schiff flog mit konstanter Geschwindigkeit immer weiter auf sie zu. Als es über ihr war, verspürte sie ein eigenartiges Kribbeln am ganzen Körper. Die Welt um sie herum verschwamm und es wurde dunkel.
Dann auf einmal war es wieder hell und sie fand sich in einer erleuchteten Halle wieder. Ihr Vater war dort, ihre Mutter und noch weitere Wesen, die sie nicht kannte. Eine Art aufrechtgehendes Reptil mit Federn am gesamten Körper kam auf sie zu. Es hatte saubere Bekleidung auf seinen zu kurz geratenen Ärmchen. Wer konnte schon sagen, was es war, Männlein oder Weiblein? Ischtar nahm die sauberen Kleider und ging zu einer Art Bad. Sie wusch sich und zog die frischen Kleider an. Ihre Eltern erwarteten sie anschliessend vor der Tür und wollten wissen, was sie und Gilgamesch hier wollten.
Ischtar wollte zuerst wissen, wie sie sie finden konnten. Dies würde sie nicht verstehen, doch sie beobachteten sie bereits seit Langem. Was wollten sie also hier? Warum waren sie hier? Gilgamesch wollte Enkidu zurückfordern, oder sich für dessen Tod rächen. Man führte Ischtar in einen anderen grossen Raum, in dem bereits Gilgamesch sass und es sich schmecken liess. Sie bemerkte nun ebenfalls ihren Hunger und setzte sich dazu. Kein Wort fiel zwischen den Beiden.
Also, meinte ihre Mutter, sie müssten wieder zurück nach Uruk. Immerhin wären sie das Königspaar. Falls es ihnen gelingen sollte, Kinder zu zeugen, gäbe es sogar eine Chance, dass sie eines Tages zu ihnen, Ischtars Eltern, ziehen dürften. Doch vorher müssten sie Uruk in eine blühende Stadt verwandeln und würdige Nachfahren präsentieren. Sie sollten beweisen, dass sie in der Lage waren, ihre ihnen zugedachten Aufgaben zu erfüllen.
In diesem Moment kam Enkidu herein. War der nicht gestorben? Ja, und nein. Hier konnte man ihn wieder zum Leben erwecken. Ihre Medizin wäre besser. Was Gilgamesch völlig aus dem Konzept brachte. Er wollte nicht wieder zurück und ohne Enkidu leben. Ihre Eltern stellten ihn nun vor die Wahl, entweder hier mit Enkidu und irgendwann in naher Zukunft sterben, oder mit ihrer Tochter Ischtar nach Uruk zurück und seine Aufgaben erfüllen. Danach konnte er bis in alle Ewigkeiten mit Enkidu durch die Welten ziehen. Gilgamesch hatte zwar keine Ahnung, was dies hiess – durch die Welten ziehen – aber er liess sich breitschlagen und ging mit Ischtar nach Uruk zurück.
Das Luftschiff war bereits dort gelandet. So lebten sie gemeinsam und glücklich bis zum Ende ihrer Lebenszeit. Uruk blühte unter ihrer Herrschaft auf und erfüllte seine Aufgaben in der irdischen Geschichte. Beide wurden zur ewigen Legende, die Menschen erzählen sich ihre Geschichte bis in unsere Zeiten und darüber hinaus...
Cover: 2018, Jimi Wunderlich, Die Wunderlich(e) Edition
Tag der Veröffentlichung: 13.04.2018
Alle Rechte vorbehalten