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Das Abendgebet

Wie jeden Abend seit vielen Jahren sass Seph hinter seinem Haus in Waset und schaute über den Nil zur Stadt der Toten am Westufer. Diese Zeit hatte Seph für sich, die einzige Zeit des Tages während der er mit sich war. Hinter ihm wurde es langsam ruhig, seine Frau Nofren brachte die Kinder zu Bett. Jedes Jahr kam wenigstens ein Kind dazu, zweimal waren es gar Zwillingen. Das Haus war inzwischen viel zu klein für seine grosse Familie. Vielleicht sollte er ein wenig anbauen, doch dafür reichte sein Lohn nicht aus, und die Zeit erst recht nicht.

 

Morgens wurde er meist bereits kurz nach dem Auftauchen von Re und seiner Sonnenbarke von den Kindern aus dem Schlaf gerissen. Wenig später verliess er das Haus, um seiner Arbeit in der Werft nachzugehen. Seit drei Monaten war sein Ältester soweit, dass er mit ihm zur Werft gehen konnte und alles lernte, was er, Seph, wusste. Er wollte ebenfalls Schiffszimmermann werden. Nicht mehr lange und er würde sich eine Frau suchen und eine eigene Familie gründen.

 

So langsam näherte sich Re mit seiner Tochter Maat dem Nachttor in den Bergen im Westen. Dort würde er zu Seth in die Nachtbarke steigen und die heute Gestorbenen mit in das Totenreich nehmen. Heute mussten es sehr viele sein, der Himmel färbte sich dunkelrot. Wenn dies passierte, sagte man, musste irgendwo in der Welt der Lebenden eine Schlacht stattgefunden haben, mit vielen Gefallenen. Seph wusste nichts von einem Kriegszug seines Pharaoh. Eventuell war wieder einmal der Herr im Norden gegen seine Feinde im Osten, gegen Hatti oder Sangar, gezogen. Oder die Herren von Kusch waren im Süden in Sephs Land eingefallen. Seph hatte nichts gehört, doch der blutrote Himmel machte ihn fast sicher.

 

Er umfasste sein Re-Amulett auf seiner Brust und wandte sich an den Gott persönlich. Er dankte ihm für sein Leben und sein kleines Heim. Dafür, dass er ihn und seine grosse Familie mit einer robusten Gesundheit gesegnet hatte. Auch bat er ihn, den Krieg fern von Waset zu halten. Da fiel ihm sein zu kleines Haus ein und er bat Re zum wiederholten Male, ihm doch in einer der Lotterien des Pharaoh einen Hauptgewinn zukommen zu lassen. Ein kleiner Beutel voller Silberschrot würde ihm schon helfen, damit er einen kleinen Anbau in Auftrag geben könnte.

 

Der Himmel hinter der Stadt der Toten färbte sich noch dunkler. Was war da los? In Seph stieg die Angst empor. Er warf sich auf die Knie und schaute demütig in Richtung des Nachttores. Es schien, eine grosse Person trat durch dieses. Eine donnernde Stimme drang von dort an Sephs Ohren: ‚Mensch Seph, gib mir eine Chance und kaufe dir endlich eines der Lose!‘ Dann schloss sich das Tor für heute und die ersten Sterne waren zu sehen...

Impressum

Texte: 2018, Jimi Wunderlich, Die Wunderlich(e) Edition
Bildmaterialien: 2018, Jimi Wunderlich
Cover: 2018, Jimi Wunderlich
Lektorat: 2018, Jimi Wunderlich
Tag der Veröffentlichung: 04.01.2018

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