oder
Kühlschrank auf dem Ast
Holger Leisering
Kindsein und Testbild in Nixburg
Die Kosakenbluse des alten Sanitätsrates, der seit seiner Rückkehr aus dem Krieg nur noch in dieser Tracht im Dorf herum lief, die war es, die ich zuerst erblickte. Die versoffene Hebamme hatte den Termin meiner Ankunft verpasst. Vor dem Fenster blühte die Akazie. Unter meinem Körbchen lag auf Anordnung des Kosaken ein Mauerstein, schräg sollte es stehen.
Am 28. März 1958 wurde ich, Epimetheus, zur Mittagsstunde im Saalkreis, früher auch Gau Neletici genannt, in einem ein halbes Jahrtausend alten Fachwerkhaus geboren. Nein, es war kein Schloss, nicht das Herrenhaus zu Nixburg, aber auch keine Kate, sondern ein größeres Bauernhaus, das als Zollstation gebaut worden war.
Natürlich war ich an diesem Tag noch kein Epimetheus, sondern hieß Holger. Musste schon dankbar sein, dass sie mich nicht, wie die Mehrheit der Nachkriegseltern, Uwe genannt hatten. Mein Häschen aus Stoff, Holzwolle und Drahtgestell nannte ich Gabi. Gabi war auch der Name des kleinen Mädchens in dem Erdbettchen - das Erstgeborene, Totgeborene, dessen Grabhügelchen wir noch etwa bis zu meiner Einschulung gelegentlich besuchten. Für die Entstehung eines Epimetheus ist es immens wichtig, eine hohe Dosis an Beerdigungen, Grabreden und Friedhofsbesuchen zu garantieren. Noch vor Eintritt der Geschlechtsreife ist es unabdingbar, aller paar Wochen mit dem Tragekruzifix zur dürren Stimme des Totenglöckchens neben dem Pfarrer vor der Prozession zu laufen, in der die Trauergemeinde den Sarg nach alter Sitte durchs Dorf trug, denn ein Schüler aus dem Konfirmandenunterricht musste dafür herhalten, neben dem Pfarrer das Kreuz zu tragen. Die Geburtswehen schauerten im kindlichen Probanden nach, die Mütter vollendeten mit Schlägen und Schreien das Werk der alten Götter, auf dass es ein guter Epimetheus werde. Außer dem Häschen Gabi gab es eine schwarze Spielzeugkatze, die ich mit mir herumtrug. Die Katze war lieb, ich liebte sie, so wie den Fuchs im Frack, der sprechen konnte, wozu er sich meine Stimme lieh, wie den Mäcki Miekesch und meine Püppchen. Mein Dorf liebte ich, liebte alles - mir träumte, die Menschen wären gut.
Der erste Fernseher meiner Eltern, ein “Alex”, stand auf vier Beinen, übermittelte zwei Programme und das alles in Variationen von Grau, Weiß und Schwarz. In den späteren Jahren kauften meine Eltern neuere Fernseher, diese Kinder des Alex standen nicht mehr auf vier Füßen, sondern wurden auf die Fernsehtruhe oder den Fernsehschrank gestellt, dazu gab es einen Konverter und, was dem Schmiedemeister leicht fiel, eine Antenne auf einem hohen Antennenmast. Die Ausstrahlung von Farbfilmen wurde möglich, aber nicht für die Technik, die bei uns in der Stube stand. Die Farben vermisste ich weniger, es war selbstverständlich, der Wald würde grün, der Stern des Sheriffs golden, seine Pistole silbern und die Kühe auf der Shilo-Ranch schwarz-weiß wie die unserer LPG sein . . .
Mittags und wieder ab Mitternacht erschien in den Fernsehern das Testbild. Vater erzählte, wenn an der Uhr im Fernsehen, die in den Zwischenpausen und auch vor Sendeschluss erschien, ein ganz kleiner Punkt zu sehen wäre, würde dadurch die Stunde angezeigt, zu der noch eine Geheimsendung ausgestrahlt werden würde; vielleicht begann so die Rache der Geräte. Diese viele Stunden des Tages vernachlässigten Lichtspieltheater im Puppenstubenformat, denen ich immerhin Augsburger Puppenkiste, Meister Nadelöhr, Irmgard Düren und Am Fuß der blauen Berge oder Bonanza verdankte, würden sich später rächen. Aber noch streichelte ich meine Katze, saß auf den Stufen hinter der Schmiede, um meinem über achtzigjährigen Großvater zu lauschen, der mir das Märchen von Däumelinchen erzählte. Vater hatte mir ein kleines Haus gezimmert, in dem wohnten jetzt meine Spieltiere, die Katze Minka und der Gockelhahn. Ich verfütterte Kastanien und stellte täglich frisches Wasser hin. Als die Nächte kühler wurden, übernachtete eine streunende Katze in meinem Häuschen.
Mein Großvater war ein Held
Im Jahr 1958 wurde nicht nur Epimetheus in Nixburg geboren, sondern auch das nach Martin Luthers Unterschlupf zu Ehren Wartburg benannte Auto gebaut, das meine Eltern fuhren. Der Wartburg, für seine Zeit ein echter Flitzer, besaß silbern verchromte, wie Violinschlüssel sanften Schwunges windebang um aerodynamische Karosse geschwungene Zierstreifen, war oben schwarz lackiert und unten silbern abgesetzt. Die Worte rash hour oder Stau gab es noch nicht, die Arbeiter- und Bauernrepublik gewährte, zumindest innerhalb ihres Areals, freie Fahrt für unfreie Bürger.
Eines Abends fuhren Mama und Papa ins “Rote Roß”, das beste Hotel der Bezirkshauptstadt. Im “Roten Roß” gab es leckere Eisbecher, auf denen immer ein lustiges Männchen oder Frau Elster, Herr Fuchs, ein Schornsteinfeger usw. aufgesteckt waren. Der Wartburg schnurrte also die paar Kilometer in jene Stadt, in der ich heute sitze und schreibe. Notabene: auch ich, das schwarze Schaf der Familie, bin letztendlich nicht weitergekommen als meine Eltern in ihren besten Abendausflugsstunden. Wartburg war schon was anderes, fuhr sich leichter als so ein Vorkriegs-DKW und nicht zu vergleichen mit dem PKW Trabant. Im besten Hotel am Platze fehlte das obligatorische Bild des Staatsratsvorsitzenden, es hingen auch keine roten Spruchbänder ‘rum und die Kapelle spielte Johann Strauß, nicht die Internationale. Der alte Kellner, Herr Rabbach, der den Meister und die Meisterin von vorangegangenen Besuchen kannte, verbeugte sich tief und rückte ehrfurchtsvoll die Stühle heran. Edgar und der Schnurz (so wurde meine Mutter mit Kosenamen genannt) ließen es sich gut gehen.
Was aber auch immer und überall geschah, eines zählte, sehr zu unserem Leidwesen betreffs unserer Kinderklamotten, natürlich erst recht beim Eisbecher, aber auch sonst immer und überall als höchstes, heiliges Gut. Wäre meine Mutter zu einem Verhör geladen worden, selbst wenn der liebste Mensch im Sterben gelegen hätte, ständig sondierte, so wie Röntgens Strahl in der Raucherlunge fahndete, nur eine Frage: Sauber? Ist es sauber? Das war ihre kranke, ewige Kardinalsfrage. Wenn sie sich untereinander besuchten, wurde, während die Tante in der Küche den Tropfschutz über die Schneppe der Kaffeekanne zog, heimlich der Prüfdaumen über Türfüllung und Bilderrahmen geschoben, das gab bedeutungsvolle Blicke zwischen Vater und Mutter, wenn da, wie etwa bei der flatterigen Tante Bernadette, noch irgendwo Staubflusen dran hingen. Höchstes Lob erteilen gipfelte in der Formulierung: Kinder, bei euch kann man ja vom Fußboden essen. Keine Ausfahrt am Sonntag, zu der Mutter nicht nervte mit ihrem ewigen: Na, ihr seht ja aus wie aus dem Ei gepellt. Meine Jahreszahl schrieb sich bereits zweistellig, ich war also längst ein gestandener Epimetheus, da gab‘s für mich noch immer ein extra Wort zum Sonntag: Zieh nicht so eine Fresse, mach nicht so ein Gesicht. Wir saßen kerzengerade im PKW Wartburg. Man machte sich nicht schmutzig, das hatte ich zu wissen, wie man wissen musste, es gab Kinder, mit denen du einfach nicht spielen durftest, die waren G e s o c k s e.
Meine Eltern saßen zu zweit im sauberen Wartburg, um im “Roten Ross” Eisbecher zu schnabulieren. Im Dachstübchen, in dem ich schlief, hatte was ans Fenster gepocht, jetzt trapste es hinter der Wand lang. Diesmal hatten sie also nicht gelogen, mich nicht angeschissen, es gab ihn also doch: den schwarzen Mann.
Der schwarze Mann ist der auf kleinbürgerliches Schrebergartenformat mutierte Nachfahre des schwarzen Ritters und, weil viel jünger als der Faun, relativ einfach zu bannen, wenn du das Zeichen machst, aber das konnte ich damals noch nicht wissen.
Wer die kleine Rettungsaktion, die ich nun erwähnen möchte, nur als eine kindliche Farce missversteht, sollte bitte bedenken, ich sortierte die Frage lebendig oder tot noch viele Jahre nicht nach biometrischen Daten, ob etwas lebendig oder tot sei, unterschied ich daran, ob es Geschichtenmund habe, deshalb also lebten meine Püppchen und das Häschen Gabi genauso wie der Mensch oder die Zwerge aus Gips.
Ich schlich aus meinem Dachstubenzimmer hinaus, nicht nur den Schwarzen hatte ich gehört, auch die Windsbraut jammerte. Vor meinem Schlafzimmer gab es ein großes dunkles Zimmer, das keine andere Funktion hatte, als ein großes dunkles Zimmer zu sein, hinter diesem Zimmer war noch eine Kammer, voller Gerümpel. Die Treppe war nicht nur wegen meiner noch kleinen Füße Hindernis, ihre im spitzen Winkel innen unpassierbaren Stufen waren auf der Außenseite so breit, dass ich mein Puppenhaus hätte drauf aufstellen können. Jede Stufe miaute, krächzte und schnaufte anders. Unten, im Treppenhaus mit den rotweißen Bodenkacheln, glimmte ein schwaches Licht über dem schwarzen Wandkasten, in dem der Fernsprecher hing. Ich tappelte vorbei und klopfte an die Tür der großväterlichen Küche, die sich vis-à-vis des Eingangs zur Küche meiner Eltern befand.
Meine Aufgabe schien mir übergroß, dass ich, so viel war mir klar, ohne Verbündeten nicht würde auskommen können. Großvater fragte nicht, er nickte bloß, setzte seine Prinz-Heinrich-Mütze auf und schlurfte neben mir her zur hinteren Tür, die in den kleinen Garten führte. Es wurde höchste Zeit, draußen kam Sturm auf. Wir schleppten die kleinen Kerls rein, sie durften daweile in Großvaters Waschküche schlafen. Großvater gab mir auch am nächsten Tag noch recht: Es war nämlich sowieso höchste Zeit, sagte er, wenn der Frost kommt, gehen die Zwerge kaputt.
Über die Treppe, vielleicht noch auf zurück am Schwarzen Mann vorbei, in mein Zimmer zu laufen, wollte ich mir nach der schweren Befreiungstat nicht noch zumuten, ich schlief in der gemütlichen Ecke, gleich neben dem Hund Rindingding.
Warum Mutter so ein Spektakel machte, verstand ich nicht. Einem Zwerg hatten wir in der Eile, die höchste Courage nun einmal vom wahrhaft tätigen, wachen Geistes handelnden Mitmenschen zuweilen in der Stunde der Not verlangt, ein Zipfelchen von der Mütze abgeschlagen; dieses Missgeschick plusterten die auf, na ja, am gemeinsten fand ich, wie der Schnurz zu Edgar sagte: “Siehst du es nun, dass dein Vater langsam alt wird.” Diese Spinner, Großvater hatte sich, statt bei einem Eis mit aufgestecktem Männchen zu sitzen, ohne große Worte zu machen, wie ein Held verhalten. Er war eben ein wirklicher Held, ich habe seine Säbel gesehen, wirkliche scharfe Säbel hatte der noch im Versteck. Großvater saß überhaupt nie mit im Wartburg, das war nichts für ihn, als er jung war, hatte ihm der Kaiser ein richtiges Pferd geschenkt, das brauchte er nämlich, um dem Franzmann, sagte Großvater, tüchtig eins einzubläuen. Ich verstand nicht immer, was Großvater außer dem Märchen vom Däumelinchen noch alles erzählte. Großvater meinte jedenfalls, den Franzmann müsse man ‘mal rauswerfen, immer ‘mal wieder, sonst wäre der heute noch hier drinnen. Die pochten schon bei meinem Vater hier ans Tor, hatte er mir erzählt, die wollten was futtern, die Pferde beschlagen lassen, natürlich ohne zu bezahlen. Einer hatte an der Waschkommode einen Ring liegen lassen. Viva le Imperieur! - Es lebe der Kaiser!, stand da drauf. Großvater, so viel hatte ich verstanden, mochte aber nur seinen eigenen Kaiser. Die Franzmänner, die Welschen, seien aber doch keine so schlechten Kerle gewesen:
“Die haben hier gegessen und überall rumgeschnüffelt, vor allem, ob nicht paar Eier oder am Ende bisschen Schinken übrig wäre. Einmal pochten die hier in aller Herrgottsfrühe, die Situation und ich beim Balbieren! Aber weißt du, wenn die es sich hier gemütlich machen, die hätten alles aufgeschleckt und ich meine nicht halb aus, sondern ganz aus.” Großvaters “Die Situation und ich beim Balbieren” war in Nixburg zum geflügelten Wort geworden.
Milchsuppe
“Milchsuppe” grummelte Vater ins Grummeln des Wartburgs. Neunzehnhundertsiebzig, als ich zwölf Jahre war und, im Bauch des elterlichen Autos sitzend, Zuckerrübenfabrik, Äcker, Wiesen und die mit einem weißen Viereck angemalten Bäume sah, wie ich sie sonst nie gesehen hatte, vorne im Lichtkegel goldener Strahlen und dahinter eine Art Qualm mit Monstereinlage. Die Nebelscheinwerfer waren noch technische Neuheit, die verchromten Halbkugeln hatte Vater über der Stoßstange montiert. Für mich und den vor mir sitzenden Fahrer-Vater bedeutet das, die entgegenkommenden Fahrzeuge und die Chausseebäume kaum noch wahrnehmen zu können, für die entgegenkommenden Fahrzeuglenker allerdings warnten nun zwei goldene Pünktchen auf der Stoßstange. Obwohl wir nur Schritt fahren konnten, vergaß ich fast die Schalthebel der Lenkradschaltung und das Gaspedal zu bedienen, die imaginär, aber für mich natürlich immens wichtig waren, ich fuhr hinten auf dem Rücksitz jede Gangschaltung und jedes Gasgeben, erst recht die Vollbremsungen konzentriert mit. Auf Höhe der Zuckerrübenfabrik blinkte kein Nebelscheinwerfer, sondern der Rote Stern über dem Tor der Fabrik. Die Arbeiter an den Förderbändern und Sortieranlagen hatten die Norm erfüllt oder übererfüllt, sonst hätte der Stern nicht geleuchtet, das war eine Maßnahme der Betriebsleitung und der BPO, der Betriebsparteiorganisation. Leider bedeutete das Leuchten des roten Planerfüllungssterns auch, dass die mit den Werktätigen um Planerfüllung kämpfenden Genossenschaftsbauern mit ihren Treckern die Schwarzerde auf die vernebelte Buckelpiste schlierten und Vater hatte noch den Nerv, den Kitzel der Fahrt zu vervollkommnen und hörte im Autoradio auf Mittelwelle eine Hetzsendung von RIAS. Am Ortseingang eine Brücke über die Gleise, einsturzgefährdet und deshalb gesperrt. “Schilder aufstellen ist leichter als reparieren”, schimpfte der Fahrer-Vater, während ich ihm hinten half, die Gänge zu schalten, und an der Kreuzung zu blinken, ich staunte; Vater hörte sich jetzt fast ein bisschen wie der Kommentator aus dem Hetzsender an. Über Radegast und Zippel-Zörbig nach Kuh-Köthen, zur Oma und zur PGH-Frisur und Kosmetik, das war eine unserer häufigsten Touren. Ab und an ging es auch ins “Troika”, über das ich später schrieb, und zwischen dessen Mosaik-Säulen ich als Kind bereits meine Leidenschaft für Kuchen und Torte entdeckte. Die alten Bürgerhäuser, das Schloss oder das Heimatmuseum entdeckte ich mir in Köthen erst als Erwachsener, obwohl ich als Kind durchaus Museen, wie etwa das Schloss in Wernigerode oder die Burg Düben zusammen mit meinen Eltern besichtigen durfte, aber in Köthen war dafür weniger Zeit.
Vom früheren Neubauernland am Stadtrand, auf dem der Vater meiner Mutter noch immer einen großen Gemüsegarten aufwändig bebaute, war ein Handtuch als Parkplatz abgetrennt und mit Kies aufgeschüttet. Bei Nebel schwenkte Opa die Taschenlampe, sonst erfolgten Winkzeichen, um das KFZ einzuweisen, musste alles seine Ordnung haben, wo er doch den Parkplatz, wie er sagte, extra für Edgar und Schnurz gebaut hatte.
An manchen Tagen allerdings, wenn Vaters Flitzer in der Garage schlummerte oder der Schmiedemeister allein oder mit Kollegen auf Baustellen tourte, soll mein Onkel – so einer, der seine Schrankwände selbst baute und sich ehrenamtlich als Mitglied im Beirat der Verkaufsstelle “Heimwerker” engagierte, also der gewisse Pfiffikus mit Extra-Außenspiegeln und Fuchsschwanz an der Auto-Antenne – seinen aufgetakelten Skoda lässig mit zwei Fingern am mit Lederband umwickelten Lenkrad in die Parkbucht gesteuert haben – Strawanzer, so einer.
Wenn das Haus der Großeltern in Köthen nicht so geräumig und geheimnisvoll wie das meines Großvaters, des Schmiedemeisters war, so barg es auch seine Freude, nicht nur ein Blockhaus zum spielen, dessen Dach ich später noch aufklappen möchte, auch eine doppelseitige Mundharmonika der Marke Hohner gab es und in der Wohnküche ein großes Röhrenradio. Als ich da ‘mal meine Musik einschaltete, am Wochenende lief nämlich die für mich wichtige Sendung Schlagerderby, in der man aber nicht Schlager, sondern Popmusik spielte, als ich da mal aufdrehte, um die Rubettes besser hören zu können, meinte mein Opa, weil sich der Refrain immerzu wiederholte : “Na nu, da ist wohl der Apparat kaputt!”
Die Schränke in der Stube rochen nach Möbelpolitur und Medizin, meine Oma jammerte ständig über ihre Krankheiten und das in so langen Jammerjaden, dass selbst meiner Mutter, wie sie sagte, die ewige Barmerei auf den Nerv ging. Ich mochte natürlich, wie vielleicht fast alle Kinder, dennoch unsere Oma, weil sie sich mit uns beschäftigte, Geschichten erzählte und uns Kinder, auch mich Jungen, zur Nadelarbeit anhielt. Leider verpasste meine Omi in den späteren Jahren wichtige Etappen meiner Entwicklung, musste immer wieder erinnert werden, dass ich einer sei, der sich am Geburtstag über ein Buch freuen würde, noch lange nach meinem sechzehnten Geburtstag brachte die Oma aus Köthen auch für mich Abziehbilder und Malbücher mit. Die Besuche in Köthen, aber auch die Besuche meiner Oma im Kinderzimmer zu Nixburg hatten außerdem noch einen ungeheuren Vorteil: Wenn Oma da war, sank bei unserem “Schlau”, wie wir später, nicht ohne Zynismus, die Mutter nannten, die Bereitschaft zum Zuschlagen und Herumbrüllen annäherungsweise auf Null.
Leninallee 328
Wie von einem Aussichtsturm konnte ich über die Stadt sehen, denn am 4. März 1977 bezog ich meine erste eigene Wohnung, ein kleines Mansardenstübchen in der halleschen Lessingstraße. Schön war es hier, abends ging ich ins Café Moschkau, da spielten Hühnemeyer und Schade, für ein paar Pfennige gab es Schlachtewurst, Wurstsuppe und Bier.
Die Haare ließ ich wachsen, wusste nichts über Blues, was die anderen weniger störte, denn ich verfügte über eine eigene Bude und Plattenspieler. Immer öfter klopften abends die Kumpels aus der Berufsschule und dem Theaterzirkel, guckten in alle Kästen, ob da nicht ‘ne Flasche Rotwein der Marke Cabernet übrig wäre oder vielleicht noch Brot oder Eier.
Sicherheitsschlösser, selbst die simplen Dreipunktsicherungen, von denen erzählt wurde, sie könnten mit einem leicht erwärmten Stielkamm geöffnet werden, waren Mangelware, gehörten nicht zum Standard. Als ich verreist war- weggetrampt halt in die Altmark - fand ich nach meiner Rückkehr einen Zettel auf dem Tisch, fast hätte ich den Schriebs zwischen zerbrochenen Flaschen, Rotweinpfützen und Flaschenkorken übersehen; sie hatten schon ohne mich gefeiert. Da waren sie, die Welschen, und ich ohne Säbel, wenn auch nicht beim balbieren, wie Großvater die Prozedur der Nassrasur noch bezeichnete. Der Kleine vons Dorf lernte seine neue Lektion; besser als jeder Säbel schützt dich der Trick. Ich zog um und jeden, der mich fragte, belog ich auf die Frage hin, wo ich künftig wohnen würde: Leninallee 328. Später versuchte ich zu erlernen, wozu Schnurz und Edgar, selbst mein Großvater auf dem Dorf einfach weniger gute Chancen hatten, ich plante zumindest, mir meine Bekannten und die wenigen Menschen, von denen ich besucht werden möchte, selbst auszuwählen; freilich bin ich immer noch ein Schüler dieser schwierigen Kunst!
Der Garten hinter der Schmiede war von einer Mauer aus Ziegelsteinen umgeben, in der Mauer war ein Loch. Durch das Loch guckte Berlins Fritze, ehemaliger Schmiedegeselle meines Großvaters, Hilfspolizist mit roter Armbinde und Faktotum. “Was schachtet ihr da aus?”, wollte Fritze wissen. Ich sollte das machen, wofür sonst eine Tracht Prügel in Aussicht stand, ich sollte lügen, Spargelbeete schachten wir aus, sollte ich dem Fritze ins Gesicht lügen, irgendwie brachte ich das nicht.
Würde bestimmt das Lügen noch besser lernen. Wer für das Studium antiker Literatur, vielleicht noch im Original, zu faul oder, wie ich, zu doof ist, der bekommt es ja notfalls bei Goethe, oder wie ich auf dem Dorf, vom Pfarrer erklärt: der Mensch lebt nur, wenn er sich verwandeln kann. Zu jeder Zeit, selbst in der letzten Stunde, lernen wir es noch kennen, im letzten Ausatmen, das Neue. Die Frage, wo Gott wohnt, ob es ein Leben nach dem Tode gibt, bedrängte mich. Seit dem ersten Schuljahr besuchte ich die Christenlehre im Gemeindehaus, im Lutherheim. Gott war also allmächtig und hatte alles gemacht. Die Katechetin, Frau Hintzke aus Schwerz, liebte ich in kindlicher Verehrung über alles. Eine ältere, gemütlich-dickliche Frau, die die etwa fünf Kilometer vom Nachbardorf geradelt kam, um uns Kinder von Jesus Christus, dem guten Hirten, oder von König David, der Harfe spielte und außerdem mit seiner winzigen Hirtenschleuder den riesigen Goliath besiegte, zu erzählen. Schon in der Unterstufe konnte ich die zehn Gebote, das Vaterunser, die ersten vier Strophen des Chorals “Ein feste Burg ist unser Gott”, Psalm 23, Tauf- und Missionsbefehl und allerlei Bibelsprüche aufsagen, das Lesen der Frakturschrift lernten wir Kinder so nebenbei.
Trigonometrischer Punkt
Der kleine Holger war in der Christenlehre der Liebling der Katechetin, zumal viele Jahre sein Berufsziel wie gueldene Verheißung himmlischer Heerscharen am Himmel stand, er wollte in den schwarzen Rock, wollte Pfaffe werden. Die Arbeit in den Produktionsbetrieben, soviel sollte ich im Unterrichtstag in der Produktion bereits in der ersten Stunde kapieren, war ätzend, und Gott liebte ich immerhin, nicht Karl Marx. Mein Traum beschämt mich noch heute und mehr noch seine Motive: Zu Gott betete ich und würde, so nahm ich mir vor, was damals wesentlich einfacher war, keine Gebote brechen. Kunststück, ich war ja gut versorgt, zu huren war mir noch nicht möglich und Vater und Mutter, so stand da, brauchte ich nur zu ehren, nicht ‘mal zu lieben.
Witzigkeit, das kann charmante Unterschlagung tieferer Beweggründe um der Pointe willen sein, weshalb ich also die wesentliche Frage noch einmal sachtrocken stellen will.
Der Zwiespalt wurde bereits von uns Erstklässlern schon gefühlt, der Riss zwischen dem Anspruch des Staates und der Worte und Wertungen unserer Eltern im Privaten.
Bei den Jungen Pionieren, aber auch während der Vermittlung des Schulstoffes wurden nicht nur Faktenwissen, sondern auch Bekenntnisse abverlangt. Die Jungen Pioniere sollten ebenfalls Gebote befolgen, es waren zwölf. Eines davon lautetet: Wir Jungen Pioniere halten unseren Körper sauber und gesund! Wie gesagt, Hygeia hätte eigentlich eine der Staatsgottheiten sein können.
Die Schule ließ keinen Zweifel daran, wie viel weniger der Staat und seine Freunde, die Lehrer, jene Kinder lieben, loben und positiv bewerten würden, die zur Christenlehre gingen. Andrerseits schien alles nicht so schlimm, außer in der schwarzen Stunde, die mir der “Chreck” bereitete. “Notkonfirmanden ‘mal alle aufstehen!”, so hatte er in die Klasse gebrüllt! “Was, auch du?”, murmelte der Chreck, es waren gerade zumeist die Schüler mit den höheren Leistungen, den guten Aufsätzen, solche, die auch in ihrer Freizeit Bücher lasen. Jetzt wusste der Chreck, mein Klassen- und Deutschlehrer, den ich doch gern mochte, auch von meinem Doppelleben, dass ich also nur log, am Ende einer von den Dummköpfen war, der den Kommunismus dumm, einer von den Schmutzigen, der ihn schmutzig nennen würde. In Wahrheit wussten unsere Lehrer, die Hälfte unserer Klasse besuchte die Christenlehre und war in der Rubrik ‚Soziale Herkunft‘ auch nicht unter Arbeiterklasse registriert, dennoch wurden wir gleichberechtigt, also entsprechend unseren Leistungen und unseres Engagements bewertetet, Rhetorik war allerdings hoch angesehen. Von meiner Mutter bekam ich auf die Fresse geschlagen, als ich bereits in der zweiten Klasse außer den sehr guten Noten, damals hieß das eine Eins, auch schlechtere bekam. Für eine Zwei in Mathematik bekam ich bereits in der Tür auf die Fresse, weil ich so etwas nicht nötig hätte. In den späteren Jahren regte sich Mutter dann ab, eine Zwei gehörte dazu, meine sehr guten Leistungen erzielte ich nun mal in Russisch und Deutsch, außerdem da, wo es nicht schwer fiel: Geographie, Staatsbürgerkunde, Astronomie und die Noten, die Eigenschaften bewerteten.
Gott liebte mich also, da war ich mir sicher, ich betete ja. Die Erde ist ein Jammertal, ohn‘ Elend gleichermaßen, sang ich mit nach dem Gesangbuchtext, aber das hinterließ wohl eher wollüstigen Schauer.
Am Burgstaaten, so hießen die Überreste eines fränkischen Kastells, nur noch an den treppenähnlichen Formen im übergrünten Hügel zu erkennen, stand ein sogenannter trigonometrischer Punkt. Ein hölzernes Dreibein, aus dem oben eine weitere Stange ragte, eine Markierung in der Landschaft. Ein Punkt auf drei Beinen, so wie die Überforderung, die mir in den unterschiedlichen weltanschaulichen Orientierungen meiner Kindheit zuteil wurde, auf drei Beinen zu stehn schien.
Bein
Du musst manchmal mit den Wölfen mitheulen, mein Junge, hatte ich oft gehört. Sie schimpften abends beim Westfernsehen auf den Staat, steckten aber am Ersten Mai und zum Tag der Republik Fähnchen in die Blumentöpfe, später traten sie sogar in die LDPD ein.
Bein
In der Christenlehre hieß es: “Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeboren Sohn hergab, auf dass alle, die an ihn glauben, gerettet werden und das ewige Leben haben.” Gott liebte alle Menschen, war wunderbar und prächtig. Wie gesagt, seine Gebote, so irrte ich mich damals, schienen mir mit einigem guten Willen erfüllbar. In der Bibel verlangte Gott unbedingten Gehorsam, probierte schon ‘mal aus, ob ein Vater bereit war, seinem Sohn das Messer an die Kehle zu halten und ihn zu töten. Heute weiß ich, was ein Stilmittel ist, mehr noch, hinter Texten vermutet der reizgewohnte, also abgebrühte Konsument, ohnehin die Absicht des Fiktionalen, für ein Kind aber ist das nichts ausgedachtes, kein Spaß. Ein guter Christ behilft sich ja, indem er die Schrift auslegt, der Hermeneutiker bügelt den Zeitbezug her, schabt leider meist etwas von der lutherischen Poesie weg und berücksichtigt das historische Detail, sozusagen werden aus den Kiefern Luthers wieder Zypressen. Nur, in der dritten Klasse gibt es für dich vielleicht zu Hause eine Bibel, aber keine Konkordanzen. Liebe und Verstand sind sicher ein gesegnetes Paar, aber ein ungleich entwickeltes, zur echten Partnerschaft unfähiges, wenn du noch nicht ‘mal zwölf bist.
Bein
“Die Lehre von Marx und Engels ist allmächtig, weil sie wahr ist.” Marx, Engels und Lenin, unbedingte Treue zur Arbeiterklasse also, mit guten Leistungen in der Schule, mit Aktivierung aller Kräfte unseres Kollektivs den Frieden der Welt, gegen die ständig steigende Aggressivität des Kapitalismus, sichern.
Wenigstens zwei dieser Maßgaben liegen, während ich dies schreibe, ungültig wie das zerknüllte Straßenbahnbillet einer Fahrt von vorgestern im Müll meiner Biografie. Natürlich lief ich auch dem Grün angestrichenen uralten klapprigen Ford des Eismanns nach, dem in sommerlicher Abendstunde eine wilde Corona von uns Rotznasen hinterher stürmte. Die Devise des Tausches liest sich heute rührend: Aluminiumgeld gegen buntes Wassereis. Ja, auch ich habe, wie es sich für einen späten Epimetheus gehört, natürlich im Garten des Pfarrers, eine frühreife Göre im Gebüsch geküsst, nach den Kriterien meiner Mutter gehörte die zum Gesockse, dennoch glaubte ich noch übermäßig lange, der Storch würde die kleinen Kinder zur Welt bringen. Die kindliche Psyche erwartete in hohem Maße Vollkommenheit; wenn die Bibel das Wort Gottes, der Gott aber allmächtig ist, wird die Erwartung grenzenlos sein. Der Pfarrer unseres Dorfes baute Kartoffeln an, um sie an arme Familien zu verschenken, die Pastoren in der Stadt halfen Menschen, die von der Polizei gesucht wurden, ohne lange nach den Gründen zu fragen. Die Kirche meiner Kindheit war nur gerade geduldet, sie half den Armen und Unterdrückten, aber für Kritik an der eigenen Botschaft und Praxis schien die Kraft nicht mehr zu reichen. Vielleicht war das überhaupt der kleinste gemeinsame Nenner dieser drei Positionen Eltern, Staat und Kirche; Selbstkritik wurde klein geschrieben, kam faktisch nie vor. Vielen Menschen, sie mögen gesegnet sein, hilft eines: Nicht weiter nachdenken. “Die da geistlich arm sind” wissen ein gutes Essen wie die Sinnenfreude der Buhlschaft, na ja, eben Titten und einen prallen Arsch, das Quieken der Kinder und in späteren Jahren das besinnliche Dösen auf der Hollywoodschaukel im Garten zu schätzen. In solche Versager wie mich hingegen legte Gott seit meiner Geburt Frage und Klage, Trunkensein an der süßen Schönheit der Schöpfung, aber auch Zweifel und Depression. (Wer es nicht wissen sollte, der orphische Wanderer ist ein Quäler.) Es gab einen kleinen Jungen in blauer Strickjacke, mit seiner geliebten Katze unter dem Arm, jetzt einen alternden Mann, der Angst vor dem Zahnarzt und anderen Dämonen aus dem Kanon der Angst kennt. In einem Menschen wohnen verschiedene Dimensionen, haben, wenn es denn sein soll, sogar verschiedene Biographien Unterkunft. Der Sohn, der den Eltern antwortet, der Schüler in der staatssozialistischen Schule und der gute Konfirmand der evangelischen Kirche, diese drei antworten, ohne bewusst zu lügen, ihrem autoritär geprägten Fragesteller, in jenen Abweichungen, die für eine willkommene Antwort unentbehrlich waren.
Worte waren zuvörderst gefragt, erst danach die von Worten geleiteten, kommentierten und bewerteten Taten, manchmal auch nur Worte. Ich komme, ach wie tröstlich scheint das, aus dem Worteland. Wie das, wird Leserin und Leser fragen, haben nicht Millionen schwer in den Fabriken geschuftet, Mütter schwere Hausarbeit, noch ohne Technikpark in der Küche und ohne Vollautomatische, geleistet? Sicher, aber ohne die Worte wären das blöde Schufterei, sinnloser Knochenjob gewesen, erst die Rede, die Aufwertung zu Helden der Arbeit, Großbaustelle des Sozialismus würdigte die Taten durch Glorifizierung. An die entwickelte sozialistische Persönlichkeit mögen nicht viele geglaubt haben, an das bunte Blech am Revers und die Auszeichnung schon. Die Festredner auf Jugendweihen und zum Internationalen Frauentag, erregten sie nicht doch ein feierliches Erschauern? Galt der Phrase des Funktionärs noch scharfe Kritik, wenn sie den sonst a priori verdächtigen Staatsbürger lobte?
Und die anderen? Christus hätte auch als ein römischer Justizirrtum, bestenfalls ein Politmord der römischen Besatzungsmacht an einem Juden bewertet gewesen sein können, dreihundert Jahre nacherzählte und ausgedeutete, ihm zugeschriebene Worte und Wortwahl, die zu Zeit der Niederschrift modische Allegorietechnik und letztlich die Verbreitung des Bestsellers Bibel bestimmen den Siegeszug Roms im Königreich der Worte. Auf dem zweiten Rang der Auflagenhöhe das Manifest der Kommunisten, die ohne Gott so grenzenlos glaubten und verehrten, um alle andern Widersacher grenzenlos zu demütigen und, zumindest in den schlimmsten Fällen und frühen Jahren des Übereifers, auch zu töten.
Die Worte schafften alles und kitteten zusammen, was so zusammen nicht ging. Vom Bruder Atheist sprach der evangelische Theologe Mitzenheim, von Kirche im Sozialismus war die Rede. Die Eltern fürchteten das offizielle Wort und sprachen alles nach, wenn sie nur in Ruhe gelassen würden. Ein guter Schüler erlernte die Widersprüchlichkeit der Wertungen, vom Staatsbürgerkundelehrer Dialektik genannt. Zu Gott betete ich und war gleichzeitig Schriftführer, der im Klassentagebuch über unseren Fahrten nach Naumburg und Bad Kösen, nach Weimar oder Potsdam berichtete - in der gesellschaftlichen Arbeit war mir dies lieb geworden wie die Gestaltung der Wandzeitung, sei es zur Friedensfahrt oder Lenins Geburtstag - das ließ ich mir auch dann nicht nehmen, als bei der FDJ die Bezeichnung meiner Tätigkeit wesentlich ideologischer klang: Funktionär für Agitation und Propaganda.
Vielleicht bin ich noch immer der Wortemacher aus dem Königreich der Worte. Wer hätte ahnen können, dass ich später, nachdem ich die Schule verlassen hatte, noch einmal so blöde sein würde, gegenüber dem Staat meine Wahrheiten auszusprechen? Bis zur zehnten Klasse jedenfalls galt, ich war ein guter Lügner geworden, ach nein: ein aus drei Dimensionen dialektisch unterschiedlich aspektverändernd moderat agierendes Individuum, versteht sich.
Fenster zur Schmiede
Aber noch stand der kleine Holger im Garten unter einem der Birnbäume, die demnächst für den Traum vom Bungalow gefällt sein würden. Der großväterliche Garten, mit ausreichender Wiese, Gemüsebeeten und Kartoffelfurchen, sollte Bauland werden. In der Mauer, die den Garten umgab, befand sich ein Loch, so ein richtiges Guckloch, gerade groß genug, damit Berlins Fritze seinen Kopf durchstecken und fragen konnte: “Was baut ihr denn da?” Ich verhaspelte mich also, vergaß, die Schachtarbeiten für die Vorbereitung von Spargelbeeten zu erklären, und sagte Fritze, nicht ohne trotzigen Stolz, die Wahrheit: “Mein Papa baut da unser neues Haus.”
Wer Berlins Fritze etwas erzählte, der hätte das normalerweise, wenn zu DDR-Zeiten solches Forum zugänglich gewesen wäre, auch im Rundfunk bekanntgegeben haben können. Berlins Fritze war nicht geheuer, es soll Kinder gegeben haben, die ihm hinterher riefen: “Fritze mit der Mütze, mitten Holzpantien‘, der geht in Laden und klaut Rosin‘!” Was natürlich gelogen war, weil Fritze, gelegentlich betonte er das, so etwas wie eine Amtsperson darstellte, nämlich Freiwilliger Helfer der Deutschen Volkspolizei, weshalb er an hohen Feiertagen, wie am Ersten Mai oder dem Tag der Republik, sogar eine rote Armbinde trug. Andrerseits hatte Fritze lange Jahre mit seinem Freund, meinem Großvater Franz, zusammen in der Schmiede gearbeitet, hatten sie gebohrt, geschliffen, Eisen gesägt, Aschenkästen repariert oder Hufe beschlagen und sich am Feuer Späße, Anekdoten und Neuigkeiten erzählt.
Heute weiß ich nicht mehr, ob Fritze wenigstens eine Weile dicht gehalten hatte oder nicht, jedenfalls steht der architektonische Traum meiner Eltern, ein moderner Bungalow, natürlich ohne Giebel, dafür mit Terrasse, Blumenfenster und Warmwasserheizung, die vom Keller aus mit Koks befeuert wurde, heute noch.
Meinem Schöpfer aber danke ich, dass das wahrscheinlich über fünfhundert Jahre alte Haus, in dem ich geboren bin, doch nicht im Maul eines spätkapitalistischen Baggers verschwand.
Die Weinspaliere, an denen mein Großvater seine Trauben ängstlich hütete, auch die Schnitzerei an der verglasten Wand des Alkovens und der alte Kachelofen sind verschwunden. Na, um die Sentimentalitäten eines alternden Schreibers vollständig aufzulisten, an der Ecke zur Straße stand die Akazie, die mit ihren Zweigen in die Stube meiner Geburt geschaut hatte, und im Hofe ein bestimmt fünf Meter hoher Fliederbaum, wie ich ihn jetzt nur noch in meiner Erinnerung sehen kann.
Das Zigeunermädchen ging barfuß und hatte den Mund verschmiert und war schmuddlig, wie wir es nie hätten sein dürfen, ohne von Mutter sofort eine gewischt zu bekommen. “Die Weintrauben habe ich aus dem Konsum!”, log das Leuchteauge meine Mutter an. Weintrauben hatte es im Konsum und auch in der HO schon viele Jahre nicht gegeben. Unser Gemeindediener, der alte Schlegel, bimmelte als Ausrufer durchs Dorf, obwohl der Bürgermeister von diesem Ausruf nichts wissen wollte, warnte Schlegel doch genauso, wie das sein Urgroßvater schon unter dem Kaiser jedes Frühjahr ausgebimmelt hatte: “Achtung, amtliche Bekanntmachung! Leute, nehmt die Wäsche ‘rein, die Zigeuner sind da. Lasst nischt draußen liegen.” Die Weintrauben von Großvaters Weinspalier waren es gewesen, die sich die Kleine ins verschmierte Mäulchen geschoben hatte.
Als ich noch nicht zur Schule ging, hatte Pittiplatsch, so nannten sie den Bürgermeister, noch gemeint, das sind Bürger der Förderativen Sozialistischen Republik Jugoslawien, die sollen wir in Ruhe lassen. Nachts schlichen ohnehin doch welche zu den Zigeunern, um sich aus der Hand lesen zu lassen, wer weiß, was die zigeunerschen Weiber noch alles anrichteten. Im nächsten Jahr gab es für die Zigeuner kein Wasser, im übernächsten wurde der Vertrag für den Rastplatz nicht erneuert, die Anweisung kam von ganz oben, hieß es. Zigeuner habe ich erst wieder gesehen, als sie in Möchtegern-Vorbild-Europa Sinti und Roma genannt wurden. Wer, wie ich, zu oft in der Oper gesessen hat, neigt dazu zu bedauern, ihre glitzernden, geschmückten Pferde nicht mehr anstaunen zu können, für die fahrenden Leute war die Motorisierung sicher zweckmäßig. Goldene und silberne Münzen klingelten, bunte Tücher waren in die Mähne des Braunen geflochten. Der Mann mit dem Ring im Ohr streichelte seinem Gaul den Kopf und flüsterte Worte in einem weichen Singsang. Der elektrische Blasebalg am Schmiedefeuer fauchte. Das Eisen wurde eine goldenen Schlange, die Vaters Hammer in der Glut leicht um das auf dem Amboss aufgesteckte Armierungs-Eisen winden konnte. Das Hufeisen wurde abgeschreckt im Wasserbecken, Dunstschwaden zischten auf. Beim Hufbeschlag müsste eigentlich eine Nasenklemme gereicht werden, verbranntes Haar und Hornhaut stanken. “So ist der Zigeuner anstellig gewesen”, würde Vater später auch sagen, nach dem anderen, das wir uns noch lange erzählen würden. Er winkelte das Bein des Pferdes an, wo statt des verlorenen Hufeisens ein Lapppen drum gewickelt war. Das Einschlagen des Hufnagels, das ist die Sekunde, wo die Bezeichnung Grobschmied vergessen sein sollte, da war es gut, dass der Zigeuner dabei war, nicht wie früher die Knechte, die den Hufbeschlag in der Schenke abwarteten. Mit dem Hufbeschlag war noch nie richtig Geld zu verdienen gewesen, Vater hatte außer dem Meisterbrief des Schmiedes noch extra eine Prüfung belegen müssen, aber es gab nur noch wenige Pferde im Dorf und die LPG ließ in eigener Schmiede ihren fettwanstigen Kaltblutpferden - vor denen ich auf dem Weg zur Schule immer bisschen Bammel hatte - die Hufe beschlagen. Nicht mal für Vaters Vater war beim Hufbeschlag richtig zu verdienen gewesen, denn der geizige Rittergutsbesitzer sparte sich die Ausgaben und spannte Ochsen vor den Pflug. Vom Dünkel der Großgrundbesitzer hatte uns der Staatsbürgerkundelehrer erzählt, die hätten sich gesagt: Ein Ochse vor und einer hinter den Pflug!
Als ich die Polytechnische Oberschule besuchte, war das längst Geschichte, wie sie uns einmal im Jahr der in die Schule eingeladene Arbeiterveteran erzählte, trotzdem riefen die Kinder am Schuljahresende ganz erbarmungslos den nicht versetzten Klassenkameraden hinterher: Sitzenbleiber, Ochsentreiber, Sitzenbleiber, Ochsentreiber…! Der Zigeuner war sicher nicht geizig wie der Rittergutsbesitzer, aber so richtig Geld hatte er nicht dabei, hatte lange gefeilscht und am Ende klingelten in der kleinen Kasse neben dem Schraubstock außer Mark der DDR auch Dinare. Vater rief mich zum hinteren Schmiedefenster: “Komm mal her, wenn du ‘mal den Mund hältst, nicht rum zappelst und warten kannst, dann gibt es gleich was zu sehen.” Mein Vater war ein eher verschlossener, manchmal ziemlich brummiger Mann gewesen, der die Belange meines Alltags der Mutter überließ und sich nur hin und wieder mit einem Donnerwetter einmischte, wenn er dazu gerufen wurde. Gerade deshalb für mich kostbares Erinnerungsbild: Vater stand hinter der Schmiede im Garten, zwischen Plumsklo und verkrüppeltem Kirschbaum, guckte durchs Fenster in die Schmiede und lachte und lachte, presste sich die Hand vor den Mund und lachte. Das Rolltor wackelte, dann sah ich den Zigeuner, diesmal ohne Pferd. Er griff sich Werkzeug und brach die kleine Kasse auf. Vater lachte noch lange, nachdem der Dieb mit den kleineren DDR-Münzen und den Dinaren heraus gesprungen war. Die Beobachtung des Diebstahls muss ihm so große Freude gewesen sein, dass er nicht daran dachte, mit der Polizei zu telefonieren und Berlins Fritze, der Freiwillige Helfer der Deutschen Volkspolizei, hatte seine Chance verschlafen.
Flachbau
Meine Eltern träumten von einem modernen Haus, modernen Möbeln und einem schicken Auto. Heute lässt sich nebenbei leicht erwähnen, dass das eben die Wirtschaftswunderträume der Fünfziger waren, noch in den Sechzigern konnte das nicht jeder verstehen, auch nicht der Bürgermeister, der meinte, der Flachbau entspräche architektonisch nicht dem Charakter des Dorfes - ein immerhin verständliches und so gar nicht sozialistisches Argument. Ärger drohte wegen nicht vorhandener Baugenehmigung, die zunächst nur für eine Gartenlaube erteilt worden war, irgendein Widersacher hatte sogar ‘mal den Abriss erwogen. Der Bungalow war vor der Erhöhung der Baustoffpreise errichtet worden, außerdem mit nachbarschaftlicher Hilfe vom Dorf. Fertigteile wurden aber noch nicht verwendet, ich habe gesehen, wie die Ziegel, auch die von der Garten-Mauer, durch die Berlins Fritze neugierig seine Fragen gestellt hatte, abgeklopft wurden. Wer denkt, der kleine Dummbatz in seinem Tretauto hätte damals nicht genau beobachtet, der irrt sich: Im Korridor wurde beispielsweise zwischen der Eingangstür und der Glastür zur Stube versehentlich eine Rolle Bindfaden eingemauert, die noch heute dort sein dürfte.
Der Bau, den Vater da mit Hilfe der Dorfbewohner hochzog, brachte noch eine andere, fragwürdige Weihe mit sich. Der Zweitklässler in blauer Strickjacke, neben sich die geliebte Stoffkatze, der da im Tretauto vorfuhr, war das erste mal angetrunken. Die Männer auf dem Bau tranken natürlich ein Bierchen, der Kasten Sternburg – gerade auf Kronkorken umgestellt – stand zwischen Wasserloch und Plumsklo am verkrüppelten Kirschbaum. Von den Erwachsenen unbeachtet, hatte ich am Kasten gespielt, mir die Reste aus den Flaschen zusammengeschüttet, erhielt so mein erstes Bier - bezeichnenderweise ein Neigenbier - und trank es aus, geschmeckt hatte es nicht besonders, aber nach meinem Debüt als Trinker war ich leicht bläulich.
Meine Schwester war, wie ich, noch 1964 im alten Haus geboren, zog aber schon als Kleinkind ins neue Haus. Alles wurde neu! Die Möbel in der Wohnküche aus schrill-buntem Sprelacart, zum Abendbrot wurde jetzt von Plastebrettchen gegessen, neben dem Elekroherd summte ein neuer Kühlschrank und es glänzte weiß ein zweiflammiger Herd für Propangas, das Wohnzimmer war mit Parkett ausgelegt, sechsunddreißig Quadratmeter groß. Ein Glasergeselle hatte für seine Prüfung ein rundes Fensterchen, ein Glasmosaik - das Schmiedefeuer und Amboss darstellte - gearbeitet. Vater kaufte das Gesellenstück für die Rückwand der Wohnstube. Das Kinderzimmer, in dem wir später zu dritt schlafen, spielen und Hausaufgaben erledigen mussten, war allerdings viel kleiner als die Stube ausgefallen - unsichtbare Grenzen gab es genauso, wie Versuche mit Kreidestrichen zu markieren und auch harte Fehden fanden statt. Beide Geschwister, die sechs und acht Jahre jünger als ich waren, nervten besonders im Krabbelalter: Einmal erwachte ich nachts, als meine Schwester meine Autos, es mögen gut fünfzig, vom Sportcoupé bis zum Tanklaster, gewesen sein, auseinander genommen hatte. Das Haus war groß genug, wenn auch nicht so geräumig wie Großvaters Märchenpalast, so wäre eigentlich Platz für je ein Zimmer mit Bad oder Toilette gewesen, war ja schließlich keine Nasszelle wie in Halle-Neustadt, aber Pustekuchen, in einem mickrig kleinen, fensterlosen Kämmerchen befanden sich Toilette und Wanne, man kam nicht zum Waschbecken, ohne sich an der Waschmaschine vorbei quetschen zu müssen. Die Heizung funktionierte jedes Jahr schlechter, irgendwas war da nur unzureichend gesäubert worden. Überdacht wurde die Terrasse, bald darauf entstand eine hölzerne Umrandung, aus dieser ein Vorbau, der mit gewelltem, gelben, durchsichtigen Plexiglas überdacht wurde; auf dem Plastedach hörte sich der kleinste Nieselregen wie ein Wolkenbruch an. Das Provisorium des Vorbaus ersetzten meine Eltern später durch die massive Überdachung der Terrasse, sozusagen bekam der rechtwinklige Bungalow an seinem Scheitelpunkt noch ein Zimmer. Von Ballerts Scheune, deren Seitenwand den Traumbungalow meiner Eltern ums Doppelte überragte, trat ein übler Kalk aus und setzte sich ins Mauerwerk. Im Flachdach gab es einen Hohlraum, den die Ratten aus der Scheune bald als Spielplatz entdeckten. Muss ich noch schreiben, dass sich das Parkett wellte und über dem Blumenfenster ein Riss ausbreitete, der von meinem Vater mit einem dekorativen Stamm, der noch von den der Baufreiheit gewichenen Bäumen übrig war, abgestützt wurde? Der Baum rächte sich, im Frühjahr spazierten Borkenkäfer durch die Stube.
Meine Mutter war eines von vier Kindern, das in Köthen in einem kleinen Haus am
Stadtrand aufwuchs, in einer Reihenhausiedlung, deren bevorzugte Mieter Wehrmachtsangehörige waren. Rudolf, mein Großvater mütterlicherseits, hatte schon daran gedacht, sie mit einem Bauern vom noch periphereren Stadtrand zu verheiraten. Es war für den Berufssoldaten nach dem verloren Krieg schwer, die Kinder zu versorgen, durch die Verheiratung wollte er Abhilfe schaffen.
Meine Mutter hatte im ersten Schuljahr noch die “Die Fahne hoch” zum Appell singen müssen, aber ihr Luftwaffen-Vater war bald nicht mehr zeitgemäß. In Köthen gab es viele russische Soldaten, Umsiedler und Flüchtlinge, die kleine Stadt war oft bombardiert worden, die Bomben hatten den Junkers-Werken gegolten. So ein Mädchen wünschte sich natürlich sehnlichst ein neues, sauberes Traumhaus. Meinen Vater hatte sie nach dessen Scheidung in Niemberg, in Leubners Dorfkneipe, kennenen gelernt, wo er als Stammgast gemütlich sein Bierchen trinken wollte. Während mein Onkel Detlev noch als Heimwerker Anbaumöbel für die Ausbauwohnung, zur Miete, sic!, austüftelte und seinen Škoda mit Fuchsschwänzen und extra-Spiegeln aufmöbelte, um uns vorlügen zu wollen, er führe einen Lada, während all dieser Versuche, sich selbst zu definieren und seine Erfolge zu melden - diesmal von der Wohlstandsfront - lagen Edgar und Schnurz weit vorn. Seltsam, scheint mir das heute; Träume sollte man nicht restlos verwirklichen, ahnte meine Generation. Wir träumten, als ich in den Siebzigern Fleischerhemd, Parka und Jeans anzog, nicht von neuen Häusern und Autos, sondern von einer neuen, glücklichen und freien Gesellschaft.
Holzwurm, Engel und andere Lügen
Ich weiß nicht, ob das Käuzchen schrie in dieser Nacht. Die zittrige Hand der Wäscherin schob die Lider nach unten. Der Arzt wusch sich, während eine der Tanten den Spiegel verhängte. Oben, in meiner Kammer, hätte ich sie über die Drehung der hölzernen Treppe kommen hören können. Auch die Schritte der Mutter, deren Melodie ich aus meinen Nächten wußte.
In der großen alten Stube, die ich nur von Feiertagen und einigen wenigen ungenehmigten Expeditionen kannte, lag Großvater in seinem besten Anzug aufgebahrt. In diesem hohen Raum, zwischen Vertiko und der verglasten Tür zum Alkoven, lag mein Großvater, mein Geschichtenerzähler, mein Freund. Nebenan, in der kleineren Stube raunten die Stimmen der Männer. Nie hatte ich Vater so leise sprechen hören. "Es wäre in seinem Sinne", und sie nahmen von den guten Cigarren. Eine der Tanten brachte Gläser.
Das Perpendikel des Regulators stand stille für die Todeszeit auf dem Ziffernblatt. Großvaters Taschenuhr tickte weiter, auf dem Sekretär. Ich streckte die Finger nach dem Oval des Löschers, als hätte ich einen letzten Bogen schwarzblauer Tinte, ein letztes Franz Leisering trocknen können.
Ich konnte nicht sprechen, würde nie mehr sprechen wollen. Ich wollte meine Sprache stummen. Es war mir gleichgültig, was ich von Großmutter jetzt hören sollte. Großvater konnte niemals bei den Engeln wohnen. Die Engel waren in den Märchen des Pfarrers zu Hause. Ich wußte über ihre Lügen Bescheid. Jetzt heuchelten sie ehrfürchtiges Staunen, daß noch vorige Woche der alte Mann am Amboß stand, sein Hufeisen zu schmieden. Aber die Pferde hatten sie ihm weggenommen. Alles weggenommen. Das elektrische Gebläse für das Schmiedefeuer war nämlich Verschwendung, sagte Großvater, als sie das Leder des Blasebalgs zerschnitten. Überhaupt, was mußte der alte Mann noch drei Zimmer bewohnen und ein viertes blockieren, an dem Contor stand. Keine Vase, so lamentierten sie, dürfe verrückt, kein noch so winziges Tischlein verstellt sein, dabei klopfe in all diesem altmodischen Möbel der Wurm. Die schleimige Fratze des Holzwurms mußte besonders ekelhaft sein, so angewidert wie Mutter jedesmal, wenn sie "da ist der Holzwurm drin" sagte, das Gesicht verzog. Auch den Holzwurm sah ich nie selbst, vielleicht war der genauso ihre Erfindung wie die Engel.
Früher hatte Großvater an den Gräbern seiner Freunde Salut geschossen. Großvaters Freunde kannte ich vom Photo einer alten Zeitung. "Kriegerverein. Kameraden im Kriege wie im Frieden!" stand darunter. Die Gesichter mancher Großvaterfreunde erinnerten mich an die Gesichtszüge meiner Klassenkameraden. Auch den Kriegerverein nahmen sie Großvater, wie den Kaiser, den mein Großvater sehr lieb gehabt haben mußte.
Jetzt konnte ich den Regen riechen. Vornweg schritt der Pfarrer, neben ihm ein Junge, beide im Talar. Der Heiland wird naß werden, über dem Trauerzug wackelte das Tragekreuz im Nieselregen. Eine der Tanten flüstert: "...die Engel Gottes weinen, ein erfülltes Leben und wie viele gekommen sind, ein gesegnetes Alter...". Beinpaare im rhythmischen Zwieton von des Totenglöckchens dürrer Stimme. Auf verstohlenes Handzeichen hin wechseln die Männer sich ab beim Tragen des Sarges.
Das Vaterunser wußte ich auswendig wie meine Adresse. Von der Predigt verstand ich nicht alles, manches konnte ich überhaupt nicht hören. Wenigstens wollte ich mitsingen: "Es ist getan in Gottes Rat, daß man vom Liebsten, was man hat, muß scheiden...". Ein schöner Rat war das. Während ich die drei Brocken Erde ganz leicht hineinwarf, sie fielen wie Staub auf die braungoldne Politur, wußte ich es schon, ich haßte sie dafür und Gott, der angeblich uns unsere Schuld vergeben sollte.
Später fraßen sie, soffen Liqueur, sprachen über die Ernte. Wer nur einen grauen oder blauen Anzug, aber keinen schwarzen dabei hatte, behalf sich mit einem schwarzen Band, das sie Trauerflor nannten. Überhaupt konnte man ein blaues Jackett viel besser als ein schwarzes in einer Kombination tragen. Ich sprach nicht mehr, was sie zu Hause ohne die Information des Lehrers kaum ernst genommen hätten. Nicht, daß ich so bestrafen wollte, meine Rache schrie in den Farben von Blut und Tod, wenigstens in den abendlich wiederkehrenden Fieberphantasien und Traumfetzen. Es gab niemanden, dem ich vertrauen konnte, da war ich mir sicher und sollte bald übel bestätigt sein. An einem gewöhnlichen Donnerstag, viel zu früh, kurz nach dem Mittagessen, das ich freilich gemeinsam einzunehmen vermied, verstummte das Scheppern, das Schlagen der Hämmer in der Schmiede. Vom Fenster meiner Mansarde sah ich Vater, wie er das Schiebetor der Werkstatt beiseite rollte. Er rieb sich die verschmierten Hände an einem Lappen. Der Fremde, den er freundlich begrüßte, mußte von außerhalb, möglicherweise aus der Stadt sein, sein beigefarbenes Auto sah ich vorher noch nie. Trotz des Packpapierbogens erkannte ich, daß er Großvaters Säbel auf dem Rücksitz verstaute. Er wendete, hupte und winkte grinsend. Ich öffnete das Fenster, aber es gab kein Gebrüll, keinen einzigen Ton, statt dessen das Scheppern von der Schmiede her, über der immer noch Großvaters Name stand.
In den nächsten Tagen verließ ich mein Krankenbett nicht mehr, ersparte mir, die sich durch schwingschlagende Autotüren und Begrüßungsgeplapper ankündigenden Besucher, auch noch mit ihren Beutestücken abziehen zu sehen.
Nicht, daß sie alles verkauft oder fortgeschenkt hätten. Das Weinlaubservice verstaute Mutter in ihrer Schrankwand, auch in den Porzellanvasen, in Brehms Tierleben oder dem alten Brockhaus schien für den Holzwurm Zutritt verboten zu sein. Das Gehäuse des Regulators zerspellte auf dem Hackklotz, das Uhrwerk selber hängten sie an der Natursteinwand im Wohnzimmer auf, auf die sie so stolz waren. Das Kaiserbild und die Alben mit den Familienphotographien lagerten auf dem Dachboden. Die geretteten Reste stimmten mich fast noch trauriger als die zerschlagenen Möbel. Den Alkoven malten sie in albernen Farben aus. Im Garten hinter dem Haus baute Vater mit nachbarschaftlicher Hilfe einen Bungalow mit Terrasse und Swimmingpool. Wen wundert's, daß drei uralte Birnbäume an einem Vormittag auf die Seite kippten. Die Koniferen, die sie später sozusagen zur Entschuldigung pflanzten, widerten mich so an, daß mir dergleichen Nadelgehölz bis in späte Jahre zutiefst zuwider blieb. In Großvaters Haus zogen Fremde. Nur der Kachelofen war von seinen einstigen Reichtümern übriggeblieben, aber der zog schlecht und qualmte angeblich. Außerdem gab es diese altertümlichen Fenster, die schon längst durch moderne, einteilige ersetzt wären, wie sie sich zu versichern eilten, wenn "der alte Mann sich nicht immer quergestellt hätte". Mutter stand die neue Rolle der Hauswirtin gut, der Ofen würde also abgerissen werden und die in ihren endlosen Reparaturen kostspielige Verglasung des Alkovens würde man entfernen, verkündete sie, ehe sich die Kinder noch schneiden. Die Kundschaft nannte Mutter "Frau Meistern", oder auch nur Meestern, die Dorfleute grüßten zuerst. Nachts schrieb ich mit Schlämmkreide "Verräter" ans Hoftor. Noch vor Ablauf des Trauerjahres begriff ich, daß der von Großvater verehrte Kaiser weder besonders gut noch besonders weise gewesen sein konnte. Ich schämte mich, an manchen Tagen alles Unrecht vergessen zu haben, auch mein Gelöbnis der Rache. ...
Jahrzehnte später, ich fuhr, als Spion eigener Kindheit im Fond des Wagens ängstlich versteckt, an meinem Geburtshaus vorbei, sah ich, daß sie mit der Rekonstruktion des Daches auch noch das alte Dachfenster, Ochsenauge genannt, wegrationalisiert hatten. Als wenn sie wüßten, daß ich von jenem Fenster aus Zeuge ihrer Entwicklung gewesen war. Nachts schlich ich zum Friedhof. Es war Großvaters schmiedeeisernes Tor, dessen Zacken und Speerspitzen mich zwangen, den Einstieg über die Mauer zu nehmen. Ich wollte die Suche nach dem Grab schon aufgeben, als ich es an den beiden, von ihm noch gepflanzten, Farnen erkannte. Längst war ich selbst ein alter Mann geworden. Ich schwor damals Rache, ich wollte meine Sprache stummen. Vielleicht hätte Großvater lachen können, als sie mit ihrem plumpen Beil seinen Sekretär zerdroschen und den Uhrenkasten zerlegten, um dem gehaßten Holzwurm so recht aufs Maul zu hauen.
Das Vorspiel des Bösen, das ich für das Ende meiner Welt hielt, sollte gemessen an späterer Zertrümmerung zarteste Andeutung sein. Niemand warnte mich, wie ich niemanden warne. Sie brauchten ihre geliebten Lügen vom glücklichen Leben, vom gesegneten Altern und sicher auch die von Gott und den Engeln. Wie hätten die Alten sonst durchkommen sollen? Daß sie sich selbst nicht verstanden, sich verwirrten, wie darf ich verübeln, der ich selbst vom Vaterunser und aller Vergebung, gut heruntergeleiert oder in falscher Bescheidenheit kokett betont, nichts weiß. Aller Scheinbehauptung, meine Sprache zu stummen, hohnlacht noch dieser Text im schizoiden Hahnenschrei eitlen Selbstverrates.
Für mich würde niemand beten, niemand ein Kind belügen, das Tuch vor den Spiegel hängen, niemand dreimal Erde werfen. Nein, meinen Regulator bräuchte keine barmherzige Hand anzuhalten. Die Tradition der üblen Nachrede, des wirklichen Beiles wider alles Vergangene, übernahm ich als einziges Erbstück. Nein, wir würden heute nicht miteinander reden können. Die peniblen Eintragungen in ihren Kirchenbüchern, da war ich mir sicher, würden es ausweisen, seit dem letzten Geleit meines Großvaters und meinem bevorstehenden waren zu viele Beerdigungsprozessionen vergangen.
Wie dumm war ich damals, wie wenig weniger dümmer ordne ich jetzt meine Notizen.
Während ich dies schreibe, zu Zeiten, da sich jeder seines Altwerdens schämt so gut er kann, umzingelt von rüstigen Kreativsenioren, die, statt vor wurmstichigen Sekretären vom Salut zu träumen, in Reisebussen Bösartigkeiten austauschen, während ich noch immer der kleine, ungezogene Enkel zu sein scheine, weht mich aus alten Tagen, die ich die besseren nicht, wohl aber die stilleren zu nennen geneigt bin, die dünne Stimme des Totenglöckchens an, so als zöge die Prozession noch einmal an mir vorüber:
Ich wollte meine Sprache stummen
Meine Sprache war alt und gram
Wovon die Alten leise sungen
Soll heute verschwiegen sein
Engel hausen in den Lungen
Lüge balanciert auf Lippen
Wenn sie das Erdreich schippen
Küßt die schwarze Scholle heim
Wehe mir, als ich vorüber kam
Meine Sprache wollte stummen
Ich war alt und gram
Gütermanns Nähseide
Meine Großmutter mütterlicherseits, die Oma aus Köthen, besuchte hin und wieder die Tochter und so auch uns Enkelkinder in Niemberg bei Nixburg. Oft spielten wir zusammen, meist gab es eine Handarbeitsstunde. Außer dem Unterrichtsfach Nadelarbeit, verdanke ich es diesen mir in lieber Erinnerung gebliebenen Handarbeitsstunden, wenn ich heute noch nicht nur einen Knopf annähen, sondern immer noch Stilstich, Hexenstich oder Schlaufenstich sticken könnte. Vielleicht wird es das sein, was ich als alter Mann als letztes noch machen möchten, wenn vielleicht aufgeschrieben sein wird, was aufzuschreiben war: eine schöne Nadelarbeit. Wir Kinder schleppten damals unsere Püppchen herbei, die bei dieser Gelegenheit neue Kleidung genäht oder die alte ausgebessert bekamen. Noch fast dreißig Jahre später kamen mir die Handarbeitsstunden zu statten, als ich für meinen Sohn den Nähkasten öffnen konnte, um kleine Reparaturen auszuführen, den Puppendoktor zu spielen.
Während einer Handarbeitsstunde, es wurde ein Garn verwendet, das Großmutter als Vorkriegsware bezeichnete, kam das Gespräch auf Gütermanns Nähseide. Großmutter, eine Hausfrau alten Typs, wie es sie heute kaum noch geben mag, hatte immer schon, so führte sie aus, ihre Nähseide im gleichen Kaufhaus gekauft. Der Einkauf all dieser kleinen Artikel des täglichen Gebrauchs muss, wie mir das heute kaum noch vorstellbar, auf einer Art Vertrauensverhältnis zwischen Händler und Kundin basiert haben. Der Kaufmann offerierte seine Ware aus von ihm oft noch persönlich in Augenschein genommen Bezugsquellen, die Kundin wiederum war ihm bezüglich ihrer Sonderwünsche und Vorlieben bekannt. Zwischen Mus kochen, Gartenarbeit und Kinderpflege, alles wurde damals unvergleichlich langwieriger und sorgsamer von der Hausfrau ausgeführt, gab es außer dem Einkauf wenig Abwechslung. Gütermanns Nähseide wurde in eigens dafür gebauten Schränkchen angeboten, die wie eine Art Puppenschränkchen mit Schubladen aussahen.
Unsere Oma also wird, wie ich selber es noch gesehen habe, ihre bauchige Einkaufstasche genommen und in der Stadt Köthen, wie sie es ausgedrückt hätte, eingeholt haben, dabei den Einkaufszettel studierend und noch nach dem kleinsten Einkauf anhand der Rechnung penibel prüfend und jeden Betrag sicherheitshalber zweimal nachrechnend. Auf dieser Tour gelangte sie auch zum Kaufhaus, in dem sie neues Material für die fällige Näharbeit kaufen wollte. “Vor der Tür standen so komische Leute”, erzählte sie: “Die hielten Schilder mit der Aufschrift: “Deutsche, kauft nicht beim Juden!” Unsere Oma erledigte ihre Einkäufe dennoch wie geplant, habe sich nicht beirren lassen. Nach diesem denkwürdigen Einkaufserlebenis, Großvater flog als Funker, im Range eines Stabsfeldwebels der Luftwaffe über Städte, deren Einwohner das Deutsche Reich oder zumindest dessen Führung hatte bombardieren lassen, lief Großmutter wieder einmal in die Innenstadt, um zu sehen, was es auf der Schalaunischen Straße und am Markt noch zu kaufen gäbe. Ärger an der Eingangstür war nun nicht mehr zu befürchten, die Schilder mit den Aufrufen zum Boykott eines jüdischen Geschäftes waren, wie wir wissen, überflüssig geworden. Im Café Troika kehrte sie ein, eine Tasse Kaffee und vielleicht auch noch etwas Gebäck zu genießen, ein kleines Verschnaufen, etwas Andeutung vom Luxus friedlicherer Tage.
Wie genau ist meine Erinnerung, wie viel hat die Einbildungskraft kindlicher Fantasie dazu getan? Waren es mehrere? Mindestens zu weit müssen sie wohl gewesen sei. Die SA-Leute, haben sie das Geschirr zerschlagen, die Tischdecke heruntergerissen, meine Oma nach draußen geschleift? Oder war es eher der Typus des diskreten deutschen Beamten, der die Bürgerin ermahnte, kein Aufsehen zu erregen und zur Klärung eines Sachverhalts zur nächsten Dienststelle zu begleiten. Die SA-Leute waren sich einig, eine Sarah ohne Stern, wie sie es bezeichnet hätten, beim verbotenen Besuch eines Cafés gestellt zu haben. Irrtum? - jene Volksgenossen mussten sich entschuldigen, weil so etwas einer deutschen Frau natürlich nicht zuzumuten war, noch dazu, ihr Gatte galt als Frontsoldat, so berichtete uns meine Großmutter.
Wäre Großmutter eine Jüdin gewesen, hätten sich die SA-Leute sich nicht entschuldigt, wäre ich sozusagen aus der kollektiven Mitschuld amnestiert gewesen. War es aber gerecht, uns Kinder für die Eltern und Großeltern, für deren Handlungen, mitverantwortlich zu machen? Sangen wir es nicht im Unterricht: “Mit uns zieht die neue Zeit...!” Im Unterricht und vor allem auf den nachmittäglichen Veranstaltungen zu den feierlichen Anlässen war ich bald als Rezitator beliebt, oft sprach ich das Gedicht des Kommunisten Kurt Barthel: “Hebespruch!” , da hieß es: “Ein neues Haus, gebaut in Form und Maß, es hebt sich aus dem Grund und ich erheb mein Glas, auf euch ihr Bauleut, auf die Leute, die hier baun . . .”
Die kindliche Psyche, so vermute ich, bildete bereits in frühen Jahren eine innere Gegengewichtung zu den elterlichen Vorgaben aus. Meine Eltern träumten dinglich, wollten konkrete Gegenstände, wie Haus, Auto und Kleidung a n s c h a f f e n, während ich in den letzten Schuljahren und nach meinem Weggang aus Niemberg von der Welt Theodor Fontanes, von meiner persönlichen Existenz in einer Epoche vor der industriellen Revolution, einem Wiedererwachen in pathetisch - missverstandener romantischer Idealisierung träumte, viel seltener von einem Koffer voller Geld und eigentlich niemals von Bungalow oder Auto. Städtische Bürgerhäuser mag ich noch heute viel lieber als eigentumsgebundene Flachbauten, ich ziehe die Reise im Zug jeder Benzinkutsche vor, so weit ich da auswählen kann.
Waren meine praktischen Eltern mit ihren konkreten Maßgaben die besten Geburtshelfer für meine Existenz als Träumer?
Sind Begriffe Träumer und Existenz niemals vollständig vereinbar, fraglich wie die Mischung von kindlicher Wahrnehmung und Geschichtsbild?
In Köthen bei meiner Oma, spielten wir Kinder gern mit einem kleinen Holzhäuschen. Das Dach ließ sich aufklappen, es waren Bänke drin und mein Großvater, der nun im Kranbau Köthen nicht mehr so hoch in die Lüfte konnte wie früher im Bomber, hatte sogar Licht gelegt, kleine Puppenstubenlämpchen leuchteten. Wir Kinder verstanden damals nicht, warum Oma immer so auf Opas Fuß latschte, das tat ihm doch weh. Dabei hatte uns Opa nur erzählt, dass unser Spielhäuschen nämlich was Besonderes war, das Modell eines Blockhauses, wie es sich Opa später in Richtig kaufen wollte - in Norwegen, im Wald, nach dem Endsieg.
Mir reifte schon in der Unterstufe die Erkenntnis, es müsste schönere Orte als Zuhause geben, denn zu Hause klopften immerzu die Probleme, die ich mir selber eingebrockt habe, an die Tür, deshalb schien mir schon beizeiten das Kaffeehaus ein viel angenehmerer Aufenthalt und da meine Mutter zum Friseur und auch zu ihrer Mutti nach Köthen fuhr, gehört das Café Troika zu einem meiner frühesten Eindrücke städtischer Kultur. In meinem Stamm-Café, im “Hopfgarten” in Halle ( Saale) am Franckeplatz, schrieb ich gut drei Jahrzehnte später meine Erinnerung an “Troika” nieder, natürlich in jener stimmungsvoll geschwängerten, stilistischen Färbung des Kaffeehausliteraten, für die ich, da ich den in der unbekannten Literaturzeitschrift “Ort der Augen” publizierten Text in etwa im Original belassen möchte, um Nachsicht bitte.
Im Café Troika
Manchmal fuhr meine Mutter mit mir in die Kreisstadt, die Oma und den Friseursalon zu besuchen. Mir war das alles sehr recht. War ich doch damals zwölf Jahre und seit bereits mindestens sechs Jahren ein Freund des Kaffeehausbesuches. Zuerst zur unvermeidlichen PGH des Friseurhandwerkes, in der ich immerhin die Gespräche der Wartenden belauschen und in den Zeitschriften NBI, Sowjetfrau, Deutscher Straßenverkehr, Für Dich und Eulenspiegel blättern konnte. Danach noch “auf einen Sprung”, wie Mutter es ausdrückte, ins Café Troika. Ich war ein Dorfjunge, zumindest laut Heimatanschrift. Hier, im “Troika”, konnte ich nun endlich fremde Gesichter sehen. Höchstens zwei, drei, die meine Mutter kannte, während es auf den Straßen meines Heimatdorfes nur selten einen Unbekannten, geschweige denn einen wirklich Fremden, gab. Wenn einmal Besuch, dann wusste jeder im Ort spätestens zwei Stunden später genauestens über alles Bescheid.
Duft des Parfüms, Gespräche, alte Herren in Jacketts und Kleider so ähnlich, wie ich sie eben noch in NBI und Für Dich beguckt hatte, diese Gesten umständlicher Höflichkeit, alles dies ließ Kuchen und Eisbecher nahezu zur Nebensache werden.
Diesmal hob Mama den Blick von Erdbeertorte und Schlagsahne, deutete mit ihrer Kuchengabelhand zu den Gästen zwei Tische weiter: “Die da drüben, die da in dem weißen Kleid”, mehr für Oma als für mich bestimmt: “Die da drüben, das ist eine Lebedame!”. “Oben hui, unten pfui!”, bestätigte die Mutter meiner Mutter. “Möchte ‘mal wissen, wo die das Geld her nimmt hier zu sitzen, die hat nie gearbeitet, nicht ‘mal ‘nen Mann hat die, und bei der soll es zu Hause aussehen.”
Ich fand die Lebedame schön. Außerdem erkannte ich an den Gesichtern – da war so ein Schwarzhaariger, der rollte mit den Augen, riß die Hände beim Sprechen nach oben und würde noch zu brennen anfangen, so rot flackerten seine Wangen – dass die da drüben wirklich unerhörte Geschichten zu erzählen hatten. Es schien mir ziemlich sicher, die würden sich keine Abenteuergeschichten ausdenken müssen. Gern wäre ich hinübergegangen, nur zwei Tische weiter.
Die Lebedame und ihre Begleiter winkten dem herbeiwieselnden Kellner, lachten, raschelten, wisperten und gaben, da war ich mir sicher, ein unerhört hohes Trinkgeld, vielleicht war ein Schein fremder Währung aus einer Spelunke am Orinoko dabei oder von den Spieltischen aus Golden City.
Der Weise behütet seine Erinnerungen, vor allem aber verschont er sie vor der prosaischen Konfrontation mit der Neuzeit. Doch leider taugte ich zum Narren, besuchte also die schöne kleine Stadt, in der Bach als Kantor gewirkt hatte und an den Brandenburgischen Konzerten schrieb. Löste mein Billet zum Spiegelsaal, der Hofkapelle und zur Ausstellung im Schloss. Freute mich über das Denkmal für den Scharlatan und Heilpraktiker Lutze, der einst den hysterischen Damen der Gesellschaft eine Mischung aus Wasser und Wein zur Medizin etikettierte, worauf denn Genesung sich einzustellen pflegte. Hätte ich es dabei bewenden lassen! Hätte ich es nur dabei bewenden lassen, aber nein, ich musste natürlich vor den vermauerten Fenstern der ehemaligen Gaststätteneinrichtung “Café Trioka” verweilen, wobei die erfolgte Schließung des Objekts für meine Erinnerung zweifelsohne noch das Förderlichste war. Wer mag die Dame in Weiß wirklich gewesen sein? Wer ihre Begleiter? Waren sie Fußnoten oder brandrot verzierte Versalien im Alltag der sechziger Jahre? Niemals wird ein Kellner auf dem kleinen Oval silbern schimmernden Tabletts meinen Brief hinüber tragen, niemals wird mich die Andeutung eines Lächelns oder strafende Ablehnung zittern lassen, niemals . . .
Sind es nicht gerade jene Unbekannten, diese Gesichter am Rand, die uns die Pfade der Kindheit verzauberten? Bin urplötzlich in Eile. Keine Zeit für ein Bier im “Weissen Ross” oder im “Siechenbräu”, nur ein paar Blicke Abschied von der Schalaunischen Straße, ich renne durch die Weintraubenstraße, muss den nächstmöglichen Zug erreichen.
Noch vor Abfahrt des Zuges verriegle ich die Tür des Aborts, umgeben vom schweren Bouquet eines aufdringlichen Damenparfüms, das sich widerlich mit dem Geruch erwärmter Diarrhöe vermischt. Ich harre dennoch aus. Das Fenster des Aborts ist weiß, für mich bleibt unsichtbar, wie die Silhouette der kleinen Stadt Köthen im Zartgold des Abendlichts verschwimmt, als wolle sie in schwindender Anmut um die Hand eines längst verstorbenen Kupferstechers anhalten.
Das Fenster ist weiß.
Rost und Staatskarossen
Wahrscheinlich gab es Zeiten, in denen der Gott, der Eisen wachsen ließ, wie ich in einem Buch aus Großvaters Bibliothek gelesen hatte, doch wieder Knechte wollte, denn Gott konnte nicht nur Eisen wachsen lassen, er zerschruwwerte es auch. Im Durchgang, so wurde der spinnwebverwobene, winters wie sommers offenstehende Durchschlupf zwischen altem und neuen Wohnhaus genannt, aber auch vor der Schmiede und gegenüber auf dem Platz, der eigentlich zum Grundstück von Saufrieckchen gehörte, fand ich solche braunen Eisenstücke, Rohre und Flacheisen dick wie Bohlen, von denen es rieselte. Im kleinen Garten vor dem Bungalow wuchsen Koniferen und Chrysanthemen, aber vor der Schmiede, im Durchgang und auf dem angepachteten Grundstückszipfel der Frau, die alle nur Saufriekchen nannten, lag Eisen. Der Durchgang zwischen Wohnhaus und Bungalow führte durch ein altes Häuschen aus Lehm, ganz grau und lustlos hockte es da und hatte doch vor Jahrhunderten die ältere Schmiede beherbergt. Die Schmiede gab es, so war in der Dorfchronik, die der Pfarrer aufbewahrte, zu lesen, nachweislich seit dem Dreißigjährigen Krieg, ohne Nachweis noch früher - im Dreißigjährigen Krieg waren die Kirchenbücher verbrannt. Rost überall; seit Jahrhunderten das Eisen in den Boden zurückgetropft, die Brunnenbauer hatten das Wasser zur Analyse eingeschickt, die Proben des Wassers waren stark eisenhaltig gewesen.
In der Schmiede hing, so ähnlich wie im Flur des alten Hauses, der schwarze Fernsprecher im Kasten, unter dem ragte ein Plastikstift heraus, der Umschalter. Ich sauste auf meinem Dreirad in die Schmiede und zum Umschalter, weil Vater noch die Kaffeetasse in Händen hielt, es aber klingeln gehört hatte. Der Tischler war dran: “Du Edgar, sie kommen!” Vater hatte kaum aufgelegt, als es wieder läutete und sich der Dachdecker aus Hohenthurm meldete, der extra vom Gerüst herunter gestiegen war, er hatte im Nachbardorf vom Turm aus, der früher den Grafen von Wuthenow gehörte, gesehen und begriffen, was er jetzt drastischer formulierte: “Du Edgar, die Schweine kommen, die fahren in deine Richtung.” Die Kolonne war ja auch wirklich unübersehbar: vorneweg ein Wartburg, danach zwei schwarze Wolga. Dieser Konvoi fuhr nun schon die zweite Woche vor, an mich erging die Aufforderung, mucksmäuschenstill im Zimmer zu verschwinden, was ich sowieso nicht anders konnte, denn dieser Besuch war auch mir unheimlich. Mutter kochte Kaffee und holte das bessere Service aus der neuen Schrankwand in der Stube. “Warte ‘mal noch mit dem Service”, sagte Vater, die müssen nicht wissen, dass wir gewarnt sind.”
Geräuschvoller Auftritt, Türenschlagen, freundlich-joviales Händeschütteln. “Kaffee wäre nett!” Aschenbecher und dichter Qualm bald, die Männer versanken hinter Papieren, Vater hatte Ordner und Schnellhefter zu Stapeln aufgebaut. Der Meister Schmied stand schon die zweite Woche nicht mehr zwischen Amboss und Bohrmaschine, er saß am alten Schreibtisch im Keller und rechnete. Der Anführer der Revisionskommission, der Genosse Binder, verstand was vom Rechnen, verfügte über die neuesten Tabellen, die Maßgaben, Beschlüsse und Anordnungen, hatte alles parat, kannte sich aus und wenn er davon pausierte, mit seiner leisen Stimme wohlgebaute Sätze zu formulieren und Zahlen zu jonglieren, ergänzte einer der anderen Genossen ganz im Sinne seines Vorredners. In Wahrheit ging es ihnen nicht um die Revision, nicht um die Steuern oder die Materialbestände. Also Klassenkampf? Es trug keiner einen Armeerevolver am Pistolengurt und niemand sollte geschlagen oder ins Lager verschleppt werden, das nicht. Das Privateigentum an Produktionsmitteln, die negativ-feindlichen Kräfte des Kleinbürgertums, sind dennoch im gnadenlosen Visier ihrer revolutionären Wachsamkeit. Weil du kein Arbeiterkind warst, schluchzte deine Mutter im Schlaf und die Zigarette zitterte in Vaters Hand, sein Lachen war zu laut, wenn die Genossen vom Rat des Kreises einstimmten und er auch einstimmte in den Witz des Genossen Binder, der jetzt auch mir und der Meisterin zum Abschluß die Hand schüttelte.
Auf den Dörfern, in denen Binder und seine Truppe in den Staatskarossen vorgefahren war, beklagten nicht Witwen hingerichtete Konterrevolutionäre, aber Türen wurden vernagelt, kleine Firmenschilder abgeschraubt und der Tischler, Schneider oder Schlosser fuhren nun zur Arbeit in die Kreisstadt, andere durften vorläufig bleiben, übernahmen an der Seite eines klassenbewussten Genossen die kommissarische Leitung einer PGH, einer Produktionsgenossenschaft des Handwerks. Einer der Abkürzungswitze von damals. “Sag mal, du kennst dich doch aus, was heißt FDJ?” “Fünf dumme Jungs”, antworte ich, denn das kannte jeder. “Und PGH?” PGH, in Wirklichkeit das Kurzwort für die Produktionsgenossenschaft des Handwerks, bedeutete: “Pech gehabt!”
Mein Vater hatte Glück, die schwarzen Wolgas blieben aus, der Genosse Binder stellte seine Besuche ein. Die Riemen der Transmission quietschten, der Hammer wummerte, fast klangs wie Siegsgeheul und auch mein Vater griff zum Telefon, informierte die Kollegen: “Also, bei mir sind sie jetzt raus!” Im Dorf hatten es bis auf einen alle überstanden, obwohl sicher auch beim Tischler, beim Fleischer oder bei unserm Sattler, den wir Riemeflick nannten, nicht alles den hohen Anforderungen des Genossen Binder und seiner Truppe entsprochen hatte. Nur der Friseur-Salon blieb fortan geschlossen, denn der, den alle von da an nur noch verächtlich Glatzenschneider nannten, war freiwillig übergelaufen. Fasson oder Rundschnitt, mehr gab es an Herren-Frisuren nicht zur Auswahl, kosteten laut Preisverordnung nur eine Mark, lohnten sich so wenig wie für den Schmied der Hufbeschlag, für den Glatzenschneider waren die staatlich regulierten und beaufsichtigten Preise zur Triebkraft seines urplötzlich erwachenden Klassenbewusstseins geworden, so dass er gern in irgend eine dieser PGH Fortschritt oder Frisur und Kosmetik überwechselte. Wir Kinder fuhren nun mit der Mutter nach Köthen in den Friseursalon der PGH, wenn meine Haare zu lang und Mutters neue Kaltwelle fällig war.
Welcher spätkapitalistische Teufel hatte nur dem Genossen Binder ins Feuer gespuckt, dass er in unserem Dorfe nicht wie sonst das revolutionäre Eisen schmiedete, so lange es heiss war? Irgendwann hätte mein Vater sicher klein beigegben. Eine Sekretärin vom Rat des Kreises hatte mit jemandem gesprochen, der mit jemandem gesprochen hatte, so erfuhr es auch ich, der kleine Lauscher an der Kinderzimmerwand: Binder war in der Nervenklinik.
Ich widmete mich wieder meinem Holz-Häuschen, spielte mit zwei Papprohren und einer echten Elektrode vom E-Schweißen, an die ich einen Bindfaden geknüpft hatte, um die Arbeit in der Schmiede zu imitieren. Wenn ich das Schmiede-Spiel über hatte, unterrichtete ich. Vor der Antwort sich erheben und in vollständigen Sätzen sprechen mussten meine Püppchen, die ich in der Schule hart ‘ran nahm.
An den Wochenenden fuhren wir nach Köthen, hin und wieder zur Tante nach Delitzsch. Diese Tante war aber keine Schwester, sondern eine alte Freundin meiner Mutter. Einmal saß, als wir mit dem PKW-Wartburg einen Ausflug unternahmen, ein Onkel mit im Auto, den die etwas rundliche Tante über eine Annonce kennengelernt hatte, der fuhr aber nicht oft mit, soll ein Hallodri gewesen sein. Friedlich hätte die kleine Familie im Neubau-Bungalow mit den schönen Koniferen, wochentags untermalt nun von den rhythmischen Hammerschlägen des Bündnispartners der Arbeiterklasse, das persönliche Glück innerhalb des gesellschaftlichen finden können, wie wir das in Vorbereitung der Jugendweihe oder im Staatsbürgerkundeunterricht definiert hätten. Vater hatte einige Kompromisse gestaltet, wenn er auch abends weiter vor dem Fernseher auf den Scheiß-Staat schimpfte, so steckten wir andrerseits in Vorbereitung des 1. Mai oder des Tages der Republik am 7. Oktober kleine Winkelemente in die Blumentöpfe auf dem Fensterbrett.Vaters gesellschaftliches Bewusstsein hatte sich auch sonst gestärkt, weil Weiss Erich, der tagsüber am Bahnsteig stand und die Fahrkarten knipste, und der auch noch, nach dem das längst unüblich geworden war, die alten Fahrkarten wieder einsammelte, der hatte nämlich einen Nachbarschaftsbesuch gemacht, um meinen Vater für die Liberaldemokratische Partei Deutschlands zu werben. Der herausragende Vorteil einer Mitgliedschaft in diesen Blockparteien bestand darin, dass man damit einen guten Grund hatte, der SED nicht beizutreten und die Parteidisziplin in den kleineren Parteien war geradezu lasch. Fünf Minuten las einer was Politisches vor, dann wurde Bier gebracht und der Schmiedemeister, der Tierarzt und der Herr Lehrer spielten einen Skat, so ging das seinen sozialistischen Gang.
Vater hatte sich dennoch lange der Argumenation des Weiss, Erich, gesträubt, so lange, dass Mutter, die noch voll Angst an die Sache mit dem Genossen Binder und die Kontrollkommission dachte, begann, auf ihn einzureden. “Mann, stelle dich doch nicht immer quer.” Was meinen Vater so reizte, dass er einen sich anbahnenden Ehekonflikt mit politischen Mitteln austrug: “Hör ‘mal zu”, sagte er, “wenn du mich hier so agitierst, warum trittst du dann nicht in die LDPD ein.” Darauf wäre nun selbst Weiss Erich, der feixend dem Lauf des Gesprächs folgte, nicht gekommen. So geschah es, dass meine Eltern beide Mitglied einer Blockpartei wurden.
Eines Abends aber wäre der Steingutkrug mit der Waldmeisterlimonade vor Schreck fast auf’s Plastebrettchen geknallt. Diesmal hatte es keine Vorwarnung gegeben und draußen stand doch ein einzelner schwarzer Wolga, aus dem stieg, nein hüpfte ein Mann auf einem Bein, kein Genosse, eher schon das Gegenteil, eine Gestalt, wie es sie im Sozialismus eigentlich längst nicht mehr hätte geben sollen, Vertreter einer zum Untergang verdammten Spezies, einer der letzten heimlichen Bourgeois: Stahlbau-Stärker. Stärker war in der DDR sein eigener Chef im eigenen, von seinem Vater ererbten, nicht ganz kleinen Betrieb geblieben. Ein paar solcher kapitalistischen Überbleibsel hatten sich retten können, bis Ende der Siebziger jeder von ihnen überführt wurde, noch gab es sie, den nicht ganz kleinen privaten Busbetrieb, den Großhändler für Ersatzteile und öhnliche schlitzohrige Anachronismen. Sie alle hatten den Status des VEB vermeiden können und nannten sich, bis diese Rechtsform aufgelöst wurde, Kommanditgesellschaft, beispielsweise Stahlbau-Stärker KG. Stärker nun, der meinen Vater Freund nannte, kam, um sich – so ganz von Geschäftsmann zu Geschäftsmann, ein paar Tausender zu leihen. Mutter machte keinen Hehl daraus, nachdem der Besuch gegangen war, sie konnte Stahlbau-Stärker nicht leiden, nannte ihn ekeligten Kerl. Im ehelichen Disput war sogar die Meinung des ABC-Schützen gefragt, so nach dem Motto, Kindermund tut Wahrheit kund. Für mich war klar, das hatte ich selbst gehört, dem Stahlbau-Stärker gehörten riesige Krananlagen, Baustellen und Hochöfen und das alles, obwohl er für sich wirtschaftete und überhaupt nicht für die Roten war, der zeigte es allen, also ich fand, der Kerl mit dem Holzbein war extra stark und das sagte ich meiner Mutter auch. Paar Wochen später fuhr wieder, es war schon fast Mitternacht, der Wolga vor und der Alte sprang munter auf einen Beim heraus. Mutter schien trotz weiblicher Intuition unrecht gehabt zu haben, er brachte nämlich das geliehene Geld zurück.
Leider reichte sowas zu DDR-Zeiten nicht unbedingt, um als ein Ehrenmann zu gelten. Mein Vater stand vor Gericht, allein deshalb, weil er so einem Subjekt Geld geliehen habe. Nach dem Prozess war es vorbei mit Stahlbau-Stärker. Der schmierige Spekulant, Ausbeuter und Schmarotzer am Volkseigentum, so nannten ihn die einen, Tausendsassa, so meinten wiederum andere - beispielsweise bei Leubners in der Niemberger Dorfkneipe und anderswo am Stammtisch - dieser sollte in der DDR fünfzehn Wochendhäuser besessen haben, in jedem wunderschönen Bezirk der Republik, von Suhl, Dresden, Karl-Marx-Stadt, Berlin bis hoch nach Neubrandenburg, Schwerin und Rostock je eines. Der alte Mann muss wacker mit dem Wolga durch das sozialistische Deutschland gerast und nicht nur auf dem Holzbein wie ein Weltmeister gehüpft sein, denn wenn ich den Gesprächen meiner Eltern trauen durfte, gab es zu diesen fünfzehn Häusern fünfzehn sehr junge und sehr schöne Frauen.
Halber Blick ins Druckhaus
Im Wartesaal, im kalten Tabaksqualm, auf der Bank mir gegenüber saßen sie wieder: Röwe und Rüwwe. Ein Jahr lang betrat ich jeden Werktagsmorgen den Wartesaal. Geölte Dielen, olivgrüne Wände, die Sitzbänke dunkelbraune Wandmöbel. Gleich links neben der Tür, wo es im Winter am meisten zog, war der Platz für die Stifter, die Lehrlinge. Die Sitzordnung wurde, obgleich ich von irgend einer Absprache nichts mitbekommen hatte, akkurat eingehalten. Sprechen war überhaupt ihre Sache nicht, abgesehen von Grußritualen. Röwwe sagte manchmal nach dem “Morjen” noch zu Rübbe: “Na, dann woll‘n wir mal widder.”
Eine Eisensäule in der Mitte, umrundet von einem Brettchen, die Grünpflanzen darauf passten sich harmonisch der olivgrünen Sockelfarbe und dem Braun der Dielen an. Nach dem Klingeln des Diensttelefons und dem Tacktack der Apparatur trat meistens eine der Reichsbahnerinnen an die Glasscheibe und sprach laut und vernehmlich die Worte: “Nach Halle!” Falls alles fahrplanmäßig funktionieren sollte, schepperte um fünf Uhr fünf der graugrüne Personenzug der Deutschen Reichsbahn ein. Die Klassenkameraden, die ich gelegentlich traf, mochten nicht ganz so wortkarg wie Röwwe und Rübbe - die Nestoren des Niemberger Morgenkollektivs - ihre Plätze eingenommen haben, aber so ein richtiges Schwätzchen kam selten zustande, ohnehin fuhr der Zug nur zwölf Minuten. Muss ich noch aufschreiben, wie der schlechtangezogenste Dorfjunge, der ich war (Rundstrickhose, Silastikpullover und Anorak) in die quietschende, verbeulte Straßenbahn stolperte, um im Neonlicht seinen Arbeitstag - acht Stunden stehend - zu beginnen. Ich weiß nicht, ob die Lehrausbilder so etwas wie sozialistische Adlige mit Parteiabzeichen waren (heute ahne ich, die haben sich längst nicht so gefühlt), unsereiner jedenfalls war ein Dreck, daran ließen die keinen Zweifel.
Oben Neonlicht, längs die Glasfront, vorn der Lehrmeister, pro Regalreihe ein Ausbilder. Den Inhalt der Texte, die zu setzen waren, möchte ich nicht erwähnen. Gelobt sei jeder und jede, die nie in der Situation waren, aus allerkleinsten Pusselteilchen (die kleinste Grundeinheit 0,376 Millimeter) ein Briefblatt zu bauen, eine Tabelle oder etwa - oh, Vater der Puzzelei - eine Seite symbolischer Zahlenmystik, des Fahrplans der Deutschen Reichsbahn. Sisyphos brauchte nur mal zu nießen oder in Feierabendvorfreude ans Schiffchen (so hieß das Tablett, auf dem das stand) zu stoßen, schon konnte die Arbeit von Stunden dahin sein. Die neun Stunden Arbeitszeit, mit Pausen und Anfahrt waren zwölf Stunden meines Tages weg, der sogenannte Tätigkeitsnachweis — ein Formularblatt, in dem ich die Arbeitszeit zu dokumentieren hatte — die politischen Veranstaltungen und das vorgeschriebene Stehen am Arbeitsplatz, sogar das unangenehme, wahrscheinlich krank machende Neonlicht hätte ich nicht weiter übel genommen, wenn ich nicht ständig ihre hämisch grinsenden Fressen hätte ertragen müssen. Mir war egal, ob es das Druckhaus war oder gegenüber die Hallorenbude, wo man damals auch ohne Schulabschluss unterkam, mein Problem war, ich würde täglich da hinein müssen in irgend so einen Betrieb, für acht Stunden, mit Anfahrt also ein ganzer, großartiger Tag versäumt. Mein mangelhaft entnazifizierter Großvater, die hysterische Mutti und die zu ständigen Organe waren sich über die Pflicht zur Arbeit so einig, dass ich keine Chance sah, ich würde gezwungen sein, ihren Befehlen zu gehorchen, das machte sie mich hassen, so blind, dass ich Jahre später meinem begeistert ins Protokoll kritzelnden Vernehmer mit distanziert kühler Stimme Nietzsches Sentenz zu Protokoll gab: Arbeit schändet sicher nicht, aber sie entadelt!” Die mochten mehr so kurz begriffliches und noch Jahre später zitierten mich protokollierende Polizisten falsch: “Arbeit entadelt!” Meine Eltern waren mit mir, als ich noch sehr klein war, an einem Feld vorbeigefahren (es gab da noch drei Morgen Ackerland in Familienbesitz), auf dem eine gebückte achtzigjährige Frau Rüben verzog.
Ich war neunzehn, und mir wurde mulmig, als sich zu dieser Zeit der Liedermacher Biermann im DLF sozusagen mit einem persönlichen Ratschlag an mich wandte: “Du, lass dich nicht verbittern ... die Herrschenden erzittern, sitzt du erst hinter Gittern, doch nicht vor deinem Leid.”
Meinen ekligen Kittel, immer von diesem nach Marzipan riechendenWaschsand verschmutzt, zog ich einfach aus - und das während der Arbeitszeit! Die alte über das Feld kriechende Frau warnte mich, wie die Stimme meines auf dem Geburtstag angetüderten Opa´s, der lachend immer wiederholte: Lehrjahre sind keine Herrenjahre! Ein Blick in den Setzkasten bestätigte mir die Nutzlosigkeit meines Tuns: “Nette” Kollegen hatten Fische - so nannte man die Teile einer fremden Schrift, die sich in die verwendete mischten und dort störten - und irgendwelchen Dreck mit Absicht in die kleinen Fächer des Setzkastens geworfen. An der Tastatur des Liftes betätigte ich erstmals einen Knopf für eine der oberen Etagen , ich guckte in der vierten ‘raus, drückte wieder auf die Tastatur und fuhr ganz hoch hinauf. Ich würde kein Knecht sein wollen, dann notfalls lieber der Gutsherr aus ihren Feinbildmärchen. Vielleicht hatte Großvater doch recht und ich würde versuchen müssen, es den Bolschewiki zu zeigen, phantasierte der Neunzehnjährige. Im sechsten Stockwerk, so hatte ich reden hören, würde es ein Café für Journalisten geben, das mit dem schmuddeliegen Charme unserer Kantine nichts gemein haben solle: weiße Tischdecken, kleine Blumenvasen, Aschenbecher und rings um mich leise sprechende, höfliche Kader. Niemand störte sich an mir, niemand hätte mich entrüstet verwiesen, freundlich wurde mir Kaffee und Kognak serviert. Ihr System fand ich in diesem Moment so übel nicht, man musste nur in der richtigen Etage sitzen. Schon mein zweiter, wenige Tage später stattfindender Besuch in der Gastronomie der obersten Etage des Druckhaus “Freiheit” bescherte mir ein weiteres Wunder. Ich inhalierte gerade den Duft meines Intershop-Weinbrandes, den ich für Kognak hielt, als Genosse Party — wie sie den Leiter der Lehrausbildung nannten, weil er penetrant nach dem gleichnamigen Spray roch — das Areal betrat. Er übersah mich.
Meine Tage begannen sich aufzuheitern, ich veränderte meine Arbeitszeit ein wenig, nach dem Motto: Ein halber Blick ins Druckhaus und drei ins Leben. Die ein oder zwei Stunden, die ich jetzt pro Woche im Café - wahrscheinlich mit Nomenklatura, Auslandskadern und Überfliegergenossen als Tischnachbarn - verbrachte, reichten mir natürlich nicht. Nicht, dass ich das Lügen und Austricksen erst von der Pieke auf hätte lernen müssen. War es mir nicht auch schon während der Schulzeit gelungen? Meine Eltern hatten verlangt, dass ich nach Schulschluss sofort nach Hause kommen sollte. Mutti war ja immer zu Hause und so viel Zeit ließ ihr die Putz-Psychose noch, um auf die Uhr zu gucken. Wie oft hatte ich Veranstaltungen der FDJ oder auch mal was Religiöses erfunden. Diesen Stil verfeinerte ich nun, die Deutsche Reichsbahn erwies sich hierbei als Helfer in der Not. An so manchen Werktagen guckten Röwwe und Rübbe, aber auch die anderen Schichtler, Kleecher oder Beltzer ziemlich ratlos aus der Wäsche; hinter dem Schalterfenster rührte sich erst einmal gar nichts und dann die Durchsage: “Voraussichtlich dreißig Minuten Verspätung!” In der Information, der Auskunft auf dem halleschen Bahnhof, gab es dann den Verspätungsschein - ein herrlicher Freibrief für einen wie mich, der Lehrmeister wie die Berufsschullehrer akzeptierten diesen Wisch, war für sie irgendwie was Amtliches. Nun legte ich erst richtig los: Erstens war auf dem Schein nur selten die Zugnummer oder der Abfahrtsort verzeichnet, hier versagte ihr von Lenin ausdrücklich geforderter Sinn für Kontrolle. Irgendein Zug hatte immer Verspätung, ich stellte mich zuerst nach dem Scheinchen an und dann gings auf zum Frühstück in die “Mitropa” (eine Brühe ohne Ei kostete nur 25 Pfennig). Die Mitropa war immerhin ein Saal mit Bedienung, Reisende waren hier zu sehen, alles besser als Druckerei.
Jeweils eine Woche musste ich im Betrieb sein, die zweite in der Berufsschule. Die Schule fiel mir - mit Ausnahme von BMSR und EDV - relativ leicht und sie dauerte nicht so lange. Der Unterricht begann erst gegen Acht und danach blieb nach etwa vierzehn Uhr genügend Zeit, eines der Cafés am Boulevard zu besuchen.
Ohnehin hatte ich anders geartete Interessen: Ich las, interessierte mich für verbotene Musik und war - Mutti protestierte - nach Berlin getrampt, um mir in der Marienkirche eine Ausstellung mit Bildern von Marc Chagall anzusehen. Ich bereitete mich — allerdings erfolglos — auf eine Sonderaufnahmeprüfung am Proseminar in Naumburg vor. Wer weiß, ob ich die bestanden hätte, aber sie ersparten mir auf ihre Weise die Enttäuschung über mein mögliches Versagen, die zuständigen Genossen hatten vorher angerufen, und so fand meine Prüfung gar nicht erst statt, was mich später nicht darin hindern sollte, in eigener Mission im Seminar Hand anzulegen. Meine neue Freiheit — weniger wohlmeinende hätten sie Schlendrian genannt — hatte also durchaus ihre Feinde gefunden, aber daran würde ich mich gewöhnen wie an die Verhöre, zu denen sie mich in den Jahren darauf nahezu regelmäßig in die Abteilung Inneres beim Rat des Stadtberzirkes bestellen würden.
Im Bungalow des Bündnispartners der Arbeiterklasse, des Schmiedemeisters und der Hausfrau, blieb natürlich ebenfalls der Kommentar nicht aus und restriktive Maßnahme nicht unversucht. Von meinen paar Kröten Lehrlingsgeld, 108 DDR-Mark, sollte ich auf einmal Geld abgeben - dabei kam mein Vater gut und gern auf drei, mindestens aber auf zwei Mille im Monat - zum Friseur sollte ich gehen und andere Schikanen mehr. Nicht nur meine Besuche im Kaffeehaus waren unerwünscht, durch das Mitbringen entliehener Bücher aus der Stadtbibliothek würde ich Bazillen ins Haus bringen, befand meine Mutter.
Wie jeder eingermaßen normale Halbwüchsige unseres Dorfes, wie alle, die ich aus der Schule kannte, interessierte ich mich für Mädchen. Für meine Mutter war alles klar, sie hatte mir am Beispiel eines Nachbarkindes, das krank und zurückgeblieben war und eine Sonderschule besuchen musste, einzureden versucht, dass nur so was, Gesockse eben, sich frühzeitig für dergleichen Schweinereien interessiere. War ja nicht so, dass ich meiner Mutter nicht glaubte, wenn ich an Mathematik oder Chemie dachte, musste ich mir eingestehen, dass die Zwei in Mathe und die Drei in Chemie noch unverdiente Gnade der Lehrer gewesen waren. Wahrscheinlich hatte ich doch die nötige Blödigkeit, um mich für Mädchen interessieren zu müssen und ich beschloss, wie viele damals, es müsse nicht unbedingt eine Kirsche aus dem eigenen Dorf sein. Einmal war ich mit einem Kumpel, der in solchen Sachen als Filou galt, auf ein weit entfernteres Dorf zur Disko gefahren, aber da hatten sie uns gleich verdroschen, nur so, unsere Schuld war, aus Nixburg zu kommen, das reichte. In Brachstedt, dem Nachbardorf, wäre so was nie passiert, aber dort traf man die Klassenkameraden, das war fast wie Familienfeier. Die Phantasien in meinem wirren Jungenkopf blühten, als ich in der Zeitschrift Neues Leben oder in Melodie und Rhythmus die Annoncen las. Hier wurden Fragen gestellt wie: Was kannst du an anderen nicht leiden? Welche Hobbys und wie alt? Auch Haarfarben, Größe und Augenfarbe wurden mitgeteilt. Manche Mädchen hatten auf die Frage nach den Hobbys nicht Singeclub, Schwimmen, Fallschirmspringen bei der GST oder Aquarellzeichnen angegeben, sondern nur geschrieben: Vielleicht Du? - das schienen mir die schärfsten zu sein. Nach dem Beantragen des Personalausweises waren noch Passbilder übrig, die kamen mir jetzt zu pass und ich schrieb ein Briefchen dazu, gleich zu Beginn der Sommerferien, und träumte von der fremden Kirsche, bis ich die Angelegenheit fast vergaß, eben nichts wert, alles Schnickschnack, nicht so wichtig, tröstete ich mich. Als ich an einem der letzten Ferientage vom einkaufen zurück kam, hatte vor der Wasserstelle und dem verkrüppelten Kirschbaum an der Aschenkarre mein acht Jahre jüngerer Bruder, der sich aus Pappe die Atrappe einer Tabakspfeife gebaut hatte, an der er gierig zu saugen schien, Stellung bezogen: “Du kannst dir eine Pfeife anstecken!”, grinste der. Die Pfeife mit Pfeife versuchte ich zu übersehen. Ich agierte damals noch wie ein sehr dummer Boxer, der nicht ahnt, dass man auch mal sichern und in Deckung gehen muss – auf diesen Schlag war ich nicht gefasst. Mein Teddy, nur ein Jahr jünger als ich, mein Häschen Gabi und viele andere Spielzeugtiere saßen auf der Aschenkarre, teils wie Dekoration aufgebaut, einige Tiere und Püppchen lagen zwischen Dreck und Kartoffelschalen. Meinen Teddy und den Hasen konnte ich nach durchheulten Verhandlungen retten, aber das war keine gute Erziehungsmaßnahme gewesen, wirklich nicht. Meine Mutter nannte ihre Gründe. “Du bist ja nun zu erwachsen für Spielzeug und so was!” hatte sie geschrien und mir mit Triumphgeheul einen Brief entgegengehalten. Das schlanke, schwarzhaarige Mädchen aus Brandenburg, mit dem Hobby “Vielleicht Du” hatte mir von sich und ihren anderen Hobbys geschrieben.
Im zweiten Lehrjahr, ich arbeitete nun in der historischen Waisenhausdruckerei der Franckeschen Stiftungen, die sich VOB Union-Druck nannte, wohnte aber noch in Nixburg, las ich im damals nicht in großer Auflage angebotenem Heftchen “Kultur aktuell!” von einer Disco in der HOG “Wittekind”. War ein Dienstag, als ich nach Feierabend durch die Stadt spazierte, mir den schönen Garten des wie ein barockes Sommerschlößchen angelegten Badehauses ansah. Widukind oder Wittekind, nachdem sich die Quelle nannte, war übrigens einer der letzten slawischen Herzöge gewesen, einer der gemacht hatte, was ich verabscheute - ihm war es wohl um Diplomatie gegangen, vielleicht war ihm nichts anderes übrig geblieben - er hatte sich gebeugt und den Besatzern die Treue gelobt.
In der Disco war nicht viel los gewesen. Ich erinnere mich noch heute der Langhaarigen, damals schon in Jeans, die dort saßen und aus Halb-Liter-Gläsern Bier tranken. Ein Bild, das sich mir aus dieser Zeit eigenartigerweise überdeutlich einprägte: Ich sah, wie einem der Langhaarigen ein Bierglas einfach so zersprang. Der Mann war völlig unschuldig an der Angelegenheit, wahrscheinlich muss am Henkel ein Sprung gewesen sein. Um 21.45 Uhr war dort sowieso Ausschankschluß, ich erreichte also meinen Zug um 22.35 Uhr. Neunzehn Jahre war ich jung, im zweiten Lehrjahr, hatte doch eigentlich nichts getan. Meine Mutter schlug mir mehrmals ins Gesicht, das Bier im Blut freilich dämpfte den Schmerz.
4. März 1977
Bevor ich mit Röwwe und Rübbe, aber auch mit ehemaligen Mitschülern das Niemberger Morgenkollektiv im Personenzug der Deutschen Reichsbahn bildete, frühstückte ich in der Wohnküche unseres Flachbaus, meist ließ ich aus dem Boiler nur einen Strahl warmes Wasser auf das Kakaopulver “Kaba fit” laufen und knabberte Kekse aus der Gebäckmischung. Seit Februar hatte ich begonnen, statt meiner Lehrbücher und Schnellhefter Bücher aus meiner kleinen Bibliothek oder beispielsweise mein Fotoalbum in die Tasche zu packen. Im Zug hatte ich zufällig ein Gespräch zwischen der Frau des Pfarrers und einer Frau aus dem Dorf gehört. Die “Pastern” hatte erzählt, dass sie das Zimmer ihrer Tochter, eine Mansardenstube, die sie für deren Studium in Halle gemietet hatte, nun nicht mehr benötige und sich ärgere, weil die Miete noch weiter bezahlt werden musste. Ich erlaubte mir, vorher eine Entschuldigung stammelnd, mich in das Gespräch der Damen einzumischen, am Ende der Zugfahrt war die Bude meine. Inzwischen galt es zu handeln, ehe die nächste Schrankkontrolle kam – meine Räumung war nicht zu übersehen - und mit dem Besuch des Friseurs würde ich auch nicht weiter auf morgen, morgen . . . vertrösten können. Ich schnappte meine Zudecke und mein vom Jugendweihegeld gekauftes Radio, also die auffälligen Gegenstände, die ich erst auf der letzten Fahrt mitnehmen konnte, und kritzelte auf einen von der Zeitung abgerissenen Schnipsel: Ich bin weg! Holger. Mir rutschte meine Bettdecke gerade in den Dreck, als der himmelblaue Trabant unseres guten Dorfpfarrers neben mir hielt. Er führe gerade in die Stadt, ob er mir helfen könne. Und ob - keine Frage, ich lag richtig, dachte ich bei mir, schließlich glaubte ich an Gott und der musste den Pfarrer eigens vorbeigeschickt haben.
In meinem Kopf sangen Millionen Engel einen Choral über die Freiheit und damit war natürlich weder das Druckhaus noch die gleichnamige Zeitung gemeint. In Halle stieg ich in der Lessingstraße fünf Treppen hoch und schloss die Tür meiner ersten, eigenen Bude auf; die Lichter flimmerten, hier oben konnte ich bis Neustadt oder zum Petersberg sehen und Norddeutschen Rundfunk und Hessen Drei empfangen. Bei aller Freude zitterte ich ein bisschen und packte die letzten Brote aus Nixburg aus. Zwischen einpacken und frühstücken hatte ich mir in den letzten Tagen dank meiner Recherchen im Küchenschrank Preise für Marmelade, Butter und andere Lebensmittel notiert. Die Kumpels in der Berufsschule nahmen meine Entscheidung mit einem unterdrückten Anflug von Respekt zur Kenntnis, wenn wir in der Pause im “Talvogt” am Hallmarkt oder im “Würzburger” ein Bier tranken, wurde ich inzwischen fast gleichwertig behandelt. Abends konnte ich jetzt sowieso nicht schlafen, von der Mistfak oder dem Bauernklub, wie der universitätseigene Studentenclub gleich um die Ecke genannt wurde, erklangen heisse Rhythmen. Ich entdeckte - entdeckte alles, das Theater wie die Kneipen oder den Journalistenklub unterm Dach vom “Haus der Presse”. Am Theater verdiente ich mir jetzt sogar als Statist ein paar Mark und außerdem, weil ich ja morgens noch verkatert oder müde von meiner Mugge am Theater war, hatte ich nicht mehr so viel Zeit für die Berufsschule, dafür wiederum hatte ein liebenswürdiger Allgemeimediziner Verständnis und schrieb mich erstmal krank. Mein Leben begann!
Boonekamp und dritter Weltkrieg
Heutzutage bin ich der komische Opa aus der Asozialenecke, wenn ich an der Autobahnauffahrt oder irgendwo draussen hinterm Ortsausgang stehe und Winkzeichen mache.
Eine junge Taxifahrerin war unlängst so von einem für sie zeit- und kostenaufwändigen Missverständnis betroffen, da sie mein Winkzeichen für das Siganal eines potentiellen Kunden gehalten hatte und ihr Taxi wendete. Als ich jung war, standen an den Auffahrten zur Autobahn so viele Tramper, dass nichts anderes übrig blieb, als sich einzureihen und zu warten, bis man an die Reihe kam. Die PKW-Lenker hielten sich nicht immer daran und nahmen manchmal den zuletztgekommen zuerst mit. Bevorzugt wurden oft Armisten und nicht lange standen Mädchen in Mini-Röcken, meistens war der typische Tramper aber in Jeans gekleidet, trug Rucksack oder Kraxe oder hatte oft über die grüne Kutte einen selbstgenähten Beutel, eine Tasche gehängt, die aus einem für die Großelterngeneration typischen Wandteppich für die Stelle über dem Sofa geschneidert war, auf dem Wandteppich war zumeist ein röhrender Hirschs vor alpiner Landschaft dargestellt. Wenn man sich am Straßenrand platzierte und nach manchmal geraumer Zeit das erlösende Aufblinken und das Haltemanöver des Fahrzeuges sah, war dieses Anhalten, das ja auf dem Mitleid und der Kameradschaft der Autofahrer beruhte, mir immer wie ein gelungenes Kunststück vorgekommen. Nach einer Etappe auszusteigen, zweimal zu winken und wieder im nächsten Auto zu sitzen, das war schon was. Etwas im Stil von Protokollen nach Tonband, also Dialoge zwischen zumeist zwei Personen, in lockerer Folge, in so einer Art Collage entstanden wie von selbst. Wenn einer anhielt, der allein fuhr, wollte er meist unterhalten sein, das Gespräch wurde zur einzig möglichen Vergütung, manche sagten das ganz klar, besonders die LKW-Fahrer, die damals noch großzügig mitnehmen durften. Na erzähle mal was, Kleiner, ohne dich wäre ich jetzt beinahe eingeschlafen.
Eine meiner Tramptouren, ich wohnte noch in der Lessingstraße, wurde gleich aktenkundig bei Stasi und Volkspolizei, und das kam so: An der Ausfahrt der Raststätte Michendorf stand ich und winkte, ziemlich traurig und schon seit zwei Stunden. Es kam mir vor, als wenn ich nur mir selber zuwinkte und: Es dunkelte! Eine Frage der Zeit, wann die erste Streife der Autobahn-Polizei auftauchen, meinen Ausweis kontrollieren, dumme Fragen stellen und mich mitnehmen würde, so befürchtete ich. Für eine Übernachtung im Freien wäre es zu kühl, ich hatte dennoch überlegt aufzugeben und einfach an den Dörfern vorbei in die Nacht zu tippeln – durch meine trüben Gedanken schreckte mich ein Bremsenquietschen.Wo man tanken könne, wurde ich gefragt. Die Minol-Tankstelle war auch auf der Autobahn der DDR nicht abgedunkelt, sondern gut beleuchtet, wenn auch nicht ganz so strahlend wie heutzutage. Die Ungewöhnlichkeit der Frage überging mein von Verzweiflung längst angemürbter Geist, weil ich nur eins fieberhaft überlegte: Kommt der wirklich wieder, der eben so quietschend zur Tankstelle zurückgeschlittert war, würde der Herr mich mitnehmen? Der Herr hielt Wort und ich bestätigte ihm auf seine Anfrage hin gern, dass mir an seiner Fahrweise nichts besonderes auffallen würde.
Er war es, nicht ich, der nach der Eröffnung, dass er immer froh wäre, wenn er durch diesen Scheiss-Staat hier endlich durch sei, die Tatsache ansprach, dass hinter uns ein Streifenwagen fuhr, er sagte das mit diesem für mich damals neuen Ausdruck: “Und gleich hebt er die Kelle hoch!” So war es, aus dem vorbeiflitzenden grün-weißen Wolga wurde durchs Seitenfenster die rote Winkkelle gehalten, und ehe ich mich hätte verabschieden können, war ich vom hilfsbereiten Herrn getrennt und saß, wie auch er jetzt, in einem Fahrzeug der Deutschen Volkspolizei. Wir stiegen aus, ich stolperte mit der Acht, also in Handschellen, und wurde Richtung Wache gestupst. Gewaltanwendung keine, so lange ich die Herren der Lage als Herren der Lage akzeptierte, und was blieb mir anderes übrig. Was sollte ich bloß in Beelitz? Und was die für Fragen stellten. Worüber wir uns unterhalten hätten? Seit wann ich mit Herrn Zachiakowski aus Berlin-West in Verbindung stünde? Was man sich ebenso erzählt, hatte ich geantwortet und sein Schimpfen auf den Staat natürlich weggelassen, so was war Instinkt damals, das hätte man auch für seinen persönlichen Feind so praktiziert.
Das dumme Frage- und Antwortspiel hatten die irgendwann satt und ahnten vielleicht, dass der Lehrling für Druckformenherstellung zufällig zugestiegen war, jedenfalls durfte ich gehen, nachdem ich ein Protokoll unterschrieben hatte, wurde aber sehr hämisch verabschiedet:
“Zur Autobahn kommen sie jetzt nicht mehr. Sie können hingehn, die drei Kilometer, das ja, aber da oben stehen wir.” Die Straße, die ich dann im Dunklen entlang tippelte, war schmal und gewunden, wie ein Damm aufgeschüttet. Links und rechts Abgrund, kleine Bäche; vom Verhör noch beeindruckt, ängstigte mich nun die nächtliche Landschaft. Wie freute ich mich, unter einer trüben Funzel die Aufschrift Bahnhof Beelitz zu erkennen.
Allerdings sollte für viele Stunden, so entnahm ich dem Fahrplan, kein Zug mehr abfahren. Ich legte mich auf eine harte, hölzerne Bank und schlief sofort ein. Vor Erschöpfung traumlos, schien nach meinem jähren Erwachen ein Monster vor mir zu stehen. Ein rotnasiger, wodkadampfender Russe radebrechte. “Kamerad, wir teilen Bank.” Ich erschrak, das Wodka-Monster würde auf mir schnarchen wollen und mich letztendlich zerquetschen. Der Russe wird sich wohl kaum vor mir gefürchtet haben, vielleicht rührte ihn die Hilflsogkeit meiner russischen Beschimpfung, der Unterricht hatte keine Schimpfwörter enthalten und ich revanchierte mich mit dem Unwort der russischen Offiziere, Swinasabakka, die von den Sowjets für das besetzte Gebiet grammatikalisch grob vereinfachte Vokabel für Schweinehund. Später erfuhr ich, das Wodka-Monster — damals nannte ich ihn im Stillen nicht etwa Sowjetsoldat, sondern Scheissrusse — gehörte zur bei Beelitz stationierten Garnision, wo die Kasernentore pünktlich geschlossen wurden und die Kasernenmauern gnadenlos überwacht, so dass alle säumigen Säufer im Freien oder im Wartesaal kampieren mussten.
Am andern Morgen wankte ich müde und wie ausgelutscht zur Autobahn, als wär’s wirklich ein Spuk gewesen. Dort war jetzt nicht ein einziger Volkspolizist zu sehen, geschweige denn handschellenschwingende Festnehmer im Dienst-Wolga. Ich trampte ohne Zwischenfälle nach Hause.
Mag sein, eine Woche drauf, ich hatte das Zwischenspiel aus dem Spargelland, von dessen Gemüse ich damals keine Kennis hatte, einigermaßen verdrängt, rappelte was draußen vor meiner Dachkammertür. Noch im Halbschlaf rief ich: “Herein!”, denn Abschließen gehörte noch nicht zu meinen Gewohnheiten. Da tanzte, wie ich in meinen literarischen Anfangswerken formuliert hätte: ein gar putziges Männlein zur Stube herein. Trug eine schwarze Baske, gar alten Mantelsack und lief vornüber gebeugt, irgendwie unwirklich, dass ich gleich hätte vermuten müssen, dass es zum Beelitzer Spuk gehöre, auch wenn jetzt die Frage gestellt wurde, ob ich Charlie Chaplin möge? Eine Wand meiner winzigen Dachkammer war mit einer schwarzen Folientapete mit Kachelmuster beklebt. Mein ehemaliger Sportlehrer aus dem Niemberger Nachbardorf Brachstedt, der irgendwann nach dem zweiundvierzigsten Bier bei mir aufgetaucht war, hatte mich kritisiert: unter Folientapeten kann das Mauerwerk nicht atmen, einem Maurer wie ihm täte da das Herz weh. Also von diesem Herzdrücken unberührt, hatte ich die Kachel-Tapete in meiner jugendlichen Unbekümmertheit mit Chaplin-Bildern verziert, was den Vernehmer auf meiner Bettkante zum launigen Auftakt inspirierte. Wieder interessierte, was ich denn zwischen Michendorf und Beelitz mit dem Herrn Zachiakoski aus der Bäh-Erdäh gesprochen haben könnte. Vielleicht überzeugte ich meinen Besucher umso mehr von meiner Arglosigkeit, als ich ihm noch halb verschlafen eingestand, von Chaplin weiter nichts zu wissen, die Fotos nur als Dekoration angepinnt zu haben und darüber hinaus die Späße aus seinen Stummfilmen für albern und langweilig zu halten. All zu lange konnte ich mit dem Herrn Zachiakowski aus der Bäh-Erdäh nicht in Kontakt gewesen sein. Übrigens sollte er, so teilte mir der Vernehmer mit, stark alkoholisiert gewesen sein. Mir fielen wieder Zachiakowskis Fragen ein, ob mir an seiner Fahrweise etwas merkwürdig erschiene.
Reisen, Trampen und Volkspolizei, das schien für mich noch viele Jahre zusammen zu gehören.
Für viele Tramper gehörte der Zoff mit den Bullen dazu, war ein Feetz, mich hat es eher genervt. Die kürzeste Tramp-Tour, an die ich mich erinnere: Mit einem Kumpel trat ich in der August-Bebel-Straße aus dem Torbogen, beide waren wir reisefertig und allein durch lange Haare und Rucksäcke den Gesetzeshütern verdächtig. “Fahndungskontrolle! Bürger, weisen sie sich bitte aus!” begrüßten uns die Volkspolizisten. “Was haben wir denn da im Rucksack?, mal öffnen. Wo soll es denn hin gehen? Wo befindet sich ihre Arbeitsstelle?” Da war die Reise bereits an der Haustür vorbei, denn wir bekamen die Auflage, uns am nächsten Tag auf dem zuständigen Revier zu melden.
Trampergeschichten kursierten allerlei in abendlichen Grillgesprächen inzwischen ergrauter, angepaßter, zumeist längst kurz geschorener Kunden, Freaks und Tramper, und ich bin ein viel zu kleines Licht in den Kreisen jener, die jedes Jahr nach Ungarn getrampt waren oder zum Trampertreff auf Rügen niemals fehlten. Die Mitschüler aus der Berufsschule hatten mir nicht ohne Beiklang des Spottes den Namen Tramper-Batt verliehen. Wegen meiner Sicherheit, auch auf kleiner Strecke schon in einen großen Schlamassel zu geraten, sei noch erinnert, wie mein Freund Peter Böhm und ich, hierbei Boonekamp im Rucksack, nach Wittenberg getrampt und dort arretiert worden sind:
“Mir soll es recht sein!”, hatte Peter geantwortet, als ich ihm sagte: “Ich fahre nach Wittenberg.” Für die Reise gab es keinen Grund, außer; endlich raus, Spaß haben eben. Vielleicht war unsere Tragik, die Spaß-Gesellschaft schon erfunden zu haben, als die Demagogogen noch von der ständig steigenden Aggressivität des imperialistischen Systems faselten. Die Fahrt nach Wittenberg verlief, wenn man so will, ohne besondere Vorkommnisse, obwohl wir beide sicher eine kleine Strafe verdient gehabt hätten, schließlich gab es auch ungeschriebene Gesetze: angesoffen zu trampen war denen zufolge eigentlich nicht erlaubt. Boonekamp war ohnehin ein problematischer Schnaps, mein Mentor im VOB Union-Druck hatte mir nicht nur was von Zeilenumbruch und goldenem Schnitt verklickert, sondern wiederholt gewarnt, dass ihm wegen eben dieser Spirituose ein Drittel seines Magens entfernt worden sei.
Am Ortseingang von Wittenberg ein flach geducktes längliches Häuschen, ganz noch in der Positur des Umspannhofes, des Gasthofes also, in dem sich die durchgeschüttelten Reisenden einen Schluck genehmigten, während die Pferde ausgespannt wurden.
Von Pferden keine Spur, obwohl wir es von drinnen wiehern hörten und ein lärmendes Poltern, als ob die Viecher vor Hunger an die Stallwand schlügen. Drinnen feierte — trotz des frühen Nachmittags — eine Gesellschaft im fortgeschrittenen Stadium. Wir nahmen auf einen Wink des umtriebigen Wirtes an einem Tischchen im vorderen Gastraum Platz, fast alle begrüßten uns, die Leute von der feiernden Gesellschaft klopften auf den Tisch oder umarmten uns, je nach Temprament, so klein unser Tischlein war, nahmen doch noch Zechbrüder dran Platz. Der Wirt brachte immer wieder Bier, die Gesellschaft blähkte zum -zigsten Male den Refrain Nastrowje Wuumm, mein Freund Peter Böhm becherte nicht schlecht und mich selbst hatte eine unbändige Sauflust überkommen. Die Gäste um uns herum waren Engel, der Wirt unser Gott, aus den Gläsern zuhtschten wir nicht etwa nur Bier und Schnäpse, sondern Seligkeit. Wäre jetzt einer gekommen, vielleicht mit Schlips und Anzug, um zu fragen: “Wo wollt ihr heute nacht schlafen? Vertragt ihr soviel Alkohol? Achtet ihr noch auf eure Rucksäcke, wo sind die eigentlich?”, wir hätten den Realisten nicht verstanden.
Die Sauferei dauerte Stunden. Meine Erinnerung setzt erst wieder ein, als in mir ein schwaches, zugegebenermaßen sehr schwaches, aber eben doch Alarmzeichen läutete. Ein Fremder kaute mir was ins Ohr, er wäre in Schwierigkeiten, mit den Bullen hätte er nur Zoff. Diese Eröffnung bedeutete für mich in der Zeit der Diktatur der Besserwisser und Arbeitsgeilen immer einen gewissen Vertraunensbonus, einen Vorschuss an Hilfsbereitschaft. Dennoch war mir mulmig, der Fremde bat mich, ein Dokument an mich zu nehmen, das er nicht behalten könne, weil er nach Verlassen der Gaststätte sicher gefilzt werden würde, wo hingegen bei mir er hatte in mir richtig den Grünschnabel erkannt — die Bullen sicher nichts vermuteten. In der Kneipe war es zu dunkel, aber später riegelte ich mich auf dem Klo ein und guckte mir die Fleppe an, es handelte sich um einen Dienstausweis eines Majors der Deutschen Volkspolizei.
Den Ausweis steckte ich locker ein und grinste, schwamm im Alkoholnebel zurück zum Tisch, prostete in die Runde. Der Fremde war verschwunden, die Gesellschaft begann sich aufzulösen und dem Wirt fielen so unangenehme Vokabeln wie Sperrstunde und Ausschankschluss ein. Ein Schwuler bot mir Nachtquartier an, ich lehnte dankend ab. Wir zahlten und torkelten in die Nacht hinaus.
Mein Freund Peter Böhm schlug folgerichtig vor, den nächsten Acker als Bett, den Rucksack als Kopfkissen und unseren Rausch als Daunendecke zu verwenden, womit ich in Ermangelung besserer Möglichkeiten einverstanden war. Peter zog ein Röhrchen heraus, er hatte ein Schlafmittelchen aus dem Giftschrank der Psychiatrie, während seines letzten Spätdienstes mitgenommen. Aufgeblendete Scheinwerfer tasteten über den Acker, das Röhren eines Motorrades mochte ich im Medikamenten- und Alkoholnebel für eine Vision gehalten haben. Zwei Besoffene schliefen auf dem freien Felde, Rucksack als Kopfkissen, nach dem Erwachen Restalkohol, Kater und Depression im Programm, wäre das nicht genug gewesen? Aber nein, Scheinwerfer, dumme Fragen, harte Griffe, ich wachte in einer Zelle auf. Peter sah ich nicht, dafür eine neue Gesellschaft von Alkoholfreunden, wenn auch niemand zu trinken bekam. Einer nach dem andern wurde zum Verhör gerufen. Ein Mädchen war mit drunter, die lauthals darüber spekulierte, ob ich mich nun an ihr vergreifen würde, wenn ihr Freund vor mir zum Verhör geholt werden würde und sie als letzte im Verwahrraum übrig bliebe. Da konnte ich sie also beruhigen, wahrscheinlich hatten die beiden so wenig Vertrauen, weil ich ihnen gegenüber sagte, was man sonst nur dem Bullen gegenüber vorgab; nicht zu wissen, warum man zugeführt sei, nichts gemacht zu haben. Schließlich war auch das Mädchen weg, mein Freund Peter meldete sich durch Klopfzeichen und Zuruf aus der Nachbarzelle. Ich saß allein auf angeschraubtem Schemel und in mir dämmmerte anscheinend ein Restfunken von Verstand auf. Ich guckte mich um, die Zelle bot nicht viele Möglichkeiten, um etwas zu verstecken, aber eine Personenwaage stand im Raum, unter deren Fuß deponierte ich den Ausweis des Majors.
In den Morgenstunden wurde ich zum Verhör gerufen, Finger- und auch Schuhabdrücke wurden genommen. Abstruser Vorwurf, die schienen besoffener als ich zu sein, mein Freund und ich waren tatverdächtig, in eine Groß-Fleischerei eingebrochen zu haben, davon schienen die ziemlich überzeugt zu sein. Tage später, als ich in Halle nochmal über alles nachdachte, fiel mir das Licht auf dem Feld ein, der Motorradfahrer, der über den Acker fuhr. Ortstermin; sie zeigten mir den Zaun, an dem ich mit einer Drahtschere hantiert haben sollte. Vorneweg lief der Vernehmer, nebem mir ein Polizist und ich dabei in Handschellen, so zogen wir an den Fleischbänken vorbei und mitten durch das Kollektiv der Werktätigen, diese schauten auf und es gab Zurufe wie: “Habt ihr das Schwein endlich gegriffen!”. Da rief ich: “Ich war es nicht, die haben den Falschen.” Sie zerrten mich weiter, die Arbeiter starrten mich an.
Am Zaun der Fleischerei stellte sich heraus, dass die Fußspuren, auf die der Kriminalpolizist mich hinwies, damit ich nun endlich gestehen sollte, unmöglich meine sein konnten, denn in denen hätte ich sitzen können, so groß waren die. Die Spuren würden durch Regen und Nässe vergrößert, entgegnete mir der ermittelnde Genosse der K.
Am Nachmittag ließen sie mich laufen, ich kauerte mich am Wegrand auf einen Stein und wartete, bis ich Peter herauskommen sah. Wir schmiedeten Pläne für unsere Ausreise und schimpften auf den Scheiß-Staat. Auf dem Bahnhof stand ein kleines Männchen, so einer mit leichtem psychischen Schaden. Er zeigte uns eine Kinderzeitschrift: “Guck mal hier, das ‚Atze‘ haben se wieder schön gemacht.” Wir machten ein Schwätzchen, ich schaute mir die Komik-Mäuse Fix und Fax im “Atze” an, bis Peter mich antippte und ich hoch guckte. Meine Wahrnehmung war ich zunächst versucht, erneut einer Vision zuzuschreiben, so was hatte ich weder vorher noch nachher wieder gesehen: Trapo mit Gewehr im Anschlag und aufgepflanztem Bajonett rückte heran, einer von denen fragte: “Haben wir hier die Herren Böhm und Leisering aus Halle?” Später, auf der Bahnhofswache, zeigten sich die Blauen fast umgänglich. “Wir sind vor euch gewarnt worden, wir wissen doch auch nicht, um was es geht.” Wieder hielten grüne Autos, eins für mich und eins für Peter, wieder die Acht um die Handgelenke. An der Konsum-Fleischerei hätten sich neue Spuren gefunden, wurde uns mitgeteilt. Mir lief der Schweiß nicht nur wegen des Alkoholentzugs aus allen Poren: Ob die in Wahrheit wegen des Dienstauasweises so wilde waren, den ich unter die Waage geschoben hatte, ob sie den schon hatten, mit den Fingerabdrücken von mir Dummkopf drauf, ob der Fremde aus der Kneipe vielleicht gesungen hatte?
Nach einer guten Dreiviertelstunde Verhör war Themenwechsel, die Beweisaufnahme der nicht vorhandenen Beweise zum Thema Fleischerei zunächst ad acta, dafür saß jetzt ein aufmerksamer Bürger im Raum: Bestarbeiter, Abstinenzler und freiwilliger Helfer der Deutschen Volkspolizei. Das Dumme war, irgendwoher kannte ich den. Der Bürger behauptete, ihn hätten Besoffene angehalten, als er mit dem Rad unterwegs war, einer der Besoffenen, nämlich ich, hätte ihn gefragt, ob er nicht auch der Meinung sei, dass Honecker den Krieg wolle.
Also nun ‘mal nichts gegen die Intuition, die einen im Suff überkommen kann. Nach der Wende wurde Filmmaterial gefunden, eine Art Lehrfilm, in dem gezeigt wurde, wie sich die DDR den Erstschlag gegen das kapitalistsiche Deutschland vorstellte, so erfuhr die Öffentlichkeit erstmals von geheimen Plänen des Angriffs der Nationalen Volksarmee auf den Westen. Im Jahr 1979, als ich im Vollrausch ein Handzeichen am Feldweg bei Wittenberg machte und einen fremden Radfahrer anhielt, ihm die berüchtigte Frage zu stellen, waren die Pläne noch so geheim, dass wahrscheinlich noch nicht ‘mal die Erichs, ob Honni oder Mielke, erst recht nicht der Vernehmer davon wussten.
Die harten Vernehmer, die mir wahrscheinlich aufgrund eines Ermittlungsfehlers den Einbruch in die Fleischerei anhängen wollten und mich nun den dritten Tag nervten, haben mehr inneren Spürsinn für Recht und Unrecht gezeigt, als ihnen der boonekamptrunkene Jugendliche zugetraut hätte, denn Verhöre und Auflagen gab es für mich in den späteren Jahren noch oft, aber weder damals, noch später — als die DDR-Schriftstellerin Christa Wolf ihr Schaffen unterbrach, um öffentlich Friedenstauben zu basteln — kam das Gespräch jemals wieder auf meine gottlob nicht in Erfüllung gegangene Prophetie, in der der besoffene Holger in Erich Honecker den Brandstifter des dritten Weltkrieges gesehen hatte.
Ein, zwei Stunden musste ich noch warten, dann durften wir gehen. Ein Polizist sagte zu mir: “Höre ‘mal, bevor du hier abhaust, kannste mal noch eure Zelle auskehren, das sieht aus wie im Schweinestall.” Er schloss mich also samt Besen ein und was sah ich, es war genau die Zelle, in der ich zu Anfang der Vernehmungen gesessen hatte, ich stellte den Besenstiel an den Spion, ans Guckloch, und war vielleicht nervös, als ich die Hand unter den Fuß der Personenwaage schob. Da lag er noch, der Ausweis des Majors! Die Zelle habe ich so ordentlich ausgekehrt, dass mir der Grüne gleich noch ‘nen Wischeimer heran schleppte. Ich säuberte alles tipptopp und war froh, nun endlich ‘raus zu dürfen. Diesmal wartete Peter bereits draußen, ich zeigte ihm unterwegs den Dienstausweis des Majors, wir entschlossen uns, den durch das Gitter eines Gullis verschwinden zu lassen.
Mit dem Handwagen zur Hochzeit
Ratataplan, ratta-tamm, rattatata! Was war das? Ein schwerer Handwagen, massives Holz, die Felgen verrostet, knatterte über den Dessauer Platz. Vorneweg zog einer, schien ein junges Kerlchen zu sein, hinten schob ein Langhaariger, griff immer wieder sichernd nach, damit das wackelnde Frachtgut, ein ältereres Möbelstück, nicht herunter fiel. Der Langhaarige - der da übrigens in Hochwasserhosen hinterher stakste - war ich, vorn zog und bugsierte mein Freund Peter Böhm. Der Wagen, aus Geschäftsinventar entliehen, von meinem Hauswirt aus der Spitze 37, dem Milchmann im Ruhestand: Curt Schüle. Wir fuhren von der alten Wohnung meines Freundes (vom Elisabeth-Krankenhaus in der Taubenstraße) bis zur neuen Drei-Zimmer-Wohnung, direkt am Jüdischen Friedhof gelegen. Peter, damals Pfleger im Pflegeheim Beesener Straße, war glücklich, er hatte die Hausmeisterwohnung im Pflegeheim Dessauer Straße zugesprochen bekommen, ein Traum aus drei Zimmern - der Mietpreis war ja zu DDR-Zeiten sekundär, ein nebensächliches Notat auf der Ausgabenliste. Wir schwitzten, es war heiß und Curt Schüles Handwagen ratterte bereits die dritte Tour. In der Bodensenke an der Kreuzung zur Autobahn befand sich der “Thomas”, später umbenannt in Wohngebietsgaststätte “Dessauer Straße”. Im Sommer gab es einen Freisitz im Garten, an Wochenenden Disko und Tanz im Saal. Peter schlug vor, dort eine Limonade zu kaufen. Bier, das war abgemacht, würden wir erst abends trinken. Nach kurzer Einkehr fuhren wir weiter, der Handwagen ratterte zwischen Gertraudenfriedhof und dem Straßenbahngleis der Linie Eins entlang. Hinten an der Endschleife befand sich eine weitere Gaststätte, von den Leuten nur der Schuppen genannt. Die massiv ausgebaute Endhaltestelle, ein Wartehäuschen aus Beton, war der Überrest eines Zulieferbetriebes der Junkers-Werke. Meine Mutter hatte ich überredet, im “Schuppen” die Jugendweihe meines Bruders zu feiern. Heute existiert diese Gaststätte nicht mehr, auch der “Thomas” wurde vor ein paar Jahren abgebaggert, hatte nach der Wende zu lange leer gestanden, nur die Bodensenke blieb.
Alles veränderte sich: Das Gebäude des Pflegeheims Dessauer Straße befindet sich wieder im Besitz der Jüdischen Gemeinde, mit langen Haaren würde ich selbstredend nicht mehr herum laufen, nur mein Freund Peter blieb, was er schon damals begann zu werden und zu sein: Der Herr Pfleger.
Auf der letzten Fuhre kehrten wir nochmals im “Thomas” ein, tranken nun doch ein “Helles” mit. Unser Handwagen, aber auch wir selber, waren längst aufgefallen im Stadtbild und wir schienen eine kleine Meldung des immerwährenden Stadtgesprächs wert zu sein. Im Gastraum tafelte eine Hochzeitsgesellschaft, weißes Kleid und schwarzen Anzug trug niemand, das Brautpaar musste einem schon erklärt werden. Unter unserem Frachtgut hatten sich zufällig je ein Päckchen Salz und Zucker gefunden, die wir symbolisch überreichten. Peter Böhm und ich waren eingeladen worden, Platz zu nehmen, kamen ins Gespräch. Kaum eine halbe Stunde blieben wir, brachen dann auf, hatten ja noch etwas vor, der Umzug war längst noch nicht bewerkstelligt.
Geheiratet hatten der Maler Kakel und seine Freundin Conny, die beiden würde ich gelegentlich im Vorübergehen wahrnehmen, Kakel würde bald zu hochnäsig für ein Gespräch sein. Viele Jahre würde mir Vischering ein wichtiger Gesprächspartner sein, ein Gegenüber im Austausch über Leseerlebnisse, ein schöpferischer Mensch, der für Sprache und Dichtung Talent und Empfindung besaß, der aber auch kein Glas stehen ließ, in der Gose Stammgast war und genauso bekannt in kleinen Eckkneipen, Hausbesetzer in der Wallstraße und das, was man wohl einen Frauenheld nannte. Der heute längst verschollene Valentin, der die Mechanik und die Automobile liebte, der nachts unter fremden Karossen lag, um sich Teile abzuschrauben, dessen Onkel in Westdeutschland eine Autowerkstatt besitzen sollte. Mohr oder Charly, der schwarze lange Haare und Vollbart trug, Gitarre spielte und sang; ein Meister im Frauen bezierpsen, Geld leihen und Saufgelage inszenieren. Weiter waren da noch ein langer Kerl des geschichtsträchtigen Namens Stauffenberg, auch ein Gedichteschreiber, der dann auch als Keramiker und Kellner jobte und einige Jahre später durch einen Sprung vom Lehmannsfelsen sein Leben endete, und die schwarzhaarige Gabriela, angeschwipst und euphorisiert . . .
Noch etwa zwei Jahre, dann würde ich die Arbeit im Gesundheitswesen, nach dem Elisabeth-Krankenhaus war das Paul-Riebeck-Stift meine Arbeitsstelle, für immer aufgeben, wäre nur noch gelegentlich Pförtner am Martha-Haus oder im Theater der Jungen Garde, arbeitete gerade ‘mal ein paar Nachtdienste im Monat. Wenn gerade weder gespielt noch probiert wurde, im Theater also sowieso nichts los war, klebte ich einfach ein Schild an, dehnte die Pause des Abendbrotes in der Gaststätte “Puschkinhaus” bei ein paar Bierchen aus bis gegen Mitternacht und Ausschankschluss. Alles bereits vorgezeichnet, vorbestimmt? Aus der Runde im “Thomas” war es ausgerechnet Valentin, für mich eher eine Randfigur, der mich zuerst im Theater der Jungen Garde besuchte. Vischering hingegen sprach mich im Café “Corso” an. Er begab sich an meinen Tisch und siezte mich, als er sich mit vollendeter Höflichkeit nach meiner Meinung über das Buch “Vom Handwerk des Schreibens” erkundigte. Wir trafen uns seitdem öfter, auch im Café Hopfgarten, um über Peter Hille, Rainer Maria Rilke, Yvan Goll und Erich Mühsam - letztgenannten verehrte Vischering sehr - zu sprechen. Die in der DDR neuerlich verlegten und rezipierten Dichter, etwa die Herausgabe der Gedichte Gottfried Benns in der weißen Reihe, erzeugten für den Leser im “Leseland” so immer noch einen zusätzlichen Aktualitätsbezug, fast so, als wenn die Dichter immer noch lebten und sich eben erst zu Wort meldeten. Unsere Urteile und Wertschätzungen, heute würden sie grotesk anmuten, waren oft maßlos; wer nicht glorifiziert wurde, war abgeurteilt. Ohne es zu wollen, kopierten wir unter umgekehrten Vorzeichen das Wertesystem der Gesellschaft, in der wir lebten. Muss ich noch erwähnen, dass Vischering und ich selbst zu schreiben begonnen hatten und uns maßlos überschätzten? Die, die jeden Morgen über die Treppenhäuser klapperten, um etwa in einen der volkseigenen Betriebe zu rennen, verachteten und verspotteten wir an abendlichen Kneipentischen. Die sogenannte herrschende Klasse der Arbeiter war bei uns unten durch. Voller Hybris träumte ich einen uralten Traum, nämlich den, den Stein des Weisen in der Tasche zu haben. Was behütete mich davor, vollends ein Idiot zu werden?
Während eines sogenannten diakonischen Jahres hatte ich im Elisabeth-Krankenhaus in Halle gearbeitet, natürlich auch hier nicht ohne Bummelei, Alkoholprobleme und pathetische Ausreden, aber wenn ich vor Ort war, am Krankenbett, wurde ich ganz klein, war hilfsbereit und freundlich. Während dieser Zeit verrichtete ich neben der Vorbereitung und Transportdienste für die Operationen vor allem nachts die Arbeit, die kaum einer gern machte: Ich transportierte, zusammen mit der diensttuenden Schwester, die Leichen von der Station zur Leichenhalle. An den Augen, der Verzerrung des Mundwinkels oder jener gewissen bräunlichen Färbung um die spitzer werdende Nase, den kälter werdenden Füßen, vielleicht auch am Geruch und aufgrund einer gewissen Vorahnung konnte ich - wie wohl viele Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten - ihn immer bereits im Voraus erkennen, jenen letzten Gast.
Anders bei Krebspatienten, hier praktizierte der Tod eher heimtückisch; da waren die scheinbar geheilten, die sich rasierten, schon mal das gute Jackett hervor holten, morgen zur Visite beim Chefarzt die Entlassung durchsetzen würden . . .Wenn ich mit dem Panthenol-Spray zur Rasur der Schambehaarung loszog, um so den Patienten für den ärztlichen Eingriff vorzubereiten, las ich auf den kleinen Zettelchen aus Transparentpapier nicht nur den Namen, sondern auch die Diagnose, CA stand für Krebs. Die Euphorie des Patienten konnte sozusagen das letzte Symptom sein: Der gestern noch bettlägerige Patient, der sich überraschend wohl fühlte, frisch rasiert und ausgehfein vor dem Spiegel stand, war nur all zu typisch, ich hätte sein Pflaster schon beschriften können.
Im Riebeck-Stift, wo ich es immerhin zwei Jahre lang aushielt, wurden die Verstorbenen, die ich zu transportieren hatte, viel weniger, dafür waren es jetzt fast immer persönlich bekannt gewordene, mir vertraute Heimbewohner. Exitus: Ein Pflaster mit Namen und Nummer der Station auf die Fußsohle geklebt, die Augenlider von sanft darüber wischender Hand geschlossen, den aufklaffenden Kiefer mit einer Mullbinde hoch gebunden, bei konfessionellen Patienten die Hände, was nach Eintritt der Leichenstarre schwierig gewesen wäre, gefaltet. Für den Transport holte ich die “Gondel”, wie die für die Toten verwendete Krankenbahre genannt wurde, wuchtete und zerrte, oft in Zusammenarbeit mit der Nachtschwester, den Leichnam aus dem Bett, fuhr über den dunklen Innenhof des Krankenhaus bis zur Leichenhalle, schob die sterblichen Überreste auf das weiße Sprelacart. Bei Überfüllung, oder auch, wenn eine Schwester aus dem Orden der Grauen Schwestern der Heiligen Elisabeth feierlich aufgebahrt werden sollte, wurden die Leichen bis zur Abholung auf den Boden gelegt. — Aus und vorbei, auch mit meinem Stein der Weisen.
Spielgemeinde
Die alten Leipziger mögen es nach dem Bombentreffer nicht geglaubt haben, dass es, wenn auch um ein Stockwerk verkürzt und imitiert, außerdem um eine Straße weiter versetzt, wieder auferstand: das Café Corso. Für mich Nachkriegskind aus dem Saalkreis, das ja den Vorgängerbau und seine Geschichten nicht kannte, war er das perfekte Laboratorium des Müßiggangs und der Plauderei. Man musste schon ein bisschen spannen, gucken, nachfragen und auch ‘mal warten können, aber dann war das Plätzchen an einem der Marmortischchen bald ergattert. Egal in welchem Revier ich Platz nahm, jedes wurde von einer molligen, gemütlichen Kellnerin um die Fünfzig betreut, die sozusagen heran wallte, in ihrem langsam schwimmenden Gang, um das Schälchen Heeßen oder ein Ragout fin zu servieren. Ganz ehrbar und unbescholten nahm ich Platz, sonnte mich in dieser Unbescholtenheit des ehrbaren DDR-Bürgers, weil ich tief in mir um deren kurze Dauer wusste, gehörte ich doch zur arbeitenden Bevölkerung, im SV-Buch lautete meine Berufsbezeichnung geradezu feierlich: Volksmissionarischer Mitarbeiter im schauspielerischen Dienst.
Wie war ich nur darauf gekommen? Gut, im Schulkabarett war ich so eine Art Zugnummer gewesen, aber Schauspieler? Konnte mich nicht erinnern, dass während der Zeit, als ich gelegentlich den Theater-Zirkel in der Schorre besucht hatte, etwas Produktives heraus gekommen wäre. Unser Stück, lange Zeit sollte es unbedingt ein abstraktes, irgendwie richtungsweisendes Improvisationstheater sein, war niemals und nirgendwo aufgeführt worden. Wirklich passierte was ganz anderes, der betreuende Schauspieler gab einen wichtigen Impuls für unsere Truppe, in dem er die Schönste der Zirkelteilnehmerinnen vögelte. Die Schöne blieb als einzige Frau Thalia treu, wenn auch der Zirkelleiter längst entschwand; dreißig Jahre später traf ich sie wieder, sie arbeitete als Ankleiderin in der Requisite eines Schauspielhauses und strahlte eine milde Gelassenheit aus.
Auf meinen Eignungstest an der Leipziger Spielgemeinde hatte ich mich ein Vierteljahr lang vorbereitet. In der Zeitschrift “Theater der Zeit” las ich einen Auszug von Tendrjakows Stück “Die Abschlußfeier”, hatte die Rolle des Lehrers eingeübt. Mir gefiel das Modulieren der Worte, gebrauchen von Gesten und Bewegungen, die die doch eigentlich Schwarz auf Weiß festgelegten Texte verändern konnten. Über meinen Irrtum konnte ich damals noch nicht Bescheid wissen, ich bewegte Worte, und diese Bewegung interessierte mich, aber die Sprache meines Körpers zu bewegen, so spielen zu können, dass der Schatten meiner Bewegungen im Auge auch des nicht verstehenden, nicht deutsch könnenden Zuschauers, übermittelt hätte, davon wusste ich wenig.
Ein anderes Problem belastete mich sehr, damals hätte ich mich kaum getraut, es freiwillig zu erwähnen: Ich bin einfach zu doof, um etwa dreißig Seiten Text auswendig im Kopf zu behalten. Für die drei Seiten des Eignungstestes hatte ich ein Vierteljahr gebimst, jetzt hatte ich dreißig Seiten in wenigen Tagen zu lernen. Die Leipziger Spielgemeinde erhob damals den Anspruch, auch inhaltlich ein religiöses Theater zu sein. David und Bathseba aus dem Alten Testament stand auf dem Spielplan, als zweites war ein Weihnachtsstück geplant.
Mein eigentliches Dilemma, mein schlechtes Gedächtnis, konnte ich allerdings unerwartet gut vertuschen. Obwohl ich doch wohl nicht ganz unbegabt vorgesprochen hatte und die Stücke ja auch auf die Bühne kommen sollten, fiel Frau Sanghammer, unserer Intendantin und Verfasserin der christlichen Dramatik, allerlei andere Beschäftigung ein: Ich wurde zum Bürodienst abgestellt. Wer mich langweilte, der musste schon immer damit rechnen, dass das Schiffchen meines Geistes auf eigener Gaukelfahrt den Kurs schlingert: Johann Gottfried Herders Sammlung “Stimmen der Völker in Liedern” las ich, aber auch im altrömischen Satirikon. Eine Passage zitierte mir ein Kollege, der Aufschneider, Schwätzer und Weiberheld Sieber — in der von einem Römer die Rede war, der den Besuch des Badehauses aufschob, um lieber zum nächsten Gelage zu wandeln. Der Kollege Sieber mochte Grund dazu gehabt haben, meine grüne Kutte aus dem Försterladen, die ich damals ständig trug, stank.
Sieber machte damals auch den Fahrer, die Spielgemeinde verfügte über einen eigenen Wartburg-Tourist, außerdem über das Büro im Gemeindehaus der Thomas-Kirche und über eine Spielspätte in der Otto-Schill-Straße. Als ich kündigte, nahm das die Intendantin Sanghammer schwerer als ich, auch sprach sie einen Irrtum aus, den ich in ähnlichen Situationen noch öfter hören sollte: Sie ginge davon aus, dass ich mir im Stillen bereits eine andere Stellung besorgt hätte.
Während der Zeit in der Spielgemeinde hatte ich zwar an freien Wochenenden noch in einem Wohnheim in der Beesener Straße ausgeholfen, aber fest anfangen wollte und konnte ich dort nicht. Die Jugendlichen aus dem Heim staunten nicht schlecht, dass es jetzt einen Betreuer gab, der schwarze Fingernnägel und oft auch ungeputzte Schuhe hatte. Mir war damals nach einer Pause zumute. In den wenigen Wochen meines Engagements hatte ich am Theater der Kirche, wie sich die Spielgemeinde später treffender nannte, eine wichtige Begegnung. Für mich damals die erste Begegnung mit einem Menschen, der die Lebensweise am Rand der Gesellschaft mit einer gewissen bürgerlichen Sicht und Wohnkultur verband. Melusine wohnte im Bogen eines alten halleschen Straßenzuges, im Parterre eines Hinterhauses. Immer, wenn ich sie damals besuchte, um ein Glas Tee zu trinken und mich mit ihr zu unterhalten, bewegte sie sich leise, sanft gemessenen Schrittes im dunkelbraunen Schimmer ihrer alten Möbel, zwischen gestärkten weißen Spitzendeckchen, Büchern, Keramik und zeitgenössischer Grafik. Ihr verdanke ich ein erstes Hören der Musik Gustav Mahlers - jedes ihrer Worte, jede Bewegung öffnete mir einen Eingang in ein Land stiller Strömung, in jene Art von Poesie, die lange vor dem geschriebenen Wort existierte und nach ihm weiter existieren wird. Melusine war niemals auch nur in einer Sequenz, einer Sekunde meine Liebste, auch in jenem herkömmlichen Sinne keine Freundin, aber eine große Inspiration, vielleicht eine hohe Priesterin, wenigstens für jene Leserinnen und Leser so benannt, die wie Rafael Alberti es formulierte, verstehen, dass ein Mensch nicht immer aus seiner Zeit sein kann.
Meine gelegentlichen Besuche mochten ein Jahr gewährt haben, dann stand ich traurig auf dem Hinterhof in der nach dem heiligen Laurentius und naheliegender Kirche benannten Straße. Meine liebe Gesprächspartnerin hatte die Ausreise in das andere Deutschland genehmigt bekommen.
Zirkel schreibender Arbeiter
Bittere Felder
Brief an einen jungen Autoren:
(Auszug)
Wir meinen, die Realisierung Ihres Wunsches, sich einer kontinuierlichen beruflichen Tätigkeit in Bereichen der materiellen Produktion fernzuhalten, kann für die literarische Qualität nicht nützlich sein. Alleinige Belesenheit in der schöngeistigen Literatur wird als Basis für das künstlerische Schaffen eines jungen Autoren unzureichend sein. Eine Integration in den Arbeitsprozeß, wo auch immer, als wichtigste Möglichkeit der Kommunikation schafft Erkenntnisse gesellschaftlicher Zusammenhänge und erweitert den individuellen Erfahrungsbereich über das Leben.
Schriftstellerverband
der Deutschen Demokratischen Republik
Berlin. den 18.03.1985 Holtz Baumert
Barbara Petschau
"Guten Tag, Sie werden entschuldigen, bin ich hier richtig beim Zirkel Schreibender Arbeiter?", wollte ich mich vergewissern, als ich im Jahr 1980 einen der kleineren Räume des Jugendklubhauses "Philipp Müller" betrat. Zur Zeit der gesellschaftlichen Forderung des "Bitterfelder Weges", da der Kumpel aus dem Schacht, der Prolet aus der Fabrik, der Genossenschaftsbauer zur Feder greifen sollten, eine nicht so seltsame Frage im nachmittäglichen Betrieb eines Klubhauses.
"Schreibende Arbeiter gibt es hier nicht, aber wenn Sie den Literaturzirkel meinen, sind Sie hier richtig", erhielt ich darauf Bescheid.
All die Zirkelnachmittage in den unzähligen Klubhäusern und Schulen, immer kostenlos veranstaltet und unter dem Banner der Freien Deutschen Jugend, wobei dieser Schirmherr sich, soweit nicht grober Affront der Zirkelteilnehmer Begehr, weitgehend zurückhaltend gab. Gesellschaftliche Resonanz oder gar Förderung innerhalb der staatlichen Verlagsstrukturen durfte allerdings auch keiner erhoffen, der hier Frühlingsgedichte, die Erzählung einer Rucksackreise von Leiptsch nach Prach ins U Flecku oder einfach nur Selbstbespieglungen aus der Mappe zog.
Da saßen sie nun alle: Winni der Schweiger, der nie ein eigen Verslein, nicht mal ein lyrisch Liebesstammeln mitgebracht, ein, zwei Aufsatz Eins-Kandidaten, die also zumindest lesen und schreiben konnten, hin und wieder ein sanftes Mädchen, dem der letzte Spätsommer, die erste Liebe und das Trunkensein an der Lyrik Hermann Hesses gar zu fruchtbringend gewesen, und natürlich der unvermeidliche junge Mann, der zu gern Eichendorff oder Rilke gewesen wäre und nur eine Chance hatte, wenn er dieses Ansinnen in seinem Œuvre so kolossal mißgestaltete, daß man ihn als Satiriker oder Literaturkabarettist notfalls würde hinnehmen können.
Überflüssigerweise stellte einer die Position des politisch Naiven, der den Kommunismus und die Weltrevolution in edelster Weise aufbranden gesehen, darum nicht nur Martin Luther zum revolutionären Erbe nochmals zu erklären sich beeilte, sondern auch Hölderlins Frankreichsympathien über Diotima stellte und neben Uhland oder Gottfried Benn auch Walther von der Vogelweide für einen Wegbereiter des Faschismus hielt.
Wer nun freilich meinte, bei aller Diskussion, auch jener über Grammatik, Stilmittel, unfreiwilliges Epigonentum infolge literarischer Vorbilder usw. mit wenig metaphorischer Anfrage direkt ans fest verschlossene Tor, auf dessen Balken in geheimen Lettern das Wort Veröffentlichung leuchtete, poltern zu müssen, der mußte sich seitens des Zirkelleiters Friedrich Döppe mit einer wichtigen Grundsatzüberlegung bezüglich des Faktors künstlerischer Qualität vertraut machen.
Ein junger Autor, so Döppe, darf niemals zu früh gefördert werden. Man sähe das am Beispiel Johannes Robert Bechers, dem Katharina Kippenberg sehr zugetan war. Die Verlegersgattin setzte sich sehr für ihn ein, begünstigte seine Publikation im Insel Verlag. So entstünden nicht wiedergutzumachende Spätfolgen in der Entwicklung eines Autors: Die Qualität wird sprunghaft und die Prägung des Stils stark gefährdet.
Wie kommt es nur, daß ich zu späterer Stunde, als ich die am Klubhaus befindliche Mansfeld Klause nicht ohne gambrinische Inspiriertheit verließ, nicht anders meinte, als hinter den Fenstern unseres Zirkelraumes einen Jesuiten spuken zu sehen. Es blieb auch bei praktizierter Toleranz nichts außer Kontrolle. Wenn es sich nicht gerade um einen Schach Zirkel handelte, lebte es sich bequemer, besser kein Talent, vielleicht gar noch ein geniales zu entdecken.
Immerhin, wer Ohren hatte zu hören, der konnte hören und lernen. Wissenswertes, wie hätte sich Döppe, der übrigens auch das Verb interessieren geradezu haßte, über dieses allgemeinplatzverdächtige Wort geärgert, Wissenswertes wurde allerdings vermittelt.
Erstmals erfuhr ich von der Existenz eines Arno Schmidt, konfrontierte mich unser Spiritus Rector mit der Ansicht, daß Charles Bukowski ein stinksentimentaler Hund sei, aber wir hörten auch, daß man sich in der DDR seinen Calvados selbst herstellen müsse, und einen kurzen Abriß über das Leben und Destillieren der Bauern in der Provence, garniert mit der trockenen Anmerkung, man solle schon in jeder Metropole der Welt einmal einige Zeit gelebt haben.
Ich war damals gerade zweiundzwanzig geworden und die DDR da die Alzheimer Fraktion in den nachgeborenen Generationen zu stetig steigender Bedeutung gelangt, sei es erwähnt , unsere kleine Republik also, war für den Normalbürger verriegelt und verrammelt. Wer eine längere Reise wünschte, dem konnte geholfen werden, für nichtprominente Persönlichkeiten mit einer Fahrt nach Schwedt, Bautzen, Unterwellenborn oder wenigstens zunächst in die städtische Untersuchungshaftanstalt. Beiläufig eingeflochtene Sottisen wie die über die von uns nicht besuchten Metropolen, die unsere Reiseunmündigkeit assoziierte und bloßstellte, bildeten sozusagen auch Förderung, die wirksam und wohlbedacht nicht zu früh erfolgte.
Wenigstens wurde auch in der Sache, der textuellen, Pardon nicht gegeben. Nach dem Verlesen eines dreißigseitigen Manuskriptes schwieg der Maître, ein Schweigen aus Stahlbeton. Erst auf der imposanten Treppe vor dem Klubhaus zwischen zwei anderweitig adressierten Abschiedsfloskeln: "Sie sind ja zuweilen recht putzig!"
Noch rareres und höheres Lob erlebte der, dessen Arbeit sich Döppe einmal mit nach Hause nahm.
Wer hätte da nicht ein bißchen eitel Hoffnung kultiviert. Künstler zu sein in der DDR, es hätte, so träumte dem Träumer, doch nicht zuletzt allerlei Privileg bedeutet.
Auch ein Zirkelteilnehmer wußte, wie viel Mühe, Zweifel, Selbstkritik und Ausgeschlossensein vom farbigen Spektaculum des Alltags das Schreiben einer Kurzgeschichte, selbst das eines mittelmäßigen Interviews über solch Proletarische Existenz, der man selbst eben gerade adieu sagen wollte, bedeutete.
Selbst das grausigste Bergwerk literarischen Schaffens, wie bliebe es doch unverwechselbar, abenteuerlich und das Selbstwertgefühl bestärkend gegenüber der für jedermann beliebig zu verwirklichenden Möglichkeit, in einem der Kombinate oder als Bündnispartner der Arbeiterklasse, in der Produktionsgenossenschaft des Handwerkes, dienstbares Rädchen zu sein. Außerdem hielt sich hartnäckig das Gerücht, die Arbeit des freischaffenden Künstlers, also beispielsweise jene Traumberufe: Schriftsteller, Keramiker, Musiker in einer Rockband, Kunstmaler und ähnliche, fordere die Persönlichkeit zwar hart, es ließe sich andererseits aber einrichten, daß dies nach elf Uhr morgens begann. Auch ein Pausieren von einigen Tagen stand nicht unter disziplinarischer Maßregel, wie etwa im durch Arbeitsplatzbindung zwangsverehelichten VEB.
Die Zirkel Schreibender Arbeiter konnten und sollten wohl Probebühne sein, aber auch der Trost eines Freiraums, ventiliertes Hobby.
Ein Grand Charmeur, ein Plauderer vor dem Herren, immer weltgewandt, so räsonierend wie aufgeschlossen, war Fritze, wie ihn manche nannten, der es sich übrigens selten nehmen ließ, seine Bemmen in der Zirkelstunde zu essen, allemal.
Noch zu schleifende Polemik servierte er im Schein der Beiläufigkeit, vielleicht für erleseneres Publikum probend: "Gestern war ich doch mal wieder beim Verband." Das sollte implizieren, er verkehre da ständig, und diesmal war der Verband Bildender Künstler gemeint. "Sage ich, ich habe doch eben den Wilhelm Schmied gesehen. Was macht denn der noch hier, der Anstreicher? Entgegneten die mir: Wieso, das ist doch der Vorsitzende."
Oft entfiel unser Zirkel. Friedrich Döppe litt an Herz und Kreislaufproblemen. Seine Gewohnheit, bei zu hoher Raumtemperatur zu arbeiten, so meinte er einmal, zahle sich übel aus. Am Fenster des Klubhauses beobachteten wir den Berufs-und Feierabendverkehr auf der Philipp Müller Straße, ob sich doch noch sein roter Vierhundertzwölfer Moskwitsch, unverwechselbar durch die weiße Lackierung des Daches, hinaufschöbe. Vielleicht fuhr in jenen Tagen der rotweiße Pegasus längst über nachteinsame Straßen Richtung Gutenberg, sein Lenker im Traum träumend von Betriebsamkeit und Betriebsromantik des chemischen Kombinates, in seiner Fahrtauglichkeit beeinträchtigt vom Tablettenmorpheus sozialistischer Produktion, sein Name Meprobamat.
Pünktlich zu den bald wieder regelmäßig stattfindenden Zirkelnachmittagen zu erscheinen, wäre eine Art literarischer Arbeit, andere, eigene Straße befahren zu wollen.
Ich wollte lesen, wollte schreiben, wollte das Abendrot selbstherrlich zum Brand der Zukunft erklären und stilistische Regel für den Bastard des Intellekts wie wohl alle frühen Irrtümer rigoros einherrasseln.
Rigororeses auch im Gerücht über einen, der die Großbuchstabentaste seiner Schreibmaschine abgesägt habe, um der Sichtbarkeit aller verhaßten Substantivierung zu entkommen.
Neue Türen würde ich öffnen wollen, lange nicht jene eines Zirkels schreibend erahnter Arbeiter.
Wenn schon nicht die Portale der literarischen Nomenklatura, so öffnete sieh manche Kaffeehaus- oder Wirtshaustür, schaukelte durch biergoldene Gischt und Tabaksqualm unterm Irrstern trunkenen Gesprächs die Skizze eines lyrischen Ichs.
"Der Tag, ein Flaschenscherbel, bröckelt Putz in Alkoholikerbetten", erinnere ich mich früher Verse oder etwa "Die Kneipen sind des Mondlichts Schlampen, öffnen sich gar jedermann."
Was blieb für mich, abseits des Bitterfelder Wegs?
Zumindest jene bittere Erkenntnis, daß seine literarische Geographie den Boulevard des Sinnentaumels zur Sackgasse zu degradieren versuchte. Bißchen schimmerte immer noch Fadejews Fratze im Hintergrund, leuchtend über dem Allunionskongreß, der Trakl und Rilke zur Dekadenz erklärt. Die Totgeburt des Arbeiterschriftstellers kreißt eine Diktion des typischen DDR Purismus, die heute noch vernehmlich jedes Fremdwort ächtet, verschachtelte Satzkonstruktionen bei Todesstrafe verbietet, hingegen Hilfsverben hofiert wie Arbeiterkinder nach Neunundvierzig, und simplifizierte Berichterstattung für Realismus hält.
Traurig auch, daß die Recherche in der sozialistischen Produktion für Mißliebige auch zur Bewährung in der Produktion, zum erzwungenen sozialen Standort, letztlich zu Arbeitsplatzbindung führen konnte.
Auch bei Grenzdurchbrüchen stillerer Art, Überläufern zu Dekadenz und Verunglimpfung des sozialistischen Menschenbildes patrouillierten wachsame Grenztruppen. Die Transportpolizei führte nicht nur Fußballrowdys oder mutmaßliche Grenzverletzer zu, sie beschlagnahmte auch Manuskripte, beispielsweise die des Lyrikers Baader aus Halle. Der Utilitarismus und seine DDR Nuance des Bitterfelder Weges tönte wie Liturgie durch die Niederungen der Kulturpolitik seine Apotheose des Arbeiters, brüllte seine Vergottung der Proleten in den Protokollen der zuständigen Abteilungen Inneres und demaskierte sich durch Arbeitsplatzbindung und gesundheitsschädigende Zwangsarbeit in Karbid und Gleisbau.
Katechet
Als ich mich entschloss, über ein Fernstudium am Katechetischen Seminar Wernigerode eine Arbeit als Katechet zu versuchen, also Kinder in Religion oder Christenlehre zu unterrichten, war mein persönlicher Glaube an die nach der Augsburger Konfession geregelte christliche Lehre bereits nicht mehr sicher. Für das Mansfelder Land hatte mich der Propst und Kreiskatechet eingeteilt, manche sprachen böse von roter Kultursteppe. Dieser berufliche Versuch erlaubte mir das Kennenlernen unterschiedlicher Pfarrhäuser, von Pastorinnen oder Pfarrern ganz verschiedener Art in Röblingen, Stedten, Steuden oder Amsdorf. Während meiner eigenen Schulzeit hatte ich immerhin in Christenlehre und Konfirmationsunterricht gut aufgepasst, die zehn Gebote, Glaubensbekenntnis, Psalm 23 kannte ich, die Bibel war mir nicht unbekannt, ich konnte sozusagen Jesus von Jesaja unterscheiden, auch von Dorothee Sölle und Karl Barth hatte ich gehört. Ob ich was von Didaktik oder Pädagogik verstand oder von Hermeneutik, erschien mir schon damals fraglich, von der persönlichen Vita zu schweigen. Wer nicht etwa als Gemeindeglied, sondern beruflich in der Kirche arbeitete, für den war es mit milder Freundlichkeit und herzlichen Willkommenstönen bald vorbei; das Finanzielle interessierte mich zwar nicht vorrangig, so schlecht war ich aber niemals wieder bezahlt worden.
Mit den Kindern und Jugendlichen kam ich gut zurecht, wenn ich auch nicht singen konnte und kein Instrument spielte, so wenigstens vorlesen und erzählen, die Dialogtechnik des Unterrichts hatte mir zehn Jahre selbst Freude gemacht. Meine praktische Prüfung sollte dennoch wacklig verlaufen; ich erzählte die Weihnachtsgeschichte mit freien, eigenen Worten nach, meine kleinen Zuhörer lauschten gebannt. Der verdammte Phantast in mir musste die Sache natürlich ausschmücken. Die Weisen aus dem Morgenlande, die heiligen drei Könige, so meinte ich damals, fabulieren zu müssen, sahen den funkelnden, prachtvollen Palast des Herodes schon von Weitem. Ja, da hatte ich w e i t gefehlt, befanden die Prüfer, denn es gab keinen wissenschaftlichen Beleg über die Architekur des Palastes, und die evangelischen Führungs-Christen jener Zeit waren stolz wie ein Torrero nach dem siegriechen Stierkampf auf ihrer wissenschaftliche Analyse. Die Konstellation der Sterne über Bethlehem zur Zeit Christi Geburt und die Tatsache, dass Kaspar, Melchior und Balthasar nach damaligen Forschungsergebnissen erst fünf bis sechs Jahre nach Geburt und Volkszählung in Bethlehem vorgesprochen haben sollten, waren ihnen sehr wichtig.
Zum Weihnachtsfest wurden sie dann wieder so milde, wie ich die Kirche in meiner Kindheit erlebt hatte. Von meiner Mentorin bekam ich das Buch “Theresienstädter Requiem” von Josef de Bor geschenkt. Später wurde es peinlich unterm Tannenbaum; wir hatten Glühwein getrunken und eine alte und verdiente Katechetin, die im kommenden Jahr in den Ruhestand versetzt werden sollte, erinnerte sich ihrer eigenen Kindheit und sang aus dem Repertoire völkischen Liedgutes.
Im nächsten Jahr schickte auch ich mich in den Ruhestand, unter anderem hatten mir die frommen Pastorinnen vorgeworfen, dass ich in Halle auch Orte aufsuchen würde, wo die Gesangbücher Henkel hätten, irgend so ein Denunziant gab vor, er hätte mich aus der Gaststätte Diesterweghaus taumeln sehen.
Meinen Abschluss als B-Katechet hätte ich dennoch bekommen können, aber Abschlüsse und Zertifikate für berufliche Weihen waren wohl niemals meine Sache. Obwohl mir nicht gerade alle wohl gesonnen waren, hielt mir zumindest der Superintendent meinen letzten Einsatz für die evangelische Kirche zugute. Die berufliche Orientierung zum Katechet, die moderne Bezeichnung Gemeindepädagoge war im Gespräch, war bei mir damit verbunden gewesen, den Kinderwunsch nach Talar, Abendmahl spenden und abendlichem Pfeifeschmauchen im Pfarrgarten, Organisieren von Gemeindefesten, also Tänzchen-Tee, Bibelarbeit unter Absingen meines Lieblingschorals von Paul Gerhardt “Geh aus mein Herz und suche Freud’ in dieser schönen Sommerszeit” und ähnlichen Stimmungsbildern adé zu sagen; für den Beruf des Pfarrers fühlte ich mich nicht berufen. Im Kirchenkreis herrschte Mangel an Personal, und ich war immer wieder daraufhin angesprochen worden, doch bei Bedarf in einer der kleinen Dorfkirchen einen sogenannten Laiengottesdienst zu halten - heute, da die Theologen nach dem Diplom zur Futterkrippe drängen, ist diese Praxis des Laien-Gottesdienstes übrigens nicht mehr so richtig erwünscht. In Teutschenthal war der Pfarrer mit Grippe und Angina im Bett, ich hatte mich zu einer Vertretung überreden lassen. Die absolut ausgedünnte Liturgie der evangelischen Kirche war mir vertraut, um das Aushängen der Nummern für die Gesangbuchlieder kümmerte sich der Organist und die Predigt war mir vorgeschrieben, gab extra Bücher für die Sonntagspredigten. Setzte mich vorne auf die erste Kirchenbank, faltete die Hände, guckte noch ‘mal auf den Spikker mit der Reihenfolge und hätte nur noch fünf Minuten stille sitzen brauchen. Drei Minuten vor Zehn stand ich aus Nervosität von meiner Bank auf, wollte mir nur eben ‘mal die Füße vertreten, da brauste die Orgel los, dass ich erschrak. Hinterher erfuhr ich, es war Brauch, dass das Erheben des Pfarrers den Gottesdienstbeginn auslöste. Die lieben Leutchen, vor allem die älteren Damen, waren jedenfalls voll des Lobes, dass es sogar bis zum Probst durchdrang. Würde ‘mal ein guter Pfarrer werden, da waren sie sich einig: “Wie gut der junge Mann gesprochen hat!” Leider war ich zu dieser Zeit für die professionelle Filiale Gottes auf Erden längst ungeeignet, nicht nur wegen Glaubenszweifeln, nach dem Gottesdienst war ich schon wieder ein Sünder und Missetäter, der Gottes Geboten frevelte, betrog ich doch den Verkehrsbetrieb und fuhr schwarz nach Hause - mir war nichts anderes übrig geblieben, das Kollektenkörbchen war zu schnell verschwunden.
Mäuschen
Rolltreppe nannten die Hallenser das Kaufhaus Große Ulrichstraße/Ecke Kleinschmieden schon in den Siebzigern, bevor der Schriftzug Rolltreppe nun ganz offiziell den Neubau und das darin untergebrachte Einkaufszentrum bezeichnete, vor allem ältere Leute nannten das Kaufhaus hingegen nach über drei Jahrzehnten Sozialismus immer noch Karstadt. Der Rat des Bezirkes, die HO und kurzum der sozialistische Staat fassten wohl einen ihrer angenehmeren Beschlüsse und ließen einen Flachbau mit großen Fenstern anfügen, in dem dann jenes Café eröffnete, das wir damals Aquarium nannten. Das Aquarium war ein Tagescafé, Bier wurde hier weniger getrunken, aber bereits am Vormittag - ehe beispielsweise mein Spätdienst im Paul-Riebeck-Stift begann - konnte man herrlich schwatzen und sich ein “Schälchen Heißen” gönnen. Hier bediente seinerzeit meine Lieblingskellnerin Edith, eine resolute Dame mit blondem Dutt, Klaus oder sein Bruder, der schwule Alfons - dieser immer im blauen Jackett.
Richtig stolz war ich auf meine erste eigene Wohnung, hatte sie mir selbst ausgesucht. Was in den Zeiten staatlicher Wohnraumlenkung und wie Kostbarkeiten bewerteter Wohnraumzuweisungen vielen unmöglich erschien, ich hatte es geschafft, hatte wieder getrickst. An wie viele Türen mag ich geklopft, an wie vielen Häusern mit gardinenlosen, schmutzigen Scheiben geklingelt haben, bis ich mit meinem gütigen, neunzig Jahre alten Hauswirt - Ehre sei deinem Andenken, lieber Curt Schüle - ins Gespräch kam. Während des ersten Vorgespräches musste ich dem alten Herren beim Fußbad assistieren, seine Beine wollten nicht mehr so geschwinde wie der Kopf. Vielleicht hatte er sich wirklich überstrapaziert, war er doch als Former - einer Mischung aus Walzer, Metallgießer und Schmied - jahrelang auf der Walz gewesen, hatte auch in manch’ artfremden Gewerbe improvisiert, ehe er sich in Halle als Milchhändler niederließ. Wohnungen habe ich bestimmt noch über zwanzig gemietet oder auf andere Weise als Wohnsitz gewählt, niemals wieder gab ich mir so viel Mühe. Nicht nur die Wände, auch die Dielen und Fensterrahmen hatte ich gestrichen. Ein Vertiko, einen runden Tisch und andere Gründerzeitmöbel hatte ich erschnorrt, erbettelt oder einfach vom Sperrmüll mitgenommen. Eine gebrauchte Waschmaschine, eine WM 66 mit Laugenpumpe, durfte ich bei meiner Stationsschwester “abstottern”, also auf Teilzahlung kaufen. Gerahmte Reproduktionen der Bilder des Malers Albert Ebert schmückten frisch geweißte Wände, sein berühmtes Laternenfest leuchtete über dem Zierbogen meines Vertikos.
Im “Aquarium” saß ich wieder ‘mal an meinem Lieblingstisch in der Ecke, um mich mit meinem damaligen Freund und Nachbarn, dem Schriftsteller Detlef Opitz zu treffen, der freilich noch nicht der große Schriftsteller war, er schrieb an seinem Erstling “idyllchens mief”. Weibliche Wesen beeindruckte er mit allerlei Redekunststückchen und wohl auch mittels der überdimensionierten Pracht seines Wuschelkopfes, außerdem lief er immer in viel zu weiten Wollpullovern herum, verweigerte jede Form außerliterarischer Arbeit, nannte sich Edel-Assi, galt als Dissident, würde demnächst ein Honorar für eine Reportage in der vielbeachteten, zweifelsohne immer noch besten, vielleicht auch elitärsten Literaturzeitschrift der DDR erhalten - für damalige Verhältnisse die volle Palette. Dass eine etwas weniger junge, aber sehr hübsche Frau, die sich mit uns unterhalten wollte, mit am Tischchen saß, stimmte mich fröhlich, erschien mir eine Art origineller Beitrag vor meinem Weg zum Spätdienst im Pflegeheim zu sein. Keinerlei Begehren meinte ich in mir zu spüren, ich dachte keine Minute an jene Textilien, geschweige denn irgendwelche Intimzonen, die ein schüchterner, allein lebender Mann normalerweise nicht zu sehen bekam. Zwanzig Jahre war ich jung; ein einziges Mal nur war eine Frau so nett gewesen, mich mein Ding rein stecken zu lassen. Meine Mannwerdung, dieses Absolvieren eines biologischen Parameters, verdankte ich dubiosen Umständen: Die junge Frau, die ich, alkoholisiert und übernächtigt nach einer Fete am Steintor kennengelernt hatte, war verwirrt und eben aus der Verwahrung einer Psychiatrie entsprungen, am anderen Morgen wurde mir die Imbezilität des armen Geschöpfes offenbar.
Viele Stunden meiner Freizeit widmete ich der Lektüre, mir gefiel meine Wohnung, ich hatte einen gar nicht so üblen Job im Pflegeheim, die alten Leutchen mochten mich, ich kam mit allen zurecht - aber Frauen, Sex? Frauen, so dachte ich damals, mochten mich nicht. Was “Mäuschen” — so wenig einfallsreich nannte ich sie in meiner Liebe, oder war es Brunst? — betraf, so hatte ich mich geirrt. Ich guckte deshalb auch wirklich ziemlich baff, als Opitz, kaum dass sie zur Toilette gegangen war, meinte: “Wir müssen klären, wer sie mit nach Hause nimmt.” Ich war erschrocken und gab Höflichkeiten von mir, wurde ohnehin im Pflegeheim erwartet. Aber für diesmal hatte das Glück, na ja, jedenfalls meine Vorbestimmung, mich anscheinend schon angeleint, auch wenn ich ganz artig meine Schritte zum Spätdienst im Paul-Riebeck-Stift lenkte. Mäuschen hatte mich sicherlich schon längst auf dem Plan.
Vielleicht vierzehn Tage später trafen wir uns im gleichen Café wieder. Zufall? Ich hatte mich dabei ertappt, noch öfter als sonst im “Aquarium” vorbeizuschauen. Ohne es mir eingestehen zu wollen, hatte ich wohl doch auf Mäuschen gewartet. Ihr gefiel es übrigens sehr, dass ich sie Mäuschen nannte und nicht etwa bei ihrem Vornamen, sie bestand sogar darauf — damals wunderte ich mich darüber. Es war später Nachmittag geworden, die Kellnerin Edith wollte Feierabend machen. Die Plauderei über den Kaffee, zu dem ich meine Tischnachbarin nach Hause einladen könne, stand sozusagen in meinem Textbuch; sie willigte sofort ein. Am Morgen danach sagte sie mir, dass Kaffee das einzige Getränk sei, aus dem sie sich nichts mache.
Auch wenn sich wenige Wochen später herausstellen sollte, dass Mäuschen wegen der Verbreitung von Geschlechtskrankheiten und Beischlafdiebstahl gesucht wurde, bin ich ihr doch dankbar. Nie und nimmer wäre ich in der Lage gewesen, ein, sagen wir, normales Mädchen zu erobern. Zwar konnte ich mich für gewöhnlich gut unterhalten, wusste aber nichts über die Balzrituale. Bei Mäuschen war das kein Thema, sie brauchte nicht bebalzt zu werden, sie war ohne all das Brimborium bereit, es zu machen.
Warum habe ich die Zeit ihrer Inhaftierung nicht abgewartet, es nicht wenigstens versucht? Noch fünfundzwanzig Jahre später, Mäuschen hatte mich wiedererkannt und in der Straßenbahn angesprochen — umgekehrt wäre das geradezu ein Tabubruch gewesen — küssten wir uns kurz darauf im Park, ich Esel faselte von Liebe.
Es war nicht zum Ehebund zwischen Epimetheus und Pandora gekommen. Als ich seinerzeit ermattet und verschwitzt auf dem Bett lag, gewahrte ich ein Geräusch, das an jenes rhythmische Klatschen erinnerte, das, während unseres tagelangen Koitus‘, mein Auf und Ab auf Mäuschen begleitet hatte. Allerdings kam es nicht von auf und ab wippenden, aufeinander stoßenden und klatschenden Körpern, sondern ich lokalisierte es als ein Geräusch unter meinem Fenster. Ein eigenartig psalmodierender Singsang ertönte dazu: “Typoskript raus, Typoskript raus!” Die das unter dem Fenster sangen und dazu in die Hände klatschten, waren keine anderen als Detlef Opitz und mein Freund Peter Böhm. Besagtes, oder vielmehr besungenes und beklatschtes Typoskript hieß “idyllchens mief”.
Patienten, Fachwerkhäuser, alte Damen
Der Abriss der alten Fachwerkhäuser an der Spitze hatte mich, wie ich heute weiß, eher melancholisch als traurig gestimmt. Es übte den Untergang, was mich vorbereitete auf größere Untergänge und Veränderungen. Im Aquarium unterhielt ich mich gern mit Fr. Dr. Müller, einer nach dem Krieg jung zur Witwe erklärten und immer gebliebenen alten Dame, die sich ihrem neunzigsten Jahr näherte - von ihrer Krankheit, von ihrem bevorstehenden Ende relativ gelassen Kenntnis nehmend. Es gab da ein Geschwür, weshalb sie ihren Kaffee eigentlich nur noch symbolisch nippen konnte. Ihrem Bruder hatte sie Jahrzehnte in gemeinsamer Zahnarztpraxis assistiert, war glücklich in dieser Aufgabe gewesen. Ich schaute ihr nach, nach einem unserer letzten Gespräche, erahnte etwas von der Kunst des Abschiednehmens. Die Ruine des Hauses, in dem sie und ihr Bruder jahrzehntelang produziert hatten, das “Jagdschlösschen”, hatte ich während des Diakonischen Jahres gegenüber dem Elisabethkrankenhaus gesehen. Kurz vor dem Abriss des Hauses Spitze 37, wo ich dank Curt Schüle als gerade ‘mal Mittzwanziger zwei Jahre lang eine eigene, kleine Wohnung haben durfte, bekam ich Besuch von einer Delegation aus Funktionären, Parteiabzeichenträgern, wahrscheinlich Mitarbeitern vom Rat des Stadtbezirkes. “Heute dürfen sie dann noch hier schlafen!”, hatte sich eine Dame dieser Delegation resolut von mir verabschiedet.
Mein reguläres Arbeitsverhältnis im Paul-Riebeck-Stift mochte mit ausschlaggebend gewesen sein, ich erhielt – das erste und einzige Mal während meiner Anwesenheit in der DDR – eine Wohnraumzuweisung. Vielleicht nicht meine schönste, seelentiefste, aber sicher eine recht vitale Phase meines Lebens begann. Meinen Dienst im Riebeck-Stift verrichtete ich zur relativen Zufriedenheit aller und nach Dienstschluß, besonders nach dem Spätdienst, ging ich gern ein Bier trinken. Auf einer dieser Touren lernte ich eine blonde, vollbusige Herumtreiberin kennen, eine echte Streunerin, die ihren Job als Sekretärin in einem Kombinat des Mansfelder Landes hingeworfen hatte. Für einige Wochen vögelte ich ein großes, blondes, vor Gesundheit und Geilheit strotzendes junges Frauchen, das einzige mal eine, deren Schwingungen einen Bischof hätten unkeusche Gedanken haben lassen, die, wenn es das in der prüden DDR-Zeitungslandschaft gegeben hätte, ein Pin-up-Girl, ein Boxenluder gut hätte sein können. Auch das konnte nicht lange gut gehen, diesmal war es die Kripo Eisleben, die mich einbestellte und auch meine Arbeitstelle benachrichtigt hatte. Die blonde Schönheit, die noch an der Spitze bei mir genächtigt hatte und die ich in der ersten Zeit auch noch hin und wieder nach meinem Umzug in die Bebelstraße für ein, zwei Nächte – länger mochte sie nicht an einer Adresse verweilen - nicht verschmähte, hatte ich gebeten, meinen Krankenschein im Riebeck-Stift abzugeben. Sie entsprach meiner Bitte um Wochen verspätet, was ich erst in der Begründung meines Verweises erfuhr, außerdem soll sie stark angetrunken im Riebeck-Stift vorgesprochen und im Vestibül Blumen geklaut haben. Bei gewissen Kolleginnen schien mich dieser Vorfall eher interessant gemacht zu haben, so ein Luder, wie da auftauchte, hatten sie mir nicht zugetraut. Die verheiratete Alkoholikerin, die dann für die nächsten zwei Jahre regelmäßig mein Nachtlager mit mir teilte, eine wahrhafte Akrobatin der Liebeskunst, eine Messalina, liebte ich sehr, ihre Sinnlichkeit löschte meine inneren Brände, ich schrieb weniger und äußerte kaum noch Gesellschaftskritik.
Die Arbeit im Riebeck-Stift musste ich nach zwei Jahren aber doch beenden, ich sprach und bewegte mich selbst schon wie ein Geriatriepatient. Ein äußerer Anlass für meine Kündigung fand sich: Ich “schrubbte” meinen Dienst an einem dieser dunklen Nachmittage, irgendwie hörte ich die Gespräche der Alten nicht mehr wirklich, es war einer dieser Spätdienste, an den ich meinem eigenen Funktionieren wie in einem sehr graustichigen Scharz-Weiss-Film hätte zuschauen können; der Wagen mit dem Abendbrot rollte. Die Stationshilfe teilte Abendbrot aus, ich fuhr mit einem Wägelchen hinterher, teilte die Medizin und den Tee aus, äußerlich war alles in Ordnung, bis sich eine depressive Patientin, eine frühere Verkehrspolizistin, die vorläufig in der Altenpflege untergebracht worden war, bemerkbar machte. Sie hatte in den letzten Wochen kaum ein Wort gesagt, war meist apathisch erschienen, jetzt redete sie flüssig über ihre Angst, von einem Auto angefahren und verletzt zu werden, sie sah sich jeden Tag blutend unter dem Auto, hörte das Quietschen der Reifen, spürte die Stoßstange auf ihrer Stirn, wollte sich wegen dieser Wahnvorstellungen, wie sie sagte, das Leben nehmen. Ich setzte mich auf die Bettkante und hörte zu. Mir war klar, wenn ich jetzt nur Tee und Tabletten hinstellte, um mich mit einem “Ja, ja!” zu verabschieden, würde sich ihre Verkapselung so schnell nicht wieder lösen, wahrscheinlich hatte sie wochenlang mit sich gerungen, sich zu offenbaren, mir blieb keine Wahl, ich hörte ihr zu, denn wer einem anderen erzählen kann, wie und warum er sich umbringen möchte, der war, so hoffte ich, gleich etwas weniger gefährdet. Draußen lief, so meinte ich leichtfertig, ohne lange Gedanken darauf zu verwenden, dank der Stationshilfe die übliche Routine, den Tee und die Schiffchen und die Abendmedizin würde ich verspätet verteilen.
Nachdem ich der depressiven Patientin Tee und Abendbrot serviert hatte, verabschiedete ich mich, versprach aber, nochmals nach ihr zu sehen. Mir war klar, sie würde die Bemmchen nicht anrühren, aber immerhin schien sie sich besser zu fühlen. Auf der Station hatte sich währenddessen aus sonst größtenteils eher passiven Patienten ein Patienten- oder, um es in korrekter Sprachreglung des Riebeck-Stiftes auszudrücken, Heimbewohnerkollektiv gebildet. Die Stationshilfe, eine rührige alte Dame, die selbst im Heim wohnte, schien die Sprecherin zu sein. Schuld am kalten Tee war ich, sie hätten ewig warten müssen und überhaupt, was müsse ich mich mit dieser dummen Ziege abgeben, die sowieso viel jünger sei… Mit einem letzten Nachschauen vergewisserte ich mich. Die depressive Patientin schien eingeschlummert zu sein, für die übrige Bagage hatte ich nicht ‘mal einen Abschiedsblick. Das Abendbrotgeschirr wurde eingesammelt, Freiwillige hatten sich zum Abtrocknen gemeldet. Die Kündigung würde ich auf dem Postwege nachreichen, ich schnappte meinen Mantel und stürmte hinaus in den Kneipenabend . . .
Ein guter Rat der altgedienten Stationsschwester Maria aus dem St. Elisabeth-Krankenhaus zu Halle fiel mir ein, sie hatte es sicher nicht so verstanden wissen wollen, wie ich ihre Maxime zu nutzen gedachte, aber doch mir gegenüber einmal ganz resolut formuliert: “Wer kein Interessen an Arbeit hat, der sollte eben keinen Arbeitsvertrag machen!”
In der Stunde zwischen Durst und Not
Nachdem ich im Riebeck-Stift gekündigt hatte, verringerte sich mein Kontakt zu Peter Böhm. Persönliche Streitereien kamen hinzu, er mochte die blonde Schönheit aus dem Mansfeldischen, die so genannte Knallschlippe, nicht, die mir doch für einige Wochen alle Sinne verwirrte.
Vischering wurde mein wichtigster Gesprächspartner, er las ein halbes Jahr lang wie ein gelehriger Schüler die Bücher, die ich gerade beiseite gelegt hatte. Wir spürten nicht nur unsere lyrische Begabung, die in meinem Fall vielleicht der etwa eines musischen Gymnasiasten entsprochen haben mochte, wir hielten die Kunst des neoklassischen Dichtungswerkes, die wir epigonal fabrizierten, für einzigartig, waren trunken von Versen und unserer immerhin ehrlichen Begeisterung für Literatur.
Vischering agierte sicher pragmatischer als ich Dorfkind; er kam aus den Heimen, war im Jugendwerkhof Torgau gewesen. Als er von dort ausgerissen war, telefonierte er mit seinem Vater, auf dem verabredeten Bahnsteig erschien die Transportpolizei, um ihn festzunehmen, der eigene Vater hatte ihn denunziert. Wir beide jonglierten an der Peripherie der DDR, wo die Tatsache, dass einer keine Arbeitsstelle aufweisen konnte, schon als Widerstand gewertet wurde. Vischering hatte mich nicht nur zur Lesung auf Schloss Mansfeld begleitet, wir besuchten auch Galerien, Ausstellungen und ein Punk-Konzert in der evangelischen Christus-Gemeinde, er wusste über meine kleine Zeitschrift “Der arme Poet” Bescheid, war überhaupt überall dabei, er fehlte weder in der “Gose” noch in der “Prager Terrasse”. Überhaupt kannte er all und jeden in der Szene, dennoch waren es Charly und Britta, zu denen es ihn immer wieder hinzog. Vischering führte mich ein, ich war eigentlich viel zu schüchtern, außerdem hielt ich Britta und Charly für meiner nicht ebenbürtig, was damals nichts ungewöhnliches war, jeder zweite hielt sich für besser als die anderen, vor allem, wenn er malte, dichte oder musizierte. Vischering entdeckte mein selbstgemaltes Bild “Die Spaßvögel”, in dem es mir gerade so gelungen war, vor dunkelblauem Hintergrund drei kunterbunte Phantasievögel zu tupfen, weiter reichten meine Fähigkeiten nicht. Ein recht guter Einstand war dieses Bildchen als Geburtsgeschenk dennoch, obwohl Britta damals Vorurteile wider mich hatte, sie dachte außerdem, ich hätte während der Geburtstagsfeier, auf der wir uns kennenlernten, ihre Handtasche geklaut.
Charly, der sich Designer nannte, gleichwohl er nicht ‘mal seine angebliche Berufsbezeichnung fehlerfrei aufschreiben konnte, seine Freundin Britta und Vischering, wir waren die Clique, der harte Kern, der inner circle. Viele Verbesserungsvorschläge brachten wir wohl nicht ein, wir beließen es dabei, über andere herzuziehen, nicht jeden an unserem Tisch Platz nehmen zu lassen und wurden gemütlich. Mit Unterbrechungen zehn Jahre, acht Jahre davon intensiv, sahen wir uns wochenlang allabendlich, wenn auch in Variationen. Wer konnte gerade mit wem, wer war sich spinnefeind, wer kooperierte mit einem Außenstehenden wie Valentin oder Wogatzki, wer ging — so hieß das damals — einen Notbund ein? Mir heute unerklärliche Nuancen konnten dabei bedeutend sein. Natürlich gab es immer wieder Zeiten der Abstinenz, einsame Reisen meinerseits, auch für mich, später noch öfter für Vischering staatliche Weiterbildungsmaßnahmen ohne eigenen Wohnungschlüssel, also Knast. Unsere Clique war weder Ersatz-Ehe noch Sekte, hin und wieder ging einer von uns auch ‘mal mit völlig Fremden oder ich eben mit Bekannten von der Burg, mit Herrn Uwe Peter Hock oder dem lieben Pfarrer Scheurich auf ein Bier — aber alles dies blieben autarke Kreise um mein eines Zentrum: die Clique. Mindestens bis zum Torschluss der Arbeiter- und Bauernrepublik blieben wir die Clique, kritisch und oft spinnefeind untereinander, nach außen solidarisch geschlossen. Es war so und ich möchte nicht missen, wovor mir freilich im Nachhinein doch irgendwie graut.
Damals dachte ich ohnehin vielleicht über Nietzsche nach, aber nicht so aristokratisch streng über mich. Wir prosteten uns zu, wie oft mag in den Eichhörnern Britta mit dem Spruch “Hipphopp ‘rin in den Kopp!” das Leeren der Spaßmacher, wie die zum Bier extra bestellten Schnäpse genannt wurden, eröffnet haben. “Eichhörner”, für Sonntag die “Prager Terrassen”, oft die Gose, aber eigentlich auch sonst fast jede Kneipe konnte Treffpunkt sein, für ein paar Bier reichte es ja immer, zur Not musste ich auf dem Boulevard oder in der Gaststätte “Tallin” im Süden oder in gewissen anderen gastronomischen Einrichtungen in Halle oder auf dem Boulevard Brittas selbstgeschneiderte T-Shirts anbieten, oder es wurde aus der Wohnung ein Bilderrahmen, eine Uhr oder was immer im An- & Verkauf verscheuert. Der Ausgangspunkt unserer Unternehmungen war für viele Jahre die gemeinsame Wohnung von Britta und Charly Mohr, hier fanden Feten statt oder wurde ein Krug Bier geleert, bevor wir aufbrachen. Die Redewendung “einen Krug Bier” leeren war wörtlich zu nehmen, denn Bier vom Fass oder Flaschenbier, das machte vom Preis her so wenig Unterschied, dass es üblich war, sich in der “Prager” oder sonstwo einen Waschkommodenkrug oder manchmal auch nur einen Eimer mit Bier abfüllen zu lassen. Wenn wir in den “Eichhörnern” oder anderswo pichelten, wusste Vischering immer ganz genau, wer die höheren Weihen empfangen hatte oder einfach nur ein Ignorant war, er konnte sich amüsieren, wenn jemand ein altmodisches Adverb wie mitnichten für eine Verwandtschaftsbezeichnung hielt. Manchmal holte Charly, der sich im Suff selber Arlchen von Ansbach nannte, den Würfelbecher vorn am Tresen ab, wir würfelten einen Strechmechs. Sein Engagement haben wir so wenig geahnt – oder kam’s im dunkelsten Suff doch ‘mal hoch – wie die Tatsache, dass ich mich am Ende der Geschichte in Britta verlieben würde, was auch Vischering mehrmals nicht erspart blieb. Während der Praxis unserer allabendlichen Runden wäre so ein Gedanke damals undenkbar gewesen, noch unmöglicher als der Fall der Mauer. Und doch habe ich Vischering bei “Mutter Schmitten”, einer für uns ebenfalls sehr wichtigen Biergaststätte in der Breiten Straße, selbst gestehen hören, Eva – das war Brittas Zuname gewesen – heiße umgestellt Ave und sei für ihn heilig. Dabei dachte ich damals immer, heilig seien ihm nur Stefan George und Gottfried Benn.
Vischering wohnte in einem kleinen Fachwerk-Häuschen in der Neumarktstraße, nur in der Mansarde, der Rest war entkernt, ein verwinkeltes Treppchen führte durch das Balken-Gerippe, er hatte es sich unter dem Dach gemütlich eingerichtet. Unter welchem Vorwand die ihn dann verhafteten, erinnere ich mich nicht mehr, jedenfalls weiß ich noch, dass ich mit Britta darüber sprach, wie jammerschade es wäre, dass für ihn nach seiner Entlassung auch seine Gedichte und die Erzählung “Meeresfahrt” und die begonnene Erzählung “Xamia” für immer verloren sein würden. An einem Sonntagnachmittag entschlossen wir uns, in Vischerings verwaiste Wohnung einzubrechen, um seine literarische Arbeit zu retten. Am Abend drangen Britta und ich in das Haus ein, dessen Türen mit Brettern vernagelt waren: Wir traten die Türen ein. Unsere Aktion war vergebens, ein wüstes Durcheinander, die alte Underwood-Schreibmaschine, die bei Regen schon Wochen am offen gebliebenen Dachfensterchen gestanden hatte, rostete, und die Mappen mit dem Text suchten Britta und ich vergeblich. Wir entschlossen uns zum Rückzug, leider zu spät, wie wir bemerken mussten, denn der Nachbar vom vorbildlichen und ordentlichen Fachwerkhaus nebenan, hatte bereits angerufen.
Auf dem Rückweg hörten wir die Sirenen hinter uns, da sprach ich mit Britta ab, dass ich mich würde kaschen lassen, während sie flüchtete. So geschah es auch, ich rannte betont langsam, die Bullen verhafteten mich, lasen meine Adresse “Steiler Berg 6” und transportierten mich dort hin, veranstalteten eine Hausdurchsuchung, maulten noch ein bisschen, zogen sich dann aber zurück, ohne dass es diesmal für mich weitere Konsequenzen gehabt hätte. Mir blieb vor allem eines in Erinnerung, ich bin ja öfter festgenommen worden, aber niemals wieder hatte ich solch eine Eskorte. Auf der Fahrt zwischen Kuckhoff-Straße und Steiler Berg saß ich auf dem Rücksitz eines Wolgas, hinter mir zwei weitere Funkstreifen der VP und vor mir drei Polizei-Motorräder, wenn das keine Eskorte für den größten Lyriker aller Zeiten war. Als Vischering einige Monate später entlassen wurde, betrat er noch ‘mal die alte Wohnung. Quer über die Wand stand mit Farbe gepinselt: FICKEN IST TRUMPH, genau mit diesem blöden Rechtschreibfehler.
Was wirklich zählt, will ich nicht unerwähnt lassen: Als ich völlig deprimiert im Knast saß, meine Wohnung war weg und von Liebe sei geschwiegen, da erhielt ich genau von der Clique einen kleinen Brief, der mir Mut machte und unterschrieben war mit: Deine Freunde. Bei Vischering konnte ich wohnen, bis ich mit Willi Kulla einen Schnaps auf meine neue Bleibe in der Talamtstraße, über der Handelsbörse, trank. Charly war es, der meine Gedichte, Erzählungen und Tagebücher aufbewahrt hatte.
Wir kannten damals eine etwas entlegene Wirtschaft, ihren Namen werde ich mit ins Grab nehmen, in der der Wirt abends besoffen einschlief und die Tür zum Keller, in dem auch die Kästen standen, nicht abschloss. Wenn ich könnte, würde ich die ausgetretenen Stufen zusammen mit Charly oder Vischering — in der Stunde von Durst und Not hatten wir oft das Los entscheiden lassen — nochmals hinuntersteigen. Aber, bei Suff und Leben, und beider Neige, im Keller sind Spinnweben, der alte Wirt genießt seine Rente und hat den ihm nie bekannt gewordenen und bekannt werdenden Verlust längst verschmerzt. Vischering hat später immer ‘mal, was sicher gut gemeint war, zu Festen und Treffen geladen, ich habe abgelehnt, gerade weil es mir ans Herz rührt – die Clique ist nicht mehr.
Meine Liebste
Die Arbeit, für die ich mich wirklich interessiere, das Schreiben, wurde mir für die nächsten Zeiten gar schwer. Jedes Talent verpufft, wenn die Herzwärme der Emotion unter dem Erzählten lodert. Erzähle hinterher, wenn du verarbeitet hast, raten die älteren Kollegen gelegentlich. Nur, die große Liebe, der Name der Herzallerliebsten, reicht schon, um mich weit jenseits aller Schreibroutine straucheln zu lassen – und ein bisschen Regelwerk und Routine gehört nun ‘mal dazu, wenn einer was erzählen will. Wie wohl der alte Rabbinerspruch lautete: Es gibt kein ganzeres Ding als ein zerbrochenes Herz!, so gäbe es für mich nichts zu singen oder zu sagen, bliebe eine zwölfbändige Ausgabe lyrischer Dichtung der Liebe nur Staub, wäre ich nur hilfloser Analphabet, selbst die Skizze des Schattens der Geliebten andeuten zu können. So reiße ich meinen Schreib-Kadaver zusammen, bleiben wir also bei den Fakten, erinnern das weisse Licht der Lampe, den Bürstenschnitt des Vernehmers, der jetzt beginnt, wie er wahrscheinliche jede Vernehmung beginnen würde: Sie wissen doch, warum sie hier sind?! Der Vernehmer spielt auch in dieser DDR-Liebesgeschichte eine Rolle, aber noch nicht zum Beginn.
Es begann alles eher beiläufig: Bastel-Götz, ein Bekannter von mir, fragte, wo ich denn wieder hin wolle. “In die Gosenschenke”, antwortete ich, weil ich um seinen Mangel wusste, deutete ich an, dass auch er da eine Frau kennenlernen könne, man wisse ja nie und so weiter. Götz meinte, das klappt sowieso nicht und verabschiedete sich. Ich vergaß diesen Dialog, kennenlernen wollte ich gar niemanden, ich wollte mit meinem Spruch wirklich nur den von den Frauen und Mädchen zeitweise Vernachlässigten zum Abendschoppen verleiten. In der Gose trank ich ein Bier, weiß nicht, wer noch dabei war, doch sie saß schon mit am Tisch, das Gespräch kam auf Holzspielzeug, das es nicht genügend zu kaufen gab. Ich registrierte nichts ungewöhnliches, bemerkte keine Zwischentöne, weil ich mich schon zu dem zu entwickeln schien, der im Engpass-Land trotz Mangel nicht alles, aber allerhand besorgen konnte - oder entsann ich mich einfach eines Schrankes voller Krimskrams? Sie ging auf mein Angebot bezüglich des Holzspielzeugs ein, wir verabredeten uns, wahrscheinlich vermerkte ich den Termin in meinem Taschenkalender, einem Buch, das ich damals recht umständlich und relativ vollständig führte, wahrscheinlich mehr aus Marotte denn aus Notwendigkeit.
Wir trafen uns wieder, aber ich maß dieser Tatsache wirklich keine gesteigerte Bedeutung bei. Statt des Holzspielzeugs, das ich irgendwie nicht gefunden hatte, bestand anderer Bedarf, es belastete sie ein ungleich größeres Problem, sie wollte nicht mehr im Internat der Hochschule wohnen und suchte nach einer eigenen Wohnung. Damals war ich noch grundsätzlich hilfsbereit, da ich im Besorgen illegalen Wohnraums, also einer Schwarzwohnung, inzwischen als versiert galt - ich hatte ja in der Lessingstraße 44 und in der Spitze 37 bereits ohne Zuweisung gewohnt – machte ich mich mit ihr zusammen auf Tour, überall wo nicht geputzte Fenster in älteren, kaum verputzten Häusern Leerstand verkündeten, klingelten wir und zogen vorsichtig Erkundigungen ein: Könnte es ein privater Vermieter sein, der günstiger als die staatlich gelenkte HWG wäre? Wie würden die Nachbarn auf einen Zuzug reagieren? Ja, eine Woche war schnell um und irgendwie hatte meine Spürnase versagt. Ich sprach davon, mich ‘mal zurückziehen zu wollen, worauf sie erwiderte, sie wollte mich eigentlich gerade zum Dank für meine Bemühungen in die Gaststätte “Paddlerheim” einladen. Im “Paddlerheim”, einem zur Gaststätte ausgebauten Bootsschuppen, standen die Gäste Schlange, um vom Wirt einen Platz zugewiesen zu bekommen. Da war zu Anfang der Achtziger nicht nur die erste, sondern auch einzige Adresse für ein Gericht, das — wer kann sich das heutzutage vorstellen? — nur wenigen bekannt war: Pizza. Erst später schloss die HO mit dem sogenannten Restaurant “Bauernstube”, gegenüber der Ulrichskirche, also der Konzerthalle am Boulevard, auf. Die Pizza wird allerdings kein Thema während unseres ersten gemeinsamen Kneipenbesuchs gewesen sein, das wäre mir nach meinem damaligen Geschmack viel zu plump und zu belanglos erschienen, sicher sprachen wir über Literatur, und ich werde das Gespräch auf meinen Wunsch, Schriftsteller zu werden, gebracht haben, all zu vertraut wurde es nicht, von Gefühlen kein Wort. Die Sauerstoffdusche, die den Trinker beim Verlassen der Schenke taumeln machte, mochte gewirkt haben, in jener Kurve der Talstraße, die sich hoch zur Kröllwitzer Straße und zur Brücke windet, wurde ich überraschend geküsst, und nun schien vieles ungültig von dem, was ich für gültig gehalten hatte. Angelegenheiten gab es nun zu regeln, von denen ich mir niemals hätte vorstellen können, dass mich dergleichen jemals interessiere könnte. Wir besuchten einen Architekten und Jazzer, bei dem war ihr Gepäck, sicher auch ihr Nachthemd abzuholen. Der Kerl meinte es noch nicht mal böse, als er uns fragte: “Habt ihr es euch gut überlegt?” Mit fünfundzwanzig Jahren hielt ich mich meist für ein properes und schlaues Kerlchen, mit dem Kleinkind, das sie mitbrachte, kam ich allerdings weniger klar, es schrie nur, wenn ich mich näherte, hatte offensichtlich Angst. Ihr Kind blieb zunächst bei Bekannten, nämlich bei Mohr und dessen Freundin Britta, später bei ihren Eltern in der Niederlausitz. Kinder im Internat der Hochschule, noch dazu von allein erziehenden Müttern, waren nichts Ungewöhnliches, junge Mütter wurden unterstützt, trotzdem hatte sie es nicht geschafft und ich war nicht bereit und unfähig, habe das alles bis heute, eigentlich bis zu dieser Niederschrift, verdrängt.
Nach einigen gemeinsamen Wochen in der Bebelstraße kam es zur Trennung, ich versuchte noch ‘mal auf Wohnungssuche behilflich zu sein, was schief ging. In einem leerstehenden Haus gegenüber dem Löwengebäude, etwa da, wo sich jetzt der Eingang zum Juridicum befindet, traf die Polizei bereits am ersten Tag ein, Anwohner hatten den Rauch, der aus dem Schornstein qualmte, gemeldet. Als ich die Schritte der VP hörte, biss ich, um irgendwas andres zu machen, als ängstlich zur Tür zu starren, in eine Quitte, die in einem der wenigen Dekorationsstücke zum Imitieren einer Wohnung, einer Keramik-Schale, gelegen hatte. Die junge Mutter zog nach diesem Versuch weiter in das Milieu der großangelegten Hausbesetzerkommunen, wohnte in der Wallstraße, war eine Weile mit jenem Valentin, den ich im Thomas in der Hochzeitsgesellschaft kennengelernt hatte, zusammen. Gelegentlich traf ich sie wieder, wir blieben irgendwie übrig am Biertisch in der “Prager Terrasse”, ich begleitete sie nach draußen und sie bat mich, einen Moment zu warten, da sie ihre Notdurft im Gebüsch verrichten wollte. An diesem Abend wusste ich, wusste sie, dass wir uns liebten, sie hatte mir gefehlt, jetzt wird es banal für den, der liest, aber wir umschlangen uns, ich verschmolz in ihr, wir würden uns nie mehr trennen wollen. Wir trennten uns auch nicht, als die Abteilung Inneres regelmäßig Vorladungen schickte und bei jedem Verhör noch dringlicher meine Hafteinweisung in Aussicht gestellt wurde, weil ich die Sentenz der Schwester Maria: “Wer keine Arbeit haben will, der muss eben keinen Arbeitsvertrag machen!”, wohl zu wörtlich genommen hatte. Wir verließen meine offizielle Wohnung in der Bebelstraße und tauchten ab, es mag seltsam klingen, aber ich war nie wieder so glücklich wie in jener Zeit im Untergrund, damals 1983 und noch fünf Wochen des Jahres 1984. Das Haus in der Luckengasse war ihr aufgefallen, sie hatte ein Studentenpärchen, das dort noch gewohnt hatte, gekannt. Wichtiger, als ein gutes Versteck zu haben, war, einen Menschen, meine Liebste, zu wissen, der ich vertrauen konnte, mit der ich wirklich über alles sprechen konnte, die mich liebte und die mich so sanft und selbstlos tröstete, dass ich es noch kaum bemerkte.
Die obere Etage des zum Abbruch vorgesehenen Hauses bot uns Wohnung, es gab ein Schlafzimmer mit Schiebetür, eine große Stube und eine kleine Küche — alle Räume mit Fenster. Vertiko, runden Tisch und Bücherregal hatten wir auf dem Handwagen transportiert. Zum Schluss flog uns vom Nebenhaus in der Bebelstraße noch der Rat einer aufmerksamen Rentnerin, der Genossin Milder, über den Hof hinterher: “In de Leninallee ziehste? Kannste alles machen, Määchen, nur kleechen musste!”
Pedantische Ordnung hielten wir in der neuen Wohnung, gerade jetzt, wo es illegal und sozusagen im Abbruch war. Außerhalb der eigentlichen Wohnung, aber doch Tür an Tür auf der gleichen Etage, hatte ich mir noch ein gemütliches kleines Arbeitszimmer eingerichtet, in dem die Schreibmaschine stand, hier schrieb ich meine Gedichte und redigierte, korrigierte, verfasste ich meine illegale Zeitschrift “Der arme Poet”.
Von Vorteil war, dass die Küche so klein war, es gab einen Gaskocher, mit dem wir von dort aus alle Räume beheizen konnten. Gasheizungen kannte ich ohnehin nicht, zwar sammelte sich Feuchtigkeit, aber es funktionierte besser als Ofenheizung und, wie auch die Miete, völlig kostenlos. Leider stand uns im Unterschlupf kein elektrischer Strom zur Verfügung, ich bügelte damals meine Hemden, in dem ich das Bügeleisen auf einer Aluminiumplatte, die ich über den Gaskocher legte, zum Glühen brachte. Aus Aluminium war der Deckel meiner Waschmaschine gewesen, die ich nicht mit in unsere nicht elektrifizierte Illegalität transportiert hatte. Das Wasser musste vor dem Zu-Bett-Gehen am Haupthahn im Keller abgedreht werden, weil die Leitungen Frostschäden hatten und durch die Kapillarwirkung das Mauerwerk feucht geworden wäre. Das alte Fachwerkhaus war reparaturbedürftig — abrissreif oder einsturzgefährdet war es sicher nicht.
Unser Schlafzimmer bot gerade so Platz für das Doppelbett und ein kleines Nachtschränkchen, aber in unseren Nächten beherbergte es nicht nur unsere Liebkosungen, sondern auch unsere Gespräche, ihre Kindheitserinnerungen, ihre Erinnerung an eine Lieblingscousine und später, als wir uns schon etwas aneinander gewöhnt hatten, spielten mir manchmal früh Rommé, um die Person von uns beiden zu ermitteln, die aufstand, um das Frühstück zuzubereiten. Es gab noch eine besondere, von ihr erfundene Variante des Spiels, das Schnuck-Rommé, viele Verspieltheiten, privatsprachliches und nachgeholte Kindheit. Wir liebten uns. Wie niemals vorher, war es mir egal, was die Kumpels dachten, wenn wir Händchen haltend durch die Stadt liefen.
Meine Liebste konnte etwas, das heute kaum noch eine Frau können will – mir wurde das freilich erst nach dem schmerzlichen Verlust klar – sie nahm sich zurück, um es mir leichter zu machen. Sie war imstande, besseres Wissen zunächst zu verschweigen und später sanft zu korrigieren, niemals hätte sie mich bloßgestellt oder aufgetrumpft, sie war immer empfindsam, nicht empfindlich. Ihr Haar leuchtete aus dem Braun unversehens in einem Goldton auf, manche ihrer Kleider waren selbst gefärbt - sie batikte gern, sie baute aus Zigarettenpapier Kraniche, sie las viel. Von ihrer Gegenwart konnte ich nie genug bekommen, obwohl ich sonst ein wirklich ekliger Eigenbrötler bin.
Vor dem Café vermischte sich das Stimmenschwirren plaudernder Müßiggänger mit dem plätschernden Wasserspiel, das zwischen Universität und Fünf-Giebel-Haus sprudelte, offiziell benannt: Brunnen der Lebensfreude. Im Sommer 1983 fuhren wir an die Ostsee. Meine Liebste hatte sich was besonderes ausgedacht, um unsere Sommerfrische mit dem nötigen Taschengeld auszustatten, für den Besuch der Cafés, das Fischbrötchen zwischendurch, für unsere abendlichen Kneipenbesuche. Vormittags bepinselten wir Deckel, die eigentlich für Einweckgläser bestimmt waren, mit schwarzem Nitrolack, die weiteren Zutaten: Muscheln für die Umrahmung und eine rund geschnippelte Postkarte von Warnemünde-Ansichten oder des beliebten Motivs des Sonnenuntergangs. In der Altstadt Rostocks, in der Grünanlage auf der Anhöhe um die Petrikirche, werkelten wir, schwatzten und sie schmauchte noch eine Zigarette, bis Farbe und Kleber getrocknet waren. Wir naschten Erdbeeren aus einem vernachlässigten Vorgarten, bis es Zeit wurde, unseren Souvenir-Kitsch einzupacken und mit der S-Bahn Richtung Warnemünde zu tuckeln. Möwen und Boote schaukelten vor der Promenade am alten Strom. An der Mole standen Händler mit Nippes und Schmuggelware auf den Treppchen, auch unser Tüchlein lag ausgebreitet, wir preisten unsere selbstgebastelten Bildchen zum Preis von zwei Mark und fünfzig Pfennigen der DDR aus und unsere auf den Stufen improvisierte Galerie öffnete für etwa die nächsten zwei Stunden, in weniger als fünf Minuten wäre allerdings erfahrungsgemäß alles verkauft, wenn wieder eine tschechische Reisegruppe aufkreuzte - die Tschechen kauften immer sofort alle Deckelchen!
Tage der Eumeniden
“Weißt du überhaupt, wie lange ein Arbeiter durchschnittlich an der Ostsee Urlaub machen kann?”, so die erboste Frage meines Vernehmers. Oder stolperte er hier und sprach vom durchschnittlichen Arbeiter? Wie auch immer, sie hatten mich nun, im Februar 1984. Meine Liebste sah ich noch ‘mal, durfte mich verabschieden. Auch sie war verhört worden, bekam ein Halle-Verbot. Mir schwindelte, als ich, die Hände nicht mehr frei, die Treppen des Präsidiums herunter stolperte, unten stand die Minna für den Transport in die Untersuchungshaft. Nichts gestohlen und niemanden verletzt hatte ich, auch die illegal publizietre Zeitschrift hatten sie nicht thematisiert, ihre Anklagegschrift beruhte auf dem berüchtigten § 249: Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit durch asoziales Verhalten.
Eingesperrt und Liebesschmerz, sehnsuchtsvolle Briefe. Mir war zum Weinen und ich stank.
Vom 8. Februar bis 7. Juli 1984 war ich in Untersuchungshaft, die Dauer der Inhaftierung ergab sich am Tag der Verhandlung, das Urteil rechnete mir die bereits verbrachte Zeit an, fast fünf Monate waren bereits vergangen. Überstanden hab ich’s, trotz Tränen und psychischer Schmerzen, obwohl ich mich auf täglich wechselnde Knastkollegen in der Zelle einstellen musste. Wie viele Menschen sind viel schlimmer, viel länger gequält worden? Mich hatte niemand geschlagen, hin und wieder gab es gute Gespräche, konnte ich Bücher lesen, die meisten der Schließer waren eher rücksichtsvoll und doch…
Als ich entlassen wurde, sah ich das restaurierte Händel-Denkmal auf dem Markt, am Notenständer die Darstellung eines bärtigen Harfenisten, der vorher vor lauter Schmutz nicht zu erkennen gewesen war, ich hatte im Knast in der Zeitung von der Restaurierung des Denkmals erfahren und mich lange darauf gefreut. Dank meiner letzten Münzen – sie hatten mir das Kleingeld, das ich am Tag der Einlieferung bei mir hatte, am Entlassungstag wieder ausgezahlt - setzte ich mich ins Boulevard-Café, für mich ein Ereignis, die Kellnerin sagte die Worte Bitte und Danke. In der Luckengasse lagen noch ein paar Briefe, sonst war alles ausgeräumt, die Möbel von den Leutchen aus der Szene verscheuert. Mohr, Stasi hin und her, war der einzige, der etwas für mich getan hatte, er gab mir die Mappen mit meinen Gedichten, Briefen und Tagebüchern zurück, auch ein paar Blätter meiner Liebsten fand ich darin.
Im Haus, in dem wir so glücklich waren, fehlten selbst die Fenster. Ich zog bei Willi Kulla, der in der Talamtstraße 9 am Markt die legendäre Kneipe Handelsbörse betrieb, in eine der leerstehenden Wohnungen des Fachwerkhauses ein. Willi war ein echter Kumpel, wir besiegelten unsere Abmachung bei einem Schnaps am Tresen, Miete brauchte ich nicht bezahlen, ihm gehörte das Haus ohnehin nicht wirklich, er betrieb zusammen mit seiner Frau und dem Kellner Hansi die Gastronomie, hatte hier das Sagen.
Im Knast hatte ich weiter geschrieben und meine Gedichte in Briefen hinaus geschickt, auch zwei Märchen waren entstanden. In der Zeit nach der ersten Haftentlassung gelang mir meine erste Publikation: das artige, regional-getönte Gedicht Laternenfest erschien in der LDZ, was der Redakteurin, Frau Boche, sogleich einen Rüffel eintrug, einer wie ich, einer aus dem Knast und mit dem Makel der Asozialität, der hatte natürlich in der sozialistischen Presse nichts zu suchen.
Der Knast hatte, von Weinkrämpfen und depressiven Schüben abgesehen, zwei weitere Folgen. Die erste, ich begann zu rauchen, war ich doch dort fünf Monate Passivraucher gewesen, und als mir Vischering wenige Tage nach meiner Entlassung im Café Schade eine Schachtel Saba Gold schenkte, meinte ich zu wissen, was mir dringend gefehlt hätte; seitdem rauche ich, bin nach Filterzigaretten süchtig geworden.
Von der zweiten Folge wusste ich damals nichts, sie bleibt ablesbar in den Niederschriften jener Zeit. Unmittelbar nach dem Knast wollte ich natürlich nicht der Junge aus dem Knast sein, der genaugenommen mit einem Bein schon wieder drin war, sondern ich versuchte mich, auch vor mir selbst, so sehe ich das heute, zu insznenieren, das war von übel; wieviel Bildungs-Brokat, wieviel aufgeblasene Pathetik mochte, wie ich es damals formuliert hätte, aus meiner Feder gequollen sein. Achtundvierzig schreibmaschinengeschriebenen Seiten, der schwarze Durchschlag, einige Seiten statt mit dem schwarzen Kohlepapier vom Blaupapier durchgedrückt. Das Typoskript heißt: Tag der Eumeniden, darunter steht Erzählung von Holger Leisering Halle (Saale) und erstaunlicherweise kommt nach dem Schrägstrich in Versalien DDR und darunter steht September 1986. Die Abhandlung setzt sich aus verschiedenen Erzählebenen zusammen und dummerweise langweile ich hier etliche Seiten mit meinen Erkenntnissen aus der Lektüre von Baron de La Motte Fouqués Lebenserinnerungen, also viel Königin Luise und auch das Buch des von der Marwitz mag mich beeindruckt haben – unreife Kunstproduktion, dennoch; in einigen Passagen schlägt der Ton um, die erzählte Person wechselt die Definition, ich nannte das damals großkotzig “textologische Paradigmenveränderung”, viel Tinnef sicherlich, aber dann kommen die Stunden aus dem DDR-Knast doch in einer gewissen, lebensechten Aufbereitung daher, so dass ich mich entschloss, einige Passagen aus dem vergilbten Archiv in meine Erinnerungen einzufügen, aus der Erzählung Tag der Eumeniden von 1984:
Nachmittag erschien ‘mal wieder der Blaue in der Zelle. Alles starrte ihn erwartungsvoll an, trug er doch nicht wenige Papiere bei sich, einer bekam Post, der andere eine Anklageschrift und ich den Auftrag, meine Sachen zusammenzupacken. Viel war ja nicht zu tun, meine kümmerlichen Requisiten zusammenzustellen, zwischen zwei Handtüchern verstaute ich meine Schreibutensilien und ein Buch, das ich aus der Zelle schmuggeln wollte. Auch die Brote musste ich noch zubereiten und zwischen Decke, Krimskram und Schlafanzug transportieren. Nach einer Weile erschien der Schließer wieder und ich musste mich auf dem Flur mit dem Gesicht zur Wand in eine Reihe mit anderen Häftlingen oder Strafgefangenen stellen, die nun ebenfalls neu verteilt wurden. Wie in einer Lostrommel wurde hier jeden Tag aufs Neue die Zusammenstellung der zwangsweisen Wohngemeinschaften gemixt und ich hoffte, nicht das allerschwärzeste Los zu ziehen. Nur wenn du weißt, wie das ist, wenn du jederzeit gewärtig sein musst, dass dir einer hinterrücks in der besten Lektüre, die dich gerade hatte alles ein bisschen vergessen lassen, das Buch zuschlägt, oder einer in dein Nest, das ohnehin schon dreckig genug, Schuhcreme schmiert, oder dir nachts, bloß mal zum Spaß ans Geschlechtsteil fasst oder in dein kärglich bemessenes Mittagsbrot rotzt, kurzum, wenn du weißt, es ist nichts so schlecht, dass es nicht auch noch übler kommen kann, dann ist vielleicht vorstellbar, wie unerwünscht so eine Verlegung sein konnte. Schließlich öffnete sich auch für mich eine Zellentür, nur ein Mann sprang auf und legte die Hände, wie vorgeschrieben, an die Hosennaht. Er war so um die Fünfzig, der mich mit “Guten Tag, Kamerad!” und Handschlag begrüßte, während ein junger Bursche sich weder um mich, noch um den Schließer, der noch in der Tür stand, einen Teufel scherte und sich leeren Blicks lang ausstreckte. Der Schließer wollte eben den üblichen Zirkus anfangen, der unweigerlich eintrat, wenn sich einer beim Eintreten des Personals nicht erhob, als der Bursche zwischen den Zähnen hervor murmelte. “Liegeerlaubnis, Obermeister!” Der Blaue winkte ab und murmelte: “Versuch nicht, mich zu rollen!”, worauf die Tür ins Schloss bollerte. Während der junge Bursche, den ich bereits in Gedanken Morpheus getauft hatte, von wenigen unumgänglichen Worten abgesehen das Maul hielt, lag mir der Alte, der sich inzwischen als Kaputt vorgestellt hatte — ich hielt das zunächst für einen Scherz, aber er hieß Caput — mit seinem unterbrochenen Redeschwall in den Ohren. Er hätte alle seine Verwandten drüben, erzählte er: “Die wohnen da so rund um den Kölner Dom und wärmen sich den Arsch. Nur ich bin zweiundfünfzig hierher gemacht, wegen meiner Alten; die wollte wieder zurück in die Heimat. Unterstützt haben se uns ja damals mit ‘nem großzügigen Kredit, aber dann war die Mauer zu und ich konnte nicht mal mehr fahren, meine Brüder und die Mutter zu besuchen. Ich hab ja ooch noch ‘ne Schwester drüben, aber die ist eins von den Flittchen geworden, was so jeder ham kann, da will ich nichts zu tun ham damit. Wir Caputs sind immer anständige Leute gewesen.” “Wenn du so’n anständiger Kerl bist”, ließ sich da auf einmal Morpheus, der schon eine Weile gelauscht zu haben schien, vernehmen: “Was suchst du dann im Knast?” “Die meisten hier sind anständige Kerle, behauptete Caput, “und außerdem bin ich politisch. Im Suff habe ich meinem Meister klar gemacht, einen wie ihn, den hätte Hitler noch fünfundvierzig vergasen lassen. Am anderen Morgen ham se mich abgeholt, was Besseres können se nicht, die Kommunisten. Drüben kriege ich für jeden von denen, den ich totschlage, ‘ne Prämie.” Morpheus warf ihm ein Buch aufs Bett: “Hier, du geistiger Tiefflieger, der ‚Aufenthalt‘, ist von einem Hermann Kant, da kannst du lesen, wie ein Gasmann seine Frau mit ‘nem Juden im Bett erwischt. Galt als Rassenschande bei den Braunen. Der Gasmann holte also paar Kumpels, und die hängten den Juden auf, Lynchjustiz. Musste einsitzen, dein Gesinnungsfreund, nicht wegen dem toten Juden, aber wegen der Amtsanmaßung.” “Das dürft ihr nicht falsch verstehen, Volksgenossen, Ordnung muss sein”, sagte Caput, “und ein Jude ist heutzutage längst nichts so schlimm wie ein Kommunist.” Dann hob er seine Beine possierlich und tänzelte wie ein Transvestit: “Ordnung muss sein, ein Kommunist ist schlimmer als ein Judenschwein, doch gehen beide in den Ofen rein.” Morpheus und ich, wir guckten uns an und mussten prusten vor Lachen, wo uns eigentlich zum Weinen hätte zumut sein können, was Caput erst recht anspornte, er salutierte vor uns, tänzelte und schrie mit heiserer Stimme: “Jude nix gut, Kommunist kaputt!” und wir lachten, bis Caput wie ein Irrsinniger seinen Kopf gegen das Stahlrohr des Doppelstockbettes schlug und endlich erschöpft zu Boden sank. “In einem Zuchthaus, das mit seiner Fensterseite zu einer öffentlichen Straße gelegen war”, sagte Morpheus, “hier in Ostdeutschland, improvisierten Strafgefangene, indem sie ein Bettlaken und schwarze und rote Schuh-Creme verwendeten, eine Hakenkreuzfahne, um auf diese Weise den siebzehnten Juni in einer Form zu begehen, die ihnen würdig erschien. Unter Absingen von Naziliedern ließen sie sich von einem Roll-Kommando zusammendreschen. Ich bin auch gegen die Roten, aber Gott schütze mich vor meinen Freunden!”
Ungedeckte Schecks
Im Hinterhaus, hinter der Kneipe in der Talamtstraße, wo ich also Dank der Großmut des Gastwirts Willi Kulla Unterschlupf gefunden hatte, nutzte ich Möbel, die ein Zahntechniker hinterlassen hatten, überall lagen Gipsabgüsse herum. Im Haus gab es drei Etagen, ich habe wohl nacheinander in jeder gewohnt. Die dunkle Parterrewohnung des Zahntechnikers konnte ich bald verlassen, zog unters Dach. Obwohl ich versuchte, mir alles so gemütlich wie möglich zu arrangieren, blieb wohl doch die Assoziation des Wortes Elendsquartier - bevor ich oder meine Gäste mein eigentliches Zimmer betraten, musste man ein schmutziges, von stockig-braunen Tapeten und allerlei Müll und Dreck verunreinigtes Zimmer durchqueren. Meiner Mutter, die mich in jener Zeit besuchte, verschlug es leider nicht die Sprache, sondern sie meinte: “Junge, ich würde sagen, nimm deine Jacke und geh!” Bei diesem von ihr erwähnten Jackett handelte es sich um ein Kleidungsstück, das mir irgendein entferntes Familienmitglied geschenkt hatte. Ja, so war das also, meine Jacke sollte ich nehmen, die Bücher und Manuskripte nicht, die waren nichts wert, da schien Mutti mit Abteilung Inneres einer Meinung zu sein.
Als ich bereits ein paar Wochen dort wohnte, ich hatte meine nun wieder freie Zeit mit Lesen, Tee trinken und Schreiben verbracht, hörte ich vom Innenhof her meinen Namen rufen. Daniela, eine frühere Verflossene, eine Ex-Frau meines Freundes Peter Böhm, stand im Innenhof und fragte, ob sie ‘mal heraufkommen dürfe. Und ob, dachte ich bei mir, in Kennerkreisen hatten böse Buben — Vischering einer von ihnen — dem zwischen Heim und Hilfsschule pendelnden Mädchen den unschönen Spitznamen Knallschlippe verliehen. Daniela hatte inzwischen einen Burschen vom Dorf geheiratet, einen Maurer, der besser zu ihr zu passen schien, die beiden, so klagten, sie mir ihr Leid, hatten kein Wohnung, wüssten nicht wohin. Da ging ich die Treppe hinunter und ins Vorderhaus, trank mit Willi ein Schnäpschen, stellte die beiden vor, so wäre allen geholfen, dachte ich damals und genug freie Zimmer gab es ja im etwa vierhundert Jahre alten Fachwerkhaus am halleschen Markt. Warum also hätte ich nicht helfen sollen, wo ich es doch konnte und so gleichzeitig, die Gefahr umging, dass sich die beiden auf meinem Sofa einquartierten - alles in Ordnung, dachte ich.
Uwe Flack und seine Frau Daniela bildeten nun wirklich nicht etwa den harten Kern meines Freundeskreises, aber sie waren eben doch da und das sicher stärker, intensiver, als gewöhnliche Nachbarn. In der Woche, da sie im Haus eingezogen waren, hatte ich bei einem meiner Besuche in der Gosenschenke eine Burgstudentin kennengelernt, sie sprach mich, als ich nach Hause wollte, einfach an, ob sie mich zu einer Tasse Tee einladen dürfe. Sabrina sagte das so einfach und natürlich, ohne alle Anzüglichkeit, von jener Sauberkeit, wie das nur einer guten naiven Seele möglich sein mag. Nach und nach entstand so ein ganz eigener Gesprächskreis, wir trafen uns im Erker ihrer Wohnung. Sabrina konnte und wollte malen, zeichnen oder kalligraphische Übungen auch dann absolvieren, wenn dabei Gespräche und Geräusche im Raum waren, sie mochte das. Ich lernte Freundinnen und Kommilitonen von ihr kennen, wir sprachen über alles; Tschernobyl, Stefan George, Peter Hacks und halleschen Stadtklatsch. Einmal saß da ein kleines, blasses Kerlchen im Erker, trank mit spitzen Fingern aus seinem Tässchen, gab sich manieriert und hatte den Sprachgestus unseres jetzt bereits vergangenen Jahrhunderts verlassen, dass es justament seine Art hatte, wie er formuliert haben mochte. Herr Uwe Peter Hock war so etwas wie Enthusiast, Querdenker und Philosoph, abgehoben von allen gesellschaftlichen Kümmernissen, im Besitz von allerlei Verbindungen und Günstling wirklich wohlbetuchter Mäzene, dramatischer Autor und gleichzeitig Kellner auf Hiddensee, Philosoph und Träumer, aber auch Zwischenhändler begehrter Musikalien aus dem kapitalistischen Deutschland. Jener Uwe Peter Hock nun hatte einige meiner Gedichte, ich mochte ein paar bei Sabrina auf dem Teetischchen zurückgelassen haben, gelesen und interessierte sich für meine Arbeit, lud mich zu sich ein und war entschlossen, mein Gönner und Mäzenat zu werden, in den nächsten Jahren steckte er mir manchen Geldschein zu. Er meinte einmal, als ich ihm – ich hatte gerade etwas aus meinen Arbeiten vorgelesen - sagte, wie wenig ich das alles doch verdient hätte: Und wenn ich ihm im Jahr selbst nur ein einziges gutes Gedicht vorweisen würde, wäre das für ihn völlig ausreichend, so sprach er.
Mein lieber Freund Pfarrer Dr. Scheurich bewahrte für mich, der ich vor Beschlagnahme meiner literarischen Arbeit Angst haben musste, immer eine Zweitschrift meiner Texte auf, oft war ich zum Essen eingeladen, steckte auch er mir ein paar Münzen zu. Während ich inhaftiert gewesen war, hatte er im kleinen Kreise über die von mir im Knast geschriebenen Texte, unter anderen über das Gedicht Hoffnungslicht gesprochen. Jeder Besuch im Pfarrhaus tat mir wohl, ich betrachte die leuchtenden Reproduktionen der Bilder Emil Noldes, lieh mir ein Buch aus und manchmal rauchten wir nach dem Essen im Amtszimmer noch eine gute West-Zigarette. Das Essen hatte übrigens Frau Scheurich immer exzellent zubereitet, die Gemahlin des Pfarrer Scheurich war niemand anders als die Tochter des Pfarrers Löber aus dem Dorf Niemberg, in dem ich geboren wurde und zur Schule ging.
Wenn ich das auch nicht bewusst plante, werde ich es wohl doch so gewollt haben: die unterschiedlichen Kreise berührten sich nur selten, manche meiner Freunde oder Bekannten haben sich niemals auch nur gesehen, geschweige denn gesprochen. Gewiss, auch mit Herrn Scheurich ging ich ‘mal auf ein Bierchen ins “Lindeneck” oder zu Mutter Schmitten in die Breite Straße, also in die Neumarktgaststätte, aber das blieben Ausnahmen. Das abendliche Biertischgespräch fiel in der Regel Vischering zu, wo wir nicht merkwüdigerweise überall hingingen, im alten Süden beispielsweise betrieb ein gewisser Leidl in der Torstraße/ Ecke Kurt Tucholskystraße eine Kneipe, in der immer Hardrock in Überlautstärke lief. Die Wände bebten, wir kippten halbe Liter und sprachen über Georg Trakl oder Joseph Freiherr von Eichendorff, verständigten uns inmitten dieser mir völlig fremden harten Metallklänge. Warum, es gab genügend Gasthöfe, ohne oder mit leiser Musik, wir hätten uns auch zu Hause zum Literaturgespräch treffen können? Der vermeintliche Ästhet und Nietzsche-Leser und der junge, leicht angetrunkene Mann, der in der Straßenbahn ein vollschlankes und volltrunkenes Mädchen anquatschte, die daraufhin mit ihm Matratzensport machte, das war beides dieselbe Person – oder sprang mir hier Epimetheus bei, während Holger…? Der Pfarrer und die vollschlanke, immer irgendwie juckige, zum Augenblinkern und Biertrinken immer bereite Daniela und ihr Freund lernten sich nicht kennen, auch Vischering verspürte wenig Lust, seine Bekanntschaft mit Daniela, ihm aus seiner Schulzeit noch unter dem Namen Knallschlippe bekannt, aufzufrischen.
An einem Sonntagabend, ich war gerade in Lektüre vertieft, flogen kleine Steinchen an mein Fenster, ich hörte im Dunklen meinen Namen rufen. Also öffnete ich einen Flügel meines Giebelfensterchens und fragte etwas unsicher, sowieso immer gern antiquiert: Wer begehret da Einlass? “Uwe” hörte ich und erkannte die Stimme nicht, weil er aus gutem Grund, wie ich erst später begriff, leise sprach. Nach meinem Irrtum, es könne sich um Uwe Peter Hock handeln, begriff ich schließlich, draußen stand Danielas Ehemann, der mich, wie er sagte, auf ein Bier einladen wollte. Die beiden hatte ich zu diesem Zeitpunkt ein paar Wochen nicht mehr gesehen, wobei ich, wenn überhaupt, am ehesten Daniela vermisst hatte, denn die mochte weder geistreich sein noch Model-Maße aufweisen, aber unzugänglich und prüde war sie wirklich nicht. Mir war bisschen unbehaglich zumute, sollte dieser Uwe, der uns, wie ich mich erinnerte, mehrmals durch seine schweren Schritte auf der Treppe bei Fummeln und Vorspiel hatte einhalten lassen, etwa nichts Gutes mit mir vorhaben? Wir tappelten ganz verträglich zur gerade für den Sonntagabendbierschoppen sehr beliebten, immer proppevollen Gaststätte “Prager Terrasse” am August-Bebel-Platz. Das Bier kostete hier sechsundfünzig Pfennig, auch die Schnäpse waren erschwinglich, es gab außer Braunem und Weißen (also Goldbrand und Nordhäuser Doppelkorn) grünen Pfefferminzlikör und weißen Pfeffi, den die Gäste Berliner Luft nannten. Um die Getränke allein ging es uns sicher nicht, wenn wir immer wieder sonntagabends die Kellnerin Christa schüchtern und so nüchtern wie möglich fragten, ob noch Plätze frei wären — sich einfach so irgendwohin setzen war nicht drin, oft standen Reserviert-Schilder auf den wenigen freien Tischen, oder man fragte einen einzelnen Gast, ob es erlaubt sei, Platz zu nehmen und eine Kellnerin wie Christa konnte sich ihre Gäste allemal aussuchen. Auch das am Tresen stehende große Glas mit den Sol-Eiern, von denen ich, besonders nach Küchenschluss, etliche schnabulierte, wird nicht die hauptsächliche Motivation gewesen sein, sondern vielmehr die bunte Mischung des Publikums. Oft genug war es, wie gesagt, ohnehin zu voll, als dass man sich Plätze und Mittrinker hätte aussuchen können, da kamen der Professor mit dem Kohlefahrer ins Gespräch, solche mehr oder minder kultivierten Nichtsnutze und Tagträumer wie Vischering oder ich tranken, schwatzen und schmauchten da genauso wie die Ensemble-Mitglieder vom nahegelegenen Theater der Jungen Garde, ob es nun der Regisseur Armin oder Milli und Riemchen, die Bühnentechniker, waren. An diesem lauschigen Abend also nahm ich mit Flack an einem der rustikalen Tische Platz und voller Staunen sah ich, wie Christa und auch Marga, die Büfetteuse, uns vom Tresen her mit Schnäpsen zuprosteten. Ich staunte Bauklötzer, meine Bedenken von vorhin waren wie weggewischt und gegen neue ausgetauscht, der Kerl schmiss Lagen, nötigte auch mich und traktierte reichlich mit Bier und Schnäpsen. Was mochte nur in ihn gefahren sein, fragte ich mich nicht wenig erstaunt. An unser Biertischgespräch kann ich mich heute erst ab jenem Punkt erinnern, als Uwe Flack einen Stapel kleiner grüner Formulare hervor zog und mich fragte, ob ich wisse, wie man einen Scheck ausfüllt. Wer in der DDR über solche Scheckformulare verfügte, bekam an den Geldschaltern Bargeld, konnte einkaufen oder im Gasthaus zahlen. Im Knast hatte ich schon von der Straftat Scheckbetrug gehört und von “Meistern”, die mit Lichtpause arbeiteten, die Unterschriften fremder Personen nachahmten und falsche bzw. verfälschte Ausweise oder auch Formulare benutzt hatten. Von solchen Kunststückchen freilich schien mir Uwe Flack weit entfernt, der, wenn ich mich recht entsinne, seinen eigenen Ausweis zückte. Ich hätte ihm, außer beim Kippen der Biere und Schnäpse, wenig helfen können, die letzten Schecks, die ich flüchtig gesehn hatte, waren im Scheckbuch meines Vaters gewesen.
Flack erzählte mir beim Bier auch von seinem Plan, den er damals mit vielen, theoretisch auch mit mir, gemeinsam hatte: Er wollte die Republik verlassen. Allerdings wurde ich regelmäßig bei der Abteilung Inneres vernommen, weil ich einen Antrag auf Ausreise gestellt hatte, während er davon fabulierte, mit einem Ruderboot die Ostsee zu überqueren. Noch manche Begabung mochte zu dieser Zeit in mir geschlummert haben, die des Matrosen war nicht dabei, überdies bin ich Nichtschwimmer, auch Flock mochte die Küste eher von solchen beliebten Fernsehsendungen wie “Klock acht, achtern Strom!” als aus eigenem Erleben gekannt haben, was ihn nicht von seinem Plan abbrachte. Daniela ließ mich ziemlich klar wissen, sie fände es besser, wenn wir beide uns da oben am Strand ein paar gute Tage machen würden. Es war beschlossen, an die Küste zu trampen und nicht zuletzt ihre prallen Rundungen, auf denen ich statt auf dem Meer würde rudern dürfen, so hatte sie mir unter Liebkosungen zugewispert, umnebelten mein Entscheidungsvermögen. Da wir schlecht zu dritt im Auto zusteigen konnten, trampte ich allein. Außerhalb der Reichweite weiblicher Signale dachte ich klarer und entschloss mich, die Reise abzubrechen und die Gelegenheit zu nutzen, meiner Oma in Köthen einen Überraschungsbesuch zu machen. Flack soll sich dann wirklich, so wurde mir später berichtet, nachts irgendeine Jolle geklaut haben und wurde gleich vom ersten Suchscheinwerfer erfasst. Nicht nur ich, auch Daniela war nicht im Boot gewesen.
Jeder bekommt auf seine Weise die Rechnung präsentiert, während Flack seiner Inhaftierung wegen Scheckbetrug und Republikflucht entgegen fuhr, fing mein besoffener Onkel, den ich in Köthen statt meiner lieben Oma angetroffen hatte, mit mir Stunk an, torkelte und lallte immer wieder: “Du hast doch keinen Arsch in der Hose!” Mein Onkel schuftete jeden Tag auf dem Bau und soff sich vom Feierabend bis in die späte Nacht in seiner Lieblingskneipe “Am Ring” sternhagelvoll. Irgendwie muss er sich gerade an diesem Tage zusammen mit einem meiner zahlreichen Cousins beim Bier darüber ereifert gehabt haben, dass ich nie zu irgendeiner Arbeit erscheine und deshalb wegen asozialen Verhaltens gesessen hatte.
Zurück in Halle, war ich doch sehr froh, wieder zu Hause im alten Fachwerk über der Handelsbörse zu sein, wo ich es ohne Daniela und Uwe Flack nun auch ruhiger hatte, zunächst zumindest. Ich habe an die beiden nicht mehr viel gedacht. Zog mich zurück, las viel, schrieb an meinen viel zu sehr gekünstelten Kunstmärchen “Schrat Goldstiefel” und “Florianswichtel”. Vom nach der Restaurierung heute als denkmalsgeschützte Sehenswürdigkeit bekannt gewordenem Fachwerkhau am Graseweg, dem ältesten repräsentativen Fachwerk der Stadt, hatte Sabrina die Hinteransicht und so auch die Ruine des Nachbarhauses fotografiert. Eine eiserne Wendeltreppe ragte aus dem Bauschutt, dieses Motiv sollte damals das Titelblatt für meine Zeitschrift “Der arme Poet” Nummer drei, der, wie es im Untertitel hieß, Zeitschrift für einsame Leser, sein. Doch dazu sollte es nicht mehr kommen, die dritte Nummer der kleinen Zeitschrift sollte ich nicht mehr heimlich – und doch vom dort diensttuenden Schriftsteller Matthias Baader Holst beobachtet – in eines der hölzernen Schiebefächer des Zeitschriftenlesesaals schmuggeln können.
Kasse des Vertrauens
Mehr Gunst der Kunst forderte die Inschrift in der Bleiverglasung des Hausflurs in der kleinen Ulrichstraße, ich versuchte, das als gutes Omen zu werten. Nach meiner fünfmonatigen Untersuchungshaft hatte ich mich entschlossen, in Sachen außerliterarischer Arbeit einen Kompromiss zu versuchen. In der LDZ war deshalb nicht nur mein erstes Gedicht “Laternenfest” erschienen, sondern auch eine Kleinanzeige, in der ich meine Dienste als Haushalthilfe anbot. Meine Erfahrungen aus dem Paul-Riebeck-Stift würden mir nützlich sein können - Umgang mit älteren Menschen machte mir damals noch mehr Spaß als heute, wo ich selbst einen gewissen Alterungsprozess verspüre - und der tägliche Zeitaufwand würde, so kalkulierte ich, nicht so hoch wie im Achtstundentag eines volkseigenen Betriebes sein. Dummerweise hatte ich meinem Freund Vischering von meinem Plan erzählt, dieser wollte mich, nachdem die Annonce erschienen war, besuchen, traf mich nicht an, fingerte statt dessen am Postkasten und zog sich das Kuvert mit den Zuschriften heraus. Auf meine kleine Anzeige hin hatte ich zwei Zuschriften erhalten, die allein lebende Seniorin aus der Glasgestaltung suchte genauso nach einem Heinzelmännchen für ihre Vier-Zimer-Wohnung wie die lustige Bierkellnerin aus Mäuseburg, die vor allem eine Kinderbetreuung für den Hosenmatz suchte, während sie im Saalekahn Biertabletts schleppte und sich von angetüderten Kerlen auf den Arsch patschen ließ. Vischering hatte mir die Wahl abgenommen und sich natürlich sofort für die Biermaus entschieden, kurze Zeit waren die beiden so etwas wie ein Paar, und ich rächte mich, in dem ich in der Stadt herum tratschte, dass sie ihn Hasi nannte, ein paar Frauen vorher war er immerhin noch als kleine Dichtermaus bezeichnet worden. Die Fixierung der Abteilung Inneres war auf mich zu jenem Zeitpunkt viel stärker als auf Vischering, so meinte ich, es mit der älteren Dame gut getroffen zu haben. Frau Ilse Scharge-Nebel präsentierte sich als eine liebenswürdige und gebildete Gesprächspartnerin, außerdem freute ich mich über die Bilder, die ich bei ihr sah, ich erinnere mich an mindestens drei Bilder des Malers Albert Ebert, an ein größeres Bild von Crodel. Auf die kleinformatigen Ölbilder von Albert Ebert angesprochen, meinte sie nur, wir haben getauscht, Arbeit gegen Arbeit. Wir sprachen auch über Literatur, ich hatte meine literarischen Ambitionen erwähnt und sie schenkte mir “Stimme aus dem Leuna-Werk” von Walter Bauer, einem Schriftsteller, mit dem sie tiefe Freundschaft verbunden hatte.
Was die zu leistende Hausarbeit betraf, war sie allerdings pingelig, stolz und starr; wie einen eisernen Lehrsatz der Dogamtik, so verkündete sie mir: Der Vorsaal wird immer zwanzig vor Eins (also 12.40 Uhr) gelüftet. Die Diele war wirklich ein Saal, zumindest ein größeres Zimmer, auch die übrigen Räume der Altbauwohnung, angefüllt mit Bildern, Vasen, Fayencen und Büchern, bildeten ein großzügiges und gleichermaßen behagliches Umfeld, wenn auch der Kachelofen mit Kohlen zu heizen war wie der Ofen im Bad, so denke ich doch an ihre Wohnung als einen Palast, von dem heute die meisten Glasgestalter oder andere Künstler nicht zu träumen wagen würden. Meine Bezahlung war freilich kärglich, wie ich es nicht hätte hinnehmen können, wenn der Job mehr als ein Vorwand gegenüber den Vernehmern hätte sein sollen.
Hin und wieder begleitete ich die Chefin in die Stadt, die Glasgestalterin verwendete eine Art detektivischen Spürsinn darauf, in einem der Geschäfte Chicorée zu ergattern, ein Gemüse, das in den Kaufhallen und Geschäften der DDR nicht gerade zu den Waren täglichen Bedarfs gehörte – mir machte das alles durchaus Spaß, allerdings gehörten die Stunden der Einkäufe wie auch unsere angenehmeren Plaudereien schon zum fakultativen, nicht vergüteten Teil meiner Arbeit.
Meine erste Lesung, meinen ersten Auftritt mit eigenen Texten in der Öffentlichkeit, hatte ich Frau Ilse Scharge-Nebel zu verdanken, sie hatte Texte von mir gelesen und diese ihrem Schwiegersohn, einem Pfarrer in der Altmark, gezeigt. Die evangelische Kirche besaß in der DDR nicht nur Kirchen, Pfarrhäuser und solche Gemeinderäume wie etwa das Lutherheim in Niemberg, sondern auch ein wirkliches Schloss, und zwar das malerisch gelegene der immer so jämmerlich verarmten Grafen von Mansfeld. Vischering und ich fuhren per Anhalter zum Veranstaltungsort; manchmal bizarr, was das Hirn als Erinnerung einspeichert und anderes dafür verschwinden lässt, muss jedenfalls daran denken, unsere letzte Mitfahrgelegenheit war ein grauer Wartburg-Tourist.
Auf dem Schloss anwesend Damen und Herren einer Rüstzeit, evangelisch tradiertes Freizeitpublikum mit jener alternativen Orientierung, die in der DDR am Rande durchaus wohlwollend geduldet wurde. Um Religion, Bibelarbeit und Christentum im Sozialismus ging es genauso wie um Tänzchen-Tee mit Anfassen, eine herbstliche Schöne gestand Vischering, mittels des kirchlichen Freizeitangebotes vor allem etwas der Einsamkeit entfliehen zu wollen . . .
Am Abend vor dem Tanzvergnügen war der Literatur das Wort erteilt. Vischering und ich wurden nach unserer Ankunft dem Probst vorgestellt, der uns starren Gesichts hoheitsvoll zunickte, mein erster Eindruck: Karriere-Mensch und Kirchenkader, Berufschrist, für den ein Gespräch mit uns sicher der Würdigung zu viel gewesen wäre. Der Altmark-Pfarrer ließ bei der Anmoderation nicht unerwähnt, dass man in den vorigen Jahren Autorinnen wie Christa Wolf und Sarah Kirsch eingeladen hätte – Stars also – jetzt aber noch unbekannten jungen Talenten ein Podium geben wolle.
Ich las aus meiner Erzählung “Paul Horbachs letzte Studie”. Horbach war ein älterer Mann, der sein Leben lang am Schalter einer Post akkurate, ordentliche, aber doch stupide Arbeit geleistet hatte und - wie konstruiert – nach Eintritt des Rentenalters daran ging, das Milieu, die sozial-morbide Schicht in den Kneipen und Kaschemmen zu studieren. Von der Psyche eines Büromenschen, eines Angestellten, der sich nach vielleicht fünfzig Dienstjahren zur Ruhe setzt, verstand ich natürlich nichts, wogegen die Milieuschilderungen der verwahrlosten Großkneipen, solcher Trinkerhallen wie HOG Diesterweghaus, des Lindeneck, aber auch der HOG Wildschwein mir gut und solche absoluten Schuppen wie Zentral und Halloren-Café nicht unbekannt waren. Allgemeine Heiterkeit und Szenenapplaus erntete ich, als ich vorlas, wie Jugendliche sich auf dem Parkplatz vor dem Interhotel zum Diebstahl eines Autos entschlossen, wobei sie einen Mercedes nicht klauen wollten, weil ihnen eine Spritztour mit dem zu auffällig erschien, andrerseits wollten sie nun auch nicht Trabbi fahren, so ein Auto klaut man eben nicht – da gab es den stärksten Beifall.
Alles in allem kam ich gut an, wurde in der Diskussion nur von einem Klempnermeister kritisiert, den wahrscheinlich das authentische an den Beschreibungen ders asozialen Milieus störte, weil er folgerichtig vermutete, dass ich selber an solchem Milieu nicht unbeteiligt wäre. Vischering las einige wenige, sicher sehr poetische Dichtungen, die dort nicht so verstanden und nach meinem volkstümlichen Beitrag auch nicht erwartet wurden, es gab wohl eher ratlose Gesichter. Er griff mich in der nachfolgenden Diskussion an, posaunte, was ich da gelesen hätte, sei keine Kunst.
Auf Schloss Mansfeld folgte der gemütliche Abend, es gab ein Kaminzimmer, in dem geraucht werden durfte und so ein umtriebiges Kerlchen, der Paul aus Wiedemar, bot Bier und Wein an. Noch interessanter aber: Im Erdgeschoss gab es Getränke, die an der Kasse des Vertrauens bezahlt wurden.
Zum Frühstück hörte ich zweideutige Bemerkungen über die möglicherweise erotische Abenteuer der Dichter, aber da hatten sinnenschwüle Teufelchen Probst und Pfarrer die Phantasien verwirrt, ich hatte mich ganz ehrbar in ein altes Federbett gerollt, Vischering versicherte mir von sich dasselbe. Die Anregung der Phantasie kam wohl so zustande: Uns war vom Diakon je eine Schlafstelle im Bettensaal der Brüder angewiesen wurden, als ich nun zur Mitternacht hinein tappte, da hörte ich den Choral ihres Schnarchens und etliche Brüder pforzten vom Biere auch noch so geräuschvoll wie aromatisch, dass ich durch den Abendtrunk mutig gemacht, mich gleich zur Exkursion durch die unzähligen Zimmer des feudalen Anwesens entschloss und mich lieber allein in einem von den Pforzern und Schnarchern entfernteren Schlafsaal bettete, was Vischering, wie er mir erzählte, ähnlich ergangen war.
Nach dem Frühstück reiste ich ab und nahm mir auf der Heimreise noch Unterkunft in Wippra, wo ich still für mich hin spazierte, allein sein wollte, kaum jemanden sprach. Während der Zeit machte Vischering im Schloss den Galan, zog vor den Damen über die Trivialität meiner Prosa her und fand endlich bei zweien der herbstlichen Schönen, darunter eine Apothekerin aus Sachsen, Einlass zumindest in die Seelen.
Pausenlos mittem Knüppel offen Wanst
Im November 1984, wider Erwarten noch ein milder und freundlicher Herbsttag, war ich wieder einmal im gastfreundlichen Pfarrhaus zu Besuch, es gab Forelle. Nach dem Essen lud mich Pfarrer Scheurich ein, beim Aufziehen des Adventsterns in der Marktkirche zuzuschauen. In der kleinen Entfernung zwischen Haustür und dem Eingangsportal der Marktkirche stand ein Herr in bescheidener, aber sehr gepflegter Zivilkleidung. Er sprach mich an und fragte: “Sie sind doch der Herr Leisering…” Ich entgegnete mit fester Stimme: “Nein!”,was mir natürlich nichts mehr nützen sollte, er rannte mir hinterher und packte mich noch in der Tür, ich hatte bereits ein Bein im Flur, an meiner Jacke. Wieder war ich, wie sie es formulierten, zugeführt, wurde als Zugang auf Appelbackes Station, die Drei, in Zelle 303 geschlossen. Diesmal fühlte sich mein Freiheitsentzug irgendwie anders an; schrieb weder Tagebuch noch Briefe, sprach kaum, saß wie gelähmt in der Ecke. Ich trauerte nicht einmal, selbst die Trauer um meine Liebste war wie stumm geschaltet und in der Koje, wenn es galt, sich auf lautlose Weise abzureagieren, dachte ich an die Rundungen Danielas und ähnlicher Mädchen.
Weit gefehlt hatte ich, als ich annahm, meine Arbeit bei Frau Ilse Scharge-Nebel würde anerkannt werden und mich entlasten. Der mit den Ermittlungen beauftragte Kriminalpolizist suchte zwar die Glaskünstlerin auf, aber für die muss allein das Erscheinen der Polizei ein Beweis meiner Schuld gewesen sein, jedenfalls erstattete sie nun selbst Anzeige und behauptete, ihr würden einhundert Mark fehlen.
Vierzehn Tage später war der Spuk vorbei, selbst meine Wohnung und der Hausrat waren noch da. An eine Wiederaufnahme bei Ilse Scharge-Nebel war meinerseits natürlich nicht zu denken, auch wenn sie ihren Irrtum erkannt und die Anzeige zurückgezogen hatte. Die Denunziation der Alten hätte für mich üble Folgen haben können, aber statt eines Wortes der Entschuldigung sprach mich kurz darauf eine Nichte von ihr im halleschen Bahnhofs-Foyer, wo wir uns zufällig begegneten, an: “Herr Leisering, sie haben uns so enttäuscht!”
Die zuständigen Stellen hatten meine Wiedereingliedeung vorbereitet. Das Büro befand sich auf dem Flur der Abteilung Inneres des Rates des Stadtbezirkes Ost in der Leninallee, die in diesem Teil heute Merseburger Straße heisst. Hier residierte Frau Ritzing, die sich um Wohnung und Arbeit, vor allem um die Einhaltung der Auflagen kümmerte. Nun nicht mehr im Besitz eines normalen Personalausweises, bekam ich eine Klappkarte namens PM 12, an der nun jeder Streifenpolizist sofort erkennen konnte, was ich für einer war, und auch an eine Fahrt in die sozialistischen Bruderländer ČSSR oder Volksrepublik Polen war nun nicht mehr zu denken, an andere wegen des zu beantragenden Visums sowieso nicht. Frau Ritzing sprach mich also auf meine Auflagen gemäß § 48 und besonders auf meine Pflicht zur Arbeit an, dann entschuldigte sie sich, kurz einmal den Raum verlassen zu müssen. Ach, wie zufällig stand die Schranktür auf, wie ein Leuchtsignal präsentierte sich dort eine rote Brieftasche. Da ich die natürlich nicht schnappte, blieb es zunächst bei den üblichen Ermahnungen und sie korrigierte mich energisch dahingehend, dass wir in der DDR kein Arbeitsamt sondern ein Amt für Arbeit hätten. Auf einer zweiteiligen Postkarte war mein neuer Betrieb vermerkt, der VEB Stadtwirtschaft. Nun, wohl auch, weil ich die Brieftasche liegen gelassen hatte, bekam ich zur Wiedereingliederung sogar einen Zwanziger Startgeld aus der Kasse.
Wenn ich es heute bedenke, hätte mir die zugewiesene Arbeit unter diesen Umständen recht sein können, denn viel gab es nicht zu tun. Zwar arbeitete ich in einem Heizungskeller, aber Kohlen brauchte ich nicht zu schippen, das heiße Wasser kam aus einer Fernleitung. Meine Aufgabe bestand lediglich darin, mit einem Handrädchen den Druck zu regulieren, in einem gläsernen Zylinderrohr blubberte eine Wasserblase, die würde ich durch das Drehen des Rads in der Mitte halten müssen. Wenn ich den Druck zu sehr nach oben steigen ließe, träte, so wurde ich belehrt, heißer Dampf aus den Überlaufstutzen und der Brodem könnte so heiss werden, dass man Gefahr liefe, sich zu verbrühen. Wenn die Heizung dermaßen unter Überdruck stand, quoll nicht nur der Dampf, die gefährlichen Rohre und Überlaufstutzen dieses Flickwerks knatterten und dampften, war der Druck hingegen zu niedrig, blieb alles kalt und die Kumpels beispielsweise aus den Brigaden der Müllabfuhr würden nach der Schicht kalt duschen müssen, was diese echt wütend machte, wie ich erfahren sollte.
Es gab Kollegen, die gelangten zu wahrer Meisterschaft darin, mit wenigen Drehungen am Rad das ganze Pensum der Arbeit zu erledigen, die hatten im wahrsten Sinne des Wortes den Dreh raus und konnten stundenlang im benachbarten Café Corso sitzen oder spazierten sonstwo herum. Leider gehörte ich nicht zu solcherlei begnadeten Zauberern zwischen Heizung und Manometer, ich war dazu verdammt, jede Minute meiner Arbeitszeit in der Heizung zu verbringen und das hüpfende Bläschen argwöhnisch zu beobachten, um eine Katastrophe zu vermeiden. Eine Weile ging alles gut, ich versuchte mir einzureden, die mir bei Dienstantritt ausgehändigten Schlüssel der Heizung wären Atelierschlüssel und ich stellte mir Bücher aufs Regal, schleppte sogar eine Schreibmaschine mit. Einmal, ich las gerade in diesen schönen und empfindsamen Briefen, die Rosa-Luxemburg aus ihrem Gefängnis geschrieben hatte, wurde mir kalt. Ich war gerade ganz in das Büchlein versunken, so erstaunt war ich zu lesen, dass die kapitalistische Klassenjustiz unserer Rosa eine zweite Zelle genehmigt hatte, damit sie ihre Bücher einlagern konnte, wogegen wir zu viert in einer winzigen Buchte untergebracht gewesen waren und die Bücher wurden, immer vier für vier Inhaftierte, per Zufall wie in einer Lotterie durch die Klappe geworfen. Während ich las, war mir innerlich wieder wärmer, es im Raum aber kalt geworden, was ich in seiner Tragweite nicht zur Kenntnis nahm: Ich fror neben dem Heizungskessel! Die Kollegen ließen mir einen Strick zum Fenster herein und brüllten, sie würden mich das nächste mal aufhängen, wenn sie noch einmal kalt duschen müssten.
Wie es in der Aussprache mein Meister ebenso drastisch formulierte: “Solche wie mich, die müsste mer pausenlos mittem Knüppel offen Wanst schlaen.” Später schrieb ich mein kleines Drama Faust, in dem der Arbeiter zu Faust genau diese Worte sagt, das verdanke ich den Kollegen des VEB Stadtwirtschaft und ihrem derben Sprachgestus. Dank euch, dass ich so dem Volk gut lutherisch auf’s Maul schauen durfte. Heute gibt es die Heizung, durch deren Fenster die Kollegen für mich haben den Strick baumeln lassen, nicht mehr, kein Müllauto quietscht und kein Meister schwingt pausenlos den rethorischen Knüppel, der eingeebnete Platz lädt nur noch zum Parken ein. Vischering fragte mich einmal, ob mich der Abriss des VEB Stadtwirtschaft nicht mit Genugtuung erfülle. Nein, sicher nicht, wie schön wäre es gewesen, sie hätten ihre Fabrik gehabt und ich meinen Schreibtisch, ohne Agitprop und ohne Klassenstandpunkt, ohne Diktatur. Jetzt ist es vorbei, ich darf schreiben und hungern, wie ich es für richtig halte, und manchmal gucke ich im Müll, ob was brauchbares für mich drin liegt, wie ich mir auch gewünscht hätte, ihr guckt in meine Verse.
Brothers
Weiß nicht, wo wir gesoffen hatten, unten am Markt in der “Drushba” oder im Gässchen unweit des Naumburger Doms im “Hackerbräu”, meine Wegbegleiter Mohr und Vischering waren mit anbei. Unser Rundgang durch die Stadt, ein Morgen- und Katerspaziergang, begann harmlos
und – weil das Bier damals dünner und meine Leber jünger – recht harmonisch.
Die Tür ließ sich leicht öffnen, war gut geölt, sanft drückte ich auf die Klinke und warum nicht, wollte einen Blick in die Bibliothek des Proseminars werfen. Meine eigenen Versuche, nach meiner Lehrzeit dort als Seminarist, womöglich als stud. theol., wie man so sagt, meinen Weg zu machen, waren längst vergessen. Was ich sah, ließ mich alle Bücher, den Lettner im Dom, das Kreuz der Waldenser, den Naumburger Meister oder die Hussiten wie mit einem Blitzknaller auf Reise ins hinterste Archiv meines Denkens schieben und nur ein Geifer tropfte, ein Haben wollen, mein Puls raste, ich warf einen Seitenblick auf Charly, der dröge mit sinnlos herab hängenden Armen neben mir stand. Nichts brauchbares, keinen Beutel, keinen Rucksack hatte ich bei mir. Handeln war jetzt gefragt, nicht sinnierend in der Ecke träumen wie ein Dichterling, nein drauf hauen wie Karl Stülpner, Christoph Kolumbus oder Alexander der Große, kein Vergleich schien mir groß genug.
Endlich wäre meine Not am Ende, müsste ich meine Gedichte nicht mehr mit dem Kuli auf Kästchenpapier schmieren müssen. Mit forschem Gesicht – oder was ich dafür hielt – lenkte ich, so wie einer, der es in dringenden Angelegenheiten eilig hat, meine Schritte Richtung Ausgang der Bibliothek, ein flaches Köfferchen und doch für mich und zu dieser Zeit in der DDR ein Traum: Brothers 440 TR, eine Schreibmaschine der Extra-Klasse. Alberne Touristen, Westdeutsche, standen am Ausgang der Bibliothek: “So ist’s richtig, ohne rein und mit heraus.”, hatte eine der Damen gemeint. Mir erstarrte eigentlich alles, aber irgendwie schaffte ich ein “Ja,ja” und ging betont langsam, wie ich nur hoffen konnte, mit dem dämlichen Grinsen dessen, der sich so etwas nur entfernt vorstellen kann, an denen vorbei.
Nach meiner bis dahin erfolgreichen Straftat, meldete sich Vischering wieder, der wahrscheinlich unschuldig seinen Rausch ausgepennt hatte und beide - vor allem aber war es Mohr, der meinte, ihm stünde so etwas wie ein Anteil zu - ließen durch blicken, es wäre Zeit, eine Absatzmöglichkeit für mein heißes Eisen zu finden, einen weiteren Umtrunk zu organisieren, wozu mein Flitzebein mit Schreibmaschine gerade recht käme. Darauf aber ließ ich mich nicht ein, ich fuhr in meine Wohnung am Steilen Berg, frisierte die Brothers um, die Nummer war nur leicht angeheftet (nicht wie bei “Erika” eingestanzt), das Firmenlogo und einen Teil des Gehäuses ließ ich verschwinden und für die nächsten Jahre war für alles Flackern meines Bewusstseins, wie ich eine später in Berlin entstandene Prosa einmal benannte, also für alle Niederschrift meiner künstlerischen Arbeit, die denkbar beste Tastatur im Anschlag, kein Buchstabe fehlte oder tanzte, die Probleme mit dem Farbband minimal, der Anschlag sanft, das Schriftbild scharf, ach was war ich froh, meine literarische Arbeit wäre gerettet, so dachte ich Narr und tippte meine Texte glücklich auf gestohlener Maschine aus dem Seminar - Unrecht Gut gedeihet nicht, meinte der Volksmund zu wissen, aber immerhin zwei Jahre lang genoss ich.
Ja, ja, für mich gab es für mich keine Entschuldigung, außer vielleicht der, ein Schriftsteller ohne Schreibmaschine ist ungefähr so arm dran wie ein Bergmann, der zwar den Kohleflöz sieht, dem es aber an Holz für die Stempel fehlt, um den Stollen abzustützen – seine Arbeit würde über ihm einstürzen.
Bananen, Kacheln fürs Bad, neuwertige PKW, Bohrmaschinen, Lizenz-Schallplatten und Schreibmaschinen hatten in der DDR eine Gemeinsamkeit: Sie waren Mangelware, auch Bückware genannt, weil sich der Verkäufer nach ihnen unter den Ladentisch bücken musste. Schreibmaschinen wurden in der DDR die Marken “Erika” und “Robotron” produziert. Die in Sömmerda produzierte von Robotron, war eine, bei der sich für die Großbuchstaben die Walze, nicht der Wagen hob, sie funktionierte ungefähr so plump wie ein in der DDR gebautes Plastikfeuerzeug. Ähnlich wie bei den heißbegehrten PKW waren über Kleinanzeigen, An - & Verkauf, auch über mechanische Werkstätten für Büromaschinen, verschiedenste Schreibmaschinen im Angebot - eine Underwood, Rheinmetall oder Mercedes wurde damals nicht wegen ihres antiquarischen oder Sammlerwertes, sondern als Gebrauchsgegenstand gehandelt und unter zwei, dreihundert Mark der DDR war nur selten eine zu bekommen. Solche Möglichkeiten wie nach der Wende, die ja nicht nur eine gesellschaftliche Implosion, sondern auch industriell-technologische Revolution bedeutet hatte, existierten nicht; eine funktionierende Schreibmaschine stand so gut wie niemals auf dem Sperrmüll, gab es nur selten auf Haushaltauflösungen, fast geschenkt oder irgendwo umsonst. Selbst vierhundert Mark hätten mir nichts genutzt, auch Bekannte, die ich in Halle bat, auf ihrer Maschine einige Gedichte abtippen zu dürfen, klagten, selbst keine Schreibmaschine zu bekommen, ob Ausleihdienst oder An- & Verkauf … nur die Schultern gezuckt.
Dadurch entstand natürlich ein weiteres Problem für den armen Schreiber, der Besitz des Schreibwerkzeuges bedeutete immer auch das Hüten eines Wertgegenstandes, für gewisse Leute würde sich das Aufknacken der Bude lohnen, wenn sie Schreibmaschinengeräusch gehört hatten und es gab, wie der Leser weiß, Strolche, die Schreibmaschinen klauten. Ein armer Schriftsteller, der seine Schreibmaschine geschickt veräußerte, hätte davon einen Monat ganz gut leben können, wie es auch – und das ist, zu Ende gedacht, eine dämonische Fratze der Mangelwirtschaft gewesen – für jeden Lyrikband, jedes Taschenbuch und erst recht jeden Bildband fast immer ein paar Münzen oder einen Schein auf die Hand gab, wo es an fast allem fehlte, konnte fast alles verkauft werden. Ein Vorteil unserer Tage, wo – selbst, wenn im Bücherregal ältere Bücher oder bibliophile Ausgaben stehen - der Einbrecher ähnlich wie der Gerichtsvollzieher achtlos vorüber geht.
Vielleicht hatte mir auch das Erlebnis mit Regina einen weiteren Tritt auf der, wie Wedekind ‘mal formulierte, Rutschbahn des Lebens gegeben. Regina kannte ich noch aus der Zeit meines diakonischen Jahres im Elisabeth-Krankenhaus, aber auch aus dem Riebeck-Stift. Eine liebe Maus, die mich hin und wieder zum Tee einlud, wir unterhielten uns gern, während ihr Mann, mein früherer Kollege aus der Zeit meines diakonischen Jahres im Elisabeth-Krankenhaus, ein wortkarger Schufter geworden war. Auch Vischering schlich im Übrigen um Reginas Rock herum. Regina mochte eine gute Schwester gewesen sein, für die Kranken und ersatzweise auch für mich, mit ihrer Schreibmaschine ging sie eher lieblos um, die stand leicht angestaubt auf der Schrankwand. Regina und ihr Mann, der OP-Pfleger Knut, lasen durchaus hin und wieder ein Buch, sie sammelten, wenn ich mich recht erinnere, Reclam und Inseln nach Nummern, es gab eine Ecke mit oval gerahmten Schriftstellerporträts von Novalis, Goethe, Rilke und Fontane, weniger von den zeitgenössischen Autoren, und Regina zeigte mir voller Stolz und Freude eine Weihnachtspostkarte des Schriftstellers Reiner Kunze. Gute Leser also, aber die Schreibmaschine war nach einer auf ihr abgetippten Abschlussarbeit, es war um Themen des Krankenpflegeberufes gegangen, in Vergessenheit geraten. Etwa ein halbes Jahr, das war noch vor meiner ersten Inhaftierung und während der Zeit in der Bebelstraße gewesen, hatte ich auf Reginas “Erika” schreiben dürfen. Auf dem Gehäuse war ein Totenkopf-Aufkleber aufgeklebt, den hatte ich einfach abgepellt, so sehr war das Schreibmaschinchen zumindest ideell bereits in meinen Besitz übergegangen.
Eines Nachmittags sah ich Regina zufällig in der Stadt, nichtsahnend grüßte ich sie. Wie jemand, der es sich lange vorgenommen hatte, forderte sie die sofortige Rückgabe ihrer Schreibmaschine. Weder Ausrede noch Taktieren half, nicht ‘mal mein ehrlich gemeintes Angebot, die Schreibmaschine zwei Stunden später vorbei zu bringen, sie lief neben mir wie ein Polizist, ich musste meinen begonnenen Text heraus ziehen, mitten im Satz war ich von ihrer Maßnahme zum Stillstand verurteilt. Ihre Schreibmaschine war wieder zum Verstauben freigegeben, wie ich später bei einem meiner letzten Besuche bemerkte. Hatte der immer intrigenhafte Vischering im Gespräch bei Regine eine Art psychologischer Mine gelegt?
Steiler Berg hieß das enge Gässchen, in dem ich bis zu meiner längerfristigen Abreise aus Halle Quartier bezogen hatte, Küche und vier Zimmer, Altbau, parterre, kein Bad, aber dafür mietfrei, so ließ es sich aushalten. Zu meinem Erschrecken hatte die Verwalterin des Hausbuches auf einer Zuweisung bestanden, da war die Brothers aus Naumburg mit ihrem amtlichen Schriftbild wieder nützlich, den Stempel fälschte ich, indem ich die Stilisierung des Stadtwappens, einen Halbmond und zwei Sterne, in einen Weinkorken schnitzte.
Mein wenigstens achtzig Jahre alter Schreibtisch konnte sich auch von der Rückfront sehen lassen, ich stellte ihn schräg, hatte das zwei Meter breite, mit kunstvollem Holzrahmen verzierte Fenster hinter mir, linkerhand mein englisches Buffet, für die Musik ein Röhrenradio, ein halbrunder Tisch auf Röllchen, den mir in der Wolfstraße der Wichtel, also Herr Drechsel, geschenkt hatte – mein schönes Zimmer also und auf dem Schreibtisch meine Brothers 440 TR.
Als ich die Karte üblichen Vordrucks mit dem üblichen Vermerk: Zwecks Klärung eines Sachverhalts erhielt, dachte ich an allerlei, vor allem natürlich daran, wie weit fernab das Tor der Fabrik meiner Straße lag - die Phase des artigen Verkäufers im “Fruchthaus an der Hauptpost” war vorüber. An Naumburg hatte ich lange nicht mehr gedacht, dafür kam der mir bereits bekannte Vernehmer Rosenbaum, nach der zu erwartenden Eingangsfloskel: “Sie wissen, warum sie hier sind ?”, gleich drauf zu sprechen. Er ging sofort zum vertraulichen Du über, wogegen ich nicht in der Position war, lange zu protestieren. “Holger, sag mal, woher hast denn du eigentlich deine Schreibmaschine?” Für alle Fälle hatte ich mich präpariert: Klaus Kunze, ein stadtbekannter Spinner und Querulant, hatte seine Ausreise genehmigt bekommen, davon wusste ich. Kunze, dessen Lieblingsbeschäftigung es war, schöne Frauen ins Restaurant einzuladen, um nach dem Dessert statt eines Liebesgeständnisses zu stammeln, dass er sein Portemonnaie vergessen habe. Auf Kunzes Kosten wollte ich, dem ich dadurch nicht mehr schaden konnte, sozusagen reisen und angeben, er hätte mir die Schreibmaschine während der Auflösung seines Haushalts verkauft. Ich brachte also betont ruhig vor: “Die Schreibmaschine habe ich von Klaus Kunze, wohnhaft Eichendorffstraße, gekauft.” Kunzes bereits erfolgte Ausreise in die BRD, von der ich wusste, erwähnte ich natürlich nicht. In einer bagatellarischen Angelegenheit, es ging damals um ein herrenloses Fahrrad, das ich versehentlich im Suff mitgenommen hatte, war ich mit dem Trick gut durchgekommen. Rosenbaum legte eine Kunstpause ein, ich sehe wie heute, wie er einen tiefen Zug aus seiner Zigarette nahm und mich mit langem Blick ansah: “So, dann müsstest du ja zweie haben. Wo ist denn eigentlich die Maschine, die du in Naumburg geklaut hast?” Da warf ich, wie man so sagt, das Handtuch, gab alles zu. Rosenbaum bot mir eine Zigarette an, er genoss die Situation ein bisschen, diesmal war ich ja nicht ohne wirkliche Straftat im Verhör, es ging weder um Asozialität noch um Politik und im tiefsten Inneren war er wahrscheinlich ein guter Kerl, dem die rein politisch ambitionierten Strafanzeigen auf den Nerv gingen. Hier, wo ich nicht die Arbeit gebummelt, sondern nur was geklaut hatte, wurde ich nicht eingesperrt, allerdings wurde es für mich noch peinlich, nicht nur, weil ich die Gerichtsverhandlung noch zu erwarten hatte; die Sicherstellung der Schreibmaschine war mit einer Hausdurchsuchung verbunden, zur Hausdurchsuchung waren zwei Zeugen vorgeschrieben, dazu holte sich Oberleutnant Rosenbaum, so wie es durchaus üblicher Praxis der Deutschen Volkspolizei entsprach, zwei fremde Zeugen von der Straße. Ich hatte noch Glück gehabt, dass bei mir im Haus zufällig alle ausgeflogen waren, gerade die alten Damen hätten sich über diese Chance, der Polizei helfen zu dürfen, sicher sehr gefreut. So lernte ich zwei Anwohner vom Steilen Berg kennen, die ich bisher nicht wahrgenommen hatte, die mich aber bereits vom Sehen kannten. Die Frau meinte noch: “Das ist ja gut zu wissen, wer hier wohnt.”
Im Beschlagnahmeprotokoll war mein eleganter Schreibtisch nicht erwähnt, zur Angabe des Fundortes stand nur: Stube, Schrägstrich, Tisch.
Berlin, Berlin…
Im Bauernklub, in Halle, in der Ludwig-Wucherer-Straße, spielte eine Band und so ein Dicker sang: “Mit der Reichsbahn nach Berlin, weil ich Berlin nun ‘mal so mag ...” Da freute sich die Ostbirne in mir. Im bekannten Originaltext des Liedes von Felix de lux, der in den Charts lief, hatte es noch geheißen: Im Taxi nach Paris . . .
Mag sein, mein Umzug nach Berlin war damals auch der Versuch, mich für den nicht genehmigten Antrag auf Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland zu entschädigen. Statt dem Erträumten versuchte ich das Machbare. Ich machte also: Mit der Reichsbahn in die Hauptstadt der DDR, wie es damals auf Wegweisern als Zusatz vermerkt war. Nur 17 Mark der DDR kostete die Fahrkarte, drei oder viermal mag ich die Strecke gefahren sein, Bücher und einmal das Radio in der Reisetasche, etwas Wäsche und Hausrat. Auf einem erweiterten Spaziergang war ich am Prenzlauer Berg fündig geworden, im dritten Hinterhof in der Lettestraße war eine Wohnung frei, wenn auch nicht leer, ich würde entrümpeln müssen, praktischerweise war die Tür unverschlossen. Ich kaufte mir im Kaufhaus Fix auf der Schönhauser ein Vorhängeschloss, heftete einen Zettel mit der Aufschrift Reserviert an und steckte für alle Fälle noch eine im Akzidenzsatz hergestellte Visitenkarte mit hallescher Adresse: “Steiler Berg 06” an die Tür.
Zwei Wochen später, als ich mit schwerem Gepäck anreiste, war noch alles unverändert und ich zog ein. Mein englisches Buffet, Teppich und Küchenschrank, allerlei Zeugs hatte ich in Halle gelassen. Sicher, ein bisschen mulmig mag mir gewesen sein, aber ganz ohne Risiko würde ich in der DDR nicht zu einer eigenen Bude in Berlin kommen, das war mir klar. Es gab ein großes Zimmer, eine Abstellkammer nutzte ich, um zunächst dort einen Teil des Mülls zu lagern. In der Wohnung hatte ich brauchbare Matratzen und ein Schrankoberteil gefunden, bald besorgte ich vom Sperrmüll einen kleinen Schreibtisch, Bilder wurden aufgehängt, im Kaufhaus Fix hatte ich eine kleine Kabeltrommel und Verlängerungsstecker bekommen. Ich kochte mir Tee, zündete Kerzen an, hörte Musik, staunte nicht schlecht über all die für mich neuen Berliner Sender, war endlich angekommen, fühlte mich wohl. Wie sehr genoss ich meine ersten beiden Wochen in Berlin. Ich war nicht nur in der Hauptstadt angekommen, auch ein anderer Traum hatte sich dadurch unversehens für mich verwirklicht: Ich war allein, konnte lesen, träumen, mit mir selbst sprechen. Meine alten Bekannten wussten nicht, wo ich war, und neue hatte ich noch keine gefunden —eine nicht so häufige Situation im Leben. Ich las eine Bismarck-Biographie von Emil Ludwig, genoss die schöne Sprache, den guten Briefstil des eisernen Kanzlers, die so gar nicht konservativen Eskapaden seiner Jugendjahre, sein Kokettieren damit, später ja immer noch auf dem Viehmarkt der leicht versoffene Baron von Kniephuusen sein zu können. Außerdem “Alexanders neue Welten” von Fritz Rudolf Fries und ein kleines Büchlein mit 750-Berlin-Gedichten anlässlich der 750-Jahr-Feier Berlins. Im dunklen Hinterhof störte mich fast niemand, außer mit dem Müllfahrer hatte ich mit niemanden gesprochen. Am Tage spazierte ich bis zum Märchenbrunnen oder fuhr mit der U-Bahn zum Alex, spazierte “Unter den Linden”, aber ich mied in diesen beiden Wochen jeden Kontakt, wie war ich doch “alleine mit mir im Reinen”.
Einer meiner Nachbarn klopfte: Ein netter Kerl, der eine Tasse Kaffee für mich gekocht hatte, mich kennenlernen wollte. Allerdings hatte er wohl von Wohnungsrenovierung andere Vorstellungen, er zeigte mir an meiner Tür, was Fäulnis und Schwamm alles zersetzt hatten, wobei er daran so herum knaupelte, dass sich gleich weitere Teile meines Eingangsbereiches lösten. Wir gingen paar Tage später auch auf ein Bier, saßen in der Laterne in der Dunckerstraße. So sympathisch er sich sonst auch gab, manövrierte er das Tischgespräch wiederholt auf die Problematik, was ich denn wann für Arbeit aufnehmen würde. Als ich ihm sagte, ich würde mich darauf freuen, dass bald die Sommerpause vorüber wäre und ich die Oper, das Deutsche Theater, die Volksbühne besuchen würde, entgegnete er: “Bis dahin kannst du noch einige Wochen arbeiten.” Sicher, ich hatte auch in Berlin meine Schreibmaschine aufgestellt, diese Art von Arbeit meinten die biederen Nachbarsleute allerdings nicht. Immerhin, die beiden blieben meine freundlichsten Nachbarn, darauf war ich angewiesen, ein Gang zum ABV oder zur KWV, der Wohnungsverwaltung, hätte für mich ein schlimmer Einschnitt sein können.
In meiner dritten Berliner Woche meinte ich ohnehin genug gelesen, tag-geträumt und ausgeschlafen zu haben, ich begann, mich mit dem Nachtleben und den Kneipen zu beschäftigen. Da gab es neben der Laterne beispielsweise das “Spreewaldeck”, wo bis nachts um drei Uhr Bier ausgeschenkt wurde, an einer weiteren, entlegeneren Adresse gab‘s Bier bis zum Morgengrauen, für DDR-Zeiten und mich Jungen aus der Provinz eine Sensation. Zu des Bürgers nachtschlafender Stunde, da ich nicht wenige Gläser gelehrt und der trunkene Silen durch den Irrgarten meines umnebelten Hirns taumelte, sprach ich gelassen und feierlich ein unvorsichtiges, wo nicht ein dummes Wort aus: “Kommt mit, ich lade euch alle ein! Fete!”, so hieß ja damals überhaupt das Codewort der Ausgeflippten.
Als guter Gastgeber, der ich sein wollte, hatte ich nicht nur paar Getränke gekauft, sondern auch meinen Gästen den Weg zur Außentoilette erklärt. Waren wir schon alle zu blau oder hatte ich nicht nachdrücklich genug erklärt? Zu vorgerückter Stunde benutzten sie nicht nur meinen Abort, sondern auch die Außentoilette eines weiteren Nachbarn, was ja an sich – so waren damals die Zeiten – noch kein Problem gewesen wäre. Während ich ein Gläschen trank und mich mit meinen Gästen, die ich kaum kannte, zu unterhalten versuchte, nahm das Verhängnis seinen Lauf. Die Toilette war mit Schwulen-Pornos tapeziert, woraufhin nun wieder einige der inzwischen reichlich Besoffenen vermuteten, ich sei so eine Art Perverser, der mit seiner Einladung üble Ziele verfolge. Am Morgen nach der Fete lernte ich einen weiteren Nachbarn kennen, will mal so sagen: Ich brauchte einige Zeit, um mir die Ursachen seiner Wut erklären zu können. Verkatert und noch restalkoholisiert, wie ich war, blieb mir nichts anderes übrig, als mit den gröbsten Reinigungsarbeiten zu beginnen: In der Kotze und der Pisse schwammen Schwulen-Pornos und ich schien schuld daran zu sein.
Ich beschloss, mich lieber nochmals nach einer leerstehenden Wohnung umzusehen, vielleicht eine mit weniger Gerümpel und einer nicht so verfaulten Tür, dachte ich. Wofür ich heute die Hilfe eines unbezahlbaren Maklers und mehrerer Kreditgeber bräuchte, das gelang mir damals auf einem kleinen Spaziergang nach dem Morgenschiss. Über den Platz und eine Straße weiter, in der Senefelder, Straße fand ich, was das Herz begehrte.
Mein Umzug war noch immer schnell gemacht, viel war nicht dazu gekommen, aber ein paar mal hatte ich doch zu laufen. Als ich das dritte mal an der Ecke vorbeimarschierte, an der sich die Nazi-Kids trafen, hörte ich etwas von der Erörterung, ob ich ein Spitzel sein könnte. Die staunten nicht schlecht, auf meinem vierten und letzten Gang bugsierte ich meinen kleinen Schreibtisch. Ich hörte deutlich die Worte ausgesprochen: “Das kann kein Spitzel sein.”
In der Senefelder bezog ich zwar nur ein sehr kleines Kämmerchen, aber die Wände waren baulich in Ordnung, im Zimmer gab es unter dem Fensterbrett ein Wandschränkchen, in der Ecke einen Berliner Ofen und in der Küche die sogenannte Kochmaschine, einen gekachelten Küchenofen mit gusseisernen Herdplatten. Ich richtete mir alles recht passabel ein, fühlte mich wohl — nur in der Küche gab es einmal einen großen Knall und ein Scheppern, mein selbst gebautes Küchenregal war zusammengefallen. Von solchen kleinen Pannen abgesehen, ging es mir gut. Wirklich erschrak ich, als ich ein leises Pochen an der Tür vernahm: Wer konnte das sein? - wieder einmal hatte niemand meine Adresse, meine flüchtigen Bekannten von der missglückten Fete hatte ich nicht wiedergesehen, noch verspürte ich meinerseits Bedürfnis danach. Vor der Tür stand mein neuer Hausverwalter. Er meinte am Ende unseres Gesprächs nur, er wollte schon immer ‘mal sehen, wie ein Schwarz-Bewohner aussieht und agitierte mich, mich ins Hausbuch einzutragen und bei der Meldestelle der Deutschen Volkspolizei vorzusprechen, was ich sogar machte.
War mit bangem Gefühl zur Meldestelle gegangen, aber der Polizist wollte weder Wohnraumzuweisung noch Mietvertrag sehen. Der Adressenvermerk wurde handschriftlich und mit Füller eingetragen, ich wurde gebeten, nach dem Eintrag auf dem Flur noch zu warten, bis die Tinte getrocknet sei, die war zu wässrig und sonst wäre alles verwischt. Gern hätte ich gepustet oder sonstwie eine Trockner gehabt, wer traute schon dem Frieden vor dem – wie fast immer mit olivgrüner Farbe angepinselten - Ölsockel eines Behördenflurs? Jetzt hatte ich es mit amtlichem Dienstsiegel bestätigt, ich war wohnhaft in Berlin
Im Kiez beguckte und bestaunte ich möglichst jedes Winkelchen, besuchte die Kneipen und Cafés, schrieb mich in der Bibliothek ein. Zwischen Göhrener Ei — so wurde eine oval gewundene Nebenstraße meiner unmittelbaren Umgebung genannt — auf der Dimitroff oder bis zum Café Mosaik an der Prenzlauer und natürlich auf der Schönhauser war ich sozusagen in die Besichtigung eines jeden Details vertieft. In den Mietshäusern lebten damals noch wirkliche Berliner, nicht nur Studenten und Künstler. In den Kneipen mischte sich die Ur-Bevölkerung mit uns Bohemiens und Spinnern, der Berliner Bär des Getränkekombinats, wie auf dem Bierdeckel abgebildet, das Tablett auf seiner Pfote, wurde unser allabendliches Emblem. Wer es etwas nobler wollte, in unmittelbarer Nähe gab es die Offenbachstuben mit Theater-Dekoration und Weinangebot. Am Wochenende konnte man im “Hackepter” auf der Dimitroffstraße bis früh um Drei Akkordeonmusik und Gesang von zwei alten Herren hören, bei höherem Alkoholpegel bekannte der Sänger: “Ich hab so Sehnsucht nachem Kurfürstendamm . . .” Bisschen weiter weg, in der Marienburger Straße, die legendäre Bodega, hier versammelten sich die Langhaarigen, die Blues- und Rockfans, zum Bier.
“Der Abendmensch ist eingepflügt” schrieb Jahrzehnte zuvor ein großer, wo nicht der größte in Berlin wohnende Dichter, Gottfried Benn. Auch wenn die Mauer stand, würde ich den Schatten seines Schönebergs und des Bozener Platzes noch zu sehen bekommen, sein Rezept kopierte ich ohnehin schon, ohne mir dessen bewusst zu sein; ich ging nach dem Schreiben ins Bierstübel: “Kastanienast auf dem Klavier, das Paar im Ansaugestadium.”
Ich habe solche “Eingepflügten” gesehen, so arme Menschen, die es nicht mehr lassen konnten, die jeden Abend ihre Füllung nahmen. Heute weiß ich, so schön eine Zechtour sein kann, so schlimm ist es doch, jeden Abend los gehen zu müssen; wegen des Entzugs und der Einsamkeit. Berlin war sicher auch die Hauptstadt der Zugereisten, jener unangepassten, die im kleinstädtischen oder dörflichen Milieu der Provinz nicht mehr zurecht kommen konnten oder wollten, hier konnten sie Punk, Gruftie, Schwuler, Langhaariger sein oder einfach nur da. Die regionalen Bindungen spielten allerdings unterschwellig immer mit, manchmal nicht eben wenig, es gab beispielsweise regelmäßige Treffen der Stralsunder, Stammtische der Thüringer usw.; aus einer gemeinsamen Stadt zu stammen, verpflichtete oftmals Leute zur Solidarität, die sich vorher nicht oder kaum gekannt hatten.
“Sag mal, du stammst doch aus Halle?”, meinte ein Zufallsbekannter zu mir. “Nichts für ungut”, fuhr er fort, nachdem ich das bejaht hatte. “Da kennst du doch auch einen Gert Sowieso. Wie es der Zufall wollte und weil Halle vielleicht wirklich ein Dorf ist, kannte ich Gert Sowieso. “Na hör mal, der hat bei uns gewohnt, ist mit in die Kommune eingezogen und nach drei Wochen war Gert auf einmal weg und unser Fernseher auch.”
Das kulturelle Berlin, auch das offizielle, besuchte ich allein, gesellig war ich nur als abendlicher Zecher. Die Luft klingelte voller Berlin in Berlin, italienische Abendsonne schwamm in einem Hauch zwischen Bode-Museum und Spree. In den Gruppen der Touristen versteckten sich Feen und der Alte Fritze stieg abends vom Sockel, um seine Windspiel-Hunde zu suchen. Die Nikolaikirche war aus ihrer Ruine wieder auferstanden und Fontanes Haus nachgemacht, mag sein, im Schatten einer größeren Nachahmung, Umbebauung, auch immer eines kleinen Architekturbetrugs verringerte das kaum die Freuden des Flaneuers. Nein, ich wollte in diesen Jahren bestimmt nicht zur Oppositionellengruppe vorstoßen, wollte keine Leiter an die Mauer stellen und vielleicht für ein paar Jahre in Bautzen verschwinden, dazu war alles viel zu schön. Selbst dem Palast der Republik konnte ich Angenehmes abgewinnen, wo gab es sonst selbst im Hochsommer eine so wohltemperierte Klimaanlage und außerdem vielleicht die einzige am Wochenende geöffnete Bankfiliale - Geldautomaten existierten damals für uns so wenig wie Funktelefone.
Meine Lieblingsarchitektur freilich sah anders aus, vernarrte ich mich doch geradezu in diesen kleinen Architekturtraum von Knobelsdorff, in die, wie man damals sagte: Deutsche Staatsoper Unter den Linden. Nichts vom sonst im Hohenzollern-Dom so zelebrierten schwerfälligen Stil des Wilhelminisch-Dekorativen, ein Sommertheater auf leichtem Füßchen. Der Bauzustand soll bedenklich, die Lichtanlage veraltet gewesen sein, aber davon wusste ich nichts und durfte nichts wissen wollen, wenn die Ouvertüre erklang, auch mir zum Fest. Wenn ich es auch damals vielleicht nur dunkel ahnte, es war ja doch eben nur eine Abzweigung, ein Seitenweg meiner Biographie, mein eines Jahr in Berlin, danach war mir die Heimreise nach Halle wichtig, jetzt, im Alter, werden wohl kaum noch wenige Tage flüchtigen Besuchs möglich sein. Die Schönheit dieser Abendveranstaltungen, die rauschenden Kleider der blumig duftenden Damen bulgarischer oder russischer Delegationen, genauso wie die eindeutig seltsam zackig auftretenden und schwarz gekleideten Jugendlichen auf dem Rang, die meinem Blick kaum entgehen konnten, alles das bildet noch heute eine bizarre Erinnerung an die Aufführung der Meistersinger.
Der im zarten Stuck von Knobelsdorff angedeutete Adler der Preußen war ebenso rokkoko-zart durch Hammer, Zirkel und Ährenkranz ersetzt. In dieser Zeit mochte es gewesen sein, dass ich eins begriff: Die offiziellen Bürokraten und der Apparat mochten mich nicht, aber: Andererseits war die DDR mein zu Hause, ihr Ideal war wirklich nicht meins, aber sie versuchten, wie ich, eins zu erreichen, sie glaubten. Manchmal, nur sehr selten, aber manchmal, als Leser von Bechers Sonetten oder im Postulat werktreuer Opernaufführung, in der Vorliebe, Puccini statt im Original mit deutschem Libretto aufzuführen, oder vielleicht während einer Rast in Treuenbrietzen oder wenn mein Zug von Oranienburg nach Neuruppin fuhr und im Lautsprecher der Deutschen Reichsbahn erklang die Stimme einer Waldbrandwarnung: “Achtung, Reisende, schützen sie
u n s e r e Wälder!”, also während all dieser Manchmal, die verwehten wie der Rauch herbstlichen Kartoffelfeuers auf abendlicher Scholle, hätte ich weinen können und glauben wollen, so wie sie glaubten, um ein zu Hause zu haben.
In den letzten Jahren war ich, wenn auch auf meine seitenverkehrte, diffuse Art auch in merkantiler Hinsicht gut zurecht gekommen. DDR-Bürger kauften gern ein, zumal alles interessant zu sein schien, das irgendwie rar war oder auch nur geringfügig vom gesteuerten Warenangebot der Republik abwich. Was mir im Literaturbetrieb bis heute nicht gelang, das war da auf einmal problemlos möglich, “kein Thema”: Ich verdiente klingende Münze, es ging seinen sozialstischen, ach nein, in meinem Falle, eher seinen sub-kapitalistischen Gang. Irgendwann hatten mir, noch in Halle, Bekannte vorgeschlagen, aus Vogelfedern und Zahnspangendraht Ohrringe zu bauen. Ich hatte mir also eine Eintrittskarte für den Zoo gekauft und sammelte an der Voliere die exotischsten Federn auf und im Dental-Depot Krüger stellte ich mich neben der Zahnarzthelferin an, um den biegsamen und für das Ohr gesunden Edelstahl zu ergattern. Da bedurfte es nur noch einer Zange und etwas Phantasie, schon konnte ich meine Ohrringe auf Samt auslegen und auf dem Boulevard in Halle an der Saale den fliegenden Händler spielen. Mein Modeschmuck fand reißend Absatz und es machte darüber hinaus Spaß, dass mich manche der Passanten für einen Bürger der Förderativen Sozialistischen Republik Jugoslawien, einen Roma oder von ähnlicher Herkunft hielten. Nur die Bullen, Abteilung Inneres usw. fanden meine Initiative alles andere als spaßig. Sie war denen einen Einsatz der K, Verhöre und Protokolle wert. In Berlin war die Masche mit den Ohrringen längst passé, aber die Grundidee, mit wenig Zeitaufwand was zu improvisieren, das dann meine Ausgaben im Kaffeehaus oder der Oper deckte, behielt ich bei und die Augen offen.
In so diversen Geschäften befand ich mich auch, als ich von Berlin nach Leipzig fuhr. Mir ging es gut, die Sonne schien und ich genoss es, mal wieder in Leipzig zu sein – Halle dagegen ließ ich damals bewusst außen vor. An der Thomaskirche vorbei bummelnd, sprach mich ein alter Bekannter aus Halle an: Rainer von Hammer. Rainer kannte ich damals allerdings noch unter seinem bürgerlichen Namen, er hatte sich in den letzten Monaten der sozialistischen Republik, im drunter und drüber des Desasters, durch einen kleinen Trick, eine Heirat, noch ganz feudal mit einem Adelsprädikat versehen lassen. Rainer erzählte ich damals, dass ich nicht mehr in Halle wohne, nur kurz in Leipzig sei und so weiter. Wir kamen ins Gespräch und kurz entschlossen wurden wir darüber einig, dass Rainer, der selbst vor Jahren in Berlin gelebt hatte, mich auf der Rückfahrt begleiten würde. Schon in Leipzig hatte er mir, wenn auch spaßhaft und im Plauderton, in den Ohren gelegen, er kenne da eine Frau, die sei wie für mich geschaffen und gerade frei, er würde uns bekannt machen. Eigenartig, aber es funktionierte, ich war bald wie von Sinnen. Sie trug einen Ohrring, eine besonders schöne, kunstgewerbliche Arbeit. Wenn ich in meinem Berliner Zimmer am weißen Schreibtischchen saß, verließ ich die Traumwelt meiner Buchstaben, die mir nunmehr prosaischer Rest schien, wenn auf dem Hof nur ihr Glöckchen erklang - ihr Ohrring klingelte unter wehenden, dunkelblonden Haaren. Eine schlanke junge Frau, sie war hübsch und sanft…
Die Schöne mit den rehbraunen Augen, nennen wir sie Lina, folgte mir fortan auf dem Fuße. Wir wohnten bei mir, gleichwohl mein Zimmerchen nur drei mal vier Meter maß, auch die Küche kaum mehr als eine etwas größere Schachtel war. Lina war nicht nur meine damalige Liebste, sondern auch eine gute Gefährtin, freilich heute würde man populär-soziologisch sagen: Wir klammerten. Nach dem Erwachen frühstückten wir gemeinsam oder besuchten manchmal eine der Imbissstuben im Viertel, im Kiez. Unser Tischchen war gut gedeckt — in Berlin gab es immer diesen runden, leckeren Frischkäse und Joghurt, freilich nur eine Sorte, Himbeerjoghurt. Nachmittags bummelten wir irgendwo zwischen Dimitroffstraße und Boxhagener, also meist am Prenzelberg oder in Friedrichshain herum. Bevor wir uns kennenlernten, war Lina ihrer Arbeitsstelle für einige Zeit unentschuldigt fern geblieben, hatte vorher eine Krankschreibung – hierbei den vom Arzt zugebilligten Zeitraum der Arbeitsbefreiung verlängernd – verbessert, was ihr das Gericht als Asozialität und Urkundenfälschung auslegte und mit einer Haftstrafe quittierte. Sie hatte in den letzten Wochen vor unserem Kennenlernen bemerkt, dass der ABV Erkundigungen einzog und sich für sie interessierte, was unserer Zweisamkeit von Außen sicher einen gewissen, pragmatisch gesehen nicht so ungünstigen, festigenden Druck verlieh. Später stellte sich ihre Vermutung bezüglich drohender Maßnahme als übereilt heraus, wir zogen gemeinsam in ihre Wohnung ein, die etwas größer war, jetzt hatte ich ein kleines Arbeitszimmerchen für mich. Wenn ich früh zum Bäcker oder zum Konsum ging, sah ich an einem Absperrgeländer die Posten vor der Mauer, nur wenige Meter vor dem antifaschistischen Schutzwall kaufte ich ein. Lina las die Romane von Knut Hamsun (für mich als bekennenden Städter eine Zumutung) und sie zeichnete, wobei sie Graphiken mit geometrischen Mustern, etwas an Bauhaus erinnernd, mit Porträtzeichnungen kombinierte. Meine Partnerin blieb ein echtes Kiez-Kind, sie bewegte sich am liebsten zwischen Kopenhagener und Prenzlauer Allee, vielleicht noch ‘mal ins Kino Babylon, meine Ausflüge ins Bodemuseum, an die Spree und ins Nikolaiviertel, zum Berliner Dom, zum für mich schönsten Areal Berlins, dem Gendarmenmarkt, oder abends ins Berliner Ensemble oder ins Deutsche Theater, musste ich zumeist allein unternehmen.
Im Deutschen Theater sah ich Kurt Böwe in dem Schauspiel “Sturmgeselle Sokrates” von Hermann Sudermann. Das Stück zeigte einen Verein von Verschwörern der Achtundvierziger Revolution, dessen Mitglieder sich immer noch im Hinterzimmer einer Gastwirtschaft trafen und dort ihre Versammlungen abhielten, Reden schwangen und Geselligkeit pflegten, aber wenn da noch ein Umsturz stattfand, dann höchstens der versehentliche eines Biers oder eines torkelnden Zechers. Der Zahnarzt, den Kurt Böwe so eindrucksvoll gab, erlebte den Verrat einstiger politischer Weggefährten, die mit Auszeichnungen – verliehen vom Politiker, den sie vormals auf dem Papier zum Tode verurteilt hatten – längst im Kaiserreich Karriere gemacht hatten. Die Desillusionierung eines Bürgers, dessen Ideale längst pervertiert waren. An einem der Abende hatte Lina meinen Zettel nicht gefunden. Als ich nach meinem Theaterbesuch im “Spreewaldeck” am Biertisch erschien, saß sie da mit einem Typen, der reichlich baggerte.
Auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof beeindruckte mich das Fleckchen Erde über der Asche des Dichters Erich Arendt, eine Südsee-Muschel kündet am Grab vom überseeischen Territorium seiner Dichtung. Die lebenden Dichter hingegen traf ich nicht, auch wenn ich ab und an im “Mosaik” oder im Wiener Cafe vorbeischaute. Weder Schedlinski, noch Papenfuß lernte ich kennen. Wenige Ausnahmen: mein ehemaliger Nachbar Deltlef Opitz nickte mir zu, als ich ihn im Wiener Café, Kurzbezeichnung WC, plaudern sah und an seinem Tisch vorüber schritt. Ob Berlin oder nicht, wirklich dazu gehört habe ich nie und es geschafft . . . nein, natürlich nicht. Es gab einen einzigen Kollegen, mit dem ich mich unterhielt, der meine Lesung im Literaturclub der FDJ besuchte, den ich in der “Laterne” und anderswo traf, der mir Gesprächspartner blieb: der Schriftsteller und Literatur-Kabarettist Matthias “Baader” Holst, Baader genannt, den ich schon in Halle während seiner Arbeitszeit im Zeitschriften-Lesesaal der Universitäts- und Landesbibliothek besucht hatte. In Berlin wohnte Baader in der Eberswalder Straße, in der Nähe des öffentlichen Badehauses. Ich erinnere mich, dass ich einmal eine Flasche armenischen Kognaks der Marke Bjelui Aist (Weißer Adler) gekauft hatte, die wir bei mir in der Senefelder Straße austranken. Wir waren Freunde, ich freute mich ihn zu sehen, allerdings verschwimmt mir jener Abend im Nebel, er sprach wohl über den Dichter Paul Celan, dessen Werk er oft gelesen hatte und den er sehr verehrte. Baader mochte es nicht, wenn ihn die Leute nur als Klamauk missverstanden, nur die Gags sahen und, wie er mir versicherte, er war mit seinem Spitznamen einverstanden, weil er dabei an den Dichter und Dadaisten Johannes Baader dachte und nicht an den Terroristen, was die Leute in der Szene sicher nicht so interpretierten. Gern würde ich jetzt etwas anderes schreiben, aber dass es ihm nicht gut ging, er nicht nur über wenig Geld verfügte, sondern manchmal auch hungerte, hatte mir der Dichter verschwiegen und ich habe es nicht bemerkt, ich, der ich mit dem Taxi zu Bars und Kneipen fuhr. Statt dessen erzählte er mir, was damals in Berlin Legende war, wie er zu einer Veranstaltung des Henschel-Verlages, als deren offizielle Lesung aus organisatorischen Gründen ins Stocken gekommen war, in der Volksbühne einfach aufs Podium gesprungen war und aus seinen Werken vortrug. Als er ein paar Wochen später wieder zu einer Veranstaltung erschien, stellten die ihm in Aussicht, bei der geringsten Wortmeldung die Polizei zu rufen. Am Tag der Währungsunion, am 03. Juli 1990, ich wohnte da längst in Laatzen bei Hannover, stolperte der Dichter Baader in der Eberswalder Straße und verletzte sich, so hörte ich, am Spiegel einer Straßenbahn. Von den durch den Unfall zugezogenen Verletzungen erholte er sich, auch aufgrund mangelnder Ernährung und schlechter physischer Konstitution, nicht mehr und verstarb.
Andere Weggefährten und Zeitgenossen aus Berliner Tagen verlor ich aus den Augen. Aus Halle an der Saale kam mein ehemaliger Nachbar aus der Wolfstraße, schon damals nicht mehr der jüngste, Herr Drechsel - von uns, vielleicht nicht gerechtfertigt, nur der Wichtel genannt - nach Berlin. Als ich in der Wolfstraße gewohnt hatte, war mir der bärtige, freundliche ältere Herr aufgefallen, der vor dem Haus an seinem Wolga schraubte. So ein Auto, auch wenn es die ältere Ausführung war, fuhr man als Privatperson eigentlich nicht. Wichtel ließ sich nicht beirren, aufgrund eines Engpasses in der Ersatzteilbeschaffung überklebte er einen Kotflügel mit Stanniolpapier, ständig lagen Elektrokabel herum, weil er die Batterie auflud und ein zweiter Wolga, ein Wrack, stand als Ersatzteilspender vor dem Haus. Zum großen Eklat kam es aber, als die Genossen sein illegales Benzinlager in unserem Wohnhaus entdeckten. Wichtel, für uns damals ein eher harmloser Spinner und Phantast, wurde mit Verfahren und Auflagen nur so überzogen, also wich er nach Berlin aus. Später erfuhr ich, er sei vor seinem gesellschaftlichen Absturz einst ein guter Ingenieur gewesen, der viele Ideen in Verbesserungs- und Neuerervorschläge einbrachte, allerdings voller Übereifer und Nörgelei, so dass die zuständigen Genossen in ihm bald nur noch den Querulanten sahen. Dieser in Halle eher vertrottelt wirkende, harmlose Bastler, der bei mir im Hinterhaus gewohnt hatte, tauchte nun in Berlin auf. Wichtel war nicht wiederzuerkennen, sein Äußeres erinnerte an Theodor Däubler, er sprach in der Gethsemane-Kirche und in der Zionsgemeinde, immer von einem Schwarm ihn bewundernder junger Leute umgeben, die jedem seiner Worte andachtsvoll zu lauschen schienen. Ich selber traf ihn in der Helmholtzklause, ganz in der Nähe meiner ersten Berliner Wohnung. Wir unterhielten uns freundlich und nahmen auf den Holzstühlen vor der Eck-Kneipe bei einem Bierchen Platz. Was mir unvergessen bleiben wird, plötzlich unterbrach Wichtel seine Rede mitten im Satz: “Sie entschuldigen mich mal bitte, Herr Leisering, da drüben kommt mein ABV.” Wichtel schritt zur Toilette, der Polizist auf seiner Patrouille vorbei, ein paar Minuten und wir konnten unser Gespräch ungestört fortsetzen. Wichtel ist mir immer als freundlicher Gesprächspartner und guter alter Nachbar in Erinnerung geblieben, auch wenn wir uns politisch voneinander entfernt hatten, denn er war in der Auswahl seiner Freunde nicht wählerisch, so lange sie nur kontra DDR agierten. Wenn ich den Löwen jage, vergeude ich keinen Schuss auf den Fuchs, soll er geantwortet haben, als ihn ein Diskutant in der Zionskirche nach seiner Meinung zum rechten Rand befragte. Etwa ein Jahr nach dem Ende der DDR sah ich Wichtel im Reisezug zwischen Berlin-Schönefeld und Berlin-Schöneweide wieder, er sammelte die leeren Flaschen ein. Wir sprachen kurz miteinander, er wohnte wohl bei einer älteren Dame in Westberlin.
Meinen Berlin-Aufenthalt beendete ich selbst, noch ehe das über mich verhängte Berlin-Verbot, von dem ich erst viel später und nebenher während des Gesprächs mit einem Major der Grenztruppen erfahren sollte, hätte umgesetzt werden können. Den Rest kennt jede und jeder selbst, dazu braucht‘s nicht Berlin , das geht auch in Dessau oder Posemuckel: Ich war überflüssig geworden, der Dichter aus der Provinz wurde nun vom Mädchen aus dem Kiez als Beziehungs-Müll entsorgt. Wie geradezu spielerisch leichtfüßig so etwas damals funktionierte, kann ich heute selbst kaum glauben. Der Balkon ihrer Wohnung befand sich in einer jener Straßen, die nach dänischen, norwegischen oder schwedischen Städten benannt waren, fernen Koordinaten des NSW, wie es damals hieß, des nichtsozialistischen Wirtschaftsgebietes — also für den nicht-privilegierten Zoni unerreichbar fern, genau so fern wie die Häuser Westberlins, die von Linas Balkon aus gut zu erkennen waren, zwischen den Übergängen Bornholmer und Brunnenstraße. Auch mein alter Bekannter Vischering hatte einst auf diesem Balkon gesessen und, was ja damals verständlich, pathetisch verklärte Hommages an die Straßenzüge des westlichen Stadtteils gegenüber vom rhetorischen Stapel gelassen. Was Wunder, wir glaubten damals noch an die Glocken vom Schöneberger Rathaus und die freie Stimme der freien Welt. War schon lustig, wie Vischering sein Credo mit dem Refrain Go west! wiederholte, bis wir bemerkten, dass er in beginnendem Rausch in Richtung der durch eine Mauer abgetrennten S-Bahn-Trasse der Strecke von Schönhauser nach Pankow zeigte. Auch ich interessierte mich in den Tagen der Trennung weniger für Westberlin, sondern guckte Richtung eines Turmes der eher hässlichen Gründerzeitfassade hinter dem S-Bahn-Gleis. Ein guter Zeitplan war jetzt angesagt, wusste ich, weil das entscheidend dafür war, ob wir Bücher und wenige persönliche Gegenstände gemeinsam einpacken würden, oder ob ich vielleicht nachts auf der Treppe mein Notgepäck aufsammeln müsste. Ich ging ‘rüber zum Priester – Protestantismus hin oder her – er war einfach die nächsterreichbare Anlaufstelle. Der liebenswürdige Diener des Herrn stellte keine weiteren Fragen, sondern lieh mir seinen Handwagen. Ich fuhr unterm Magistratsschirm durch, quer über die Schönhauser, rüber in die Stargarder, noch um zwei Ecken und, nur zwei Tage mochte ich gebraucht haben, da war mein Schuhkarton, mein Berliner Zimmer, wieder eingeräumt. Lina half ich noch, in dem ich ihr ein Schloss in die Wohnungstür einbaute und das, obwohl ich mich selbst nur als Ungeschick kannte. Auch der Umgang mit Farbe und Pinsel, außerhalb von Aquarell oder Gouache, gehörte nicht gerade zu meinen Lieblingsbeschäftigungen, dennoch entschloss ich mich damals, meine Küche zu malern, rührte schneeweiße Farbe an, das Radio spielte, ich pfiff mir eins . . .
Die hässlichen Tapetenmuster konnte ich mit meiner geleimten Wandfarbe ganz gut übertünchen. Selbst sah ich mir zu, wie ich den Pinsel fallen ließ. Ich kaufte mir zwei Flaschen Bier und rannte zur S-Bahn nach Schönefeld, nach Schönefeld und zum Zug nach Halle an der Saale.
Kühlschrank auf dem Ast
Fachwerkhäuser wirken auf mich beruhigend. Meine Freundin Britta hatte mir angeboten, in eine Wohnung im Haus ihrer Oma zu ziehen. So ein kleines Hutzelhäuschen, das sich zwischen andere Häuschen schmiegte, die links und rechts davon standen längst leer, waren unbewohnbar. Eine Schlippe führte zur Marthastraße, die nächste zum Sargdeckel und zur Luckengasse, wo ich damals mit meiner Liebsten im Versteck gewohnt hatte. Daran dachte ich freilich fünf Jahre später nicht zu oft, wer in der Gegenwart lebt, dem wird das Verkapseln von Gefühlen und Erinnerungen Selbstschutz. Das Anwesen war zweigeteilt, während ich vorne auf die August-Bebel-Straße schaute, den Proben und Aufführungen der Oper lauschen konnte, war hinten, am Eingang zur Marthastraße die Küche meiner Hauswirtin. Wie oft habe ich an manchem Wintertag gesessen, war ich eingeladen gewesen zum Kaffee oder auf einen Teller Suppe. Mochte es stürmen und schneien, im feuchten Lehm des Hauses an feuchter Schwachstelle Frost glitzern, bei Oma Riedel packte noch jeder Gast schleunigst Mütze und Mantel zur Seite, es glühte der Beistellherd, Oma hatte immer bullig eingeheizt. Oma Riedel hätte bestimmt nichts von den Ideen der Beatniks und ähnlichen spinnerten Typen gehalten, dabei praktizierten wir in gewisser Weise längst, was diese oft vergeblich versucht hatten: Kommune mit Abstand. Über den Hof musste ich eigentlich fast jeden Tag, schon weil die Toiletten dort unten waren, natürlich gab es Zeiten, in denen ich bei Oma Riedel klopfte oder hineingebeten wurde und vergingen andererseits oft ein oder zwei Wochen, in denen ich die Oma und in denen ich auch meine Freundin Britta nicht sah und das nicht nur deshalb, um gewisse Probleme nicht auszudiskutieren. War es wirklich nötig, dass du dich in Berlin in der Küche meiner Freundin, während ich neben dir stand, splitterfasernackt zur Morgenwäsche ausgezogen hattest?, hätte ich beispielsweise fragen können. Bedeutet Erotik nicht eigentlich das Ende unserer Freundschaft. Warum machst du mir ausgerechnet dann schöne Augen, wenn ich ausnahmsweise ‘mal in so etwas ähnlichem wie einer festen Beziehung bin?, hätte ich nicht fragen sollen, sondern müssen. Damals zu schüchtern und zu verklemmt, überging ich solche Problematik, dabei war ich nicht nur längst verliebt, ohne es zu wissen. Des Weibes dunkler Hang zum zerstörerischen, das dämonische Grinsen Liliths, wenn sie, deren Augenaufschlag Waffe, deren Stiefelklacken Dynamit bedeutet, so etwas wie ein ihr verdächtig langweiliges, spießiges Pärchen sieht, darüber hätte ich diskutieren sollen, um nicht über den Rand des Buches hinaus, aber voll in meine Biographie hinein, schutzlos und blöde zu starren, wozu das Weib so fähig ist, wie natürlich auch der Mann, wenn dunkler Eros uns in Tiere verwandelt.
Die Oma würde nicht so viele Nuancen nutzen wollen, klopfte sie doch mal, wir saßen ins Gespräch versunken auf dem Sofa. “Wen sehe ich denn da, ein Ehepaar”, brachte sie uns in Verlegenheit, auch weil ich mich meistens hübsch brav verhalte, denn ich bin — wie das im Jargon der Psychiater heißt — verhemmt. Oma Riedel traf ich oft in der Stadt, dabei nicht immer in aller Öffentlichkeit. Wenn mein Geldbeutel nur noch kleinere Münzen enthielt, guckte ich gern ins Espresso am Steintor. Hier war Selbstbedienung, der Kaffee kostete nur fünfundsiebzig Pfennig, man konnte schon einige Zeit am mit schwarzem Kunstleder bezogenen Tisch sitzen, dösen oder plaudern. So ein Aufenthalt im Café war für mich immer wie Kommata im Texte des Tages, hin und wieder traf ich sie, so auch im Espresso am Steintor, andere sagten wegen der Nähe zur Anatomie und der deshalb hier verkehrenden Studenten Ana-Café dazu. In einer etwas nachgedunkelten Vitrine lag hier auch das klassische Kuchensortiment aus, das für die HO-Gastronomie der Republik typisch war. Falls wer beim Kuchenessen gleich satt werden wollte, ein großer, krümliger, knuspriger “Bobbes” war immer dabei. Nein, ich bin kein Gourmet, ich schwärme für Bobbes oder Quarktasche und nicht zu starken Kaffee, in dem ein paar Krümel Zichorie sein dürfen. Wenn ich nach nebenan auf ein Mittagessen in die HOG “Deutsches Haus” oder übers Steintor um die Ecke ins Turnerschlößchen ging, entschied ich mich sicherlich für Mischgemüse und Bouletten mit Sauce, versehentlich Beafsteak genannt. Falls die Küche gleich “aus” war, würde ich nicht “Der Gast hat das Wort” verlangen, sondern nach einer Soljanka fragen – na ja, ich bin nur ein Zoni, das ist nicht originell formuliert nach den Fluten Befindlichkeitsliteratur, aber so ist das nun ‘mal mit mir. Die Oma sah ich nicht nur im Steintor-Espresso oder abends im Kreis der Freunde auf der Bierbank im Sargdeckel, noch ein anderes gemeinsames Hobby verband uns: Meine Hauswirtin guckte genau wie ich gerne in alten Buden herum, was die Leute so hatten stehen lassen oder hineingeschleppt, ob Geschirr, Wäsche oder ein alter Besen, irgendwer konnte immer was gebrauchen. Einmal sah ich die Oma mit einem Messer und ‘ner Plastetüte bewaffnet um die Ecke biegen. Wohin geht der Weg, dachte ich und brauchte nicht lange Ausschau zu halten, an der nächsten Ecke bog Brittas Oma ein, rammelte das Messer in an der Baustelle gestapelte Zementsäcke und füllte sich, hast du nicht gesehen, ihren Teil ab — Baumärkte gab es nicht, sondern eine Baustoffversorgung, da waren frei gelagerte Zementsäcke ohnehin noch ein kleines Wunder. Zu reparieren gab es im alten Haus natürlich immer was, Oma war es, die Zement und Sand im Bottich mischte und an meine Tür oder die ihrer Enkelin Britta klopfte, damit wir ‘mal herauskommen, mit anfassen. Das erste und einzige Mal in meinem Leben habe ich so Stein auf Stein eine kleine Mauer gebaut. Herbert Riedel, ihr Mann, war in der Gegend sehr beliebt gewesen, hatte eine eigene Tischlerei betrieben, auch der historische Sargdeckel und besonders die Bierbänke und Ausbesserungen an den Tischen waren seine Arbeit. Öfter erzählte er die Anekdote, wie er mit Rolf Valerius, dem Wirt der Martha-Klause, die wir damals schon nicht anders als Sargdeckel nannten, die Renovierung vereinbart hatte. Rolf übergab also an Herbert die Schlüssel, sie besprachen noch einige Details bezüglich der Renovierung und Rolf setzte sich in seinen weißen Lada, brauste nebst seiner Gattin Bringfriede ab in den Urlaub. Herbert und seine Kumpels begannen ganz normal mit der Arbeit, bis einer am Zapfhahn probierte: Der fürsorgliche Rolf hatte das Fass halbvoll gelassen (für die späten Leser meines Buches: Das beliebte volkstümliche Getränk Bier war damals viel preiswerter und die Haltbarkeitsdauer andrerseits zu gering, um so eine Zeit wie den Sommerurlaub des Wirts zu überstehen).
Ja, auf solch legendären Baustellen war der Tischlermeister dabei gewesen, hatte manchen Hobel geschwungen, aber leider unterlassen, die Holzbalken seines eigenen Häuschens mit Terpentin zu tränken, um die Balken des Fachwerks vor dem Holzwurm und anderen Schädlingen zu schützen. An manchen Stellen waren die Balken wie Stroh, der Lehm im Fachwerk wie Brei, jedes Kleinkind konnte den Daumen ‘rein drücken. Trocken und irgendwie beeindruckend hingegen das Tonnengewölbe des Kellers, auch auf dem Dachboden sah ich nur trockenen Staub. So ein Haus lebt weiter, auch wenn die Ingenieure und alle Berechnungen es längst totgesagt haben, alte Lehm- und Fachwerkbauten sinken langsam, es sei denn, man reißt Nebenhäuser ab und Lehm, der zweihundert Jahre trocken stand, wird nass. Das alte Haus in der Marthastraße behält, wie auch die von mir erwähnte Kostbarkeit an der Spitze 37, mit jenem Haus gute Nachbarschaft, das der Dichter Uwe Gressmann anrief in seinem Gedicht Trost: “ . . .weine nicht./ Altes Haus, ich/ Bleibe noch.”
Meine Wirtsleute, die Großeltern meiner damaligen Freundin, also Hilde und Herbert, waren in der Nachkriegszeit aus der Altmark nach Halle gekommen. Unmittelbar nach Kriegsende hatte die sowjetische Kommandantura Opa Riedel als Bürgermeister von Arendsee eingesetzt, wenn ich die alte Familiensage richtig verstanden hatte, war Herbert Kommunist gewesen und, was seinerzeit als wichtige Qualifikation gegolten haben mochte, er verstand es, mit den Russen zu saufen. Irgendwann müssen aber selbst diese beachtliche Fähigkeiten nicht ausgereicht haben und noch die Eltern von Hilde kauften das kleine Anwesen in Halles Innenstadt, welches ich dann, vier Jahrzehnte später, als eines der wenigen bewohnten sah, während ringsherum schon viele Häuser leer standen oder abgerissen waren. Besonders die kleineren, aber auch zwei größere Jahrhundertwendemietshäuser und ein Speicher, der noch vom Landestheater bzw. der Oper genutzt worden war, mussten weichen. Ein Jahrhunderte altes Haus gilt in Halle an der Saale nicht viel, ganze Barockstraßen habe ich wie von Barbaren zerschlagen gesehn, ob vor oder nach der Wende, Achtung vor den vier bis fünfhundert Jahre alten Häusern der Vorväter blieb rar, Denkmalschutz galt oft nur für die Fassaden der Gründerzeit, vor denen schwärmen dann Touristen und die kürzlich Zugezogenen vom Charme der alten Stadt.
Fassaden alter Häuser kannte ich, aber auch junge Ehen lebten von Fassade und Verborgenem dahinter, wie ich verstehen lernte: Britta hatte in einer uns immer glücklich erscheinenden, aber nicht glücklichen Ehe mit unserem Kumpel Karl-Heinz Mohr gelebt. Den Karl-Heinz verschwieg Mohr gerne, nannte sich Charly, wenn er zu vorgerückter Stunde das Lied von der alten Ziegelsteinkirche oder Pannach und Kunerts: “Ach könnt ich auch ihm eine Sonne bau’n, eine Sonne, die unter die Haut geht, etwas rau, so wie die Stimme von Bob Dylan” sang, dann waren besonders die jungen Mädchen vom Gitarrero mit den langen schwarzen Haaren wie verzückt. Mohrs, beziehungsweise Charlys, Repertoire ging über eine Handvoll Songs nicht hinaus und Noten konnte er keine lesen, brauchte auch nicht, er hatte den richtigen Touch. Mohr hatte, wie Britta, wie deren Schwester und so viele andere von einem Antrag auf Ausreise gesprochen. Nach einem Kneipenabend, ich war schon übel angezecht, setzten die beiden mich im Büro des Studentenpfarrers vor die Schreibmaschine und ich schrieb ihnen den Ausreiseantrag, weiß noch, wie ich mich zusammenriss, trotz meines Suffs keine Fehler machen wollte. Laut Mohr eilte es und ich wollte ihm in so einer wichtigen Angelegenheit meine Hilfe nicht verweigern, wir armen Schreiber haben ja oft für zwei, drei Bier oder so Anträge, Behördenschreiben und andere Briefe für die formuliert, die das nicht konnten, weil sie Lesen und Schreiben fast wieder verlernt hatten oder unter Lese-Rechtschreibschwäche litten.
Britta brachte ihren Antrag auf Ausreise zur Post und stellte sich damit allen Prozeduren und Repressalien, Charly hingegen meinte wohl, sich anders entscheiden zu müssen, er schickte seinen Antrag nicht ab und setzte Britta von diesem Rückzieher niemals in Kenntnis. Nicht, dass ich darüber urteilen wollte, in Sachen persönlichen Kleinmuts, Feigheit, Angst und Rückzieher müsste ich ein eigen Liedchen singen, wie man so sagt, mich selbst an die Nase fassen, aber meine Freundin Britta litt sehr darunter.
Als sie noch mit Charly zusammen wohnte, klingelte eines Tages die niedlichste Besucherin bei mir, die ich jemals zu Gast hatte. Wen kann so eine Klingel nicht alles durch ihren schrillen Glockenklang ankündigen, den schon am hellerlichten Tage sternhagelvoll gesoffenen Kumpel etwa, das ungestüme Klingelzeichen und Dreschen ans Brett natürlich die Bullen, das schüchterne Klingeln (damals, vor Jahren meine ich) eine geliebte Frau - aber dieses Klingeln war mir neu, auch der Dialog, den ich zufällig hörte: “Tante, drück ‘mal da oben auf die Klingel, so hoch komme ich nicht.” Vor meiner Tür stand Brittas kleine Tochter Maria, die mich besuchen wollte. Mit kleineren Kindern hatte ich überhaupt keine Erfahrung, die letzten kleinen Kinder, die ich kennengelernt hatte, waren meine Geschwister, die letzten Berührungen mit Kindheit die eigene gewesen. Ich hatte noch an mir selbst zu arbeiten und Kinder wären nichts für mich, ohnehin unnötig, Menschen gab es genug.
Mir blieb gar nichts anderes übrig, als meine kleine Besucherin wie jeden anderen Gast zu behandeln, natürlich unter Weglassung des Rituals, Alkohol und Zigaretten anzubieten. Nach der Begrüßung meinte die kleine Marie: “Eigentlich könntest du mir ja eine Suppe kochen, aber das kannst du sowieso nicht.” Da ich so einen Vorwurf natürlich nicht auf mir sitzen lassen wollte, öffnete ich die mit Eierteigwaren angereicherte, beliebte Tütensuppenmischung ungarischer Art, verrührte dieselbe mit Wasser, drehte nach dem Aufkochen auf kleine Flamme und zeigte mich auch nicht so knauserig, nicht noch einen Klacks Butter zum Einrühren bereit zu halten. Da Marie mich doch recht auf Trab hielt; ich suchte nach Malstiften, drehte eine Musik im Radio an, köchelte das Süppchen, das ich sonst immer dreieinhalb Minuten nach Aufreißen der Tüte serviert hatte, dreißig Minuten vor sich hin, bis es quackerte und sich butterweich dünstete, weshalb die Kleine meinte: “Du kannst es doch.” Wir schieden wie gute Freunde und ich wunderte mich doch etwas, dass das kleine Vorschulkind immerhin etwa einen Kilometer allein durch die Stadt getappelt war, mich zu besuchen und bei mir auf Verdacht auf die Klingel drücken zu lassen. Selbst für mich, der ich selber die Dinge des Alltags eher salopp handhabte und, wie gesagt, von Kindern nichts verstand, dämmerte doch, dass da möglicherweise etwas nicht stimmte. Nein, ich ging nicht zu Britta, um kontrollierende Fragen zu stellen und natürlich ging ich auch nicht - wie niemand der ein Freund oder wenigstens ein Kumpel war - zu irgendeiner Art von Fürsorge, weil diese Einrichtungen, wie man wusste, die Hilfe immer mit einer Strafmaßnahme kombinierten. Bei der Tante von der Fürsorge und auch beim Rat des Stadtbezirkes, Abteilung Inneres, waren aber schon die Nachbarn vorstellig geworden. Sie gaben zu Protokoll, das kleine Mädchen gesehen zu haben, wie es Mülltonnen, offensichtlich nach Essbarem suchend, durchstöberte und auf Befragen geantwortet hatte, die Mutti schlafe noch.
Was habe ich zu jener Zeit wohl gemacht? Gedichte geschrieben, auf ein Bier gegangen, Peter Hille gelesen oder ins Kaffeehaus werde ich gegangen sein. Britta lebte nach ihrer Trennung von Karl-Heinz Mohr alias Charly, mit Wogatzki zusammen, einem pragmatischen, rotbäckigen Gesellen - der Bücher und klassische Musik für Spinnerei und Intellektuelle und Künstler erst recht für Spinner hielt, aber – wie Mohr es ‘mal ausgedrückt hatte, in die Welt passte. Wogatzki wusste immer, wo kein Licht mehr brannte, weil wieder welche ihr Glück als Botschaftsflüchtling oder sonstwie versucht hatten, er guckte dann in den Wohnungen ‘mal nach, sortierte das Silberbesteck aus, das die meisten vergaßen, wenn sie die Schmuckschatulle für die Ausreise einräumten und, um es mit seinen Worten zu sagen; er war sich nicht zu fein, sich einen Kühlschrank oder Fernseher auf den Ast zu klemmen, wie er den durch eigene Körperkraft bewerkstelligten Abtransport solcher Gegenstände nannte. Die Fernseher und Kühlschränke brachten ihm Knete und außerdem kellnerte Wogatzki am Wochende in einer beliebten Ausflugskneipe am Stadtwaldrand. Noch heute erinnere ich mich an Wogatzkis Kellnerportemonnaie, in dem er die Scheine wie in einem Schaufenster dekoriert in einer Art Leporello aufblitzen ließ, damit das richtig Effekt machte, wechselte er nach einer Transaktion einen Teil der Hunderter immer in Zwanziger und Zehner ein. Dennoch muss man ihm lassen, er konnte sehr splendid und großzügig, ein auf seine Weise fröhlicher und witziger Unterhalter, ein guter Kumpel und Zechkumpan sein. Wogatzki verschwand aber bald ohne Abmeldung, auch ohne ein Zeile an die arme Britta, flüchtete in den Westen, ausgerechnet nach Bingen am Rhein, er wird wohl nie von jenem Essay Goethes zur St. Rocchus-Kapelle in Bingen am Rhein gehört haben. Gehört haben wir von Wogatzki noch, dass er kurz nach seiner geglückten Flucht todkrank wurde und wenig später verstorben sein soll.
Nichtschwimmer im Oderbruch
Britta traf ich zufällig in dem gemütlichen, fast fensterlosen, schlauchförmigen Café Corso. Die Gastronomie der DDR disponierte über reichlich Personal, manche Gaststätten konnten anscheinend nie genug einstellen, auch im Corso gab es verschiedene Reviere. Ich schlenderte einfach hinein, um einen Kaffee zu trinken; zu jeder gastronomischen Einrichtung, die fast alle ausnahmslos wie für immer bestanden, also nicht wie heute ständig Namen, Standort und Besitzer wechseln, gehören für mich Erinnerungen. Nicht nur Vischering sprach mich hier auf das Handbuch des Schreibens an, im “Corso” hatte ich kurz vor der Wende noch Ingrid Willing kennengelernt, eine nette, aber frustrierte Ehemaus, die nach ihrer Schicht im VEB Chemiereinigung Adrett einen lustlos fernsehenden und Bier trinkenden Ehemann vorfand; ich brauchte ein bisschen Bettgymnastik und wir halfen uns gegenseitig aus. Im Corso sah ich den Alten, den Schwager meiner lieben Freundin Dora, der Chefin des Palastes der Früchte, wie er, bei einer Tasse Kaffee mit der wichtigen Miene des Geschäftsmanns am Tresen stand. Ich nickte ihm zu, immerhin konnte ich ihm und vor allem meiner guten Freundin Dora nur dankbar sein, die paar Stunden des Verkaufens von Obst und Gemüse galten als Arbeit, obwohl mir das fast immer nur Freude bereitet hatte, und die Bullen und die Vernehmer von Inneres war ich fast alle los, einige hatten sogar bei mir Gelben Köstlichen eingekauft, ich hatte ihnen faule Äpfel in die Tüte geschummelt. Zur Stunde, als sich Britta mit mir aussprechen wollte, waren die meisten der Gäste des Corso gerade dabei, unter sachkundiger Hilfe des Personals vom Kaffee zum Wermut überzugehen, das Café schloss um zweiundzwanzig Uhr und Bier war hier nicht vorgesehen, es sei denn, man bestellte ein teures Herrengedeck. Britta plädierte ebenfalls für Wermut und sie eröffnete mir, was in dieser Zeit viele eröffneten, nämlich ihre Fluchtpläne, sie habe überlegt, jetzt endlich in den Westen zu verschwinden und zwar so, wie es schon Tausende geschafft hatten, über die polnische Grenze abzuhauen und von dort nach Ungarn. Polen bedeutete schon Freiheit, die Solidarność-Leute waren für uns Helden; keine Frage, die würden uns niemals ausliefern. Jahrelang war es mein Traum gewesen, in den Westen zu gehen, endlich Paris sehen zu können, jedes Buch zu bekommen, Westberlin oder den Hamburger Hafen wie selbstverständlich besuchen zu können und endlich meine Gedichte zu publizieren. Jetzt zögerte ich, rechnete damit, es könne schief gehen und ich wäre wieder im Knast. Außerdem, wie schon beschrieben, meine inneren Wertungen strukturierten sich um, ich sagte meiner Freundin, dass ich nicht das System, aber die Landschaft und auch meine Stadt doch sehr vermissen würde. Der Druck zum Aufbruch aber war stärker, ich könnte Britta, so dachte ich, helfen — denn Wogatzki hatte sie ja verlassen — und mir selber gleich lange gehegten Reisepläne erfüllen. Brittas Motivationen waren nicht direkt politisch. Die Behörden hatten ihr einen kurzfristigen Termin gesetzt, die Heimeinweisung für Marie war schon so gut wie ausgefüllt und sie selber, mit solchen Angeboten war Inneres und letztendlich die Diktatur immer großzügig, würde in den Bau wandern, wenn sie nicht umgehend geregelte Arbeit aufnehmen würde, denn mit Karl-Heinz lebte sie nicht mehr zusammen und dieser ungetreue Charly hatte nicht nur seinen Antrag auf Ausreise im Gegensatz zu ihr niemals abgeschickt, sondern untherhielt auch gute, einvernehmliche Beziehungen zur volksmündlich so genannten GHG, was statt gemeinnützigen Handelns eher das Gegenteil bedeuten sollte: Guck! Horch! Greif!
Zwei Tage später reisten wir ab, Britta, die kleine Marie und ich. Von meinem wenigen Hausrat hatte ich Vischering einiges geschenkt und er versprach mir, einige Schnellhefter mit Gedichten, Märchen, Erzählungen, Tagebucheintragungen, Briefen usw. beim mit mir befreundeten, lieben Pfarrer Scheurich abzugeben. Wir fuhren zunächst mit der Reichsbahn nach Berlin, für eine Nacht sollte meine alte Wohnung in Berlin als Unterschlupf und Nachtquartier dienen. Dieser Teil des Plans ging auch auf, wenn ich auch keinen Schlüssel mehr brauchte, die Tür war aufgebrochen und von den wenigen Utensilien, die ich zurückgelassen hatte, fehlte nichts, außer einer Schatulle mit meinen Auszeichnungen und Medaillen, die waren mir geklaut worden, selbst meine Lieblingsmedaille - für Hohe Leistungen zu Ehren des 25. Jahrestages der Deutschen Demokratischen Republik - war abgängig.
Am anderen Tag fuhren wir unbehelligt in Richtung polnischer Grenze. In der Nähe der Gedenkstätte an die Schlacht von Seelow, zwischen Sophienthal und Marienthal, gedachten wir die Grenze zu passieren, der letzte erreichbare Bahnhof hieß Löcknitz. Warum meine Wahl auf diesen Teil des Oderbruchs gefallen war, erklärt sich schnell, wenn man bedenkt, dass ich Nichtschwimmer war und für etwas 95 Prozent des Grenzgebietes galt es Oder-Neiße-Friedensgrenze, zumindest, was die Flüsse betraf, wörtlich zu nehmen. Auch die kleine Marie konnte noch nicht schwimmen, wir hätten also an östlicher Grenze kaum eine andere Wahl gehabt. Dreist hilft meist, dachte ich mir und versuchte, gleich nach Ankunft des Zuges in Löcknitz ein Taxi zu chartern. Weit und breit kein Fahrzeug zu sehen, alles abgelegen, verschlafen, eben Oderbruch und märkische Einöde.
Auf dem kleinen Bahnhof war nur ein Eisenbahner im Dienst, der erklärte sich jedoch sofort bereit, für uns zu telefonieren. Mein Instinkt versagte, Britta raunte mir noch zu. “Sag mal, traust du dem?” und ich wollte sie gerade mit einem betont sicher ausgesprochnen Ja beruhigen, als ein Transportpolizist erschien, unsere Ausweise verlangte und uns nachdrücklich bat, in einem Nebenraum Platz zu nehmen. Wir hörten Stimmen, Telefongespräche, unsere Personalien wurden durchgegeben. Der Polizist hatte eine simple Sicherheitsmaßnahme vergessen. Ein kurzer Blickkontakt zwischen Britta und mir, dann war klar, wir würden es versuchen. Wir hatten richtig kalkuliert, die Tür war nicht verschlossen. Wir rannten wie um unser Leben. Straßendorf, eine lange reihe Hoftüren, instinktiv drückte ich wieder eine offene Klinke. Stiller Hof, kein Hund! Wir rennen, rennen! Hinterausgang, offen. Endlich freies Feld. Die Dämmerung legte sich schützend über das Unterholz und uns. Die kleine Marie sprach nur noch im Flüsterton. Langsam tappten wir vorwärts, wir waren dunkel gekleidet, traten auf keinen Ast. Unsere erste Nachtruhe im Freien; Britta, die kaum jemals eine Kirche betrat, jetzt betete sie, auch die kleine Marie betete und ich, der ich mich damals in Bars und Kneipen auf Nachfrage stets als Atheist zu erkennen gegeben hatte, faltete die Hände.
Die Nacht wurde kühl, wir schliefen im Gestrüpp, kuschelten uns aneinander. Am anderen Morgen wieder Marsch durchs Gelände, was wir nicht bedacht hatten, hier versperrte uns zwar kein Oderfluss den Weg, aber für einen Nichtschwimmer reichte auch ein Trainage-Graben zum Ersaufen. Richtig, selbst der Oktoberklub hatte ja die sozialistische Großtat von der Stilllegung des Oderluchs besungen; die Melioration, also die Austrocknung moorigen Ackerbodens durch ein System von Gräben und Röhren war im Geographieunterricht Thema gewesen. Wie tief waren solche Gräben? Da nutzte mir die Geographie-Eins wenig, denn ich hatte wohl gerade in dieser Stunde geträumt. Mir blieb nur, mir einen abgebrochenen Ast zu suchen, mit dem ich unmittelbar vor mir den Wasserstand maß. Marie setzten wir uns abwechselnd auf die Schultern – unsere Gebete um Schutz waren erhört worden; die Gräben waren ungefährlich flach und wir konnten hindurch waten. Allerdings war uns kein Luxus wie Navigation zugesagt worden, wie hatte Moses das damals nur hingekriegt? Auf die Gefahr hin, verpfiffen zu werden, machte ich den Kundschafter. Bereits am Vortag hatten wir an einer Pferdekoppel einen Bauern beobachtet, der uns irgendwie vertrauenerweckend vorkam. Ich meinte, das Gespräch umständlich eröffnen zu müssen, wollte nicht gleich alles riskieren, ihn nicht kompromittieren und mich nicht sofort bloßstellen, hier wird meine Erinnerung dunkel, wir führten das Gespräch nicht in deutscher Sprache, jedenfalls begriff der Mann recht gut, dass er mit einem Republikflüchtigen sprach und er verriet mich, im Gegensatz zum Reichsbahner von Löcknitz, nicht.
Nachts kamen wir manchmal an einsamen Gehöften vorbei, Diskomusik und Bratenduft wehte herüber, Windlicher flackerten im Ernteduft der Sommernacht. Am dritten Tag beschlossen wir, auch mit Rücksicht auf die kleine Marie, aufzugeben. Wir gingen einfach hinaus auf einen der größeren Wege, hier wimmelte es nur so von Fahrzeugen mit dem Kennzeichen GT für Grenztruppen, ich sah Trabbi-Kübel mit den Kordeln und dem Emblem und LKW mit Prischen und Holzbänken. Wir wurden bald verladen, unsere erste Station war eigenartiger Weise im privaten Wohnhaus eines Angehörigen der Grenztruppen, wir wurden in eine etwas einfallslos mit der typischen Schrankwand eingerichteten Wohnstube abgesetzt. In der DDR-Farbglotze lief ein Indianerfilm mit Gojko-Boy, was mir nach all’ dem wirklich unsäglich auf die Nerven fiel. Fast erlösend, als es wieder auf Transport ging, Britta und ihre Tochter Marie verließen den Sammeltransport bei einem Zwischenhalt, wurden von Uniformierten zu einem grünen, von Stacheldraht und Wachtposten gesicherten, Gebäude abgeführt. Wie ich die beiden abgeführt sah, dachte ich, das wird für viele Jahre das letzte sein, was du von Britta und Marie siehst. Für mich begann dann das übliche; enge Zelle, Holzbänke und Neonlicht. Etwa zwanzig Männer mögen es gewesen sein, mit denen zusammen ich einsaß, die wie ich nur eins versucht hatten, die Republik, die uns durch PM12 Gebrandmarkten jede Reise verwehrte, endlich zu verlassen. Keiner von uns hatte eine Waffe dabei gehabt, niemand jemanden bedroht, nur wegen unseres Begehrens, das Land verlassen zu dürfen, saßen wir hier übernächtigt, viele erschöpft, unter dem harten Licht der Neonröhren, Verrichtung der Notdurft nur nach Anmeldung, Rauchverbot. Wir unterhielten uns flüsternd, tauschten Erlebnisse, Schicksale und Ansichten aus, selbstverständlich wurde ein letzter Apfel und ein Zigarettenstummel solidarisch geteilt. Aber diese leise Unterhaltung, diese stille Solidarität war wohl nicht beliebt, krachend flog die Tür auf, der Unteroffizier schrie: “Meine Herren, wenn nicht gleich Ruhe ist, wird geknüppelt!”
Stunden hatte ich vor mich hingebrütet, an Schlaf war für mich unterm kalten Licht der Leuchtstoffröhren trotz meiner Erschöpfung nicht zu denken gewesen. Plötzlich knackte der Schlüssel, ich wurde zum Verhör gerufen. Nach den Routinefragen äußerte ich mich zu Sache und gab unumwunden zu, dass ich die DDR hatte illegal verlassen wollen. “Sie sind der erste, der das hier zugibt, ich habe welche dabei, die hatten Trabant-Reifen im Kofferraum, die sie angeblich jemandem mitbringen wollten, aber die kennen hier niemanden, waren niemals da, konnten keine Adresse nennen.”
In den Verhören passiert viel über Sympathieschöpfung und vermeintliche Komplimente, so lange man sich ruhig verhielt. “Höre, sie haben sich drei Tage im Gelände aufgehalten, wo meine Leute hier jedes Gebüsch durchkämmt haben, wo haben sie denn ihre Ausbildung gemacht, he!” Wieder polterte einer rein: “Genosse Major, ich melde, alles schläft!” Also einschließlich der Bewacher, dachte ich und schlussfolgerte, der Major schien beliebt zu sein. “Ja sehen sie, der Herr Leisering und ich, wir unterhalten uns noch.”
Aus meinem Standpunkt hatte ich kein Geheimnis gemacht, die gleichförmige Ausrichtung der Propaganda, die Arroganz der Funktionäre, die mangelnde Freiheit der Reise und die Unterdrückung der Pressefreiheit und alternativer Publikationen als Gründe für meinen Fluchtversuch angeführt, hingegen hatte ich nichts über die Probleme meiner Freundin, die drohende Unterbringung ihrer Tochter im Heim verlauten lassen. Nun kam, was den Leser nicht so verwundern wird, wie es mich damals stark beeindruckte. Der Major, ich witterte freilich eine mögliche Falle und blieb auf der Hut, wischte Grenzen zwischen uns weg, nicht die zwischen den Staaten, aber die zwischen staatstreuem Kommunisten und mir, zwischen Grenzwächter und Gefangenen. Er interessierte sich für Theater, er hatte Goethe gelesen und, ich staunte, auch Arno Schmidt, er liebte Hermann Hesses Knulp und Demian. Der Major war außerdem unglücklich, auch er von einem leisen Zittern nahezu ergriffen, wo andere wankten, seine Gattin war ganz offiziell nach Ungarn gereist und er würde nicht wissen, ob sie von dieser Reise zurückkommen würde. Was sollte ich noch zu verlieren haben? Mein Geständnis hatte ich längst unterschrieben. Das wurde eine lange Nacht bei starkem Kaffee. Ich erfuhr, dass der Befehl gekommen wäre, die aufgegriffenen Bürger ohne Strafmaßnahme wieder laufen zu lassen. Zuvor allerdings hatte Schießbefehl auf einzeln freistehende, männliche Personen bestanden. Der Major auf seinem schon sich verlierenden Posten hielt nicht zurück damit, dass er, wenn es nach ihm gehen würde, uns alle einsperren und entsprechend den gültigen Gesetzen streng bestrafen würde, auch mich, um die Ordnung und den Staat aufrecht zu erhalten. Da war es wieder, was ich so liebte und hasste, der Major war so sympathisch und kultiviert, so einer könnte theoretisch doch nicht gewusst haben können, dass einer seiner Untergebenen wegen ein bisschen Flüstern Knüppeln in Aussicht stellte - und der Major war gleichzeitig borniert, er war genau der hinter dem Knüppel. Wir führten in dieser Nacht das altpreußische Gespräch, wenn ich auch hierbei für meine Rolle ein unzureichender Vertreter sein mag, das alte preußische Gespräch zwischen Freiheits-Dichter und Offizier, wobei der Offizier in sich, bevor er vor seinem Monarchen salutiert, noch einmal mit der ihm innewohnenden Dichterseele korrespondiert. Mal ehrlich, so einen beknackten Dichterschreiber wie mich, und so einen beknackten Schöngeistmajor mit dem Traum vom Durchgreifen im Grenzgebiet – unvorstellbar, möchte man da nicht mitleidig ausrufen: Armer Major, armer Dichter – wer sollte euch brauchen können? Für die Frage, wer könnte wohl einen gebildeten, feinsinnigen Major der Grenztruppen und einen dekadenten, Abrißhäuser liebenden, arbeitsscheuen, klapprige Verse schreibenden und Bier schleckenden Dichter gebrauchen, gab es wirklich nur eine, von der Zeit entwertete Antwort: unsere sozialistische Heimat.
Die Mauer im Vertiko
Auf der Rückreise legten wir noch eine kleine Rast ein, gemütliche Kneipe mit Hausmannskost, uns schmeckte es vorzüglich. Für unser damaliges Vorstellungsvermögen betreffs der sich allerdings schon wandelnden Verhältnisse hatten wir unverhältnismäßig großes Glück im Unglück gehabt, wir waren zwar nicht im Westen, aber konnten ohne Knast nach Hause zurück.
Ankunft also auf dem halleschen Bahnhof und wir erfuhren die Nachricht, dass Erich Honecker abgesetzt war und Egon Krenz Staatsratsvorsitzender sei. Meine Freundin Lina hatte mir erzählt, wie sie in Berlin, als sie ihre Lehre als Anstreicherin begonnen hatte, Egon Krenz, der jovial und gut gelaunt die Baustelle des Palastes der Republik inspiziert hatte, kennenlernte. Ihm mochte die junge, blonde Frau wohl gefallen haben und er hatte nach einer kleinen, ermunternden Plauderei abschließend zu ihr gemeint: “Du darfst Egon zu mir sagen!” Aber das würde natürlich weder für Lina in Berlin, noch für Britta und die kleine Marie etwas ändern. Ich konnte mir schon vorstellen, wie sie einen klobigen Nachbau eines westdeutschen oder japanischen Videorekorders als Errungenschaft der Werktätigen in der Neuen Berliner Illustrierten würdigen und in den RFT-Filialen nach Wartelisten den Bevölkerungsbedarf decken würden, auch konnte ich mir in etwa noch vorstellen, wie in Zukunft auch schon Vierzigjährige, wahrscheinlich nach Unterschrift zweier Kollektivvertreter, für eine Woche ins kapitalistische Ausland würden reisen können. Für mich oder eine wie die arme Britta und ihr Kind, da war ich mir gerade im Oktober 1989 sicher, würde da nichts drin sein, Paris würde ich nie sehen, außer im Film oder in dem schönen Buch von Heinz Czechowski. Hatten sie vor kurzem nicht noch meinen Kumpel von Hammer erneut vorgeladen und mit Inhaftierung gedroht, weil er nicht arbeiten ging? Einen weicheren Sozialismus konnte ich mir gerade noch vorstellen, einen abgeschafften nicht.
Zu Hause in Omas Häuschen angelangt, guckte der Feind ohnehin aus einer ganz anderen Ecke. Nur gut, dass Wogatzki schon in Bingen am Rhein war und es bei mir ohnehin keinen Kühlschrank auf den Ast zu klemmen gab, aber Vischering hatte es sich inzwischen in meiner Bude gemütlich gemacht. Das war ihm ja nachzusehen, immerhin vermutete er mich drüben in Westdeutschland, hatte den vereinbarten Anruf nicht abwarten können. Die für mich wichtigen Aufzeichnungen und literarischen Texte, die er , wie er mir versprochen hatte, bei meinem Freund dem Pfarrer Scheurich deponieren wollte, lagen in wüstem Durcheinander herum. Privatbriefe, besonders einer in Sachen der Schreibmaschine Brothers, in dem ich mich dagegen verwahrte, für die in Naumburg in Obhut genommene Schreibmaschine Schadenersatz wegen Reparaturleistungen zu übernehmen, hatte er, weil ihn meine Dreistigkeit amüsierte, wie er sagte, immer wieder gelesen. Ihm war meine Arbeit, meine Texte also gleichgültig, der nicht schwer zu bewältigende Freundschaftsdienst von ihm gar nicht versucht worden, er hätte meine literarischen Versuche niemals bei Pfarrer Scheurich zur sicheren Aufbewahrung abgegeben, seitdem wusste ich, dass Vischering vielleicht ein guter Kumpel und Bekannter, auch Geschäftspartner sein mag, aber bestimmt kein Freund.
Am 9. November 1989 trank ich einige Bierchen in der Gosenschenke. Britta sah ich, wie sie sich mit einem tätowierten Alkoholiker küsste. Zur mitternächtlichen Stunde schwankte ich über die Burgstraße, ein PKW Trabant überholte mich, zwei junge Männer wedelten mit den beiden Türen ihres Trabbis und brüllten: “Die Mauer ist auf! Die Mauer ist auf!” Mein Gott, müssen die aber besoffen sein, dachte ich bei mir.
Andern Morgens begann ich zu begreifen und dachte, dann kannst du ja fahren. Britta hat es nicht ‘mal versucht, ihre Tochter kam ins Heim. Charly, also Karl-Heinz Mohr, bestritt so lange er konnte, jemals etwas mit der Stasi zu tun gehabt zu haben, bis er durch die Veröffentlichung der Spitzel-Listen in der Bild-Zeitung enttarnt wurde. Noch am Vortag, als die BILD beim Buchstaben K angelangt war, hatte er hoch und heilig geschworen, mit so was nichts zu tun gehabt zu haben. Charly eröffnete eine Kneipe, die Kult wurde, paar Jahre verdiente er sehr gut und gilt auch heute noch als cleverer Geschäftsmann. Bald tranken auch ich oder Britta in Charlys Kneipe, dem “Mohrmännel”, öfter ein Bierchen, denn im Westen bin ich nicht lange geblieben, obwohl ich eine Wohnung bei Hannover organisierte und es mir gelang, sozusagen ein erweitertes Begrüßungsgeld zu schmarotzen, auch nach Paris konnte ich nun endlich fahren und für mich jedenfalls war das eine traumhafte Großstadt- und Architektursinfonie. Wäre Halle nur halb so groß wie Paris, würde man nicht immerzu jemanden treffen, der einem auf den Nerv geht.
Meine liebe Britta kann ich heute nicht mehr sprechen, sie ist unheilbar suchtkrank. Vischering ignoriere ich und er mich, nur Charly winkt mir immer wieder fröhlich aus einem seiner klapprigen Angeber-Schlitten zu.
In einer Baugenossenschafts-Mansarde bei Hannover guckte ich im Jahre 1990 in die Glotze, sah Bilder von Halle und hörte dazu die Stimme von Tamara Danz: “Als ich fortging, war die Straße still, kehr wieder um”, da entschloss ich mich, der Weisung des Liedes und meines Herzens zu folgen.
In meinem Vertiko liegt noch heute ein Stück Mauer, direkt vom Mauerspecht - einem Jungen, der an der Berliner Mauer mit seinem Hammer klopfte - gekauft.
Und jetzt werde ich aus dem Geheimfach meines Vertikos meinen einzigen Geldschein holen, ziehe mein weißes Jackett an und spaziere in der Stadt herum, als ob ich wohlhabend und sorglos wäre, auf dass die sozial-frustrierten einen Rocchus auf mich bekommen.
Seid nicht böse, ich bin nur der Epimetheus!
Notfalls gehe ich nochmal auf Flucht.
Tag der Veröffentlichung: 16.02.2014
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