- eingesperrt im Keller
Das Häuschen meiner Großeltern mütterlicherseits, in welchem auch wir wohnten, stand in einem kleinen Erzgebirgsstädtchen an einem Berg. Das Haus hatte sogar einen Keller. Dieser war aber nicht als die unterste Etage des Hauses angelegt, sondern wie eine Höhle in den Fels, auf dem das Haus stand, hineingehauen worden. Um in den Keller zu gelangen, musste man im Flur des Hauses eine schwere Falltür hochklappen. Dann führte eine steile Steintreppe hinab in den Keller. Auf halber Höhe der Treppe waren links und rechts kleine Abseiten in den Fels gehauen, in welche immer die Sachen hineingestellt wurden, welche kurzzeitig kühl lagern sollten, da man sie schon bald wieder benötigte, wie beispielsweise ein Krug Milch oder soeben gekaufter Fisch. Die beiden Abseiten waren so was, wie der heutige Kühlschrank.
Unten im Keller befanden sich links und rechts Boxen, wo im Herbst die Kartoffeln „eingekellert“ wurden, damit sie über den Winter bis zur nächsten Ernte im kommenden Herbst im essbaren Zustand blieben. Außerdem befanden sich links und rechts über den Kartoffelboxen Regale. Dort wurden die Einweckgläser mit eingekochtem Obst und Gemüse gelagert, welche im Laufe eines Jahres nach und nach verzehrt wurden.
Der Keller hatte kein Fenster, sondern nur ein kleines Luftloch nach draußen, welches im Winter mit alten Lappen verstopft wurde, um die Kartoffeln vor dem eindringenden Frost des strengen erzgebirgischen Winters zu schützen. So hatte der Keller im Sommer wie im Winter die gleiche Kühle, aber nie frostige Temperatur. – Und es war im Keller nicht nur dunkel, sondern finster.
Erst im Herbst 1944 wurde das kleine Luftloch zu einem Kellerfenster vergrößert. Damit wurde möglich, den Keller bei Fliegeralarm auch als „Luftschutzraum“ zu nutzen, und falls die Falltür durch die Trümmer des bombardierten Hauses nicht mehr zu öffnen war, durch das Kellerfenster nach draußen zu kriechen. Und damit sich auch andere Menschen, die gerade bei Fliegeralarm auf der Straße waren, in den Luftschutzraum flüchten konnten, musste draußen am Haus mit weißer Farbe groß und gut sichtbar „LSR“ an die Hauswand gemalt werden. Das war damals Vorschrift.
Als der Keller noch kein Fenster hatte und ganz finster war, ich muss damals etwa fünf Jahre alt gewesen sein, hatte ich folgendes Erlebnis:
Mein Großvater hatte als Schuster immer Leim, von uns als „Kleister“ bezeichnet, in seiner Werkstatt. Ich war dabei, mir aus Pappe etwas zu bauen. Dabei ging mir der Kleister aus. Deshalb schlich ich mich am Abend, als Opa schon Feierabend gemacht hatte, in seine Werkstatt, um ein wenig von seinem Kleister zu stibitzen. Dabei wurde ich von unserer Mutter erwischt. Diebstahl galt in unserer Familie als ein sehr schlimmes Verbrechen. So musste auch die Strafe entsprechend drastisch sein. Meine Mutter packte mich, zog mich aus der Werkstatt in den Flur, öffnete dort die schwere Falltür zum Keller, schob mich die Kellertreppe hinab und klappte die Falltür über mir wieder zu. Dabei sagte sie, obwohl sie sonst nie Bibelsprüche zitierte: „Wen Gott liebhat, den züchtigt er.“ Ich dachte: Dann möchte ich lieber nicht von Gott geliebt werden. Und was hat Gott eigentlich damit zu tun, dass man ein wenig Kleister stibitzt?
Nun war ich in dem stockfinsteren Keller. Ein Entkommen wäre nur möglich gewesen, wenn ich stark genug gewesen wäre, die schwere Falltür von innen nach oben zu drücken.
Einige Zeit blieb ich auf der Kellertreppe sitzen und lauschte in der Hoffnung, dass meine Mutter schon nach kurzer Zeit die schwere Falltür wieder öffnen würde, um mich herauszuholen. Doch als nichts geschah, fügte ich mich meinem Schicksal und tastete mich hinab in den Keller. Dort ertastete ich ein paar leere Kartoffelsäcke. Aus diesen bereitete ich mir ein Lager und legte mich, da es schon auf die Schlafenszeit zuging, zum Schlafen nieder. Und um in dem kühlen und finsteren Keller nicht zu frieren, deckte ich mich mit einem Kartoffelsack zu. Schon bald schlief ich fest ein.
Als meine Mutter nach etwa einer Stunde in den Keller kam, war sie enttäuscht, dass sie mich im Keller nicht schreien hörte. Diesen Triumpf wollte ich ihr nicht gönnen. Es war ganz still. Das ließ ihr keine Ruhe. Deshalb öffnete sie die Falltür. Da sie mich nicht auf der Treppe antraf, stieg sie mit einer Laterne hinab in den Keller, um nach mir zu suchen. Sie befürchtete Schlimmes. Doch ich schlief so fest, dass ich sie gar nicht kommen hörte. Als sie mich schlafen sah und ich offenbar unversehrt war, war sie erleichtert. Sie weckte mich, ich durfte den Keller wieder verlassen und gemeinsam mit meinen Geschwistern zu Abend essen.
Zwar hat die drastische „Erziehungsmaßnahme“ bei mir keinen bleibenden seelischen Schaden hinterlassen und auch die Beziehung zu meiner Mutter nicht beeinträchtigt, doch wenn irgendwo Kleister, Klebstoff, gebraucht wird, fällt mir meine „Dunkelhaft“ wieder ein, und als Pädagoge gehörte Einsperren nie zum Repertoire meiner Erziehungsmaßnahmen.
Tag der Veröffentlichung: 30.12.2021
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