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Seinetwegen werde ich nicht zum Denunzianten

 

Eine denkwürdige Begegnung in einem Flüchtlingslager für DDR-Flüchtlinge

 

Er liegt nun schon über ein halbes Jahrhundert zurück, jener denkwürdige, geradezu außergewöhnliche Tag im März 1958. Trotzdem kann ich mich genau an die Situation erinnern: Einige Tage zuvor musste ich als Jugendlicher aus dem Erzgebirge fliehen, der DDR den Rücken kehren, um nicht in einem DDR-Gefängnis zu landen und lebte nun im Flüchtlingslager in Berlin-Marienfelde. Dort wartete ich nun darauf, wie es mit mir weitergehen sollte. So kann ich mich sehr gut in die Situation der Flüchtlinge hineinversetzen, die heute in Flüchtlingsunterkünften leben müssen. Doch ihnen gegenüber hatte ich viele Vorteile: Ich sprach die Landessprache – wenn auch mit erzgebirgischem Dialekt -, ich musste keinen Asylantrag stellen, denn jeder, der von Ost- nach Westdeutschland auswanderte, galt als Bundesbürger, ganz gleich, ob er aus politischen Gründen fliehen musste, oder „nur“ Wirtschaftsflüchtling war, der sich im Westen ein besseres Leben erhoffte, es wurden keine Flüchtlingsunterkünfte angezündet, und man durfte vom ersten Tag an arbeiten.

 

Da ich nicht den ganzen Tag im Flüchtlingslager rumhängen wollte, meldete ich mich zur Arbeit. Die bekam ich bei den Berliner Verkehrsbetrieben als „Ritzenschieber“. Täglich musste ich morgens um vier Uhr mit meiner Arbeit beginnen. Sie bestand darin, dass ich neben einem ortskundigen Ritzenschieber die Berliner Straßenbahnschienen abgehen musste – damals gab es in West-Berlin noch Straßenbahnen – und die Rinnen der Schienen, die „Ritzen“, mit einem speziellen Schieber, eben dem „Ritzenschieber“, vom Eis und sonstigem Unrat befreien musste, damit die Straßenbahnen nicht entgleisten. Das war zwar nicht gerade eine Arbeit, wie ich sie mir erträumt hatte, denn als Student, der in der DDR aus politischen Gründen seinen Studienplatz verloren hatte, suchte ich nach der Möglichkeit, mein Studium bald wieder aufnehmen zu können. Zudem gab es für diese Arbeit nur ein geringes Taschengeld. Aber so langweilte ich mich nicht tagaus, tagein im Flüchtlingslager. Außerdem boten sich mir noch einige Vorteile: Nach getaner Arbeit konnte ich täglich duschen, ohne mich vorher im Flüchtlingslager in einer langen Schlange anstellen zu müssen und dann auch noch eine ungepflegte Dusche vorzufinden. Frisch geduscht konnte ich nach getaner Arbeit in der Kantine zu Mittag essen. Zudem bekam ich fast täglich eine Eintrittskarte für einen Kino-, Theater- oder Konzertbesuch geschenkt. Und das Beste: man bekam, wenn man arbeitete, eine „Drängelkarte“, mit der man im Flüchtlingslager bei allem, wo man sonst in einer langen Schlange hätte warten müssen, bevorzugt behandelt wurde.

 

Trotzdem gab es viele, die es vorzogen, sich den ganzen Tag zu langweilen und Schlange zu stehen, statt eine niedere Hilfsarbeit zu machen. Das war unter ihrem Niveau. Und die Langeweile führte dazu, dass manche Meinungsverschiedenheit in Handgreiflichkeiten ausarteten und der Ordnungsdienst schlichtend eingreifen musste. Außerdem waren Diebstähle an der Tagesordnung. Man musste das wenige Hab und Gut, das man im Köfferchen mit über die Grenze gebracht hatte, stets im Auge oder unter Verschluss behalten, um nicht in die Situation zu geraten, buchstäblich „mit leeren Händen“ dazustehen. Deshalb schob ich mir mein Köfferchen jede Nacht unter das Kopfkissen und nahm es morgens mit zur Arbeit und schloss es dort in einem Schließfach ein.

 

Das war damals die Situation im Flüchtlingslager. Als ich eines nachmittags über das Gelände ging, begegnete ich Herrn M., der bis zu meiner Schulentlassung 1952 mein Klassenlehrer gewesen ist. Wir begrüßten uns nicht etwa, sondern er eilte an mir vorüber, so als hätte er mich nicht gesehen. Und dafür gab es auch einen Grund: Für uns Schüler war er ein 150prozentiger SED-Parteigenosse, der uns den Kommunismus in den schönsten Farben schilderte und am Kapitalismus des Westens kein gutes Haar ließ. Nun war er, ohne politisch verfolgt zu sein, als „lupenreiner“ Wirtschaftsflüchtling in den Westen geflohen. – Diese Begegnung war für mich ein so einschneidendes Erlebnis, dass ich heute, über ein halbes Jahrhundert danach, noch daran denken muss.

 

Ich werde Herrn Ms. Auftritte in der Klasse nie vergessen. Er schilderte uns die sozialistische Zukunft in den schillerndsten Farben und so überzeugend, dass keiner von uns geglaubt hätte, er würde einmal die DDR verlassen und in den Westen fliehen. Uns wurden die Grundzüge des historischen Materialismus, des philosophischen Materialismus und des dialektischen Materialismus von Karl Marx von ihm geradezu eingehämmert. – Noch heute kann ich einige dieser uns damals ins Gehirn eingehämmerten Grundzüge auswendig aufsagen. Und er schwärmte geradezu davon, dass die kleinen Kinder im Kindergarten vor dem Essen sagen müssen:

 

Hände falten, Köpfchen senken

und an Vater Stalin denken.

 

Herr M. führte unsere Klasse mit militärischem Drill. Es gab eine feste Regel, wie wir uns aufzustellen hatten: Der Größte zuerst, der Kleinste zuletzt. Und da wir uns als Dreizehn- oder Vierzehnjährige im Wachstum befanden, fanden alle sechs bis acht Wochen Appelle statt, wo wir je nach Wachstum in eine neue Reihenfolge einsortiert wurden. Und natürlich mussten wir auch draußen auf dem Schulhof den Gleichschritt und militärische Kommandos üben.

 

In meine Erinnerung drängt sich ein Konflikt, den ich in der achten Volksschulklasse mit ihm hatte. Wir behandelten im Unterricht das Gedicht „Die Schlesischen Weber“ von Heinrich Heine:

 

Im düstern Auge keine Träne,

Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne:

"Deutschland, wir weben dein Leichentuch,

Wir weben hinein den dreifachen Fluch -
     Wir weben, wir weben!

Ein Fluch dem Gotte, zu dem wir gebeten

In Winterskälte und Hungersnöten;

Wir haben vergebens gehofft und geharrt,

Er hat uns geäfft, gefoppt und genarrt -
    Wir weben, wir weben!

Ein Fluch dem König, dem König der Reichen,

Den unser Elend nicht konnte erweichen,

Der den letzten Groschen von uns erpreßt

Und uns wie Hunde erschießen läßt -
     Wir weben, wir weben!

Ein Fluch dem falschen Vaterlande,

Wo nur gedeihen Schmach und Schande,

Wo jede Blume früh geknickt,

Wo Fäulnis und Moder den Wurm erquickt -
    Wir weben, wir weben!

Das Schiffchen fliegt, der Webstuhl kracht,

Wir weben emsig Tag und Nacht -

Altdeutschland, wir weben dein Leichentuch,

Wir weben hinein den dreifachen Fluch -
     Wir weben, wir weben!"

 

Als wir dieses Gedicht aufsagen sollten, weigerte ich mich, die zweite Strophe mit dem Fluch auf Gott aufzusagen. Herr M. bat meine Mutter zu einem Gespräch (mein Vater war zu jener Zeit noch in Kriegsgefangenschaft). Das Gespräch ergab, dass ich die zweite Strophe nicht aufsagen musste. Meine Mutter hatte sich durchgesetzt. Doch Herr M. ließ es sich fortan mir gegenüber anmerken, dass er bei diesem Gespräch der Unterlegene war und nachgeben musste. Ich hatte bei ihm keine Chance mehr.

 

Nun war mir ausgerechnet dieser Herr M. im Flüchtlingslager in West-Berlin begegnet. Was sollte ich tun? Ich stellte mir vor, dass Herr M. künftig als Lehrer vor einer Klasse in einer westdeutschen Stadt steht und den Kindern erzählt, wie schrecklich es ihm in der DDR ergangen ist. Vielleicht sogar, dass er politisch verfolgt wurde und fliehen musste. Unvorstellbar! Eigentlich müsste ich mich an die Lagerleitung wenden. Doch ich wollte seinetwegen nicht zum Denunzianten werden. Mein neues Leben in Westdeutschland, das ich mir aufbauen wollte, sollte nicht damit beginnen, dass ich einen anderen Menschen denunziere, zumal er im juristischen Sinne keine Straftat begangen hatte, sondern sich nur im moralischen Sinne höchst fragwürdig verhalten hat. So beschloss ich, diese Begebenheit auf sich beruhen zu lassen. – Später habe ich erfahren, dass Herrn Ms. Ausbildung zum Lehrer, die er kurz nach Kriegsende in der sowjetischen Besatzungszone absolviert hatte, in der Bundesrepublik Deutschland nicht anerkannt wurde, er nie wieder als Lehrer vor einer Klasse stand, sondern als Postbote sein Brot verdiente.

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 07.06.2016

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