Neben ihr stirbt ein Mann. Gerade rannte er noch - jetzt liegt er auf dem Pflaster - in einer Lache aus Blut. Sie hat es im Augenwinkel gesehen, wie seine Brust durchlöchert wurde. Sie rennt weiter. Das Dröhnen der Kampfjets erstickt ihre Ohren. Ausgebrannte Gebäude huschen an ihr vorbei, zerstörte Gebäude. Verzweifelte Barrikaden säumen ihren Weg. Ihre Gehirnzellen nehmen diese Informationen auf, schreiben sie in ihr Gedächtnis. Sie sind Historiker, unberührter Beobachter. Als würde jemand anderes rennen. Als wäre es das Glück eines anderen, ob die nächste Patronen in seinem Herzen platzte oder nicht.
„Malika!“
Ein Arm springt aus einem Hauseingang hervor. Sie schleudert von der Straße. Eine Hand erstickt ihren Mund. Malika erstarrt. Über die Straße tönt ein Kampfgesang, durchbrochen von einzelnen Jubelschreien. Die Worte sind ihr fremd. Sekunden später poltert ein Söldnerheer vorbei. Schwarze Haut in Kampfanzügen, wütend entstellte Gesichter, Maschinengewehre. Ihnen folgt ein Panzer.
Malika zittert. Ihre Finger zucken, dann beben ihre Lippen. Die Hand über ihrem Mund löst sich. Malikas Knie geben nach. Sie fällt gegen den kalten Stein an ihrer Seite.
Dann erinnert sich ihr Gehirn an den Arm. Malika wirft sich herum.
„Rafael!“
Malikas Lippen öffnen sich, der Ton entweicht, aber er erreicht nicht ihr Herz. Doch dann streckt Rafael seinen Arm, den rettenden Arm und zieht sie zu sich. Und plötzlich öffnet sich ihre Seele. Mit aller Kraft klammert sie sich an ihn. Tränen füllen ihre Augen.
„Du musst vorsichtiger sein. Hörst du? Mailka!“
Doch sie hört nicht. Sie spürt nur, wie sich seine Brust bewegt. Und sie versteht, dass er lebt. Zwei Tage ist es her, dass sie ihn verloren hatte. Die Masse hatte sie getrennt, ohne bösen Willen. Die Masse aus Schwestern und Brüdern, vereint in Todesangst und Entschlossenheit, hatte ihr ihren Bruder entrissen. An seiner Stelle war ihr nur Verzweiflung geblieben. Ununterbrochene Panik, Tod. Er lebt. Durch die Steine im Hauseingang, über die blutgetränkten Straßen, durch die Trümmer ihrer Stadt, fließt in diesem Moment ein Strom gleißenden Glücks.
„Du lebst“, murmelt sie.
Rafael drückt seine Schwester an sich.
„Wir müssen aus der Stadt. Für uns gibt es hier keine Geschichte mehr, nur noch das Ende.“
Er greift Malikas Hand, drückt sich an ihr vorbei. Ängstlich streifen seine Augen über die Straße.
„Malika, hör mir zu. Wenn ich es sage, rennen wir über die Straße. Dort vorne, in den Eingang. Siehst du?“
Sie nickt tonlos.Noch einmal schaut er ihr in die Augen.
„Los!“
Rafael zieht sie mit sich. Die Welt zerfließt in graue Schlieren. Malikas Oberschenkel brennen, ihr Atem pfeift. Dann fallen sie gegen die Haustür. Beide keuchen. Die Angst perlt aus ihren Körpern.
„Gut, so“, presst Rafael hervor. „Jetzt in die Seitenstraße rechts. Siehst du?“
Malika nickt, doch plötzlich überfällt sie die Angst. Sie spürt ihre Füße nicht mehr. Die Welt verschwindet in der Dunkelheit. Sie kann nur noch Rafaels Gesicht ausmachen, seine Augen. Sie versteht, dass sich seine Lippen bewegen und wird von ihm mitgezerrt. Sie rennen.
Plötzlich fährt ein Blitz durch ihren Körper. Ihr Arm wird aus der Schulter gerissen. Sie fällt auf das Pflaster. Die Welt wird unendlich langsam. Sie erkennt, dass der Schmerz von ihrem Arm kam, der Arm, der sie mit Rafael verbunden hatte. Sie stellt auch fest, dass der Schmerz bereits nachlässt. Sie scheint ok, warum rennt sie nicht? Ihr Kopf dreht sich zu Seite und fängt Rafaels Blick. Er flackert. Sie spürt, wie sich Wärme auf der Straße verteilt. Sie schmeckt Blut - sein Blut. Oh Gott! Malika schnellt in die Höhe.
„Rafael!“
Ihre Hände fliegen über seine Brust, seinen Kopf. Sein Herz schlägt unter einer offenen Wunde, drückt sein Blut auf die Straße.
„Nein, nein, nein.“
Er blickt sie an.
„Lebe“, sagt sein Blick. „In Freiheit.“ Dann verstummt er.
Malika schreit. Ihr Herz zersplittert. Sie wirft sich auf den Leichnam. Ihre Tränen mischen sich in Rafaels Blut - Salz zu Salz. Ihr Wehklagen hallt durch die Straßen. Malika schließt die Augen, legt den Kopf an Rafaels Schulter.
Der Himmel verdunkelt sich.
Irgendwann trennen fremde Schwestern sie von ihrem Bruder. Dutzende Hände halten sie, zerren sie fort. Telefonkameras stürzen sich auf die Leiche. Dann greifen sie den Märtyrer, strecken ihn dem Himmel entgegen. Der, der einmal ihr Bruder war, reitet auf einer wütenden Menge, wird zurückgetragen ins Zentrum des Zorns. Sie ist gefangen zwischen den Leibern. Bewegt sich unaufhaltsam mit ihnen - stumm, taub, gefühllos.
Irgendwann schafft Malika es, zu entkommen. Erneut findet sie sich auf einer Straße, doch sie rennt nicht. Wovor könnte sie noch fliehen? Sie geht nur, um nicht stillzustehen. Jeder Schritt erfordert genaueste Überlegung. Dieser Stein oder lieber dieser? Wie am besten den Fuß setzen? Vereinzelt huschen Schatten vorbei. Gewehrschüsse hallen durch die Leere. Links von ihr schwelt das Skelett einer Polizeistation. Dieser Stein oder lieber dieser? Die Welt besteht aus Steinen - Perfektion in Einfachheit. Doch plötzlich, als die Sonne ihr Gesicht abwendet, dringt ein Laut in die Welt. Ein Wimmern, abgehackt, verstummt bereits wieder, als Malika ihren Kopf dreht. Doch sie hat es gehört und sie sieht den Weg, den die Steine ihr nun bilden. Klar und deutlich hebt er sich ab gegen die Dämmerung. Also ändern Malikas Füße die Richtung. Dieser Stein, nun dieser. Verwundert erkennt sie bald, dass sie durch das Viertel der Paläste läuft. Häuser mit Säulen, seltsam unberührt von der Zerstörung, doch menschenleer. Teilweise dann sind Türen geöffnet, Fenster eingeschlagen. Kronleuchter sind geraubt, Teppiche verschwunden. Jetzt säumen ausgebrannte Autos Malikas Weg. Mercedessterne funkeln in der Glut. Je weiter sie die Allee entlanggeht, desto verrußter die Fassaden. Weiter und weiter folgt sie den Steinen, bis zur nächsten Kreuzung, bis sie in die Hölle fällt.
Eine brennende Palastruine. Flammen lecken aus dem Fundament, züngeln empor zu einem Balkon. Malika erstarrt. Auf der Straße haben sich hunderte Gestalten versammelt. Rauch vernebelte ihre Gesichter, doch sie jubeln und tanzen. Rhythmisch klatschen sie in die Hände, recken die Arme gen Himmel. Kalte Angst kriecht aus den Flammen zu Malika hinüber. Was passiert hier? Diese Menschen wirken ekstatisch, wie im Bann eines Sirenengesangs. Malika hustet. Ruß dringt in ihre Lunge. Unter dem Balkon muss es unerträglich sein. Von genau dort aber, aus dem Inneren des Palastes dringt erneut das Wimmern, kaum zu bemerken im Tosen der Massen, doch Malika spürt es mit jeder Faser. Unwillkürlich setzen sich ihre Füße wieder in Bewegung - hinein in den tobenden Pulk.
Sofort wird sie umschlossen von Leibern. Die Hitze sengt bereits an ihren Haarspitzen. Sie kommt kaum voran. Menschen schieben sie zur Seite, ohne sie zu bemerken. Es ist schier unmöglich zu atmen. Malika muss auf die andere Seite, durch die Menge hindurch. Sie versucht, sich zwischen zwei Männern hindurchzuzwängen.
„Der Vater hat keine Angst“, brüllt ihr plötzlich einer der Beiden zu. Sein Gesicht strahlt. „Auch wir haben keine Angst.“ In seinen Augen flackert der Wahnsinn.
Plötzlich teilen sich die Rauchschwaden und Malika hat klare Sicht auf den Balkon. Ein alter Mann stützt sich auf das Geländer. Er schwingt die Faust, redet, brüll, doch die Worte erreichen Malika nicht. Nach jedem Satz schreien seine Anhänger ihm ihre Begeisterung entgegen. Entsetzen packt sie. Sieht er nicht, dass es brennt, versteht er nicht, dass er alle um ihn herum in den Tod reißt? Sie muss von hier verschwinden. Panisch versucht sie sich aus der Masse herauszuwinden. Ihre Muskeln brennen, ihr Atem pfeift. Ellenbogen bohren sich in ihre Seite, doch irgendwann ist sie frei. Vom Druck der Leiber befreit fällt Malika auf die Knie und ringt nach Luft. Niemand beachtet sie. Sie will begreifen, was hier geschieht. Sie starrt in die Gesichter und findet verzerrte Fratzen, einige tragen Uniform. Dann teilt sich der Rauch erneut. Der Alte hält das Geländer gepackt. Sein Blick fixiert die Menge, doch seine Augen - seine Augen sind weiß. Malika begreift. Er sieht nicht, dass sein Palast in Flammen steht. Gefangen in seinem irren Schauspiel ist er blind für die Hölle zu seinen Füßen.
Auf den Knien kriecht Malika weiter von der Menge fort. Kann es wirklich so einfach sein? Sie blickt zurück. Alles ausschalten und jubelnd verbrennen? Nein. Sie sieht Rafaels Gesicht, das Flackern in seinen Augen. Nein. Sie muss wissen, woher dieses Wimmern kam. Vergebens wartet sie auf einen Laut, um ihr die Richtung zu weisen. Was nun, was nun? Stummes Flehen von ihren Lippen. Sie richtet sich auf, geht wahllos einige Schritte - und entdeckt an der Seitenwand des Palasts eine Treppe. Ein Keller. Plötzlich kennen ihre Füße den Weg. Sie rennt die Treppe hinunter, die Flammen sind noch nicht bis hierher vorgedrungen. Die Kellertür hängt in den Angeln. Malika stolpert in die Dunkelheit. Unruhig wartet sie, bis sie einige Umrisse ausmachen kann. Der Raum ist klein. Rauch dringt hinein aus anderen Teilen des Kellers.
„Oh Gott“, entfährt es ihr.
Zwei Armlängen entfernt steht ein Käfig. Auf dem Boden liegt eine Gestalt. Malika stürzt an die Gitterstäbe. Ein Kind, regungslos, winzig, fast verhungert, aber es atmet. Malika sieht Schürfwunden unter zerfetzter Kleidung. Sie rüttelt an der Käfigtür. Das Kind wimmert leise. Hektisch sucht Malika den Raum ab. Sie braucht Metall - etwas, um das Schloss zu zertrümmern, das die Tür verschlossen hält. Nichts, nichts. Der Raum ist leer. Wütend schlägt Malika gegen die Stäbe. Immer mehr Qualm dringt in den Kellerraum. Sie muss husten. Es wird heißer. Verzweifelt rüttelt sie an der Tür - vergeblich.
„Nun komm schon!“ schreit sie das Metall an.
Plötzlich erscheint eine Gestalt im Türrahmen.
„Was passiert hier?“
Ein Mann in Uniform. Ein Maschinengewehr.
„Oh Gott, nein“, flüstert Malika.
Der Mann blickt sich um. Seine Augen fixieren Malika, die an der Käfigtür kauert. Sekunden verstreichen. Von draußen wabert der Jubel der Masse herüber.
„ Hau ab da!“
Panisch springt Malika zur Seite. Der Mann schreitet zum Käfig und entsichert das Gewehr.
„Nein, nein. Es ist doch schon fast tot“, fleht Malika.
Der Mann reagiert nicht. Flammen fressen Löcher von der anderen Seite der Wand. Die Hitze wird unerträglich.
Der Mann schießt. Malikas Augen schreien vor Entsetzen.
„Jetzt geh schon. Beeil dich!“ dröhnt plötzlich der Soldat.
Malika begreift. Die Käfigtür steht offen. Sie rennt hinein, hebt das Kind auf den Arm. Kurz verharrt ihr Blick auf dem des Soldaten, dann dreht sie sich um und flieht in die Nacht.
Der Palast fällt bereits in sich zusammen. Die Flammen verschlingen Stein und Metall, doch die Menge jubelt noch immer. Noch immer brüllt der Alte vom Balkon. Malika stürmt der Straße entgegen, der Dunkelheit. Sie läuft bis sie das Viertel hinter sich gelassen hat. Das Kind wird unendlich schwer auf ihrem Arm. Malika setzt es vorsichtig ab und blickt sich um. Ihre Umgebung scheint ruhig. Sie hört kein Gewehrfeuer, keine Schreie. Der Mond sendet zaghaft ein wenig Licht.
Malika lässt sich neben das Kind sinken.
„Kannst du mich hören?“
Es schlägt die Augen auf.
„Du hast mich gerettet.“
Seine Stimme ist heiser, die Lippen gesprungen.
„Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht“, flüstert Malika.
Sie blickt in die dunklen Augen des Kindes und sieht das Leben. Sie weiß nicht, ob sie die Nacht überstehen werden. Sie weiß nicht, wo sie ist und wohin sie gehen können, aber in den Augen des Kindes, sieht sie das Leben.
„Wie alt bist du?“ fragt sie das kleine Geschöpf.
Es sieht aus als wäre es nicht älter als vier oder fünf.
„Ich weiß es nicht“, krächzt es leise. „Die Tage verschwimmen im Dunkel.“
Malika legt den Arm um die zitternde Gestalt. Ihr scheint, es strömt neue Kraft durch sie. Sie lehnen an einem Baum, irgendwo in der Zeit, irgendwo in der Welt und warten auf den Morgen. Eingehüllt in die Wärme des Kindes, schließt Malika die Augen. Das Kind blickt sie an.
„Ich weiß es nicht genau, Malika. Wie alt bin ich? Unendlich alt - 20, vielleicht 30, vielleicht älter. Was bedeutet das schon? Doch jetzt, jetzt endlich kann ich wachsen. Ich danke dir.“
Seine Stimme ist jetzt klar. Leise erhebt es sich, küsst Malika auf die Stirn und geht hinaus in die Nacht.
Ich erzähle diese Geschichte, doch geschrieben wird sie von den Menschen, die sich dem Tod entgegenstellen.
Der andere Beitrag zur Schreibarena: Schwarze Träume von lilasunrise
Tag der Veröffentlichung: 27.02.2011
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