„Du Arme,“ sagen meine Freunde in Israel, wenn sie mich am Abend anrufen, um mich zu fragen, wie es mir geht oder was ich denn gerade so treibe. Ich weiß nie recht, was ich nun erwidern soll? Will es denn jemand wirklich wissen, ob ich mir in diesem Augenblick die Füße wasche, die Nägel schneide, einen Knopf an die Bluse nähe oder mir soeben ein Ei zum Abendessen kochte?
„Jetzt mache ich eigentlich nichts!“ antworte ich, weil ich mir beim besten Willen kein wahres Interesse an der in diesem Moment von mir ausgeübten Tätigkeit vorstellen kann.
„Hast du etwa gerade Besuch? Störe ich dich mit meinem Anruf?“
„Nein, Hannah, du störst nicht, und Besuch habe ich auch nicht.“
„Na ja, wenn du so allein bist und nichts Richtiges zu tun hast, bist du vielleicht ganz froh, wenn ich dich ein bisschen unterhalte.“
Gern würde ich nun doch sagen, dass ich erst an einem Fuß die Zehennägel gekürzt habe und mich gerade dem anderen zuwenden wollte. Dazu benötige ich beide Hände, kann also nicht den Telefonhörer am Ohr halten. Ich gehöre nicht zu dem Sekretärinnentyp, der gleichzeitig Snacktabletts balancieren, Dokumentmappen unter dem Arm tragen und darüber hinaus im gleichen Moment Notizen aus dem zwischen Ohr und Schulter geklemmten Hörer entgegennehmen kann, ohne auch nur einer der vielen Tätigkeiten unaufmerksam nachzukommen.
Ich möchte nun doch sagen, dass ich mich gestört fühle – beim so genannten Nichtstun.
Aber hier und jetzt habe ich es mir selber vermasselt. Man hechelt sich also durch die Vielfalt der gemeinsamen Bekannten, tauscht ein paar Rezepte aus, fragt sich gegenseitig, ob man der Oseret (Putzhilfe) fünf Schekel Zulage spendieren sollte. Eventuell spricht man sich noch aus über das zur Zeit überraschend kalte Klima in Deutschland, bestöhnt die unerträgliche Hitze ba Erez (im Lande). Man sucht und findet Berührungspunkte – oder auch nicht! – in einer dahinplätschernden Diskussion über Politik, Literatur und andere mehr oder weniger schöne Tagesthemen. Der Schlusspunkt gipfelt dann darin, dass der Telefonpartner sich sehr freut, einem behilflich gewesen zu sein, die Zeit tot zu schlagen, sich für einen barmherzigen Samariter zu halten, um dann noch einmal den Punkt auf das I zu setzen, ein mitleidiges: „Du Arme bist ja wirklich schrecklich allein!“ zu hauchen und endlich den Hörer aufzulegen.
„Oh, Baruch ha schem“, seufze ich halblaut als Dankgebet, und - nun aber ran an die nächsten 5 Nägel, die fertig sein müssen, ehe das interessante Televisionprogramm beginnt. Währenddessen überlege ich, ob ich wirklich zu den Armen gehöre, wirklich in die Kategorie der Vereinsamten eingestuft werden muss.
Gewiss, es stimmt schon in gewisser Weise, ich bin allein. Was tue ich bloß den ganzen Tag nur in meiner eigenen Gesellschaft?
Nichts! Aber – ist dieses Nichts nicht doch angefüllt mit allem Möglichen?
24 Stunden am Tag kann selbst ein passionierter Leser nicht ununterbrochen die Nase im Buch halten; ich kann auch nicht immerzu schreiben. Meine Fantasie ist zwar ungeheuerlich, aber jedes Flussbett trocknet mal in der Glut aus, - und in Israel gab und gibt es viel Glut…
Ich kann auch nicht vom Morgen bis zum Abend Staub putzen, die Grünpflanzen von Läusen befreien oder das Besteck ordnen, zumal ich meine Besucher nur explizit einlade.
Ich telefoniere ganz gern, aber seit ich weiß, dass es ohnehin nicht mehr der Mensch ist, der mir alle Viertelstunde zärtlich ins Ohr flüstert, dass er an mich denkt (jetzt spüre ich seine Liebkosung nur noch im Säuseln des Abendwindes, den das Meer hier heraufschickt), also, seit ich weiß, dass letztlich nur bedeutungslose Leute mich anrufen, lasse ich es oft einfach klingeln. Ich möchte nicht einmal beim Nichtstun gestört werden.
Denn – wenn ich es recht bedenke, befinde ich mich in dieser Situation doch in recht illustrer Gesellschaft. Eine bessere könnte ich mir gar nicht vorstellen.
Allabendlich, mindestens eine gute Stunde, bewege ich mich inmitten meines aus drei Balkonkästen und vier Blumentöpfen bestehenden Gärtchens. Die gestern noch weißen, sich nun rostfarbig verfärbenden Blüten werden entfernt, man zählt die zurückbleibenden, sich winzig rundenden Miniapfelsinen, deren erste licht- goldene Farbigkeit das dem einem noch immer in der Luft hängenden Aroma den Rang abzulaufen versucht, weil sie um eigene Aufmerksamkeit buhlt.
Ich gieße, was das Zeug hält, indem ich meinen kleinen Obstbüschlein löffelweise ihren Abendtrunk kredenze – nicht zu viel und nicht zu wenig. Sie kennen ihr Quantum bereits und scheinen damit zufrieden.
Dann wende ich mich dem Kaktustopf zu, einem richtigen Riesenbrummer. Vom Umfang des Topfes her hätte ich einst schwören mögen, ihn niemals mit einer Pflanze ausfüllen zu können. Und nun?
Wie winzig war das kleine Schösslinglein, das ich im Garten einer verstorbenen Freundin abbrach, um etwas Lebendes von ihr mitzunehmen. Das war vor acht Jahren. Ich pflanzte es ein, und gerade, als es begann, eine Verwurzelung zu zeigen, musste ich fort. Zurück – nach Berlin. Der Abschied fiel mir schwer, aber was sollte ich tun?
Als ich ein Jahr später wiederkam, lag der kleine Schössling mit den stachelbewehrten, fest eingerollten, völlig trocken wirkenden Blattansätzen in seinem Riesentopf. Schon wollte ich alles wegwerfen, aber – dann tat ich es doch nicht. Im Gegenteil, jeglicher Vernunft zuwider bekam der kleine braune Wicht einen Schuss klaren Wassers. Ein nächster Guss am folgenden Tag würde auch nichts verderben, im Gegenteil eher – eine Verbesserung bewirken. Waren es meine sonst doch gar nicht mehr so guten Augen, die plötzlich einen Schimmer Grün im Stachelbraun zu sehen vermeinten? Oder – vollzog sich da ein Wunder?
So schlecht schienen meine Augen nun doch nicht zu sein, denn am dritten Tage schon begann sich ein stachelumrandetes Blättchen leicht zu öffnen, ganz vorsichtig, als erwache es aus einem bösen Traum…
Nun wiederholt sich Jahr für Jahr dasselbe Spiel. Wenn ich nach Deutschland fahre, lulle ich den kleinen Kaktus mit dem Namen Fridl in neuen Traum und verspreche ihm, bald wieder da zu sein, bei ihm. Er wartet auf mich.
Fridl ist inzwischen eine dicke, richtig fette Kaktusdame geworden, eine ganz robust entwickelte Begleiterin meines Hin-und–Her-lebens. Sie ist schon fast einen Meter hoch, na ja, vielleicht fehlen auch noch 25 Zentimeter oder so… Aber was jetzt noch nicht ist, kann ja im nächsten Jahr werden. *)
Tja, und dann hab ich noch ein anderes Ambiente um mein eigentliches Zuhause entdeckt.
Ganz plötzlich, am Abendbrottisch in meiner Küche sitzend, an der Pita kauend, den Elit-Kaffee schlürfend, sehe ich zur Balkontür, deren Glaseinsatz eigentlich mal wieder der Reinigung bedürfte… Aber während ich diese Tatsache noch gar nicht richtig verinnerlicht habe, sehe ich plötzlich draußen auf der gegenüberliegenden Straßenseite – da, wo sich der Carmel zu erheben beginnt, so etwas wie ein Bühnenbild.
Ich sehe im rasch einsinkenden Abenddämmer, beim sachten Wind, der meinen Turm am Hadar umweht, die - Königin von Saba. Sie scheint gerade mit ihrem treuesten Gefolge – zwei Dienern, Höflinge wahrscheinlich – angekommen zu sein, denn vor ihr steht – Salomo, der König von Israel. Er hat sich vom Thron erhoben, auf welchem sitzend er die Königin erwartete. Er ist beeindruckt von ihr und ihrer Schönheit, von ihrer Grazie, ihrer Anmut. Wie sie sich bewegt, wie sie das Haupt neigt und wieder hebt, um ihm, der sie ein Stück überragt und auf sie herniederschaut – aber nicht als mächtiger Herrscher, sondern als bewundernder Mann – in das Gesicht zu sehen. Es scheint ihr zu gefallen, was sie bemerkt. Sie neigt sich ihm ein wenig zu, spürt, dass er ihr einen Schritt näher kommt und weicht in halb sprödem, halb gewährendem Spiel graziös zurück. Und – wirklich, es sieht aus, als würde er sie halten wollen, indem er sich ebenfalls beugt. Nun wirken sie wie ein Tanzpaar im Tangoschritt.
„Verlass mich nicht, meine Schöne“, scheint er ihr zuzuraunen. Da beginnt sie erneut die Neigung gegen ihn, während er – wie, um sie besser im Blickfeld zu halten, - leicht rückwärts wippt.
Nun, ich kann es ganz genau beobachten, neigt sie den Oberkörper leicht zur Seite, ihr Haupt sinkt der eigenen Schulter entgegen. Vielleicht möchte sie damit der Dienerschaft hinter sich andeuten: „Seht, das ist der, dem ich mich schenken werde, dem ich einen Sohn gebären will, - denn niemand ist so groß wie Salomo, von dem mir bisher nur vage Träume Kunde gaben, den ich aber nun vor meinen Augen sehe und der mich ersterben lässt in Sehnsucht…“
Heute morgen nun, - meine Wäsche war zum Trocknen aufgehängt, ein Prozess, der sich hier innerhalb einer Stunde oder noch weniger vollzieht - ich saß unter dem Sonnenschirm, meinen Beinen durch Hochlagerung Erleichterung zu schaffen (man ist ja schließlich nicht mehr die Jüngste und muss ab und an etwas für sich selbe tun), da sehe ich doch in einer Richtung, die mir bisher noch gar nicht so wirklich interessant zu sein schien, einen Beobachter, den nunmehr ich meinerseits zu beobachten gedenke. Denn es handelt sich um keinen ganz gewöhnlichen Observierer, da man schließlich weder einen Dinosaurier noch einen ähnlichen, anderen Hünen aus der Vorzeit tagtäglich zu Gesicht bekommt.
Ich bin mir noch immer nicht so richtig klar über die exakte Identifikation des Erschauten und überlasse es meiner Stimmung, als was ich diesen Beobachter sehen und ausmachen möchte. Er ist austauschbar und überlässt es ganz und gar meiner Fantasie, was er für mich darstellen soll.
Drüben, das dreistöckige Wohnhaus, dessen ausgebautes Dachgeschoss mein stiller Beobachter so ausgibig auszuspähen versucht, reicht ihm gerade bis zur Brust. Deshalb muss auch der von mir bestaunte Beobachter sein Haupt einziehen und zur Seite neigen, und die Arme streckt er immer wieder unsicher aus, nach den Figuren, die auf der Terrasse herumlaufen und Menschen zu sein scheinen. Er ist unsicher, ob er wirklich sieht, was er sieht; er schüttelt den schmalen, echsenhaften Kopf, als könne er gar nicht glauben, auf so ein Spielzeug getroffen zu sein, das er doch zu gern in die mächtigen Hände - Schaufeln ähnlich – nehmen möchte, um es sich dicht vor die Augen zu halten. Seine kleinen Begleiter, die sich um ihn herum biegen und neigen und die immerhin auch schon in die Fenster des zweiten Stockwerks dieses Menschenhauses zu blicken vermögen, machen ihm – dem offensichtlichen Oberhaupt . alle greifenden Bewegungen nach. Wie der Herr, so das Gescherr! Oder: Wie die Alten sungen, so zwitschern auch die Jungen!
Eines Tages werden auch die kleinen Sauriere gewachsen, groß geworden sein und mitbekommen, was ihr Vater schon jahrelang vorher beobachten konnte…
Es kam eine Freundin aus Tel Aviv zum Besuch zu mir nach Haifa angereist. Sie ist auch ein bisschen verrückt. Ihr kann ich erzählen von all dem, was um mich herum lebt und webt.
„Vielleicht siehst du es sogar auch“, sagte ich. „Schau, ich zeig es dir. Gerade jetzt ist es ganz prächtig zu erkennen: die Diener der Königin, sie sind wie gefesselt, sie treten nur gerade von einem Bein auf das andere, ohne sich wirklich von der Stelle zu rühren. Sie müssen natürlich so lange ausharren an ihrem Platz, wie Ihre Majestät, die Königin – Salomo zu Ehren – die Avancen macht.“
„Wo – meinst du – soll ich hinsehen? Dort drüben zum Platz, wo die ganzen Bäume stehen? Da ist
eine Terrasse. Richtig! Aber niemand befindet sich darauf. Ich sehe nur paar Bäume. Was kannst du denn noch erkennen? Du hast ja nicht mal deine Brille auf.“
Als hätten ihre Worte einen Schleier über das Bild gesenkt, das plötzlich fort war...Ich sah nun auch – nichts. Lediglich eine Gruppe im Wind bewegter Bäume zeigte sich dem Auge; es schienen Zedern zu sein, vier Stück an der Zahl, genau so grün, genau so unbedeutend, wie all die weiteren rings um sie her, nur etwas von jenen entfernt.
Und auf der anderen Seite – wo ich doch schon mehrfach den neugierigen Dinosaurier beobachtet hatte, der hinwiederum den Heutemenschen zusah, dort bohrte sich bloß die grün-graue Spitze einer Riesenzeder, eines Mammutbaumes in den Himmel. Um ihn herum wedelten mehrere kleine Bäumchen, die eigens gesetzt worden waren oder die sich allein ausgesät hatten, - was weiß denn ich? Jedenfalls war da nichts anderes als Schatten spendender Baumbestand, - keine Personen, keine Gestalten, sondern durch Weras Realistik entzauberte, nur noch in von der Meerebrise bewegte, völlig normale Gehölze, Zedern vom Libanon vielleicht...Warum nicht eher aus Saba?
Wera lacht herzlich. Sie weiß Bescheid.
„Na ja, schon dein Joachim, als er noch lebte, hat steif und fest behauptet, du seiest so romantisch, dass es die Polizei verbieten müsste… Was du so alles siehst…?!“
Ich verabschiede sie, die leicht verwirrt wirkt, Sie mag es eigenartig finden, dass ich, obwohl ich schlecht zu sehen erkläre, doch erkennen zu können glaube, was sie durchaus nicht zu sehen imstande ist.
Ich kehre eilig auf meinen Balkon zurück und – es entringt sich mir ein tiefer Atemzug der Erleichterung.
„Majestät“, sage ich voller Ehrfurcht und mache einen – wie mir scheint - vollendeten Hofknix.. „Oh, Majesät lassen sich wieder blicken in voller Pracht, in voller Schönheit, vor dem Auge einer so kleinen, unbedeutenden Person, wie ich es bin und die nichts weiter sein kann als nur – romantisch…“
Ich sehe dem Werben und Versagen und dem ewigen Spiel der Liebe zu, das diese wunderbaren majestätischen Gestalten da draußen nur für mich aufführen. Nur für mich allein!
Nun zittere ich davor, dass eines Tages Männer mit Kettensägen kommen. Sie würden ja nicht einmal im Entferntesten ahnen, dass sie Salomo und seine Königin exekutieren.
*) 2005 meinem Nachbarn „in Pflege“ gegeben und von diesem entsorgt. Fridl gibt es nicht mehr.
Diese Erzählung erschien in den
ISRAEL NACHRICHTEN / ISRAEL CHADASCHOT
Tag der Veröffentlichung: 23.03.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Meinem Sohn Avigdor von seiner Ihma