Steyr 1548
Es war ein wunderbar sonniger Frühlingstag. Die Schneeschmelze war gerade erst vorüber und hatte, wie schon so oft zuvor, wieder zu Überschwemmungen in Steyr und Umgebung geführt.
Die schöne, stolze, wasserumrauschte Stadt lag, malerisch von zwei meist klaren Flüssen umflossen, im fruchtbaren Hügelland der Voralpen. Leider kam es aber dadurch immer wieder auch zu schweren Tragödien, wenn der Wasserspiegel dieser Flüsse unmäßig anstieg.
Der Winter war sehr kalt gewesen und es war auch Anfang März viel Schnee nachgekommen, der danach selbst in den Tälern noch meterhoch gelegen ist, als die steigenden Temperaturen vom Winter nichts mehr wissen wollten und aus den Bergen das erste eisige Schmelzwasser angerauscht kam.
Bei Hochwasser in Steyr mussten alle Stadtbewohner zusammen helfen, egal ob Alte oder Kinder, jeder musste große Säcke mit Sand befüllen, um damit den ärgsten Schaden abzuwenden. Die vornehmen Stadthäuser am Ennskai waren durch die mächtige Stadtmauer einigermaßen gut geschützt, aber bei den Schmieden an der Steyr und den Häusern im Ennsdorf, die nicht von der Stadtmauer geschützt waren, richteten die Wassermassen viel Schaden an, ganz von der Sorge abgesehen, die Ennsbrücke, diese wichtige Verbindung der beiden Flussseiten, könnte schwere Schäden davontragen.
Dieses Jahr waren wieder einmal alle Mühen umsonst gewesen und die schlammigen Fluten hatten große Zerstörung mit sich gebracht.
Johannas Pläne für die Zeit um Ostern waren vorerst zergangen wie der Schnee in der Frühlingssonne. Heuer waren die Feierlichkeiten in der allgemeinen Hektik zum Großteil untergegangen. Wochenlang wurden die betroffenen Häuser und Gassen von der Schlammflut gesäubert, meterhoch türmte sich der mit der Flut angeschwemmte Unrat auf und wartete darauf, verbrannt zu werden. Den betroffenen Familien musste geholfen werden, so schnell wie möglich in ihre Wohnungen zurückzukehren. Außerdem wurden die Schäden an der Stadtmauer behoben.
In der Steyrer Burg, wo Johanna mit ihrer Mutter und ihrer Familie, vom Hochwasser unbehelligt, wohnte, war ein Teil der betroffenen Flüchtlinge untergebracht worden. Die normalerweise dort wohnenden Soldaten und deren Familien rückten in dieser Zeit enger zusammen und machten auf der südostseitigen Hälfte der Burg, zwischen Kapelle und Burgtor, Platz für die vorübergehend Obdachlosen.
Johanna und ihre Familie hatten sich gemeinsam mit vielen anderen Freiwilligen aufopfernd um die armen Leute gekümmert und alles versucht, um drohende Epidemien bereits im Keim zu ersticken. Sauberkeit war oberstes Gebot gewesen und die dreckverschmierte Kleidung musste im Burghof beim großen Brunnen ausgezogen werden, wurde dort notdürftig ausgeklopft und zum Trocknen aufgehängt, denn es rentierte sich nicht, sie immer wieder aufs Neue zu waschen. Am nächsten Morgen konnten die Sachen, ausgeklopft und ausgebürstet, wieder angezogen werden. Es ging die Angst vor ansteckenden Seuchen um, man befürchtete, dass im feuchten Schlamm und Schmutz viele Krankheiten entstanden.
Die schlimmen Pestjahre von 1541 und 1542 waren allen noch gut in Erinnerung. Die Seuche hatte auch in Steyr gewütet. Es gab damals kaum eine Familie, die der schwarze Tod verschont hatte. Der dritte Teil der Stadtbevölkerung war dahin gestorben, hieß es. Viele Kinder und gebrechliche Alte wurden grausam vom Sensenmann mit dem Totenschädel und der schwarzen Kapuze hinweggemäht, doch auch junge und gesunde Menschen starben zu Hauf.
Natürlich hatten die Pfaffen während ihrer Predigten am Sonntag behauptet, wegen des Teufels Martin Luther wäre dieses Unheil über die Menschheit gekommen. Doch jeder, der seinen Verstand einzusetzen vermochte, wusste, dass die Pest bereits lange vor Erscheinen der ersten Protestanten überall in Europa wütete und durchaus sowohl Reformierte daran zugrunde gingen, als auch tiefgläubige Katholiken, die am alten Glauben festhielten.
Damals waren viele aus Angst vor Ansteckung aufs Land geflohen. Es war schrecklich. Die Menschen in der Stadt mieden einander, viele starben einsam. Keiner wagte, die Häuser der Infizierten zu betreten, Fenster und Türen standen offen, Hausrat und Kleidung lagen in den Straßen, durch die die Siechknechte, meist ohnehin zum Tode verurteilte Verbrecher, mit ihren Karren fuhren, die Toten aufluden und zu den Pestgruben außerhalb der Stadt brachten. Doch auch die Nonnen und Mönche setzten aufopfernd ihr Leben aufs Spiel, um zu helfen. Johanna wollte jetzt daran keine Gedanken mehr verschwenden. Die Stadt war wieder sauber und bewohnbar und das schöne Wetter hob die Stimmung allgemein an.
Sie nutzte diesen ersten freien sonnigen Tag und es trieb sie hinaus ans Ufer der Steyr, an dem sie, gedankenvoll und alles andere um sich her vergessend, dahinwanderte. Sie fühlte sich hier fast wie im Paradies. Das Wasser der Steyr plätscherte munter dahin und verzweigte sich hier in verschiedene Nebengerinnsel. Dazwischen waren kleine bewaldete Inseln entstanden, auf deren Säumen sich schöne, runde weiße Steine sammelten, auf denen sich gerne die Entenfamilien sonnen ließen. Das Gras war noch teilweise im getrockneten Schlamm verstrickt und in den Sträuchern am Ufer sah man noch angeschwemmtes Treibholz hängen. Wenn es aufgetrocknet war, würden es sich die in der Nähe wohnenden Menschen als Feuerholz holen. Auch im sonst glasklaren Wasser des seicht dahinplätschernden Nebenarmes der Steyr schwammen noch abgebrochene Äste und ab und zu trieben auch Gebrauchsgegenstände, wie kaputte Stühle, vorbei.
Der Wasserstand war hier noch zu hoch, um über einige große Steine zur, inmitten der beiden Flussarme gelegenen, Insel zu hüpfen und so setzte sich Johanna verträumt auf ein Stück Treibholz am Ufer und malte mit einem abgebrochenen Ast allerlei Muster in den Schlamm. Ein paar Möwen umkreisten sie auf der Suche nach ein paar Brotkrumen, die sie sonst meist dabeihatte. Anklagend kreischten sie sie an. „Entschuldigung. Das nächste Mal werde ich wieder an euch denken!“ rief Johanna ihnen zu.
Sie hatte die Haare, wie meist, zu einem lockeren Zopf geflochten, aus dem sich immer mehr Strähnen herauszulösen begannen, und die Ärmel ihrer Tunikabluse waren hochgekrempelt. Die wärmenden Sonnenstrahlen prickelten angenehm auf ihrer Haut.
Hier im Grünen hing sie gerne ihren Gedanken nach, die Ruhe ausstrahlende Natur rings um lud geradezu ein, diese schweifen zu lassen.
Sie beobachtete eine kleine grün-schwarze Raupe, die sich in ruckartigen Bewegungen einen Weidenzweig hinauf mühte. Es sah lustig aus, wie sie, nachdem der vordere Teil vorsichtig auf der Suche nach festem Untergrund nach vor tastete, mit dem Hinterteil einen Bogen bildete und so ein ganz schön beachtliches Tempo vorlegte.
Was mochte in der Raupe wohl vorgehen? Konnten sich Raupen überhaupt Gedanken machen? Wusste das kleine Tier überhaupt, dass es auf einem Stück Ast kletterte, dass die Welt nicht nur diesen einen Weg bot, der scheinbar nur in eine Richtung führte, dass, wenn sie sich am Boden fortbewegen würde, sich unzählige andere Wege vor ihr eröffnen würden, dass es ein Oben und ein Unten gab? Vielleicht war es für die Raupe sogar vollkommen unvorstellbar, sich nach links oder rechts zu wenden. Vorsichtig nahm Johanna das Tier vom Ast und setzte es sich in die Handfläche. Sie konnte das Leben in ihrer Hand spüren, fühlte beinahe ein verängstigtes Zittern des kleinen Wesens. Keine Angst, dachte sie, ich tu dir nichts, du kleines Würmchen. Würde sie jetzt ihre Hand zur Faust schließen, könnte sie die kleine Raupe darin zerquetschen. Natürlich würde sie so etwas nie tun. Für das kleine Ding musste sie so etwas wie Gott für den Menschen sein. Unvorstellbar mächtig.
Eines Tages würde sich diese Raupe in einen Kokon einhüllen und sich irgendwann daraus als strahlend schöner Schmetterling wieder befreien. Wusste das Tier von seiner Metamorphose, jenem mystischen Augenblick, an dem es sich in den Schmetterling verwandelte, oder endete die Wirklichkeit mit der Beendigung seiner Existenz als Raupe? Johanna dachte oft daran, wohin sie ihr Weg wohl führte. Führte er geradewegs in den Tod, oder in eine andere Existenz? Es war ein wunderschöner Gedanke, dass sich der Mensch vielleicht nach seinem Tode in einen Engel verwandeln würde. Engel konnten fliegen – wie ein Schmetterling und so wie die ehemalige Raupe plötzlich in ein neues Element, die Luft, vordringen konnte, würden die Menschen als Engel auch in eine andere Dimension vordringen. Sie hoffte, dass es so sei und es machte sie hilflos, keine Gewissheit zu haben. Ihr müsst glauben, predigten die Priester, aber insgeheim dachte sie sich dabei immer, glauben heißt nichts wissen.
Vorsichtig setzte sie die Raupe zurück, an die Stelle des Astes, von der sie sie zuvor gelöst hatte. Schau nur zu, dass du bis an die oberste Spitze kommst, von dort hast du einen schönen Ausblick auf deine große weite Welt. Wie ein Mensch, der die Spitze eines Berges erklimmen möchte, um zu sehen, was dahinter lag, dachte sie. In Wirklichkeit lag hinter jedem Gipfel der Abstieg und auch die Raupe würde sich wohl wieder auf den Rückweg machen müssen, wenn sie das Ende des Zweiges erreicht hatte. Aber nach ihrer Verwandlung würde sie dafür als Schmetterling die große weite Welt von ganz hoch oben bestaunen können.
Sie sehnte sich danach, es möge schon zwei Wochen später sein, denn am Donnerstag nach Jubilate, also dem dritten Sonntag nach Ostern, begann der von ihr sehnsüchtig erwartete Jahrmarkt, deren es zwei pro Jahr gab. Der zweite würde im Herbst zu Michaeli stattfinden, und der kommende würde bis zum Feste der Himmelfahrt Christi, also zwei Wochen, andauern. Diese wenigen Wochen wurden nicht nur von ihr, sondern auch von der gesamten schwer arbeitenden Bevölkerung innig herbeigesehnt, obwohl oft der Ertrag einer harten Arbeitswoche in wenigen Stunden ausgegeben war, genossen die Menschen diese unbeschwerte Zeit, um danach fleißig und rastlos tätig das alte Geschäft wieder aufzunehmen.
Doch dieses Jahr sehnte Johanna den Jahrmarkt noch mehr als sonst herbei. Ihre beiden besten Freunde, Adam und Max, würden dieses Jahr von der weit entfernten Untersteiermark heimkehren, wo sie auf der Burg am „weißen Stein“ in Pettau an der Drau beim Onkel ihres Stiefvaters die letzten zehn Jahre verbracht hatten. Auf Wunsch des Erzherzogs Ferdinand, ihrem Paten, sollten die beiden dort zu ehrenvollen Rittern und treuen Vasallen der habsburgischen Krone ausgebildet werden.
Pettau war, nachdem es jahrzehntelang zum Erzbistum Salzburg gehörte, um 1500 zum habsburgischen Herzogtum Steiermark gekommen. Die im Jahr 1376 verabschiedeten Stadtstatuten wurden die Basis für einen wirtschaftlichen Aufschwung und dem Kaiser war wichtig, diese Stadt gegen die Türken zu halten. Obwohl der Kaiser eine Auswahl der besten Generäle nach Pettau schickte, hatten doch die Auseinandersetzungen mit dem Osmanischen Reich die Bedeutung der Stadt beträchtlich beeinträchtigt. Die Stadt musste sich, wie so viele, jahrelang der immer wieder stattfindenden Belagerungen durch die Türken, die das gesamte Reich heimsuchten, erwehren. Wie Maria, Adams und Max` Mutter, hatte sich Johanna deshalb all die Jahre große Sorgen um die beiden gemacht.
Seit der Eroberung der griechischen Insel Rhodos, die unter dem Schutze des Johanniterordens gestanden hatte, und 1523, vier Jahre vor Johannas Geburt, nach monatelanger Belagerung von den Türken sturmreif geschossen und schließlich von diesen eingenommen wurde, und weiteren Siegeszügen unter Suleiman dem Prächtigen im Mittelmeer, drohten die Osmanen nun ganz Europa zu überschwemmen. Als die türkischen Horden über die südlichen Grenzpässe wie den Seebergpass und durch das Kanaltal in Kärnten kommend durch die österreichischen Länder stürmten, war ihnen kein Dorf zu entlegen, kein Gehöft zu hoch auf dem Berg. Fast jede Hütte fanden sie und warfen die Brandfackeln auf das Dach. Flinke Pferde trugen sie durch die Täler. Überdies schleppten sie viele Bewohner als Gefangene mit. Die „Renner und Brenner“ wurden sie von den geschockten Menschen seither genannt.
Adams und Max` Vater, Hans Hofmann, war vor vielen Jahren ebenfalls dem Kampf gegen die Türken zum Opfer gefallen. Während der Belagerung Wiens zogen 15.000 Mann unter Kasim Pasha plündernd und brandschatzend durchs ganze Land und kamen sogar bis vor die Tore Steyrs. Freiherr Hofmann, der dem Regenten sehr eng verbunden war und diesem auch als Minister diente, kam, nachdem er zuvor noch in Steyr schützende Palisaden in Ramingsteg und im Ennsdorf errichten ließ, bei der Belagerung Wiens im Kanonenhagel ums Leben.
Johanna konnte sich nicht mehr an den Mann erinnern. Sie und die beiden Jungen waren damals noch Kleinkinder gewesen. Seit sie denken konnte, wurden Schauergeschichten über die Türken verbreitet und man konnte meinen, die Menschen fürchteten sie mehr als den Teufel persönlich. Jedermann gewöhnte sich an, alles Missgeschick und schlechte Geschäfte den Türken zuzuschreiben. Und schlug sich ein Handwerker versehentlich mit dem Hammer auf den Daumen dann hörte man ihn sogleich „Kruzitürken“ schimpfen. Es wäre fast lustig gewesen wenn deren Vormarsch nicht als reale Bedrohung wie ein Damokles-Schwert über dem Heiligen Römischen schweben würde.
Der Vormarsch des Osmanischen Heeres hatte bereits vor beinahe 200 Jahren mit der Eroberung von Gallipoli und Adrianopel in Bulgarien begonnen und seit der Eroberung Konstantinopels im Jahre 1453 einen Höhepunkt erreicht. Nach und nach fiel das gesamte byzantinische, ehemals oströmische, Reich wie Ägypten und Syrien und das persische Reich in ihre Hände. Damit hatten sich die Türken auch an den schönen Künsten dieser Länder, an deren Literatur und Philosophie bereichert und sich somit den Grundstein einer islamischen Zivilisation angeeignet.
Wenig später erlitten Serbiens Fürstentümer eine vernichtende Niederlage auf dem Amselfeld im Kosovo. Ganze Kreuzfahrerheere wurden bei Nikopolis an der Donau geschlagen und der Kampf zog sich weiter bis Belgrad, das sich noch einige Zeit tapfer geschlagen hatte. Doch das übrige Serbien wurde als Provinz des osmanischen Reiches erobert. Nach und nach wurden die Kleinfürstentümer in Griechenland und Morea erobert, Zentral- und Ostbosnien, wenig später die Herzegowina, das venezianische Negroponte, fast ganz Albanien.
Der Kaiser hatte zwar immer wieder mit Verzögerung versucht, die Initiative für eine offensive Nordafrikapolitik zu ergreifen, weil er sich dadurch einen Stopp der Invasionen erhoffte. Mit Hilfe des legendären Admirals Andrea Doria, einem Spross einer alten genuesischen Adelsfamilie, die schon seit Jahrhunderten hervorragende Flottenführer hervorgebracht hatte, waren ihm sogar immer wieder Teilerfolge im Kampf gegen die Osmanen und nordafrikanische Piraten gelungen. Mit diesem mächtigen und erfahrenen Admiral, der zuvor sogar gegen den Kaiser im Bunde mit dem französischen König gestanden hatte, von diesem aber undankbar behandelt wurde und so schließlich ins Lager des heiligen römischen Reiches übergewechselt war, kam es bei der Verteidigung der Küste Siziliens, Neapels und der spanischen Hafenstädte Cádiz, Malaga, Murcia und Valencia zu viel gepriesenen sagenumwobenen Schlachten gegen Schreckgestalten wie Khair ad-Din Barbarossa und Dragut. Irgendwie schienen die Osmanen immer wieder an allen Orten gleichzeitig auftauchen zu können, während die Flotte des Kaiserreiches, sicher auch wegen der fortschreitenden Kolonisierung der Neuen Welt abgelenkt, immer in der Defensive war.
Der Streit mit dem französischen König verschärfte die Bemühungen überdies. Tapfer behaupteten sich die Johanniterorden auf Malta, das ihnen der Kaiser als Lehen überlassen hatte, ohne sich auf sichere Hilfe des Kaisers, der an so vielen Fronten gleichzeitig gefordert war, einerseits und des französischen Königs andererseits, verlassen zu können.
Und nun stand dieses Schreckens-Heer am östlichen Rand des Heiligen Römischen Reiches und sandte Streifscharen über die Krain und Kärnten bis in die Steiermark. All diese Unternehmungen führten den christlichen Staaten Europas die vom osmanischen Reich ausgehende ständige Bedrohung vor Augen. Doch alles, woran die Kirche unter dem Papst denken konnte, war die Rückeroberung Jerusalems in immer neuen, unmöglichen Kreuzzügen.
War ihnen denn nicht bewusst, dass diese unglückseligen Kreuzzüge erst der letztendliche Auslöser des Hasses der Muslime auf die Katholiken war?
Waren diese blutrünstigen Kreuzzüge wirklich notwendig gewesen? Im Nachhinein über etwas nachzugrübeln war ohnehin überflüssig. Christen, Muslime und Protestanten, sie alle beteten denselben Gott an – sie alle erwarteten seine Unterstützung im gegenseitigen Kampf. Wie würde wohl er darüber denken? Würde er in seinem Himmelreich überhaupt etwas davon mitbekommen, oder hatte er sich aus Verzweiflung über die Menschen schon längst von ihnen abgewandt? Vielleicht betrachtete er alles nur als grausames Spiel und erwartete in spannender Verharrung das Ergebnis dieses Machtkampfes.
Doch um Gott selbst, und um den Glauben, konnte es sich bei diesen gegenseitigen Kreuzzügen nicht handeln, das sollte jedem intelligenten Wesen klar sein. Es drehte sich alles nur um den Kampf um Wohlstand und Land.
Jerusalem, die heilige Stadt! Wo, wenn nicht dort, war das Zentrum des Glaubens zu finden? Nirgendwo sonst auf der Welt war man Gott näher. Jetzt herrschten die Osmanen in einer der ältesten Städte der Welt. Johanna war sich sicher, hätte sich die Menschheit in weiser Entscheidung dazu entschlossen, gemeinsam statt gegeneinander zu agieren, würde der Fortschritt bereits größere Früchte tragen, als es bisher der Fall war. Es ging den Anführern nicht nur um den Glauben. Manche mochten wohl fanatisch sein und mit ihrem Fanatismus die Menge anstacheln. Mühsam arbeiten Wissenschafter in Europa an Dingen, die den arabischen Gelehrten schon längst bekannt waren (und umgekehrt) und sahen sich dennoch immer die Grenzen alles Wissens deutlich vor Augen gehalten. Was sollte alle Heuchelei und Brutalität des Pfaffenwesens in Rom im Bunde gegen das Wissen, gegen die Gedankenwelt bringen, außer egoistisch nur an ihre eigene Macht und Stärke zu denken? Was verbargen sie in ihren geheimen Archiven? Was sprach dagegen, alles Wissen öffentlich zu machen, zum Wohle der gesamten Menschheit, anstatt die einfachen Leute als Kanonenfutter in immer neue Machtkämpfe zu schicken.
Wenn sie an die Kreuzzüge, Pestepedemien und an die Judenvertreibungen der spanischen Inquisition dachte, kamen ihr immer Zweifel an der Existenz Gottes. Wie konnte ein Gott, wie er von den Priestern geheiligt und gepriesen wird, so etwas nur zulassen? Im Buch Mose steht geschrieben „und Gott sprach – lasset uns Menschen machen nach unserem Bilde, uns ähnlich“. Womöglich hatte Gott sich längst mit Schrecken von seiner geschaffenen Kreatur, dem Menschen, abgewandt. Warum sonst waren schon lange nicht, wie in früheren Zeiten beschrieben, die Wächter des Himmels längst hernieder gestiegen und sorgten für Ruhe und Frieden? Ein guter Vater würde doch seinen Kindern erklären, was sie nicht verstanden.
Sie war nur ein Mädchen und keinen schien es zu interessieren, was sie über Gott, Wissen, Macht, Geld und Reichtum dachte. Sie flüchtete sich dann gerne ins Reich der Poesie und Philosophie und hoffte im Wunschdenken, jeder Mann würde früher oder später ebenfalls diese Machtbesessenheit aufgeben. Die Aufklärung war wohl das einzige Mittel gegen den hochgestochenen theologischen Unsinn, sie wollte sich nicht vorschreiben lassen was sie wie zu sehen hatte. Sie konnte immerhin selbst lesen.
Die wegen ihrer Machtgier verfeindeten italienischen Länder konnten sich mangels Solidarität nur schwer zu einer Einheit aufraffen und so war es also für die Sultane ein Leichtes, die Grenzen ihres Reiches stetig zu erweitern. Als Frau würde sie nie auch nur die Gelegenheit bekommen, das geheime Wissen der Kirche zu studieren und auch die immer neuen geheimen Orden würden nie eine Frau in ihren Reihen akzeptieren. Nicht einmal die ranghöchsten Kleriker und Adeligen des Landes kamen an die wirklich interessanten Texte und Überlieferungen aus der Zeit des alten Testamentes heran. Wie viel davon war überhaupt noch vorhanden?
Die Hiramslegende fiel ihr ein, nach der Hiram, der Architekt des Palastes von König Salomon auf dem Tempelberg, sein Geheimnis der Baukunst nur an Eingeweihte weitergegeben hatte. Als er von drei seiner Gesellen überfallen und getötet wurde, sich aber sein Geheimnis nicht entlocken ließ, schien seine Kunst verloren gegangen zu sein. Wie viel Wissen mochte wohl auf diesem Wege bereits verloren gegangen sein? Auch er war ein Opfer der Machtbesessenen geworden.
Wie spannend musste es für all die jungen Männer gewesen sein, als die Tempelritter, die dennoch hinter sein Geheimnis gekommen waren, aus dem Heiligen Land heimkehrten und um Köpfe für ihren Orden warben, um ihnen bei der Umsetzung ihres dort wieder gefundenen Wissens um die Architektur zu helfen? Wäre sie damals ein Mann gewesen, dem diese Gelegenheit geboten wurde, wie hätte sie sich wohl entschieden? Natürlich hätte sie alles getan, um dem Orden beizutreten, obwohl wohl auch viele schwarze Schafe – Fanatiker – unter den Verteidigern der heiligen Stadt waren. Immerhin schien irgendetwas Spannendes die Männer damals beflügelt zu haben, als hätten sie von Gott selbst etwas Weisheit erfahren. Manche berichteten, die Stimme Gottes gehört zu haben Sie bauten Kathedralen von unvorstellbarem Ausmaß in ganz Europa ihm zu Ehren. Mit dem Wissen, das sie im Heiligen Land ausgegraben hatten. Altes Wissen, das anscheinend bereits Pythagoras bekannt war, das aber wieder verlorenging schien sie zu beflügeln. Doch wie schon Hiram, wollten auch die Templer dieses geheime Wissen auf keinen Fall preisgeben, was letztendlich zu ihrem Untergang geführt hatte, als der eifersüchtige, machtgierige König Philipp mit Hilfe des Papstes sie zwingen wollte. Nur wenigen gelang damals die Flucht. Der Orden war zerstört. Unwiederbringlich waren wahrscheinlich seine Geheimnisse verschwunden.
War es richtig, sich einen Vorteil zu schaffen, indem man seine Geheimnisse hütete oder war es einfach nur dumm? Wo könnte die Menschheit heute stehen, wenn jeder jedem bereitwillig sein Wissen zur Verfügung stellen würde? Was wäre damals geschehen, wenn die Tempelritter in die Offensive gegangen wären? Ihr Wissen und ihre Geheimnisse nicht nur dem König und dem Papst, sondern der ganzen Welt mitgeteilt hätten?
Doch die Zeiten änderten sich, die Menschen ließen sich immer weniger manipulieren und eigenständiges Denken würde auch in Zukunft eine große Herausforderung für die Kirche sein, wenn nicht sogar eine größere Gefahr als es die Tempelritter und der Protestantismus bereits schon waren.
Es lag das Zeitalter der Entdeckungen hinter ihnen, in dem alle Ecken und Enden, alle Höhen der Erdoberfläche erforscht wurden. Es schien, die Werke der Schöpfung hatten sich seither verdoppelt und boten somit der Intelligenz neue mächtige Anregungsmittel zur Vervollkommnung der Naturwissenschaften.
Columbus hatte als erster versucht, den Westweg nach Indien zu erkunden und dabei einen neuen Kontinent entdeckt.
Er unterschied sich damit deutlich von all jenen seiner Zeitgenossen, die nur darüber nachgedacht und diskutiert hatten. Für Johanna war er der größte Held aller Zeiten. Er und die anderen Abenteurer und Entdecker, wie Magellan, segelten rund um die Welt und Vasco da Gama hatte letztendlich doch den östlichen Seeweg nach Indien gefunden. Columbus Entdeckung der Neuen Welt würde noch vielen mutigen Männern nach ihm Raum für eigene Abenteuer bieten. Sie hatte vor einigen Jahren ein Exemplar von Thomas Morus „Utopia“ abschreiben können und war seither beinahe unersättlich auf der Suche nach Abenteuerberichten wie dem Columbus-Brief oder dem Mundus-Novus-Brief Amerigo Vespuccis.
Könnte man in dieser neu entdeckten Welt nicht ganz von vorne beginnen? „De optimo statu rei publicae dequa nova insula Utopia“? Sie liebte das, zwar in satirischer Weise, verfasste Werk über eine erfundene Gesellschaft auf dem erfundenen Inselkönigreich Utopia, wo der Staat eine Republik ist und von einem Senat regiert wird, der sich aus Wahlbeamten zusammensetzt und wo wichtige Entscheidungen durch Volksabstimmungen getroffen werden. Und sie verehrte den Humanisten Thomas Morus. Er war Englands Verteidiger des katholischen Glaubens gewesen und ein entschiedener Luther-Gegner. Trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb, wurde er vor mehr als zehn Jahren in London hingerichtet. Er hatte die Oberherrschaft des Königs von England über die Anglikanische Kirche bis zu seinem Tod verweigert. Seine Tochter galt als eine der gelehrtesten Frauen dieser Zeit. Morus hatte sich auch dafür eingesetzt, dass den Mädchen die gleiche Bildung zustände wie den Jungen und hatte dies bei seinen eigenen Kindern erfolgreich durchgesetzt. Durch ihn hatte sie viele wichtige Erfahrungen in ihrer Lebenseinstellung gewonnen. Der Humanismus stand für Toleranz, Gewaltfreiheit und Gewissensfreiheit als Prinzipien des menschlichen Zusammenlebens. War es nicht selbstverständlich für alle Menschen stets danach zu streben das menschliche Dasein zu verbessern? Mitgefühl für die Schwächen des Menschen zu zeigen? Sich im Mitmenschen wieder zu finden? Wie hatten schon die Griechen so schön formuliert? „Der Mensch ist das Maß aller Dinge“.
Wie sehr wünschte sie sich, ein Vogel sein zu können und die Welt von oben in Sicherheit zu entdecken. Sie würde nach Venedig fliegen und das Meer sehen, von dem die Händler ihr so begeistert berichteten, in die Heimat der alten Griechen zu ihren Tempeln und Palästen, ins geheimnisvolle Land der Pharaonen und den schwarzen Kontinent sehen. Sie wünschte sich, einmal Jerusalem zu sehen, wo die Weltgeschichte möglicherweise ihren Ausgang nahm und Paris, das Zentrum der Gelehrsamkeit schlechthin.
In ihren Träumen war sie schon in die märchenhafte Welt der indischen Maharadschas gereist und hatte sich die mit bunten Blüten bedeckten Becken in edelsteinbesetzten Marmorpalästen vorgestellt, von denen die Botschafter so schwärmten. Es gab so vieles, von dem sie gehört oder gelesen hatte, das sie gerne selbst erleben würde, aber wie sollte sie als Mädchen auch nur alleine die Stadt verlassen?
An den Rändern der bekannten Welt findet sich kein fest abgegrenztes, in sich geschlossenes Territorium. Sogar das Meer, die bisher stärkste Naturgrenze, ist inzwischen eine Aufforderung zur Überwindung leeren Raumes und Gewinnung von Neuland. Bald würden es die Lüfte sein. Doch sie konnte es bereits ahnen, es würden sich immer weitere Grenzen auftun.
Die Gedanken sind frei. Im Traum konnte sie bis in die neue Welt reisen oder vom Kaiser persönlich dazu eingeladen werden, im Indienrat in Sevilla die Überseebeziehungen zu Amerika zu kontrollieren und zu organisieren. Sie würde den verkalkten und steifen alten Männern in Spanien zeigen, wie eine Frau einen Mittelweg zwischen wirtschaftlicher Notwendigkeit und theologisch-missionarischen Verpflichtungen gehen konnte. Sie hatte so viele unschöne Geschichten von der Ausbeutung dieser unschuldigen Indios in der Neuen Welt gehört, die auf den Encomiendas der spanischen Siedler zu Zwangsarbeit missbraucht wurden, obwohl der Kaiser verordnet hatte, die Einwohner der eroberten Länder als gleichberechtigte Bürger seines Reiches anzuerkennen.
Was bildeten diese habgierigen Kolonisten sich eigentlich ein? Nachdem schön langsam überall in Europa die Sklaverei abgeschafft wurde, suchten sie jetzt ihre Opfer in den neu entdeckten Ländern? Sie hatte von Isabellas Vater ein Gerücht gehört, nachdem mittlerweile ganze Bootsladungen voller schwarzer Sklaven aus Guinea nach Übersee transportiert wurden, um dort in den Bergwerken eingesetzt zu werden.
In ihren Träumen stellte sie sich vor, sie säße, wie in den Aufzeichnungen Vespuccis geschildert, auf einer der indianischen Inseln, Hispaniola, oder an einem anderen Ort der Terrae Firmae des atlantischen Meeres, mit einem Häuptling der Rothäute am Lagerfeuer und rauchte eine Friedenspfeife mit ihm. Als Dank für ihre konstruktiven Vermittlungen bedankten sich natürlich die Indianer mit ganzer Bootsladungen Gold bei ihr und zur Belohnung ihres Erfolges würde der Kaiser ein ganzes neu entdecktes Land nach ihr benennen.
Ihre Fantasie kannte diesbezüglich keine Grenzen. In den langen Winternächten schmückte sie ihre Träume mit allerlei Abenteuern aus und ließ einmal ihr Schiff von Piraten überfallen, deren verwegener Kapitän sie verführte und den sie schlussendlich aus Liebe in einen ehrlichen Menschen verwandelte.
Was ihr diese Träume brachten?! Irgendwie würde sie vielleicht immer danach trachten, zumindest einen winzigen Teil daraus zu verwirklichen und sei es nur, ein einziges Mal das Meer zu sehen, zu riechen und zu schmecken.
Sie selbst war auf der Steyrer Burg geboren und lebte seither mit Ihrer Mutter und deren Familie dort. Ihr Vater, Eberhard Marschall von Reichenau, wurde von Kaiser Maximilian, dem er bei der Vertreibung der Ungarn aus Österreich große Dienste erwiesen hatte, als Burgpfleger in Steyr eingesetzt und lernte so ihre Mutter Anna, die älteste Tochter des Burgverwalters, kennen und lieben und ehelichte sie mit Erlaubnis des Hofes, obwohl es eigentlich keine standesgemäße Verbindung gewesen war.
Zur Hochzeit seines treuen Ritters kam sogar der Kaiser persönlich auf die Steyrer Burg. Zu diesem Anlass schenkte er der Stadt sein Haus am Berge, vor der Burg gelegen, samt dem dazugehörigen Brunnen zum Eigentum. Kaiser Maximilian war damals ein herrlicher, bei allen Menschen beliebter Fürst und noch heute lobt man, Land auf Land ab, seinen ausgezeichneten Geist und Körper.
Er war der zweite Stifter der österreichischen Monarchie. Obgleich er immer Kriege führte, so war doch nie Österreich der Schauplatz derselben gewesen. Der Handel blühte auf, und der Wohlstand nahm unter ihm ganz bedeutend zu. Seine Klugheit und sein Glück brachten dem Hause Habsburg Kronen, dessen Herrschaft sich mittlerweile sogar in bisher weitgehendst unbekannte Weltteile erstreckte.
Da Kaiser Maximilian im Jahr darauf in Wels verstarb, teilten sich seither seine Enkel Karl und Ferdinand die Regentschaft des Reiches untereinander auf. Beide waren in Spanien geboren und in der Fremde aufgewachsen und während Karl schon in jungen Jahren auf den Thron Spaniens und den Niederlanden berufen und schließlich von den Reichsfürsten auch zum römischen Kaiser erwählt wurde, trat Ferdinand als Erzherzog die Herrschaft über die österreichischen Länder an und durch seine schon von seinem Großvater Maximilian stellvertretend für einen seiner Enkel verordnete Heirat mit Anna, der Tochter des Königs Ladislaus, stand ihm fortan auch die Krone von Ungarn und Böhmen zu.
Johannas Vater war zu dieser Zeit viel im Gefolge des jungen Erzherzogs unterwegs gewesen und stand diesem, dem das Land, die Sprache und die Sitten hier so fremd waren, beratend zur Seite. Er genoss unter Ferdinand dasselbe Vertrauen, dass ihm bereits unter Maximilian zuteil wurde. Nur seinen ehelichen Pflichten konnte er während dieser rastlosen Zeit nur selten nachkommen und so blieb die Ehe über viele Jahre hinweg kinderlos. Erst im Jahre 1527 wurde sie geboren. Ihr Vater war darüber jedoch wenig erbaut, da er sich einen Sohn ersehnt hätte. Töchter zählten für ihn nicht, denn sie waren keine Krieger.
Bereits zwei Jahre nach Johannas Geburt fand er, ob seiner Streitlust, im Kampfe in einer privaten Fehde mit einem Passauer Ritter den Tod und hinterließ außer ihr keine weiteren Erben.
Im Gegensatz zu ihrer Mutter, die sich keinen neuen Ehemann nehmen wollte, vermisste sie den Vater in ihrer Kindheit nicht, hatte sie doch eine große Familie, der als Oberhaupt ihr Großvater, der Burgverwalter, vorstand und so wuchs sie inmitten der Onkeln und Tanten in einem glücklichen Zuhause auf. Die Familie wohnte im an den Getreidespeicher und den Vorratshallen angrenzenden Bereich der Burg, der nur durch den Burggraben vom restlichen Teil der in Dreiecksform angelegten Styra-Festung getrennt wurde.
Einige Monate nach dem Ableben ihres Vaters sandte der Erzherzog seinen treuen Freund Hans Hofmann nach Steyr. Schon seit ihrem ersten Zusammentreffen in Spanien, als er der österreichischen Delegation als Gesandter der Steiermark angehörte, die dem jungen Thronerben ihr Vertrauen aussprach, genoss er sein Vertrauen. Er setzte Hans Hofmann von Grünbühel als neuen Burggrafen und Landesherren der Steiermark ein. Hofmann hatte sich während seiner Zeit im Gefolge Ferdinands, den er von Spanien bis an den Hof Erzherzogin Margarethes begleitet hatte um die Anerkennung der Enkel des verstorbenen Kaisers zu bestätigen, in die schöne Spanierin Maria verliebt. Sie war ihrerseits die Tochter eines Hofberaters, dessen Familie, damals wie heute, zu den engsten Vertrauten des jungen Regenten gehörte.
Die Stadt selbst wurde schon damals von einem Bürgermeister, der von den Bewohnern gewählt wurde, seinen 12 Räten und einem Richter, verwaltet und der Abt von Garsten wachte als Kommissär über das politische Geschehen von Steyr. Der Burggraf hatte also keine Jurisdiktion mehr, berichtete und beobachtete aber im Sinne seines Regenten die Vorgänge in der zweitgrößten Stadt Österreichs und war für die Umsetzung und Einhaltung der königlichen Erlässe zuständig.
Gemeinsam mit seiner spanischen Ehefrau Maria und den beiden kleinen Söhnen, dem dreijährigen Adam und dem zweijährigen Max, zogen sie in die Steyrer Burg ein und wurden somit fast zur zweiten Familie Johannas.
Ihre Mutter und Maria verstanden sich auf Anhieb und wurden beste Freundinnen. So wuchsen die drei Kinder gemeinsam auf und trieben ausgelassen innerhalb der Burgmauern allerlei Kurzweil. Gerne erinnerte sich Johanna an ihre unbeschwerte Kindheit zurück.
Von klein an machte Maria ihnen klar, wie froh sie sein konnten, hier in Steyr zu leben, fernab von den Intrigen des königlichen Hofstaates. Sie hatte ihnen schon als Kindern von den Umständen, die bei Hofe herrschten, erzählt. Von den Gefahren für alle dem Erzherzog nahe stehenden Personen und seiner Familie.
Damals hatten sie atemlos den spannenden Erzählungen gelauscht, sich aber noch kein genaues Bild der tatsächlichen Verhältnisse machen können.
Maria erzählte ihnen von den vielen versuchten, aber Gott Lob gescheiterten, Anschlägen auf das Leben des Erzherzogs. Sie musste es wissen, denn ihr Vater schlief in den ersten Jahren, nachdem dieser die Herrschaft in den österreichischen Ländern übernommen hatte, stets im selben Zimmer wie Erzherzog Ferdinand und war so als sein Kämmerer auch für dessen Sicherheit zuständig.
Damals waren die von den Habsburgern beherrschten Länder keine Einheit. Der damals noch sehr junge König stellte das bindende dynastische Band dar, doch auf ständischer Seite fehlte der Moment der Gemeinsamkeit weitgehend.
Die Österreicher hatten Angst vor einer militärischen Unterdrückung durch die Spanier und vor einer Übertragung einer für sie fremden Staatsform auf ihr Reich, und, obwohl die Kenntnisse über die Regierungsverhältnisse Kastiliens und Aragons sehr gering gewesen waren, hatten sie damals einen Angriff auf die Freiheit der deutschen Nation befürchtet. Aus den Erzählungen Marias wusste sie, dass im Sommer 1526, also im Jahr bevor sie selbst und Adam zur Welt gekommen waren, der ungarische Kontrahent Ferdinands, Szapolyei, nach der Niederlage von Mohács den französischen König umwarb. Dieser hatte zuvor den Sultan aufgefordert Ungarn, die Krain und die Steiermark anzugreifen. Die habsburgerfeindlichen Bayern, wie auch die protestantischen Reichsstände, unterstützten ihn dabei, in der Absicht, damit dem jungen Ferdinand zu schaden.
Doch nicht nur von dieser Seite drohte Gefahr, offensichtlich gab es im Kreise des jungen Kaisers ebenfalls mächtige Menschen, denen der jüngere Bruder Karls ein Dorn im Auge war und aus ihrer Sicht als gefährlich eingestuft wurde.
Auch Karls Kaiserwahl zog einen Dauerkonflikt mit Frankreich nach sich, weil sich der französische König in die Rolle des Verteidigers der Unterdrückten und der von Karls Monarchia bedrohten Freiheit der Christenheit gedrängt fühlte.
Es waren anscheinend die Hoffnungen des Kaisers und seiner Berater noch groß, das französische Königreich gleichsam von innen her zu sprengen und gleichzeitig von außen in Kooperation mit England zu bedrohen.
Zur Bekämpfung dieses Konfliktes wurde dem jungen Kaiser auf anraten des Sekretärs von Erzherzogin Margarete, dem Grafen von Pont de Vaux, der Jurist Mercurino Gattinara, ein auf Schloß Arborio bei Vercelli im Piemont geborener, aus altem, aber verarmten kleinadeligem Geschlecht, stammender, Emporkömmling, als Großkanzler zur Seite gestellt. Gattinara verfolgte aber anscheinend auch seine eigenen Ziele. Sein erkorenes Ziel war, Italien zu befrieden und dort wieder das Zentrum der kaiserlichen Herrschaft zu errichten. Ferdinand war ihm dabei mehrmals in die Quere gekommen, indem er seinem Bruder anbot, sich um Italien zu kümmern, um ihm so den Rücken für seine Verpflichtungen mit den deutschen Ständen und den Problemen mit den Protestanten freizuhalten. Auch ging wohl Gattinara in seiner Propagierung Karls Monarchia universalis, die eigentlich auf der friedlichen Herrschaftsgrundlage beruhte, über Leichen.
Im Zuge der Auseinandersetzungen zwischen Valois und Habsburg wurde Mailand, auch wenn es weitgehend durch Friedensschlüsse aus dem Krieg herausgehalten wurde, zum Dauerstreitpunkt. Des Kaisers Italienpolitik kam aber nicht von der Stelle, zu groß war dort auch der Einfluss des Papstes und der Krieg begann immer wieder von neuem. Konflikte gab es aber auch im Burgund und an der spanisch-französischen Grenze. Adam, Max und sie kannten diese Geschichten durch Marias lebhafte Erzählungen und deren regen Schriftverkehr mit ihren am Hof weilenden Verwandten alle auswendig und da das Leben der Hofmanns so eng mit dem königlichen österreichischen Hof verbunden war, versuchte man, diese Konflikte immer an der Tagesordnung zu halten. Deshalb wurden politische Probleme auch schon immer auch vor den Kindern besprochen, wohl auch, um sie so auf ihre Verpflichtungen in ihrem späteren Leben vorzubereiten. Nicht nur einmal hatte sie Marias Mahnung an die Jungen gehört, sie sollten ihre Kindheit genießen, denn ihr weiteres Leben müssten sie, wie ihr Vater, dem Vaterland widmen.
Mittlerweile war wahrscheinlich die Lage am Hof nicht mehr ganz so angespannt. Die Geschwister, mit Karl als Kaiser, Ferdinand als österreichisch-böhmisch-ungarischem König und ihrer Schwester Maria, die seit dem Tod ihrer Tante Margarete das Amt der niederländischen Statthalterin ausübte, schienen ihre Länder gut im Griff zu haben. Philipp, der älteste Sohn des Kaisers, und in etwa in ihrem Alter, hatte bereits als 16jähriger, nach dem Tod seiner Mutter Isabella und der Abreise des Kaisers aus Spanien um gegen Kleve und Frankreich ins Feld zu ziehen, die Regentschaft über Spanien übernommen. Im letzten Jahr munkelte man zwar von einem Gerücht, wonach der Kaiser mit seinem Sohn als Regenten in Spanien nicht gerade glücklich sei und er sogar erwogen hätte, selbst nach Spanien zurückzukehren.
Bereits als Kinder hatten Adam, Max und sie Dante Alighieris Traktat „Monarchia“ zu lesen bekommen, in dem er eine einzige einheitliche weltliche Herrschaft, die den universalen Frieden, das höchste Gut, am besten garantieren könne, beschreibt. Der Weltkaiser war darin in Verbindung mit der Einheit des Menschengeschlechts der beste Garant für Gerechtigkeit. Ihre gemeinsamen Volks- und Staatskundestunden waren geprägt von voraugustinischem Gedankengut, platonischem Politideal, stoischem Universalismus und Rezeptionen der aristotelischen Staatslehre gewesen. Würde sich so eine Monarchia wohl jemals verwirklichen lassen, oder würde das Machtstreben weniger Einzelner immer wieder zu deren Scheitern führen?
Es brauchte Visionäre, um diesen Gedanken weiterzudenken und eine große Portion Mut und Toleranz der Menschen gegenüber einem Herrscher, der sich dies zutraute. Die Macht über eine solche Monarchia in den falschen Händen könnte wiederum zum Weltuntergang führen. Ihr aller Leben würde wohl insgesamt zu kurz sein, um all diese Ziele verwirklicht sehen zu können. Aber sie fand es mehr als selbstlos von den großen Herrschern ihr ganzes Leben trotzdem diesem Streben zu widmen.
Während sie in ihren Gedanken vertieft war, hatte sie ganz die Zeit und alles um sich herum vergessen. Es wurde kühler und der Abend überraschte sie beim Anblick der mit ihren Abschiedsstrahlen sich im Fluss spiegelnden Sonne und weckte sie aus ihren Träumen. Schnell säuberte sie noch ihre festen Stiefel vom Schlamm und machte sich auf den Heimweg. Sie hatte keine Eile, denn sie musste keines der Stadttore passieren, die mit beginnender Dämmerung geschlossen wurden, sondern konnte über einen zur Burg gehörenden Zugang jederzeit dort aus und eingehen.
Am nächsten Morgen, einem Sonntag, kuschelte sich Johanna vor dem Aufstehen nochmals in ihre Schafwolldecke und nahm ein Poesie-Buch zur Hand, in dem sie zu lesen begann. Beim Lesen konnte sie am besten Nachdenken. Die geschriebenen Worte schienen ihren Geist zu beflügeln. Wahrscheinlich war es deshalb, weil diese Bücher und Gedichte die niedergeschriebenen Gedanken ihres Autors waren. Sie brauchte nur für einen Moment ihre Augen schließen und schon konnten die geschriebenen Worte in ihrem Kopf auf Reisen gehen.
Sie teilte die Schlafkammer schon von klein auf mit ihrer Mutter, und auch diese genoss es am Sonntag etwas länger auszuschlafen. Jemand von der Dienerschaft hatte schon am Vortag einen großen Kessel mit Wasser über die Feuerstelle im Kamin gehängt und diesen vor Stunden bereits angeheizt. Das Wasser wurde per Mechanik in große Zisternen am Dach gepumpt und heizte sich in den dunkel gestrichenen Behältern bei sonnigem Wetter einigermaßen warm auf, den Rest wärmte man dann über dem Feuer. Über ein Rohrsystem wurden so einige Räume mit fließendem Wasser versorgt, was sehr praktisch war. Das Brauchwasser leitete man danach über einer Abwasserrinne ab. Ihr Großvater verstand sich sehr gut auf derartige mechanische Erfindungen und tüftelte gerne an allerhand Experimenten herum, die das Leben erleichtern sollten. Er war als junger Mann ein guter Schmid gewesen und diese Fertigkeiten halfen ihm immer bei der Umsetzung seiner Ideen. Wenn jemand eine Idee hatte, diese aber nicht selbst verwirklichen konnte, brauchte er nur zu ihrem Großvater zu gehen und dieser würde unermüdlich darüber nachdenken bis eine Lösung gefunden war. Als sie noch Kinder waren, hatten sie ihn unermüdlich bei seinen Arbeiten begleitet und wollten naseweis alles von ihm erklärt bekommen.
Es war schon angenehm warm in der Kammer und durch das doppelt verglaste Fenster sah man auch schon die ersten Sonnenstrahlen, die sich in den Bäumen gegenüber fingen.
Jeden Sonntag vor der Kirche gönnten ihre Mutter und sie sich ein warmes Bad in dem mit Leinentüchern ausgelegten Holzzuber, der dafür bereitstand. Als Johanna noch klein war, hatten sie gemeinsam darin Platz gefunden, mittlerweile wuschen sie sich nacheinander gegenseitig den Rücken und die Haare. Ihre Mutter benutzte für das Badewasser herrlich frisch duftendes Rosmarinöl und massierte ihr eine Mischung aus Eigelb und Stutenmilch ins Haar, bis sich dieses auf wundersame Art wie von selbst durchkämmen ließ.
Sie liebte diese Prozedur und freute sich darauf, frisch gewaschen und erhitzt in die sauberen Sonntagskleider zu schlüpfen.
Ihre Mutter zog ein schlichtes schwarzes Kleid an und trocknete ihr helles Haar am Kamin. Johanna suchte in ihrer Kleidertruhe ihre Lieblingshose aus mit Ochsblut dunkelrot gefärbten glatten Leder, und ignorierte geflissentlich die hochgezogenen Augenbrauen ihrer Mutter, die sie dabei beobachtet hatte.
„Was habe ich nur bei deiner Erziehung falsch gemacht? Kannst du nicht einmal am Sonntag zur Messe ein schönes Kleid anziehen?“ kam Johanna ihrer Mutter zuvor und immitierte dabei deren Tonfall mit leichtem Tadel in der Stimme.
„Das wolltest du doch gerade sagen, oder? Ich ziehe doch noch meinen schwarzen Wickelrock darüber, Mutter, niemand in der Kirche wird die Hose zu sehen bekommen, aber sonst kann ich nicht selbst reiten und wir müssen ja heute wieder nach Garsten und schau, das schöne dunkelrote Wams, das du mir zum Geburtstag mit Goldfäden bestickt hast, passt wunderbar dazu“ versuchte Johanna sie vom Thema abzulenken.
Anna kannte ihre Tochter gut genug, um zu wissen, dass sie sie ohnehin nicht umzustimmen vermochte und begnügte sich deshalb mit einem resignierenden Seufzer.
Die Mahlzeiten nahmen Johanna und Anna immer im Kreis ihrer Familie in der großen gemütlichen Küche des Verwalters ein. Dort stand ein großer schwerer Esstisch, an dem alle Familienmitglieder zu den Hauptmahlzeiten Platz fanden. Meist wurde das Essen in großen Schüsseln in die Mitte des Tisches gestellt und jeder langte mit seinem eigenen Essbesteck selbst zu.
Jetzt, zum Frühstück, wartete bereits ein großer Becher Lindenblütentee mit einem Schuss frischer Milch auf Johanna und ihre Großmutter schnitt ihr, nachdem sie das Kreuzzeichen darauf gemacht hatte, eine große Scheibe dunklen Bauernbrotes vom runden Laib.
Johanna bestrich es sich dünn mit Butter und dick mit Honig und warf ihrer Mutter einen genussvollen Blick zu.
„Mhmm!“ machte Johanna und schleckte sich die klebrigen Finger ab. Sie wusste, dass ihre Mutter sich vor Honig ekelte und wollte sie damit nur aufziehen.
Honig gab es immer nur sonntags, unter der Woche aßen sie die nicht weniger köstlichen selbst gemachten Beerenmarmeladen ihrer Großmutter zum Frühstück oder im Sommer, wenn die Radiesschen und Paprika des angrenzenden Gartens reif waren, diese. Maria, eine passionierte Gärtnerin, hatte sich auch schon mit dem Anbau von aus Amerika mitgebrachten Paradeisern befasst, doch diese wurden nur für besondere Anlässe den Gästen des Grafen aufgetischt.
„Spät seid ihr wieder einmal dran heute.“ äußerte sich die Großmutter, ohne dabei vorwurfsvoll zu klingen.
„Wegen euch werden sich in der Kirche wieder alle Leute nach uns umdrehen, wenn wir die Letzten sind.“ Immer hatte sie Sorge, zu sehr aufzufallen.
„Ja, und die scheinheilige Frau des Bürgermeisters wird, wie üblich, ihre hässliche Nase rümpfen, wenn alle Aufmerksamkeit uns gilt. Ja Mutter, du siehst übrigens wieder hervorragend aus!“ stellte Johanna fest, bevor Anna sie noch dazu befragen konnte.
Sie alle mochten die Frau des Bürgermeisters nicht, die offensichtlich nur zum Ausführen ihrer Garderobe und zum Aufschnappen allerhand Tratschgeschichten zum Gottesdienst ging.
Anna war in punkto Garderobe ihre härteste Konkurrentin und legte immer sehr viel Wert auf ihr Aussehen. Sie hatte ihr bereits leicht ergrautes, feines blondes Haar unter einer schönen, mit dünnen Nadeln gehäkelten und mit Edelsteinen verzierten orangenen Haube versteckt und ließ nur einige Löckchen darunter hervorstehen, dazu trug sie einen passenden breiten Schal und ihren schönsten Schmuck.
Johanna würde wohl nie verstehen, warum sie und ihre Mutter zwei so verschiedene Wesen waren, obwohl alle Leute ihnen immer versicherten, sie sähen sich ja so ähnlich.
Ihrer Mutter machte es Spaß, sich großartig zu präsentieren und sich schön herauszuputzen, sie liebte den Luxus, sich teuren Schmuck und schöne Gewänder zu kaufen, wenn sie ihr gefielen und trotzdem hatte sie es geschafft, Johanna beizubringen, Freude an den kleinen Dingen des Lebens zu haben, die man nicht mit Geld und Reichtum zu kaufen brauchte.
Außerdem brauchte Anna immerzu Menschen um sich und es hatte alles perfekt zu sein, jedes Katzenhaar auf Johannas Kleidung war ihr dabei ein Dorn im Auge und jede gelöste Haarsträhne war beinahe ein kleiner Weltuntergang.
Die Frauen in ihrer Familie waren allgemein eher wenig selbstbewusst und ließen sich nach Johannas Ansicht viel zu viel von den Meinungen anderer beeinflussen.
Johanna war in dieser Beziehung das genaue Gegenteil. Vielleicht war es eine Art Rebellion und der Versuch anders zu sein als die übervorsorgliche Mutter. Vielleicht lag es an der Sternenkonstellation zu ihrer Geburtsstunde, dass sie so eigensinnig war, oder, wie sie der Graf oft neckte, daran, dass sie ein verzogenes Einzelkind war.
Sie war im Gegensatz zu ihrer Mutter gerne mit sich alleine, sie mochte das Durcheinander in ihren Truhen und wenn sie sich einmal beim Sticken verstach, was ohnehin sehr selten passierte, da sie für Handarbeiten nur in Ausnahmefällen Zeit erübrigte, war das noch lange kein Weltuntergang, sondern es wurde kurzerhand salopp das Muster angepasst. Bei der Wahl ihrer Lieblingskleider hatte sie einen sehr eigenwilligen Geschmack, der meist nicht mit demjenigen ihrer Mutter und Marias konform ging. Wahrscheinlich hatte sie nur das Aussehen ihrer Mutter geerbt und den Charakter ihres Vaters, von dem sie aber nicht viel wusste, außer das er ein Hitzkopf gewesen war.
Der Großteil der Familie hatte sich bereits zu Fuß auf den Weg nach Garsten gemacht.
Seit sich auch immer mehr Steyrer den Protestanten angeschlossen hatten, wurde der katholische Gottesdienst in der Stadtpfarrkirche nur mehr jeden zweiten Sonntag abgehalten. Die Evangelischen hingegen protestierten gegen das 1529 von der katholischen Mehrheit auf dem Speyrer Reichstag verhängte Wormser Edikt. Diese von Martin Luther in Deutschland gestiftete Kirche fand seither auch hier im Lande ob der Enns schon viele Anhänger, und es sah so aus als würden sie bald die Oberhand über die Katholiken gewinnen. Die Lutheraner hatten deshalb endlich durchsetzen können alle zwei Wochen auch am Sonntag ihren Gottesdienst in der Stadtpfarre feiern zu dürfen, nachdem ihnen jahrelang nur der Samstag, der der Mutter Gottes geweihte Wochentag, zugestanden wurde.
Erzherzog Ferdinand, der österreichische Landesfürst und streng katholische kaiserliche Statthalter im Osten des Kaiserreiches, hatte zu Beginn seiner Regierungszeit das Lesen der Schriften Luthers verbieten lassen und einen landesfürstlichen Befehl zur Bestrafung der Ketzer gegeben, außerdem hatte er den Söhnen des österreichischen Adels das Studium in Wittenberg, wo Luther gelehrt hatte, verboten. Doch wie so viele Verbote, forderte auch dieses geradezu heraus, sich ihm zu widersetzen. Im Laufe der Zeit musste er deshalb, wie schon zuvor sein Großvater Kaiser Maximilian, die Reformation wegen der großen Probleme die ihm die Türken in Mohácz und anderen Teilen des Landes bereiteten erzwungenermaßen dulden. Er konnte keinen Religions-Bürgerkrieg zusätzlich riskieren und griff deshalb nicht härter gegen die Reformanten durch.
Doch immer mehr bedeutende Adelsgeschlechter und Stände des Landes förderten mittlerweile eifrig die neuen Thesen, besetzen die Patronatspfarren mit protestantischen Predigern und die neue Lehre fand bei immer mehr Bürgern der Städte und Märkte und hierauf auch bei den Bauern und mittlerweile sogar bei Nonnen und Mönchen Anklang.
Seit kurzem nun also machte Ferdinand den protestantischen Ständen auch Zugeständnisse und erlaubte bedingungsweise den Empfang des Abendmahls in beiden Gestalten.
Wie auch sein Bruder, der Kaiser, hatte er aber wiederholt betont der katholischen Kirche ergeben zu sein, nicht aber ihren Dienern, auch nicht dem Papst. Auf dem Augsburger Reichstag war bereits der Kaiser wegen dieser Frage an den Wendepunkt gestoßen. Nachdem er zu früheren Zeiten noch die Reichsacht gegen Luther verhängt hatte und diesen gemeinsam mit der Kirche durch die Bannbulle des Papstes exkommunizieren ließ, musste er nun, um überhaupt noch eine Mehrheit im Ausschuss zu bekommen, Zugeständnisse an die Protestanten machen. Er akzeptierte seither die Anhänger der Confessio als gleichberechtigte Verhandlungspartner. Die strittigen Punkte konnten bis auf vier – Kelchkommunion, Priesterehe, Messkanon und bischöfliche Jurisdiktion – verringert werden.
Auch Johanna hatte viel über die Glaubens-Reformation und die 95 Sätze, die Luther öffentlich angeschlagen hatte, nachgedacht und sich beim Lesen derselben teilweise köstlich amüsiert. Sie war mehr oder weniger damit aufgewachsen und es hatte während ihres Studiums viele hitzige Diskussionen gegeben. Manch herrschende Missbräuche, aber auch die klassische Bildung, ließen freilich größere Freiheiten und Umsicht im Denken über die verschiedensten Gegenstände entstehen. Dass die Verkündigung und der Verkauf des Ablasses durch den Papst, um zur Erbauung der Peterskirche in Rom Geld zu erhalten, zur Verschärfung der Lage beigetragen hatte verstand sich von alleine.
Sie selbst fand einiges an den Thesen durchaus überlegenswert und bewunderte Luther für seinen Mut, sich mit der katholische Kirche und dem Papst anzulegen. Nichts hatte die Menschen je tiefer erregt und die Gesellschaft nachhaltiger verändert. Dem weit verbreiteten Bedürfnis nach Frömmigkeit stand eine verweltlichte Kirche gegenüber.
Zum Beispiel begrüßte sie, dass Luther die Bibel ins Deutsche übersetzt hatte und die gepriesene Freiheit des Geistes. Die altgläubigen Leute saßen früher in der Kirche und verstanden oft stundenlang kein Wort von dem was die Pfarrer in lateinischer Sprache predigten und bei manchen hatte man den Eindruck, dass nicht einmal die Prediger selbst wussten, was sie da überhaupt vorlasen, auch wenn sie am Vorabend nicht dem selbstgebrauten Bier allzu sehr zugesprochen hatten.
Sie hatte, gemeinsam mit Adam und Max, eine vorzügliche Bildung genossen, doch der Großteil der Bevölkerung glaubte bedingungslos, was ihnen manch heuchlerische Pfaffen aufschwatzten und fürchteten sich tatsächlich sehr davor, bei Nichtbeachten der strengen Glaubensregeln im Fegefeuer zu landen.
Auch das Bekanntwerden des Verfalls der Disziplin bei den früher so geschätzten Dominikaner-Rittern trug dazu bei, dass sich die neue Lehre in Stille in die Herzen der Bürger eingeschlichen hatte. Die Verbote Ferdinands konnten sie nicht mehr vertilgen. Die Unzufriedenheit mit dem Druck und den Lasten der Leibeigenschaft brachte die Ärmeren, und vorzüglich die Bauern Europas in größte Gärung, sie begehrten mit Trotz die Abstellung dieser Lasten, Gleichstellung vor dem Gesetz, und Gemeinschaft der Güter, was auch ihr gutes Recht war.
In Deutschland kam es durch Bauernaufstände zu Plünderungen und auch grausamsten Ermordungen an Adligen und Geistlichen in Schlössern und Klöstern. Auch das war der falsche Weg und von Luther, der zwar als derber Mensch galt, so sicher nicht beabsichtigt gewesen. Nur das kluge Agieren der hiesigen Pfarrer und des Stadtrichters hatte wohl dafür gesorgt, dass die Unruhen hier in Steyr nicht eskaliert waren.
Bei den Einwohnern von Steyr herrschte der fromme Sinn vor, die Bürger sorgten gerne für die Verschönerung und Bereicherung ihrer Kirchen. Da Frieden im Land herrschte, blühte der Handel, und manche erwarben sich ein bedeutendes Vermögen, welches sie nicht wegen einer Revolution aufs Spiel setzen wollten. Sie verstanden die Kirche in erster Linie als moralische Instanz und das war auch gut so.
In Johannas Geburtsjahr hatte der Papst durch eine Bulle Luther förmlich aus der katholischen Kirche ausgestoßen. Das Resultat war, dass plötzlich jeder die Bibel nach seinem eigenen Sinne ausgelegt hatte, wie Johann Hut, der in Steyr die Grundsätze der Wiedertäufer verkündet hatte, wonach die Kindertaufe ein Werk des Teufels sei und daher Erwachsene nochmals neu getauft werden sollten.
Dies alles hatte aber schlussendlich auch dazu beigetragen, dass die Menschen, zwar lange nicht alle, ihren Verstand zu benutzen anfingen, über manche Tatsachen nachdachten und selbstbewusster wurden.
„Maria fährt gerade mit der Kutsche vor. Beeilt Euch, sonst kommen wir wirklich noch zu spät“ mahnte die Großmutter die bereits ihren Mantel umgelegt hatte und riss sie so aus ihren Gedanken.
Ein Blick aus dem Fenster bot das gewohnte Bild. Maria hatte durch ihre stets bereitete Mildtätigkeit alle Bettler und Vagabunden hinter sich her. Sie sammelte für die Armen und Verunglückten und diese suchten sobald sie in die Öffentlichkeit trat ihre Nähe.
Johanna stürzte den Rest ihres Tees hinunter und rannte mit dem halbgegessenen Brot in der Hand hinaus.
„Du entehrst das gesegnete Brot, wenn du es im Rennen verschlingst“ rief ihr die Großmutter noch tadelnd nach.
„Ich muss noch Loni satteln, wartet nicht auf mich, ich hole euch schon noch ein!“ rief Johanna im Hinausrennen mit vollem Mund.
Mit einem leicht schlechten Gewissen stopfte sie, als sie im Stall ankam, das restliche Brot in den Mund und warf, an dem riesigen Bissen kauend, ihrer Stute Apollonia ihre Satteldecke über.
„Hallo, Kleine. Heute striegle und kämme ich dich erst am Abend. Wir sind in Eile!“ sprach sie wegen des vollen Mundes undeutlich mit dem Ross. Die Stute war anscheinend damit einverstanden und begrüßte sie mit einem erfreuten Schnauben.
Johanna schleppte aus der Sattelkammer den schweren Sattel in den Stall und wuchtete ihn über den Rand der Box. Loni ließ sich geduldig die Satteldecke und schließlich den Sattel und das Zaumzeug anlegen, was nicht selbstverständlich für sie war. Sie konnte manchmal eine rechte Zicke sein und bockte dann gerne.
Die Zügel in der Hand führte sie Loni in den Hof, wo eine kleine Treppe das Aufsteigen erleichterte, und ächzte, als sich ihr langer Rock in den Stiefelabsätzen verhedderte. Endlich im Sattel jagte sie durch das Burgtor der äußeren Stadtmauer entlang der übrigen Gesellschaft, die mit der Kutsche unterwegs war, nach.
Bald hatte sie diese eingeholt. Ein paar Kinder rannten neben dem Wagen her und bettelten darum mitgenommen zu werden. Jeder kannte die Frauen im Inneren und ihr großes Herz, und bald hingen Trauben von Kindern an den Trittleisten der Kutschen und hielten sich an den Wagentüren fest. Auch Johanna half zwei kleineren Kindern zu sich in den Sattel und verfiel, zu deren großer Freude, in leichten Galopp. Das Lachen der Kinder und die Glocken der weidenden Kühe tönten ihr wunderbar im Ohr und sie fühlte sich ausgelassen und wohl wie die Kleinen.
Vor der Stiftskirche hatte anscheinend vor dem Gottesdienst bereits eine Eheschließung stattgefunden. Es war Brauch, diese Zeremonie in aller Öffentlichkeit abzuhalten. Grundsätzlich konnten die Brautleute aus freiem Willen heiraten, doch hatten die Eltern immer noch ein Einspruchsrecht. Der junge Bräutigam küsste soeben seine frisch Angetraute und Johanna hatte den Eindruck, die beiden liebten sich aufrichtig. Die Braut strahlte mit der Sonne um die Wette und hatte ihr schönstes Sonntagskleid an und ihr Haar krönte ein wunderschön geflochtener Blumenkranz. Dann mussten sie noch die vielen Beglückwünschungen über sich ergehen lassen, bevor sich die versammelte Gemeinschaft endlich ins Innere der Klosterkirche begab.
Als sich die Reihen gefüllt hatten, konnte Johanna erkennen, dass entgegen aller Erwartung, die Kirche sehr gut besucht war. Wie auch die Steyrer Burg, ging die Gründung des Klosters Garsten auf die Zeit der Ottokare zurück.
Das Kloster war durch Mauern und Wehrtürme gegen Hochwasser und Überfälle gerüstet. Die Kirche mit ihren zwei Glockentürmen und den schönen Freskenmalereien auf den weißgetünchten Mauern gefiel Johanna ohnehin viel besser als die altgotische, dem heiligen Ägidius geweihte Stadtpfarrkirche, die von Hans Buxbaum nach dem Muster der berühmten Stephanskirche in Wien gebaut wurde und neben dem Maria-Empfängnis-Dom in Linz als eine der schönsten Kirchen des Landes gerühmt wurde.
Die Stadtpfarrkirche war schon imposant mit ihrem achtgeschossigem sechseckigen Quaderturm, der hoch in die Lüfte ragte. Das schönste an der Kirche war aber für Johanna der wunderbare Klang ihrer Glocken, die ein unbekannter Wohltäter gestiftet hatte. Hingegen hier in Garsten konnte sie stundenlang die kunstvoll gemalten Engel, liebliche kleine Kinder, die das Wolkengebilde an der Decke verzierten und die anderen Malereien bestaunen.
Der Abt von Garsten war bei den Steyrer Katholiken sehr beliebt, er bemühte sich redlich, wenigstens die Bruderhauskirche und die Spitalkirche in Steyr für die katholische Bevölkerung zu erhalten.
In seiner heutigen Predigt dankte er zuerst den Besuchern wieder einmal, dass sie am alten Glauben festhielten.
Für viele Leute war der Glaube alles. Die Welt würde ihnen über den Kopf wachsen, der Fortschritt würde sie überrollen, wenn die Kirche sie nicht davor schützte. Ein kleines Fünkchen Wahrheit war darin sicher gegeben und Johanna sah ein, dass für die einfachen Menschen, denen der Fortschritt zu schnell passierte, ein Weltbild wie es die Kirche auslegte ein wichtiger moralischer Rückhalt war. Gewohnheit, Sitte und Brauch sind eben stärker als die Wahrheit.
Sie persönlich fand die Beeinflussung, die die Kirche ausüben wollte, und auch tat, für sich selbst jedoch unerträglich, genauso wie deren menschenverachtende Behandlung Andersgläubiger.
Steyr war wohl eine Insel der Seeligen, doch sie hatte viel über die spanische Inquisition, die Judenvertreibungen und Hexen-verbrennungen gehört und die Kreuzzüge ins heilige Land mit ihren Gemetzeln würden niemals in Vergessenheit geraten.
Die Heldengeschichten über die Kreuzzüge hatte sie als Kind geliebt. Heute träumte sie zwar davon, diese Länder im Osten einmal zu sehen, aber nicht um für ihren Glauben zu kämpfen, sondern um sich mit den Menschen dort zu unterhalten, sich deren Weltanschauung und Glaubensbild schildern zu lassen und daraus vielleicht für sich selbst neue Erkenntnis zu finden.
Sie glaubte nicht an die schwarz-weiß Malerei der Kirche, die Guten kommen in den Himmel, die Bösen in die Hölle. Aber die Auslegung der heiligen Schrift förderte ja geradezu den Aberglauben.
Was war zum Beispiel mit den braven und anständigen Juden, die es in Steyr gab? Sollten diese Menschen nur wegen ihres Glaubens im ewigen Fegefeuer schmoren, nur weil vor über tausend Jahren ihre Vorfahren Jesus ausgeliefert hatten?
Sie hatte auch schon öfters mit dem Abt über die mystische Auffassung der Erbsünde diskutiert. Für ihn war es nur ein Ausdruck der Unfähigkeit sich mit der göttlichen Urenergie eins zu fühlen, da das menschliche Ich seines Erachtens den Blickwinkel auf einen kleinen Ausschnitt der Realität begrenzt.
Johanna konnte seinen Gedanken nicht immer folgen, aber sie schätzte seinen Kampf, seinen Glauben immer zu verteidigen.
Abt Georg versuchte wie immer unermüdlich in seiner Predigt gerade die letzten Zweifler zu überzeugen: „Alles Übersinnliche bleibt vollkommen unbeweisbar.“, er machte eine bedeutungsschwere Pause.
„Das können wir Priester leider nicht ändern. Die höchsten Ideen von Gott und Unsterblichkeit haben vor der reinen Vernunft keine Realität.“, wieder wartete er, bis der Satz in aller Köpfe verarbeitet wurde, er beherrschte die Redekunst wie kein anderer.
„Doch gerade deshalb nutzt eure moralische Freiheit und betrachtet den Glauben daran als eure Rettung!“ donnerte seine Stimme von der Kanzel über die andächtigen Messbesucher.
Johanna dachte darüber etwas anders, aber es stimmte wohl. Je mehr die Menschen wissen, umso mehr zweifeln sie und je weniger sie wissen, umso mehr glauben sie. Der Glaube vermittelte ihnen zumindest ein gewisses Gefühl von Sicherheit.
Ihr selbst bereiteten manche Stellen in der Bibelgeschichte auch arge Kopfzerbrechen. Sie wäre für einige Beweise diesbezüglich schon sehr dankbar gewesen, schon aus purer Neugier. Zum Beispiel die unbefleckte Empfängnis Marias.
Wie genau konnte das wohl abgelaufen sein? Hatte Gott Maria zu sich geholt oder war er auf der Erde gewesen?
Wie schaffte Jesus es, Blinde sehend zu machen und Lahme gehend? Eigentlich zweifelte sie nicht daran, dass es so gewesen war, sie konnte es sich halt einfach nicht vorstellen und es gab auch unter den Priestern niemanden der ihr das zu erklären vermocht hätte. Alles was sie nicht begriff war ihr ein wenig suspekt. Sie war noch jung und möglicherweise bestand noch Hoffnung auf ihre Erleuchtung.
Doch nicht nur ihr schien es so zu gehen, alle Menschen zeigten von jeher große Begierde nach allen übernatürlichen Ereignissen und Erscheinungen, doch schienen diese seltenen Begebenheiten immer an weit entfernten Orten zu passieren. Versonnen betrachtete sie die Figuren auf den bunten Glasfenstern mit ihren Heiligenscheinen, dem Ausdruck ihrer Erleuchtung. Würde sie selbst einen Heiligen oder Engel erkennen wenn sie ihm gegenüberstand? War ein Heiligenschein wirklich so wie ihn die Maler und Künstler darstellten, oder war es eher der künstlerische Ausdruck von etwas nicht Beschreibbaren?
Das ganze Leben ist eine Reise. Johanna dachte an die kleine Raupe. Irgendwann würde sie ans Ziel gelangen und vielleicht verstehen, was die Ursache und das Ergebnis der Schöpfung war, den Weg dahin stellte sie sich spannend und aufregenden vor und sie hatte eigentlich keine Eile, dieses Ziel so bald zu erreichen, denn sie befürchtete, es wäre erst nach ihrem Tod möglich.
Johanna konnte den Abt sehr gerne leiden, er kämpfte für seine Überzeugung und überließ ihr auch immer wieder allerlei interessante Bücher zur Abschrift und zum Lesen und war auch Diskussionen darüber nie abgeneigt.
Manchmal kam es Johanna auch so vor, als hadere er selbst oft mit sich und zweifle manchmal an seinem scheinbar so bedingungslosen Glauben.
Leider war ihm jede intellektuelle Betrachtung des christlichen Glaubens ein Gräuel, denn seiner Meinung nach war Glauben etwas, was sich jedem einzelnen Menschen, egal ob arm oder reich, gebildet oder ungebildet, gleich zu erschließen hatte. Einerseits bewunderte sie seinen gefestigten Glauben, andererseits fand sie es auch extrem verbohrt, gegen die Aufklärung anzukämpfen.
Als Gegenleistung für seine Leihgaben machte Johanna für ihn und seine Schreiber hin und wieder Illustrationen. Dafür hatte sie ein großes Talent entwickelt und schon viel Lob geerntet. Ihm zuliebe hatte sie heute ausnahmsweise keine Ausrede dafür gesucht dem Gottesdienst fernzubleiben.
Es gab manche Prediger, denen sie einfach nicht so lange zuhören konnte und ab und zu war es ihr, eingekeilt zwischen der Großmutter und Mutter, bei deren Reden, wie vielen anderen Gläubigen ergangen. und sie war trotz der harten, unbequemen Kirchenbank eingeschlafen. Erst die lauten Orgeltöne rissen die unaufmerksamen Zuhörer dann erschrocken aus ihren Träumen.
Heute verging der Gottesdienst wieder kurzweilig und da die Sonne vom Himmel lachte, luden Anna und Maria den Abt noch zu einem Spaziergang in der Boig, wie die Flußwindung der Enns vor dem Kloster genannt wurde, ein. Erfreut nahm er die Einladung an und nachdem er alle Kirchgeher verabschiedet hatte machten sie sich auf den Weg.
Als sie auf dem Schiffweg entlang der Enns dahinschlenderten wanderten Johannas Blicke immer wieder über den Fluss.
Auf der am anderen Ufer liegenden Eisenstraße, die von Süden kommend nach Steyr führte, herrschte reges Treiben. Es kamen immer wieder Reisende vorbei. Die Meisten kamen wohl zum baldigen Jahrmarkt angereist.
Über der Straße, am Berg dahinter, thronte die dem heiligen Ulrich gewidmete Kirche. Neugierig blickte Johanna zu den vorüberreisenden Menschen hinüber, als sie plötzlich auf zwei vornehm gekleidete Ritter auf mächtigen Streitrossen aufmerksam wurde. Irgendwie wirkten die beiden trotz der Entfernung sehr vertraut auf sie und sie kniff die Augen etwas zusammen, um sie genauer mustern zu können. Unvermutet begann ihr Herz stärker zu pochen. Als sie erkannte, wen sie vor sich hatte, führte sie sogleich zwei Finger an den Mund und stieß einen lauten Pfiff damit aus.
Erschrocken, und auch etwas tadelnd, drehten sich die Frauen und der Abt vor ihr um, doch aufgelöst deutete sie nur ans andere Ufer hinüber.
Die beiden Reiter hatten den scharfen Pfiff trotz des Rauschen des Flusses vernommen und blickten auch bereits neugierig herüber und schwenkten kurz darauf grüßend die Arme, als sie die Gesellschaft erkannten, dann deuteten sie auf den in der Nähe auf einer Holzbank zur Ruhe liegenden Fährmann.
Johanna und ihre Begleiter konnten aufgeregt beobachten, wie die beiden ihn überredeten, sie mit seinem Floß über den breiten Fluss überzusetzen. Der Fährmann ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und trällerte ein Liedchen beim Übersetzen, Johanna hatte das Gefühl, es vergingen Stunden. Er hatte die landesübliche Tracht an, kurze Lederhosen mit Latz, darunter ein Hemd und darüber eine ärmellose Wolljacke, dazu einen Hut, in dem eine lange Adlerfeder steckte.
Endlich legte das Floß an ihrem Ufer an und er befestigte es sorgfältig an einem Baum. Die unruhigen Pferde sprangen erleichtert wieder ans Land und endlich konnten die beiden jungen Männer, es waren natürlich Adam und Max, begrüßt werden.
Sie waren beide kaum wieder zuerkennen.
Als Johanna sie anlässlich eines Besuches mit Maria und ihrer Mutter vor einigen Jahren in Pettau das letzte Mal gesehen hatte, waren sie noch halbwüchsige Jungen gewesen. Jetzt waren beide zu stattlichen Männern herangewachsen.
Max, der jüngere Bruder, der immer der Kleinste in ihrer Runde gewesen war, überragte plötzlich seinen Bruder um einen ganzen Kopf und auch zu Adam musste Johanna, die immer die größere von ihnen Dreien gewesen war, plötzlich aufsehen.
Vor Aufregung und Wiedersehensfreude überschlug sich ihr Herz fast. Sofort erfasste sie ein prickelndes Gefühl, das Abenteuer und Abwechslung versprach. Sie war keine Frau die nur als bloßer Zierrat für einen Mann dienen wollte, sie sehnte sich nach der weiten Welt und hier war gerade der Schlüssel dazu eingelangt.
Adam trug sein langes braunes Haar offen und hatte sich ein freches Bärtchen über der Lippe und am Kinn rasiert. Er trug ein edles Samtgewand und eine wallende Zimarra, ein vorne offenes, mantelähnliches Übergewand, das vorne mit einem Verschluss versehen war. Lässig hatte er es auf einer Seite über die Schulter gestreift. Er hob Johanna bei der Begrüßung spielend hoch und strahlte sie herzlich an. Sie erwiderte seine Umarmung und meinte scherzend, mit dem Bart sehe er ja wie Jesus Christus auf den Heiligenbildern aus.
„Ja, ja. Was glaubst du - ich breche das Brot und verteile es unter den Armen!“ antwortete er ihr und spuckte unsichtbar in seine Hände und machte dann eine kreisende Bewegung an seinen Achseln.
Verblüfft prustete Johanna über diesen Scherz los und blickte über die Schulter zum Abt, ob er etwa die Gotteslästerung gehört hatte, doch sogar dieser lachte herzlich über diesen nicht böse gemeinten Scherz und machte nur eine drohende Bewegung mit dem Finger.
Max war unauffälliger als sein Bruder doch ebenso edel gekleidet, aber durch seine Größe zog er ebenfalls die Blicke auf sich. Er trug sein fast schwarzes Haar ordentlich kurz gestutzt und war sauber rasiert. In seinen schwarzen Augen glitzerten bei der Begrüßung heimliche Tränen der Wiedersehensfreude und auch die der Frauen waren feucht geworden.
In den vergangenen Jahren hatten sie sich immer, wenn sie von den Türkenangriffen in der Untersteiermark gehört hatten, große Sorgen um die Beiden gemacht. Mittlerweile versuchten die Osmanen nämlich auch weiter östlich als bei ihren letzten großen Überfällen, über die Oberkrain ins Land einzuziehen. Jetzt erkundigten sie sich nach der Familie in Pettau und Grüße wurden ausgerichtet und Reiseerlebnisse erzählt.
So verging der Nachmittag und schließlich brachte man den Abt zurück ins Kloster. Johanna ritt neben den beiden Freunden vor der Kutsche her zurück nach Steyr. Die Packpferde hatten sie an die Kutsche gebunden.
Auf einer langen Wiese gab Adam seinem Pferd die Sporen und nur einen Wimpernschlag darauf jagten die anderen beiden Pferde ebenfalls davon. „Wer als erster an der Kreuzung ist“ rief er ihnen eine Pferdelänge voraus über die Schulter zurück zu. Schon früher waren sie immer um die Wette galoppiert, doch jetzt hatte Johannas Stute die neben den großen Streitrossen sehr klein wirkte, keine reelle Chance mehr, zu gewinnen.
Max überholte Adam trotz seines Vorsprunges spielend und erreichte als erstes den verabredeten Punkt. Als Johanna nachkam machte er eine leichte galante Verbeugung vor ihr und lachte über ihre Worte.
„Das ist doch unfair gewesen, ihr hättet uns schon einen Vorsprung lassen können, also wirklich, dein Pferd ist ja fast geflogen“.
„Ich habe es vom Erzherzog geschenkt bekommen“ erklärte er ihr lachend und voller Stolz. Dabei ritten sie weiter Richtung Burg und kamen durch den von Maria neu angelegten Garten zum kleinen Rondell. Sie stiegen ab und führten die Pferde über die Holzbrücke, die über den Burggraben in die Burg führte, in den Hof.
Alles war vertraut.
Schon als sie die Enns-Schlinge beim Garstner Kloster erreicht hatten, zeigte sich der Ort genau so, wie sie ihn vor acht Jahren verlassen hatten.
Der Anblick der Klostermauern hätte ihn beinahe verleitetet, sofort dort hin zu reiten und alle alten Bekannten und Lehrer zu besuchen. Auch Max hatte über das ganze Gesicht gestrahlt, als sie den ersten Moment der Heimkehr auskosteten. Sie hatten sich einen aufmunternden Blick zugeworfen und den Pferden die Fersen gegeben und angetrieben, um endlich die letzte kurze Strecke nach Steyr in Angriff zu nehmen. Sie würden in den nächsten Tagen noch genug Zeit haben, alle alten Freunde zu besuchen, jetzt konnten sie es kaum mehr erwarten die Familie wieder zu sehen.
Gleich darauf wurde das so ersehnte Wiedersehen vorgezogen, als sie am anderen Ufer die Kutsche ihrer Mutter entdeckt hatten. Ein Pfiff hatte sie erst darauf aufmerksam gemacht. Am anderen Ufer waren sie anscheinend schon eher entdeckt worden.
Bis sie den Fährmann endlich dazu bewegt hatten, seine Pause zu unterbrechen und sie überzusetzen, schienen Stunden zu vergehen. Doch jetzt wo sie das vertraute Gesicht ihrer Mutter direkt vor sich sahen, war aller Ärger darüber bereits wieder verraucht.
Sie hatte sich äußerlich in den vier Jahren, die sie sie nicht gesehen hatten, kaum verändert. Ihr Haar war unter der kleinen Kappe nach wie vor tiefschwarz und sie wirkte so elegant wie eh und je. Unter ihrem stolzen Blick waren sie beide noch mehr gewachsen als sie es in den vergangenen acht Jahren ohnehin getan hatten.
Sie hatten die Familie als Kinder verlassen und zwischendurch die Mutter nur als Halbwüchsige für wenige Wochen in Pettau wieder gesehen. Jetzt waren sie erwachsene Männer und soeben hatten sie ihre erste bedeutende Schlacht hinter sich gebracht.
Auf diese Erfahrung hätte Adam zwar liebend gerne verzichten können, doch es war ein Schritt auf ihrem Lebensweg der wohl unausweichlich gewesen war, auf den die jahrelange Erziehung ihrer Eltern abgezielt hatte. Es war der wichtige Schritt, der ihn und seinen Bruder endgültig zu zwei erwachsenen Menschen gemacht hatte. Das Wissen darüber zauberte nun seiner Mutter die Freudentränen und einen furchtbar stolzen Ausdruck ins Gesicht.
Auch Johanna und deren Mutter waren in Begleitung seiner Mutter unterwegs gewesen. Seit er denken konnte war es so gewesen. Sie waren praktisch ein Teil seiner Familie. Beide Mütter waren jung verwitwet und beide waren durch ihr Schicksal auf der Steyrer Burg zu Hause. Ihre Freundschaft war wie ein mächtiges Band und hatte sich auf ihre Kinder übertragen. Er konnte es fühlen, als er in Johannas strahlendes Gesicht sah. Er konnte kaum glauben, dass diese junge Dame derselbe Wildfang war, mit dem sie aufgewachsen waren.
Als Kinder hatten viele Leute Johanna oft für einen Jungen gehalten, weil sie genau wie sie kurze Haare hatte und genauso wild wie die Buben gewesen war. Tatsächlich war oft sie es gewesen, die bestimmte, was ihre Dreierrasselbande unternahm. Bei Rollenspielen hatte sie sich stets gesträubt, immer die Rolle einer Frau oder Mutter anzunehmen und es war ihr auch gelungen, ihren Kopf durchzusetzen. Johanna hatte selbst ihn als Kind überragt, obwohl er der Ältere war und Max, der Jüngste in ihrer Runde, hatte sie immer als Oberhaupt ihrer Bande verehrt und war regelrecht vernarrt in sie gewesen.
Als sie sie gemeinsam mit Anna und seiner Mutter vor vier Jahren in Pettau besucht hatte, war sie zwar bereits ein hübsches Mädchen gewesen, doch jetzt raubten ihm ihre weiblichen Kurven schier den Atem. Als Junge konnte sie nicht nur wegen des dichten langen Zopfes eindeutig nicht mehr durchgehen. An Temperament hatte sie aber anscheinend nichts eingebüßt, wie er auf ihrem Weg zur Burg erfreut feststellen konnte. Er fühlte sich eindeutig verwirrt in ihrer Gegenwart. Sie war seine beste Freundin, das wog mehr, als wäre sie seine Schwester gewesen fand er. Es war verstörend für ihn wie anziehend sie auf ihn wirkte. Beinahe vergaß er über seine bewundernden Blicke für Johanna sich am Anblick der Stadt zu erfreuen.
Der alles überragende Turm der Stadtpfarrkirche hatte ihn dann aber doch abgelenkt. ENDLICH, zwang er sich zu denken. Endlich zu Hause. Für ihn war und blieb Steyr die schönste Stadt. Sie strahlte so viel Frieden und Heimeligkeit aus. Alles wirkte so gepflegt und sauber. Oft hatte er in Pettau wehmütig in Gedankten Bilder seiner Heimatstadt heraufbeschworen um das manchmal wiederkehrende Heimweh zu bewältigen. Gegen diese stolze Stadt war die Stadt an der Drau nur eine größere Siedlung obwohl sie in etwa die gleiche Einwohnerzahl aufwies.
Pettau war schon seit dem römischen Reich, als es noch Poetoviona hieß, eine bedeutende Handelsstadt gewesen. Die berühmte Bernsteinstraße lief geradewegs durch diese Stadt. Doch erst seit die Stadt zum Salzburger Erzbistum gehörte bekam sie wieder die annähernd selbe Bedeutung zurück, die sie damals genossen hatte. Für Durchreisende bot Pettau mit dem Dreieck aus Dominikanerkloster im Westen und Minoritenkloster im Osten und der Burg Weißen Stein an der Spitze einen imposanten Anblick, doch die ständige Bedrohung durch Türkeneinfälle in den letzten Jahrzehnten hatten dem Ansehen der Stadt geschadet. Alles Vermögen wurde für die Verteidigung der Stadt aufgewandt, was sich an deren Aussehen niederschlug. Zahlreiche Brände hatten immer wieder die Stadthäuser zerstört.
Obwohl Pettau von zahlreichen schönen Weinhügeln umgeben war, hatte er den Anblick der bewaldeten Berge und die Aussicht auf das Gebirge vermisst, das man von Steyr aus bereits erkennen konnte. Auch die Küche war in der Untersteiermark schon sehr unterschiedlich zu der heimischen. An die saure Suppe mit Schweinsklaue hatte er sich nie gewöhnen können, doch es gab auch köstlichen Fasan mit Fladenbrot und Trockenwürste die zum erlesenen Wein der Region mundeten. Jetzt konnte er seine Vorfreude auf das heimische Essen kaum mehr bändigen.
Natürlich gab es sogleich große Aufregung unter den Burgbewohnern und Johanna, Max und er drückten die Zügel ihrer Pferde nur den Stallburschen in die Hand und begaben sich sogleich in die große Halle im Herrschaftstrakt wo bereits alles für das Abendmahl vorbereitet wurde. Ihre Ankunft hatte sich natürlich sofort verbreitet und so wurden sie schon sehnlichst im Burghof erwartet.
Sein Stiefvater, Graf Wilhelm von Roggendorf, begrüßte sie herzlich und zeigte sich sehr erfreut, seine beiden Stiefsöhne endlich wieder zu sehen. Er hatte sie in den vergangenen Jahren drei Mal in Pettau besucht, obwohl er, seit einer schweren Verletzung, die er sich bei der Türkenbelagerung Ofens bei Buda zugezogen hatte und an der er beinahe gestorben wäre, immer noch gesundheitliche Probleme hatte. Da er keine eigenen Kinder mit Maria hatte, fühlte er sich den beiden sehr zugetan und die Burschen hatten ihn als Vaterfigur immer akzeptiert.
Auch die Kutsche war soeben eingetroffen und alle Familienmitglieder und die anderen Burgbewohner nahmen nach der endlosen Begrüßungszeremonie zur Feier des Tages endlich an der großen Tafel Platz.
Graf Wilhelm übernahm wie immer den Vorsitz und an seiner Seite nahmen Maria und die Söhne Platz. Die stattlich bekleidete Dienerschaft Marias brachte bereits, dem festlichen Anlass angemessen, riesige Fleischplatten heran und stellten diese gleichmäßig verteilt auf die lange Tafel. Außer der Familie fanden wie üblich die hochrangigen Offiziere, der Burgpfarrer, der Oberförster und deren Familien daran Platz. Die meisten anderen Soldaten aßen in der Soldaten-Messe oder auch gemeinsam mit ihren Familien in den Wohnungen. Das Gesinde aß anschließend an das Nachtmahl der Edelleute in seinem privaten Teil der großen Küche und bekam immer die ausreichenden Reste der feinen Tafel ab.
Der Graf erhob sich erwartungsgemäß und Johanna wusste, er würde zu einer seiner berüchtigten, langatmigen Reden ansetzen. Der ehemalige Obersthofmeister des Erzherzogs war ein gewandter Mann mit feinen Manieren und auch sehr redegewandt, mit seiner stattlichen Gestalt und einem kräftigen Organ versehen, waren Reden eine Leidenschaft von ihm. Sein buschiger, gepflegter Oberlippenbart zeigte bereits graue Stellen und sein Kopf war fast kahl, er hatte in den letzten Jahren einen stattlichen Bauch bekommen und das wirkte sich leider auch auf seine Gesundheit aus und äußerte sich in seiner roten Gesichtsfarbe und den Schweißperlen, die ihm bei Anstrengung sofort auf der Stirn standen. Johanna mochte ihn gerne, verzweifelte nur an seinen weitschweifigen Reden und endlosen Ausführungen. Bis er endlich zum Punkt kam dauerte es immer lange. So schilderte er immer genau die Örtlichkeit, verbreitete sich stets über nebensächliche Einzelheiten, gab seine eigene Meinung dazu, bis er dann endlich zum Kern der Sache gelangt.
Als sie in die Runde blickte, konnte sie zweifellos erkennen, dass sie nicht die Einzige war, die sehnsüchtig auf die knusprig panierten Schweinsschnitzel spähte, die ganz zu oberst auf den Fleischplatten auf ihren Verzehr warteten. Der Anblick ließ ihr das Wasser im Munde zusammen rinnen. Waren doch diese Stücke die erkorene Lieblingsspeise der meisten Anwesenden. Die Köchin schnitt dünne Fleischschnitzel und klopfte diese noch dünner bis sie fast durchsichtig wurden, wälzte diese in Mehl und geschlagenen Eiern mit Milch und panierte sie anschließend mit fein geriebenen trockenen Brotbröseln in Schweineschmalz heraus. Der Rest der Fleischplatten bestand aus gebratenen Rippchen, gegrillten Blut- und Bratwürsten, Bratenstücken und geselchtem Fleisch. Dazu wurden als Beilage in großen Schüsseln Brot, Knödel, Erdäpfel und Stöckelkraut gereicht.
Sie riss sich vom Anblick der Köstlichkeiten los und konzentrierte sich pflichtschuldigst wieder auf die feierliche Rede.
Der Graf begrüßte gerade offiziell die Rückkehr seiner Stiefsöhne und betonte die Aufgaben, welche er gemeinsam in nächster Zeit mit ihnen vorhatte zu bewältigen. Anscheinend konnte er selbst den Anblick der duftenden Speisen nicht mehr ertragen und so hielt er sich ungewöhnlich kurz und gab das Wort an den Pfarrer weiter, der die Speisen segnen sollte.
Der Mundschenk machte zugleich seine Runde mit einer großen Karaffe Wasser und einem sauberen Tuch und ein Mädchen folgte ihm mit einer Schüssel, um das Wasser darin aufzufangen. Der Reihe nach konnte man sich so vor dem Mahl die Hände waschen und trocknen. Es war üblich, die Finger beim Essen zu benutzen. Jeder hatte sein eigenes Messer bei sich und ein rundes Holzbrett und ein Becher auf jedem Platz wurde eingedeckt.
Nach einem kurzen Gebet stürzten sich, nachdem der Graf seiner Gattin ein schönes Stück Schnitzel angeboten hatte, alle auf das zur Feier des Tages ungewohnt üppige Essen. Verdünnter Wein wurde gereicht und das Gespräch ging während des Schmauses munter weiter.
Johannas Lieblingskatze streifte um ihre Beine und machte auf sich aufmerksam. Sie setzte sich schließlich hinter sie. Mit herzzerreißendem Blick fixierte sie Johanna und wartete auf einen Leckerbissen.
„Na, du armer schwarz-weißer Kater“ bedauerte Johanna das Tier und gab ihm einige Reste von ihrem Brett, schließlich wusste sie, dass die Katze dafür später im Bett ihre Zehen wärmen würde und sich vorher bereitwillig von ihr kraulen ließ und mit ihr schmusen würde. Dennoch konnte sie sich oft des Eindrucks nicht erwehren, die Katze sah in ihr nur das Personal und betrachtete sich selbst als der eigentliche Herr im Haus.
Sie wusste nicht ob Katzen oder Tiere im Allgemeinen wirklich keine Seele hätten, wie immer behauptet wurde, aber dass dieses Tier einen eigenen Charakter hatte, daran bestand für sie nicht der geringste Zweifel.
Die vielen Katzen wurden von allen Burgbewohnern gerne geduldet, da sie das Ungeziefer jagten, außerdem waren sie selbst sehr reinlich. Johanna hatte zwar schon des Öfteren beobachtet, wie ihre Katze die Mäuse von draußen hereinschleppte, doch die meisten Leute glaubten trotzdem, die Katzen würden die Mäuse im Haus fangen und lobten sie sehr dafür.
Die Hunde wurden im Hof in großen Zwingern gehalten und würden sich über die Knochenreste freuen.
Als alle angenehm satt waren, wurden die Fleischplatten mit Körben voll getrockneter Apfelscheiben und Nüssen ausgetauscht. Adam und Max waren natürlich der Mittelpunkt des Gesprächs und alle Anwesenden lauschten ihren Berichten vom Aufenthalt in der Oberkrain, die sie allerdings, wie sich herausgestellt hatte, bereits vor beinahe einem Jahr verlassen hatten und überhäuften sie mit Fragen.
Die beiden erzählten von ihren Abenteuern mit ihrem gemeinsamen Freund, dem jungen August aus Freiberg in Sachsen und Sohn eines Herzogs. Sie nannten den Kerl scherzhaft immer nur Augustus.
Obgleich er Protestant war, hatte seine Familie den Habsburgern die Treue geschworen und so war er wie auch sie in Pettau ausgebildet worden. Gemeinsam mit ihm, seinem älteren Bruder Moritz, dem Herzog Alba und anderen katholischen Adeligen, waren sie die letzen Monate im Gefolge des Erzherzogs und zeitweise sogar des Kaisers unterwegs gewesen und mit ihnen über Wien und Prag zu der Schlacht bei Mühlberg an der Elbe gereist. Dort, wo der Konflikt mit dem Schmalkaldischen Bund, einer protestantischen Ständerevolte, nach und nach drohte, bis in die Böhmischen Länder vorzudringen, war die Lage eskaliert, nachdem der Bund schon längere Zeit unter der Führung des Kurfürsten Johann Friedrich von Sachsen in der Religionsfrage gegen den Kaiser und somit gegen das gesamte heilige römische Reich rebelliert hatte. Er und seine Anhänger waren dagegen, die Tradition des antiken Römischen Reiches fortzusetzen und wollten die Herrschaft des Kaisers als Gottes heiligen Willen im christlichen Sinne nicht länger legitimieren.
Mit dem Segen des Papstes und der Hilfe der aus dem Bunde ausgetretenen, aber ebenfalls protestantischen Landgrafen, Philipp von Hessen, und eben Augustus´ Bruder und nunmehrigem Herzog, Moritz von Sachsen, und auch mit bairischer Unterstützung, konnten der Kaiser und Erzherzog Ferdinand endlich gegen diese Rebellen vorgehen. Adam und Max hatten dem Kaiser und dem Erzherzog in dieser Krise erstmals als Ritter erfolgreich beistehen können.
Sie erzählten der gespannt lauschenden Runde, wie sich der Kurfürst tapfer gegen die Übermacht gewehrt und bis zum Ende gekämpft hatte, aber schließlich in einem Wäldchen von spanischen und ungarischen Husaren und schweren neapolitanischen Reitern umzingelt wurde, aber erst aufgab, als er durch einen Säbelhieb im Gesicht schwer verletzt wurde. Der Kurfürst wurde darauf gefangen genommen und vor den Kaiser geführt, der diesen Krieg somit gewonnen hatte.
Ein Sieg Kurfürst Johann Friedrichs und seiner Verbündeten hätte auch für den Erzherzog in Bezug auf die Loyalität seiner böhmischen Herrschaftsgebiete unabsehbare Folgen gehabt, erklärte Adam den Anwesenden. Denn auch dort hatten sich anscheinend schon die Stände, die sich aus dem Klerus, der für das Seelenheil zu sorgen hatte, dem Adel, der den Klerus und das Volk gegen Feinde zu verteidigen hatte und den freien Bauern und Bürgern, die mit ihrer Arbeit ihren Beitrag leisteten, zusammensetzten, zu einer Revolte formiert, die von den gutnachbarlichen Beziehungen zu den Rebellen in Sachsen geschürt wurde.
Adam und Max hatten also sogar den Kaiser persönlich kennen gelernt und hatten dem, von den Anwesenden vielleicht noch mehr verehrten, Erzherzog geholfen. Deshalb wurden sie natürlich von allen Seiten bestürmt und immer wieder als Helden gefeiert. Johanna war ganz schön neidisch. Sie würde wahrscheinlich nie in ihrem Leben eine Gelegenheit bekommen, eine Heldin zu werden.
Danach wurden Adam und Max immer wieder gebeten, mehr über den Kaiser zu berichten. Für die meisten Menschen blieb der Kaiser etwas mystisches, wie der Papst, oder Gott selbst. Man saugte zwar jeden Klatsch und Tratsch, den man über ihn zu hören bekam, begierig auf, doch eigentlich konnte sich niemand vorstellen, dass er nur ein Wesen aus Fleisch und Blut, wie sie selbst, war.
Der Kaiser und auch sein Bruder, der Erzherzog von Österreich, waren die Verteidiger des katholischen Glaubens und der heiligen Bräuche und waren trotz zwangsläufiger Zugeständnisse an die Protestanten entschlossen, an Allem festzuhalten, woran auch ihre Vorgänger bis zur Gegenwart festgehalten hatten. Also alle Reiche, Herrschaften, Freunde, Leib und Blut, Leben und Seele für den christlichen Glauben einzusetzen. Das hatten beide gelobt. Oft waren sie sicher im Zweifel, ob Gott ihnen wirklich eine Gnade damit erwiesen hatte, ihnen so zahlreich Königreiche und Herrschaften durch rechtmäßige Erbfolge und ohne Widerstreit beschert zu haben. Für sie war es von Jugend an eine Bürde, als mächtigster Kaiser oder König der ganzen Christenheit zu gelten.
Auch Adam und Max waren in Pettau zu christlichen Rittern des goldenen Vlieses ausgebildet worden und trugen als Zeichen nun eine Ordenskette, die sie als solche auswies.
Dieser ursprünglich burgundische Orden betrachtet seine höchste Aufgabe in der Bewahrung des Glaubens und damit verband man auch den Kampf gegen Ketzer und Muslime. Und der Orden betonte die Begriffe der Ehre.
In diesen schwierigen Zeiten der Aufklärung, (Luther war vor gerade drei Jahren verstorben), in denen viele Bauern, Stadtbewohner und auch Adelige zum protestantischen Glauben übergetreten waren, schien dies sicher eine unvorstellbare Belastung und schier unüberwindliche Aufgabe für den Kaiser und seinen Bruder. Wobei sich Gott sei Dank die befürchtete Spaltung der Kirche, die auch Luther nie heraufbeschwören wollte, in den Versuch einer Erneuerung derselben umzugestalten schien.
Neben den religiösen Problemen bestanden natürlich nach wie vor die politischen Probleme mit den Türken und den Franzosen, zu denen Kaiser Karl ein besonders schlechtes Verhältnis hatte, da diese sich vor der Macht der Habsburger fürchteten. Das Volk würde es nie wagen, sich gegen die Autorität des Kaisers zu wenden, im Gegenteil, von ihm erwarteten sie sich Schutz nach außen hin und auch gegen die vielfachen Bedrückungen durch regionale und lokale Gewalten.
Maria war die einzige gewesen, die den Kaiser und den Erzherzog persönlich näher kannte. Sie war eine geborene „de Guzmán“. Ihre Onkel waren Lehrer und Berater des jungen spanischen Infanten und jetzigen Erzherzog am kastilischen Hof gewesen und ihr Vater war noch immer geheimer Rat und Kämmerer Ferdinands. Einer der oft so abwertend in den öffentlichen Karikaturen bewerteten Hofspanier.
Maria war praktisch mit Ferdinand aufgewachsen. Immer wenn sie von ihm erzählte, hatte sich Johanna einen netten lebhaften Spanier vorgestellt, doch eigentlich war der Erzherzog ja schon als Junge wie der Kaiser selbst, ständig im gesamten Kaiserreich, zu dem auch die Niederlande, Deutschland und Tirol gehörten, herumgereist und musste sich schon früh um Regierungsangelegenheiten und Repräsentationsfragen kümmern.
Die beiden Brüder, Karl und Ferdinand, wuchsen getrennt voneinander auf. Nur der Erzherzog war in Spanien von seinem Großvater erzogen worden. Maria war ihm damals sehr nahe gestanden und war ihm wegen ihrer Liebe zu Adams und Max Vater, der zum Gefolge der österreichischen Delegation gehörte, nach Österreich gefolgt.
Endlich berichteten die beiden Brüder von ihren Eindrücken vom Kaiser. Sie schilderten ihn als starke Persönlichkeit. Auch unabhängig vom Glanz seines begleitenden Hofes vermochte er mit seiner unbeirrbaren Frömmigkeit, mit der er Thron und Altar zu vereinigen suchte und dabei eine große Zuversicht in die Unsterblichkeit seiner Herrschaft ausstrahlte, jeden sofort zu beeindrucken.
Von der Vision seines Vorfahren Karl des Großen, der die Wiedererrichtung des römischen Imperiums herbeiführen wollte, war er anscheinend keineswegs überzeugt. Vielmehr war sein Plan, das heilige römische Reich zu einer friedlichen, moralischen, solidarischen, kulturellen und demokratischen Einheit in Europa zu gestalten.
Diese große Aufgabe zehre auch an den stärksten Nerven, bemerkten die beiden und ein leises Geraune ging durch den Saal. Man hatte schon viele Gerüchte über den schlechten Gesundheitszustand des Kaisers vernommen.
Manchmal, so erzählten sie, verfalle selbst der Kaiser in Depressionen und frönte vor lauter Selbstzweifel unmäßig Speis und Trank und spielte immer wieder darauf an, sich nach Spanien zurückziehen zu wollen. Gichterscheinungen quälten den Herrscher, sodass man bei längeren Ritten sein linkes Bein am Pferd festbinden musste.
Man konnte den beiden ihre tiefe Verehrung für ihren Kaiser deutlich am, in ihrer Stimme mitschwingenden hochachtungsvollen, Tonfall anmerken und Johanna bedauerte wieder einmal zutiefst, ein Mädchen zu sein, das von diesen aufregenden Aufgaben zwangsläufig ausgeschlossen wurde.
Es wurde von den Männern noch einige Zeit herumpolitisiert und Johanna folgte gespannt dem Gespräch. Nach und nach erschlossen sich ihr so die Gründe, die zum Krieg gegen den Bund geführt hatten. Adel und Stände fühlten ihre Positionen und Privilegien gefährdet, wobei das Zweitere wahrscheinlich der Hauptauslöser zu dieser nicht zu unterschätzenden Krise gewesen war. Da Böhmen und Sachsen bis jetzt immer eine traditionell gutnachbarliche Beziehung zueinander gepflegt hatten, war damit zu rechnen gewesen, dass die böhmischen Herrschaftsgebiete Ferdinands sich auf Seiten des sächsischen Kurfürsten schlagen würden, dies hatte Ferdinand also unbedingt verhindern müssen. Deshalb war der Sieg in Mühlberg sehr wichtig für den Erzherzog und seinen Bruder, den Kaiser, gewesen. So hatten sie die drohende Revolte bereits im Anfangstadium gestoppt und damit auch die böhmischen Aufrührer demotiviert.
Johanna saß an der L-förmigen Tafel schräg gegenüber von Adam und Max, neben ihr saß ihre zehnjährige Cousine Veverl, wie sie anstelle ihres Taufnamens, Genoveva, gerufen wurde. Die Kleine himmelte begeistert die jungen Ritter an und hing an ihren Lippen. Als Adam sich zu Johanna beugte und mit der rechten Hand hinter ihr Ohr griff, zauberte er eine kleine filigran gearbeitete goldene Rose von dort hervor.
Staunend hatte Veverl es beobachtet.
„Adam, willst du der Johanna leicht den Hof machen? Wirst du sie jetzt heiraten?“ fragte sie Adam in kindlicher Naivität.
Johanna war ein wenig peinlich berührt deshalb und versuchte schnell, der Kleinen den Mund zuzuhalten, bevor sie noch mehr Aufmerksamkeit auf sich lenken würde, doch das übernahm an dieser Stelle ohnehin schon Adam. Mit einem heiteren Ausruf konterte er ihr: „Heiraten, Engelchen, welch fürchterliches Wort, ich glaub, da muss ich gleich wieder fort!“ Er untermalte die Bemerkung mit einer erschreckten Grimasse.
Alle, die die Aussage mit angehört hatten, lachten über seine Worte und Johanna griff sich in gespieltem Entsetzen ans Herz und deutete einen herannahenden Ohnmachtsanfall an, um sein Spiel bereitwillig mitzumachen.
Max warf ihr einen heiteren Blick zu: „Johanna kann sich sicher vor Heiratsanträgen gar nicht mehr retten, lieber Bruder. Da ist sie wahrscheinlich gar nicht auf dich neugierig, oder?“ wandte er sich mit kurzem Hochziehen seiner linken Augenbrauen neckisch ihr zu. Ein heißer Schauer durchfuhr ihren Körper bei seinem Blick und schien ihr bis auf den Grund der Seele zu schauen. Sie spürte einen Kloß im Hals und musste sich dazu zwingen, ihren Blick von ihm loszureißen, ordnete schnell ihr Haar, versuchte eine gelangweilte hochmütige Miene aufzusetzen und setzt sich aufrecht wie eine feine Dame hin.
„Pah!“ schüttelte sie leicht den Kopf und machte mit ihrer Hand eine wegwerfende Bewegung in Adams Richtung, um so Max Vermutung zu untermalen.
Als sich das allgemeine Interesse wieder anderen Schauplätzen zuwandte, grübelte sie aber insgeheim über Max Bemerkung nach, die mit der Wahrheit überhaupt nicht übereinstimmte. Sie war sicher keine hervorstechende Schönheit, wie zum Beispiel ihre Freundin Isabella, die sich dessen sehr bewusst war und ständig von jungen Herren umschwärmt wurde und gerne mit diesen kokettierte, aber sie war mit sich zufrieden und hoffte eines Tages den Mann zu finden, der sie so mochte und akzeptierte wie sie eben war.
Sie hatte herausgefunden, dass viele Männer ihre Selbständigkeit abschreckte. Sie waren es gewohnt zu befehlen und erwarteten Gehorsam und Anpassung und wohl keine endlosen Diskussionen.
Inzwischen wandte sich der Gesprächsstoff wieder mehr in eine unterhaltsamere Richtung und der Graf fragte gerade die Damen an seiner Seite, ob er nach ihren Musikinstrumenten schicken solle. Beide waren gerne bereit, etwas vorzutragen. Maria trug ein zauberhaftes Stück auf der Harfe vor und alle lauschten leise wie gebannt den harmonischen Klängen. Anschließend stimmte Anna mit der Zitter ein lebhafteres Stück an und der Oberförster zückte seine Maultrommel und begleitete sie dabei. Es wurde im Takt geklatscht und mitgesungen und Adam machte vor Johanna einen gekonnten Kniefall und forderte sie so zum Tanz auf.
Sogleich fanden sich noch weitere Paare bereit und die Stimmung wurde schnell immer ausgelassener.
Als Johanna endlich schon spät nachts in ihrem Bett lag, ließ sie sich den Tag nochmals in Gedanken durch den Kopf gehen. Adam hatte ihr im Laufe des Abends viel Aufregendes und Privates über den Kaiser und den Erzherzog berichtet und sie war sich sicher, in seinen Worten eine große Verehrung dem Erzherzog gegenüber herausgehört zu haben. Vor der besagten Schlacht bei Mühlberg waren offenbar die Schwierigkeiten der beiden Regenten untereinander massiv zum Vorschein getreten. Wenn sie Adams Bericht Glauben schenken konnte, hatte der Erzherzog dem Kaiser auch vorgeworfen, viele anstehende Probleme zu verdrängen und zu wenig entschlusskräftig zu sein. Natürlich hatte er es nicht mit diesen Worten gesagt, so durfte nicht einmal ein König mit dem Kaiser sprechen, doch dem Sinn nach warf er ihm vor, dass er diesen Konflikt, der bereits seit dem gescheiterten Augsburger Reichstag, nachdem es erst zu der bündnispolitischen Formierung protestantischer Reichsstände im Schmalkaldischen Bund gekommen war, vor sich her geschoben hatte.
Schon seit längerem hatte offenbar der Erzherzog seinen Bruder zu einer Entscheidung betreffend den aufständischen Bund gedrängt. Er fürchtete neben den Problemen in Böhmen auch ein Übergreifen des Konfliktes auf die Niederlande. Doch erst, als auch der Papst Hilfe versprochen hatte, konnte sich der Kaiser dazu entschließen, einen Krieg gegen den Herzog von Sachsen und den Landgrafen von Hessen, die Rädelsführer des Bundes, ins Auge zu fassen. Schließlich konnte ihm sein Bruder geschickt noch einen schlüssigen Kriegsgrund liefern: nachdem der Schmalkaldische Bund den Herzog von Braunschweig und dessen Sohn festnehmen ließ, erklärte er kurzum die Aufrührer als Störer des allgemeinen Friedens und der Rechtsordnung und Verachter der Autorität des heiligen Reiches. So konnten sie den Eindruck eines Religionskrieges vermeiden und stellten den Krieg als Exekution der Reichsacht gegen Kursachsen und Hessen dar. Ein Religionskrieg hätte nur dem Reich geschadet und es damit seinen äußeren Feinden ausgeliefert.
Adam und Max waren mit ihren Gefährten aus Pettau bereits im Oktober des Vorjahres im Gefolge des Erzherzogs nach Kaaden gezogen, wo dieser an die 20.000 Mann versammelt hatte, die den Auftrag hatten, die böhmische Grenze zu überschreiten und bis ins Kurfürstentum Sachsen zu ziehen. Daraufhin erklärten die aufständischen Bürger, sie würden nicht gegen Mitgläubige und Freunde des Schmalkaldischen Bundes kämpfen, dies war dann auch der Auslöser, den Kriegsgrund anders auszulegen.
Der Erzherzog musste aber wohl oder übel das Eintreffen einer Verstärkung abwarten. Noch dazu, wo sich bereits im Donaufeldzug im Sommer die zahlenmäßige Überlegenheit der schmalkaldischen Truppen gezeigt hatte, sie bestanden aus etwa 21.000 Knechten und 4.500 Reitern und bekamen immer weiteren Zuzug und so war es nur vernünftig vom Erzherzog, den Truppen noch aus dem Weg zu gehen. Laut Adam war es zum ersten Zusammenstoß erstmals am 31. August bei Ingolstadt gekommen, als ein Teil der kaiserlichen Reiterei die Schmalkaldener überfiel, worauf diese das kaiserliche Lager mit ihrer Artillerie beschossen, aber nicht zum Sturmangriff ansetzten.
Erschrocken hatte sich Johanna erkundigt, ob er und Max schon damals am Kriegsschauplatz gewesen seien. Beide waren aber erst danach im Zuge einer angeforderten Verstärkung der königlichen Truppen von der Oberkrain aus losgezogen.
Dieser Fehlentschluss der Gegner, keinen Sturmangriff zu starten, und die persönliche Anwesenheit Karls stärkte das Selbstvertrauen der kaiserlichen Truppen enorm. Das nasse und nebelige Herbstwetter beschleunigte dann noch den raschen Rückzug der Rebellen aus Oberdeutschland. Die königlich-kaiserlichen Truppen beherrschten somit das Terrain, auch wenn die päpstlichen Truppen, zum großen Ärgernis des Kaisers, ihren Rückzug nach Italien antraten. Ferdinand drängte so lange auf seinen Bruder ein, der ebenfalls einen Abzug vorbereitete, am Krisenherd auszuharren, bis dieser zustimmte, wenigstens einen Teil seiner Truppen unter Ferdinands Befehl zu stellen. Adam weihte sie ein, dass im Jahre 1534 schon Würtemberg durch die laxe Haltung Karls dem Hause Habsburg verloren gegangen war und Ferdinand nach wie vor den Wunsch hegte, dies wieder rückgängig zu machen. Dies erschien ihm der günstigste Zeitpunkt und es stand in den Sternen, ob sich so bald wieder eine Gelegenheit zu diesem Vorhaben bieten würde.
Ende Oktober fielen die kaiserlich-königlichen Truppen, nachdem die Verstärkung aus der Krain und anderen Teilen Österreichs eingetroffen war, in Sachsen ein und nahmen Plauen im Vogtland ein, das den Truppen Moritz´ unterstellt wurde, um es vor der Plünderung durch die Böhmen zu schützen. Kurz darauf brachte Moritz von Sachsen Zwickau und den größten Teil der Kurlande unter seine Kontrolle. Die Hauptstreitmacht Ferdinands zog sich daraufhin ins Königreich Böhmen zurück, um dort Winterquartier zu beziehen und der Kaiser verließ endgültig den Kriegsschauplatz. Im Februar, als das Wetter wieder milder wurde, warteten Moritz und Ferdinands Truppen vergeblich auf den Kaiser, der wieder einmal zögerte selbst nach Sachsen zu ziehen.
Bewundernd hatte Adam von der Art Ferdinands erzählt, der ihn und Max während der Monate, in denen sie auf das Eintreffen des kaiserlichen Heeres gewartet hatten, oft dazu eingeladen hatte, bei wichtigen Gesprächen mit seinen Beratern über die politischen Probleme anwesend zu sein. Während sein Schreiber, Luis de Avilay Zuniga, alle wichtigen Unterredungen in schriftlicher Form festhielt, wurden sie beide oft um ihre Meinung gefragt. Daneben beriet Ferdinand sich mit seinen Räten. Adam berichtete beeindruckt, dass er dabei auch Kritik an seiner Haltung ertrug und sich danach sogar zu Korrekturen entschloss, wenn ihm die Haltung der Gegenseite dazu Grund gegeben hatte. Bewundernd hatte er ihr von der gewinnenden Art des Erzherzogs erzählt, in der er manches Mal selbstbewusst Empfehlungen des Rates abmilderte oder nicht befolgte oder sogar als töricht abkanzelte. Wie auch der Kaiser sehe auch der Erzherzog nicht besonders gut aus, bemerkte er nebenbei, doch durch seine Witze, geistreichen Sprüche und spannenden Anekdoten versprühe er immerzu Frohsinn. Der Kaiser selbst kam bei Adams Erzählungen nicht so gut weg. Johanna hatte eher den Eindruck eines arroganten, humorlosen, selbstgefälligen und selbstgerechten Wichtigtuers durch Adams Erzählungen erhalten, der von allen ihn umgebenden Menschen verlangte, stets nur ihr Bestes zu geben. Einzig seine fromme Haltung insgesamt und besonders nach der gewonnenen Schlacht wurde von Adam als sehr positiv bewertet und imponierte daher auch Johanna. Der Kaiser hatte, wie schon öfter zuvor bei solcher Gelegenheit, jeglichen lauten Jubel verboten und sofort kirchliche Danksagungen verordnet.
Offensichtlich hatte Adam Gefallen an politischen Belangen gefunden. Ferdinand hatte ihm und Max anscheinend vermittelt, wie wichtig es war, gute und loyale Ratgeber zu haben, auf deren Meinung man bei allen wichtigen Fragen zurückgreifen konnte, bevor man sich entscheidet. Sie dachte an Adams Begeisterung, als er davon berichtet hatte, wie er und Max gemeinsam mit dem Erzherzog, kurz bevor sie nach Steyr zurückkehrten, noch nach Augsburg zum Reichstag gereist waren. Zuvor waren sie dabei gewesen als Ferdinand in Prag noch seine eigenen Untertanen, die Oberlausitzer Stände, wegen ihres groben Ungehorsams bestrafen musste. 6 Städte dieser Region hatten kurz vor der entscheidenden Schlacht bei Mühlberg ihre Truppen aus dem Heerlager abgezogen und so einen königlichen Befehl missachtet.
Johanna konnte sich zwar nicht mehr an Adams und Max Vater, Hans Hofmann, erinnern, doch sie wusste, er hatte immer im Ruf gestanden, ein kluger, geschickter, maßvoller, umsichtiger und redegewandert Politiker gewesen zu sein. Adam würde wohl in die Fußstapfen seines Vaters steigen oder hatte es, wie es den Anschein nahm, bereits getan. Obwohl fast ausschließlich er über ihren Einsatz berichtet hatte, Max ergänzte nur hin und wieder seine Ausführungen, bedeutete es für Johanna, dass die beiden sich sicher nicht lange in Steyr aufhalten würden und schon bald wieder den herumreisenden Erzherzog begleiten würden. Für sie würde der gewohnte langweilige Alltag wieder beginnen, wenn nicht noch ein Wunder geschah.
Schnell schrieb sie noch die wichtigsten Ereignisse des Tages in ihr Tagebuch.
Als vor einigen Jahren die Pest umging und allgemeine Todesangst herrschte, niemand wagte seine sicheren vier Wände zu verlassen, hatte sie begonnen, die Dinge, die ihr wichtig erschienen, niederzuschreiben und mit Zeichnungen auszuschmücken. Es hatte ihr damals Angst gemacht, zu sterben und nichts von sich und ihren Gedanken zurückzulassen. Manche Gedanken, Eindrücke, wollte sie einfach festhalten. Zu schnell verflüchtigten sie sich sonst. An manchen regnerischen Tagen hatte sie mit Freuden ihre schriftlich festgehaltenen Erfahrungen so neu aufleben lassen. Als sie damit fertig war kuschelte sie sich in ihre Decken und schloss glücklich die Augen, sie freute sich auf den kommenden Sommer und schlief sogleich zufrieden ein. In wilden Träumen durchlebte sie an der Seite ihrer Freunde nochmals deren abenteuerlichen Erlebnisse.
Am nächsten Morgen schlenderte Johanna nach dem Frühstück zu den Ställen um ihrer Stute Loni einen Besuch abzustatten und ihr eine ausgiebige Fellpflege zu verabreichen. Am Vortag hatte sie sie einfach einem der Knechte übergeben, der sich wahrscheinlich nur grob um das Tier gekümmert hatte. Es war sonst nicht ihre Art, Loni so zu vernachlässigen, sie liebte ihr Pferd heiß und innig. Wenn nicht ihre Freunde so überraschend heimgekommen wären, hätte sie ihre Pflichten nicht so verabsäumt. Es machte ihr Spaß, das Pferd immer selbst ausgiebig zu striegeln und zu kämmen, die Hufen auszukratzen und einzufetten und sie freute sich immer über das zufriedene Schnauben, mit dem Loni sie in ihrer Box begrüßte.
Doch ihre Katze hatte wohl ausnahmsweise keine Lust nach Mäusen oder Vögeln zu jagen, oder sich die Sonne auf den Bauch scheinen zu lassen, sondern verfolgte Johanna auf Schritt und Tritt über den ganzen Hof und geriet ihr so immer wieder einmal zwischen die Beine, was sie, nachdem sie bereits einmal schwer gestrauchelt war, dazu veranlasste, zuerst der Katze eine ausgiebige Streicheleinheit zu gönnen. Sie ging in die Hocke und kraulte das von der Sonne warme flauschige Fell. „Ja, ja – wenn schon großer Fellpflegetag angesagt ist, fangen wir natürlich als Erstes mit dir an“.
Wonnig rekelte sich die Katze und rollte sich von einer Seite auf die andere – bis ein zufällig vorbeiflatternder Schmetterling blitzartig ihre Aufmerksamkeit erregte. Fröhlich setzte Johanna ihren Weg zu den Ställen fort.
Vor einigen Jahren hatte der Graf im Burgraben einen Schießplatz eingerichtet. Hier konnten die Soldaten und auch an manchen fix festgelegten Tagen die jungen Burschen der Stadt mit Pfeil und Bogen, mit der Armbrust und sogar mit Büchsen, auf bunt bemalte Holzscheiben, die an großen Strohballen befestigt waren, zielen. In regelmäßigen Abständen fanden auch Wettbewerbe statt, bei denen der Sieger in der jeweiligen Gattung einen Pokal und ein neues Hemd erhielt. Es war ein beliebtes Spektakel, das auch immer jede Menge Zuseher anlockte. Johanna war selbst ganz gut im Stahlschießen mit der Armbrust, denn oft hatte der Graf in der Abwesenheit seiner Söhne sie eingeladen, mit ihm zu üben.
Als sie später vom Stall kommend über die Holzbrücke, die über den Burghof führte, schlenderte, entdeckte sie dort unten Max und Adam und winkte zu ihnen hinunter. Die zwei bedeuteten ihr, zu ihnen zu kommen und Johanna sprang erfreut über diese willkommene Ablenkung die steilen Stufen hinab.
Leander, der Sekretär des Grafen, kam ebenfalls gerade hinzu, Johanna zog genervt eine Grimasse, als sie sein Nahen bemerkte und flüsterte nur für die Ohren der beiden bestimmt:
„Ja, jetzt haben wir aber wieder einmal großes Glück, denn dieser überaus imposante Alleskönner glaubt sicher ohne Zweifel, durch seinen Geist unserer vortrefflichen Gesellschaft erst völlig zum Durchbruch verhelfen zu müssen!“
Sie konnte diesen eingebildeten Schnösel nicht ausstehen. Er war ein so von sich überzeugter Schönling und Rechthaber und obendrein sehr streitlustig. Zumindest empfand Johanna es so. Sie konnte mit ihm, selbst wenn er sie manchmal kurz zu Wort kommen lassen sollte, nicht anständig unterhalten, er war immer rechthaberisch und duldete neben seiner eigenen keine andere Meinung. Das einzig beeindruckende an ihm waren seine strahlend blauen Augen und seine tiefe angenehme Stimme, mit der er jetzt, zu ihnen tretend, fragte:
„Na wie geht´s?“ dabei klopfte er Adam und Max jovial auf die Schultern. Adam zog leicht eine Augenbraue hoch und antwortete zweideutig auf Johannas Bemerkung abzielend: „Danke. Soeben gings noch!“ und sprach ihr damit aus der Seele.
Sofort brüstete Leander sich mit der Anzahl seiner gewonnenen Pokale und gab den jüngeren Männern Ratschläge, die sie lediglich mit einem milden Lächeln quittierten. Als sein Schuss anschließend weit am Rand der Scheibe landete, fand er unzählige Begründungen, angefangen vom Wind, der schlechten Armbrust bis zu Johannas Anwesenheit.
„Wie immer lenkt mich dein Anblick zu sehr von der Zielscheibe ab, Johanna!“ jammerte er.
Max hingegen stellte sich als wirklich hervorragender Schütze heraus, er traf fast immer mitten ins Schwarze und machte sogar den sonst ständig plappernden Sekretär sprachlos. Als dieser sich kurz von ihnen abwandte und langmächtig umständlich seine Armbrust untersuchte, die alleine an seinem Unvermögen schuld sein konnte, flüsterte Johanna leise und kopfschüttelnd mehr zu sich selbst als zu jemanden bestimmten: „Er wirkt doch gleich viel intelligenter, wenn er einmal den Mund hält“ und löste damit sogleich zustimmendes verschwörerisches Gegrinse unter den Brüdern aus. Wie schon als Kinder waren sie fortan wieder ein eingeschworenes Triumvirat und nahmen es erleichtert zur Kenntnis, als sich Leander schließlich entschuldigend wieder verabschiedete.
Am Nachmittag ritten sie zu dritt nach Garsten, wo sie als Kinder im Lyceum von den Mönchen unterrichtet worden waren.
Ein frommer junger Mönch, der sie als erstes dort begrüßte, fragte die jungen Grafen pflichtbewusst, als er hörte dass sie gerade erst in Steyr angekommen waren, wann sie das letzte Mal gebeichtet hätten. Sofort wurde deren Stimmung, wie auch früher in einer solchen Situation, ein wenig lausig. Es schien also bereits einige Zeit seit ihrer letzten Beichte vergangen zu sein. Johanna konnte sich noch allzu gut an die wöchentlichen Beichtstuhlbesuche erinnern. Mit etwas flauem Magen hatte sie damals immer gewartet, bis sie an der Reihe war und versucht, sich verzweifelt an eine begangene Sünde zu erinnern, die sie dem Pater beichten konnte. Es wollte ihr meist nichts einfallen, sosehr sie sich auch den Kopf darüber zerbrach und als sie schon mit reinem Gewissen den Beichtstuhl betrat und der Pater, nachdem er sie begrüßt hatte, sie ausfragte, hatte sie dann doch immer wieder feststellen müssen, dass er sie auf allerlei Verfehlungen aufmerksam machen konnte. Es waren natürlich keine richtigen Sünden, doch es reichte damals zumeist aus, sich den restlichen Tag schlecht zu fühlen. Seit sie alt genug war, selbst zu entscheiden, zur Beichte zu gehen oder nicht, hatte sie davon keinen Gebrauch mehr gemacht. Wirklich wichtig war es doch nur, fand sie, mit sich selbst im reinen Gewissen zu sein und wenn sie an manchen Tagen zuviel frische Krapfen in sich hineinstopfte, weil sie so gut waren, ließ ihr Köper sie ohnehin am nächsten Tag dafür büßen.
Im letzten Moment kam ihnen Bruder Tiemo, einer ihrer ehemaligen Lehrer, zu Hilfe und begrüßte sie vor Freuden strahlend. Adam und Max berichteten ihm anfangs im Groben von ihren Erlebnissen in den vergangenen Jahren, aber schon bald waren sie in ein Gespräch über die Sorgen des Grafen mit dem Steyrer Hochgericht verwickelt.
Der Magistrat hatte, um Ordnung und Ruhe in der Stadt aufrechtzuerhalten, viele Statuten und Polizei-Maßregeln entworfen, die auch den Handel und die Zünfte betrafen und jetzt war ein Streit zwischen den verschiedenen Parteien ausgebrochen, den der Graf zu schlichten hatte. Johanna hatte in letzter Zeit nebenbei schon viel von Ulrich Prandstetter gehört. Dieser hatte sich an die Spitze der rebellierenden und gegen diese Maßregeln protestierenden Handwerker gesetzt und ging dabei ohne Rücksicht vor.
Bruder Tiemo seufzte „Ich würde wünschen, dass alle Bürger gleich vermöglich wären, das ist aber in der ganzen Welt nirgends der Fall, also kann ich das auch hier in Steyr nicht verlangen, wo ohnehin noch, wie sonst in keiner Stadt, die ich kenne, jeder Handel treiben darf, der will“. Gerne flüchteten Johanna, Max und Adam sich in diese Diskussion und die Beichte wurde so gekonnt verschoben.
Der Heimweg führte sie an einer sumpfigen Wiese vorbei, auf der nur langes, dünnes, saures Bürstlinggras wuchs. Als sie noch Kinder waren, gab es einen lustigen krummbeinigen Kauz, der dort wohnte und ihnen eine Geschichte über diesen Ort erzählt hatte. Es sollte hier einmal eine alte Sichelschmiede gestanden haben und weil der Schmied bei der Arbeit immer laut geflucht hatte, ließ Gott zur Strafe die Schmiede im Boden versinken. Wenn sie als Kinder über den weichen federnden Boden laufen wollten, hatte ihnen der Alte immer nachgeschrien: „Rennt´s nur, rennt´s, da schau´n schon dem Schmied seine Haar aussa!“
Und als Kinder liefen sie damals, was sie nur laufen konnten. Belustigt erinnerte sie ihre Freunde an diese Episoden und sie fischten noch manch andere Erlebnisse aus ihrem Erinnerungsvermögen hervor und schwelgten in den vergangenen Kindheitserlebnissen.
Johanna musste am Nachmittag noch einige Vorbereitungen für den in Kürze stattfindenden Jahrmarkt treffen. Sie hatte den Kindern, die während des Hochwassers in der Burg gewohnt hatten, versprochen, mit ihnen ein Stück und einige Reime einzustudieren, dazu hatte sie sie in den Hofgarten bestellt, wo sie im Kreis in der Wiese saßen.
Die Kinder wollten die lustigen Zeilen, die schon Johannas Großmutter immer mit den Kindern gesungen hatte, immerzu wiederholen
„.. und als die Schneider Jahrstag hatten, da waren sie alle froh! Sie aßen ihrer neunzig, ja neun Mal neunundneunzig an einem gebratenen Floh!“
Eines der Kinder fragte an dieser Stelle immer nach:
„Woran aßen Sie?“
und alle Kinder antworteten halb lachend halb schreiend
„An einem gebratenen Floh!“
Danach folgte der lustige Refrain und es hallte aus den schmetternden Kinderkehlen:
„Gilleginginking juche juchheissassa“
und die Strophen wurden fortgeführt.
Johanna liebte es, mit den Kindern gemeinsam zu spielen und sie zu fördern. Sie fand, alle Kinder, unabhängig welchen Standes sie waren, müssten die Gelegenheit bekommen, Lesen, Schreiben und Rechnen zu lernen, doch manche Eltern waren in dieser Beziehung einfach uneinsichtig und verlangten von den Mädchen nicht mehr, als im Haushalt zu helfen, um sie möglichst früh zu verheiraten und von den Buben, von Kindesbeinen an kräftig bei der Arbeit zu helfen.
Sie machte Zahlen- und Buchstabenspiele mit den Kindern. Vielleicht konnte sie durch ihr Einwirken etwas Neugier in den Kindern erwecken, sodass sie später zu aufgeschlossenen, jungen Menschen heranwachsen würden und so hoffte sie, in ihnen ein Interesse an Bildung zu hinterlassen.
Zu Beginn der Supreme, der Zeit vor dem Sonnenuntergang, spielte sie mit den Kindern noch Pantomime und ließ die Kleinen Blätter an Bäumen, Regen und vieles mehr darstellen. Als es schon spät wurde und die Kinder die letzte Aufgabe, sie sollten Vögel imitieren, erfüllten, meinte Johanna schließlich scherzend: „So das macht ihr ja ganz toll – da könnt´s ja jetzt gleich alle schön heim fliegen“ und die Kinder trollten sich lachend und zirpend mit flatternden Händen davon. Sie winkte der lustigen Schar noch nach und besuchte anschließend ihre Großmutter in der Küche.
Sie berichtete ihr von den Schießübungen und als sie spöttisch vom Hofsekretär und seiner Blamage erzählte, verteidigte die Großmutter diesen.
„Ach Johanna, sei nicht so streng zu ihm. Das ist doch nur seine harte Schale…. Darunter..“
„Ja, darunter, Omi, darunter riecht er schlecht, wie die meisten Männer.“ fiel Johanna ihr ins Wort bevor sie sich die endlosen Aufzählungen seiner Vorzüge anhören musste.
Insgeheim hatte ihre Familie wohl gehofft, zwischen ihr und dem blauäugigen Traum aller Schwiegermütter würde sich eine Romanze entwickeln, in dieser Beziehung würde sie sie wohl enttäuschen müssen.
Das Zusammentreffen mit ihren alten Freunden hatte sie mit Haut und Haaren belebt und sie fühlte sich über Nacht wie ein anderer Mensch. Vom ersten Augenblick ihrer Begegnung mit den Brüdern am Sonntag hatte sie sich aber besonders zu dem ruhigen Max sehr hingezogen gefühlt. Er schien mit einem scharfen Verstand begabt und zu Adams gemütlicher, redseliger und heiteren Richtung in diametralem Gegensatz eher ernst zu sein. Schon als kleiner Junge war er oft alleine mit seiner Lupe durch die Wiese gekrochen und hatte die Natur erforscht und hatte seine Nase in allerlei naturkundlichen Bücher gesteckt. Johanna und Adam hatten immer neue und mehr Insekten für ihn zu sammeln gehabt, die sie dann gemeinsam mit seinem Vergrößerungsglas bewunderten und er hatte ihnen dazu die lateinischen Bezeichnungen der Tiere aufgezählt. Er untersuchte alles was ihm interessant genug dazu schien. Stundenlang kritzelte er seine Entdeckungen in kleine Notizbücher. Verantwortlich für seine Leidenschaft war wohl besagter Lehrer, der ihm das Vergrößerungsglas schenkte. Dieser sammelte akribisch sämtliche naturkundlichen Sammlungen, hatte eine regelrechte Obsession daraus entwickelt und Max wollte ihm immer helfen, sie mit seinen eigenen Aufzeichnungen zu ergänzen. Max war ein noch größerer Bücherwurm als sie. Vielleicht sehnte sie sich deshalb danach, seine innersten Gedanken und Gefühle zu ergründen und verspürte so oft den Wunsch, viel Zeit mit ihm alleine zu verbringen. Mit Adam konnte man wunderbar wie früher, als sie noch Kinder waren, herumalbern, was sie auch überaus genoss, doch richtig ernsthafte Gespräche, erkannte sie an dessen tiefem Blick und seiner zurückhaltenden Art, konnte man eher mit Max führen und das erschien ihr im direkten Vergleich doch verlockender zu sein. So lange war sie mit ihren Gedanken und Fragen alleine gewesen. Jetzt, wo die Freunde wieder zurück waren, blühte sie auch selbst erst richtig auf.
Oft hatte sie schon darüber nachgedacht, welche Sorte Mann zu ihr passen könnte. Einen immer strahlenden Weiberheld wie Adam, der jedem Rock nachpfiff, wollte sie sich als Ehemann weder für sich noch für ein anderes Mädchen vorstellen. Adam würde wohl noch viele junge Mädchen unglücklich machen, vermutete sie. Wenn sie an Max dachte, fühlte sie immer so ein Flattern in der Magengegend. In diesem Augenblick wurde ihr klar, dass die Freundschaft zu Max wohl plötzlich zu Liebe geworden war.
Es waren wegen des bevorstehenden Jahrmarkts schon viele Landfahrer, Sänger und Reimsprecher in die Eisenstadt gekommen.
In der Engen Gasse, die von Zwischenbrücken zum Stadtplatz führte, stand ein Eckhaus, in dem zu dieser Gelegenheit gerne die fahrenden Spielleute, Puppenspieler, Gaukler und Possenreißer abstiegen.
Vor einigen Jahren war deshalb darauf ein steinernes Abbild eines Kopfes mit Halskrause und hoher Mütze angebracht worden, weil das bunte Volk oft sehr merkwürdig gekleidet war.
Sie sangen Lieder zur Fiedel, Laute und Querpfeife und trugen allerlei Kunststücke vor. Sie sollten am Jahrmarkt Abwechslung und Zerstreuung in den sonst so eintönigen Alltag bringen.
Als Johanna über die steile gepflasterte Berggasse durch das bemalte Burgtor auf den Zwischenbrückenplatz kam, trugen einige von ihnen Schelmlieder vor und sie verweilte, wie viele andere Leute, einige Zeit bei einem besonders talentierten Gaukler und ließ sich unterhalten, und als ein Zwerg mit einem umgestülpten Hut die Runde machte, warf sie gerne eine Münze hinein.
Es war Samstag, der Tag, der dem julianischen Kalender folgend, nach dem Gott Saturn benannt war, und am Nachmittag sollte offiziell der erste diesjährige Jahrmarkt vom Bürgermeister am Stadtplatz eröffnet werden. Aus diesem Anlass würden die Jagdhornbläser aufspielen und ein Wettbewerb im Holzsägen stattfinden.
In der Engen Gasse hatten auch schon die ersten Kerblzeiner, die mit Weib und Kindern vom Lande angereist waren, ihre Waren zum Verkauf ausgebreitet. Man konnte ihnen zum Markt bei der Arbeit zusehen. Aus schön gewachsenem, astreinen und leicht spaltbaren Haselnussholz, das sie auf ihren Rückenkraxen mitgebracht hatten, flochten sie Zöger und Körbe in allen Größen.
Auch am Stadtplatz herrschte bereits reges Treiben und man musste sich schon einen Weg durch die ganzen Wägen und Fuhrwerke suchen. Überall hörte man Hämmern und Klappern, wo die Händler ihre Stände errichteten. Am Nachmittag, wenn die Besucher aus den umliegenden Dörfern kommen würden, konnte man sich wahrscheinlich nur noch im Schneckentempo durch die Menge bewegen.
Johanna sah am Leopoldibrunnen vom Alter und der harten Arbeit buckelig gewordene Bäuerinnen, die ihr Brot, ihre Kräuter, Gemüse, Blumen und Speck anboten. Ihre Gesichter waren faltig und der Mund fast zahnlos, doch rote gesunde Backen und ein breites, gutmütiges Lächeln verzierten sie, als sie ihre Waren anpriesen. Sie würden nicht bis zu Mittag brauchen, um alles zu verkaufen, denn jeder wusste, um das schönste Stück zu ergattern, musste man früh aufstehen.
Am Stadtplatz standen die Häuser der reichen Bürger. Diese sahen es als ihr Recht an, über dem gemeinen Volk zu stehen und so bauten sie ihre Häuser so, dass die oberen Stockwerke über die Straße hinausragten. Johanna fand das zwar ziemlich albern, aber bei Regen war es ganz praktisch, immerhin konnte man so halbwegs trocken von einem bis zum nächsten Haus huschen.
Steckschilder zeugten von der Zunft ihrer Besitzer. Zu einem dieser schönen vornehmen Häuser kämpfte sich nun Johanna durch und ignorierte dabei das rege Treiben am Platz davor.
Sie zog an der Kette neben dem Tor und hörte das Läuten einer Glocke im Inneren des Hauses. Durch ein Guckloch spähte wenig später ein neugieriges Augenpaar heraus und erkundigte sich, wer da um Einlass bat. Johanna kannte die Prozedur bereits und streckte spaßeshalber ihre Zunge heraus. Die ins Tor eingelassene schwere Eichentüre mit den edlen Eisenscharnieren öffnete sich und Johanna schlüpfte hindurch.
„Das Fräulein Isabella erwartet sie bereits im Garten, gnädiges Fräulein“ bestellte ihr das junge Mädchen, das die Türe geöffnet hatte, kichernd. Johanna begrüßte sie gutgelaunt und ging den kurzen Gang durch das Eingangstor hindurch und kam so in den Innenhof des Gebäudes.
Auf die Ausstattung der Hofräume wurde von den Besitzern großer Wert gelegt. Die wohlhabenden Handelsherren tätigten ihre Geschäfte nicht auf den öffentlichen Plätzen sondern meist in ihren eigenen Räumlichkeiten und Höfen.
Im Erdgeschoß säumte eine toskanische Säulen-Arkade den Innenhof. Die Säulen trugen ein imposantes Kreuzkappengewölbe und schöne Fresken schmückten den Innenhof. Im oberen Stock befand sich direkt darüber ein Laubengang mit gedrehten Säulen. Johanna stieg die Wendeltreppe mit gemeißeltem Handlauf im hinteren Teil des Hofes hoch und ging durch ein geöffnetes verziertes Gittertor in den unterhalb der Berggasse befindlichen Garten.
„Na endlich, wo hast Du so lange gesteckt?“ erkundigte sich Johannas Freundin etwas genervt, als sie sich, eine Handarbeit beiseite legend, von dem Kissen auf der verzierten Steinbank erhob wo sie bereits gewartet hatte. Sorgfältig strich sie ihr Kleid glatt, legte sich einen breiten Schal um die Schultern und eilte Johanna entgegen.
Insgeheim hatte Johanna früher diese herausgeputzten Mädchen immer Daunengänse genannt, doch jetzt wo Isa Johannas beste Freundin war, hatte sie ihre Meinung revidiert. Isabella war nur ihr glattes Gegenteil, aber damit konnte sie leben.
Kennen gelernt hatten sie sich vor einigen Jahren zufällig beim Besuch einer vom Schicksal arg heimgesuchten Familie.
Die beiden jungen Frauen wollten ursprünglich unabhängig voneinander der zwölfköpfigen Familie helfen, da der Familienvater schwer verunglückt war. Eine Ladung Bloche hatte sich von seinem Holzfuhrwerk gelöst und dem Mann beide Beine zerquetscht. Ein Bader hatte sein Leben retten können, indem er ihm beide Beine abgeschnitten hatte, doch der großen Familie hatte der Verlust des Einkommens arg zugesetzt.
Isabella und Johanna hatten in dieser Zeit getan, was sie konnten, um zu helfen. Sie hatten damit der Familie das nötige Selbstvertrauen zurückgegeben das bereits verloren gegangen war und mittlerweile waren die damals stark abgemagerten und kränklichen Kinder, die sich von den Abfällen anderer Leute ernährt hatten, wieder zu gesunden lustigen Rackern herangewachsen. Die Mutter verdiente stundenweise in der Burgküche etwas zum Einkommen dazu und der Mann hatte sein besonderes künstlerisches Geschick entdeckt, wunderschöne Holzschnitzereien zu fertigen. Von nah und fern wurden ihm mittlerweile besondere Holzstücke und Wurzeln gebracht, um daraus etwas zu machen.
Der Schnitzer machte keine Auftragsarbeit, sondern er betrachtete das Stück Holz von allen Seiten und begann zu schnitzen, doch immer waren die Menschen mit dem Resultat zufrieden. Es kamen Tiere oder Gesichter zum Vorschein und bei manch größeren Stücken richtige Landschaften und Geschichten.
Isa und Johanna waren noch immer mit der Familie befreundet und besuchten sie oft gemeinsam.
Unter anderen Umständen hätte Johanna Isa für ein zimperliches Püppchen gehalten, doch damals hatte sie ihren eisernen Willen zu helfen und ihr Geschick und ihre strenge Konsequenz und Ausdauer im Organisieren bewundert.
Isas Vater, ein Eisenbauer, war mit einer sehr ergiebigen Hube zu beträchtlichem Wohlstand gekommen. Das Recht zur Erz- und Eisengewinnung war im Gebiet des steirischen Erzberges mit dem Besitz einer Hube verbunden, für die ein Grundzins zu leisten ist. Die Hube von Isas Vater versorgte nicht nur die darauf arbeitenden Bergmänner und deren Familien sondern brachte auch das nötige Holz zur Eisengewinnung ein. Er hatte immer großen Wert auf Wiederaufholzung gelegt und so klüger als viele andere gehandelt und in den Sommermonaten ergiebige Forellenteiche darauf angelegt, deren Fische in der Stadt reichlich Absatz fanden. Mittlerweile machte er auch gute Geschäfte mit importierten Edelmetallen aus Spanisch–Amerika, die er an die hier ansässigen Schmiede weiterverkaufte.
Isabella war zierlich gebaut. Sie hatte dunkelbraunes Haar mit feinen rostroten Strähnen, die im Tageslicht zu glühen schienen. Ihre milchweiße Haut stand zu ihren großen, braunen Rehaugen in klarem Kontrast und vorwitzige Sommersprossen brachten ihr Gesicht besonders entzückend zur Geltung.
Wenn Johanna mit Isabella unterwegs war, erntete meist diese die bewundernden Blicke der jungen Männer. Sie liebte schöne Kleider und den ganzen Firlefanz, der dazu gehörte. Für ausgedehnte Ausritte und Wanderungen, wie sie Johanna gerne machte, hatte sie überhaupt kein Interesse und deshalb auch keinen Anlass, sich praktisch zu kleiden, dafür liebte sie wie Johanna die romantischen Gedichte der römischen und griechischen Dichter, die sie sich gerne von ihr vorlesen ließ.
Die meisten Kaufleute wünschen inzwischen für ihre Söhne eine Ausbildung im Lesen, Schreiben und Rechnen, eine Bildung, die sie zur Abwicklung ihrer geschäftlichen Korrespondenz und zur Berechnung ihrer Einnahmen und Ausgaben befähigte. Dafür gab es für Knaben bereits einige Schulen in der Stadt. Isabella war zwar das einzige Kind ihrer Eltern, aber ihr Vater hatte trotzdem nicht dafür gesorgt, ihr dieselbe Bildung zuteil kommen zu lassen, die er für einen Jungen wahrscheinlich in Betracht gezogen hätte.
Wäre ihr Vater noch am Leben, hätte Johanna wohl das gleiche Schicksal ereilt.
Johanna hatte deshalb Isabella das Rechnen beigebracht und diese hatte darin bereits großes Geschick bewiesen und Johanna, die nie große Freude an Zahlen gehabt hatte, überflügelt. Mittlerweile half Isa ihrem Vater seine Finanzen zu ordnen und zu überblicken.
Bei ihren wohltätigen Einsätzen ergänzten sie sich hervorragend, Isabella war sehr genau, alles musste bis ins letzte Detail exakt geplant und organisiert werden und Johanna war dafür etwas geschickter im Improvisieren und voller neuer Ideen. Wenn einmal etwas nicht genau nach Plan verlief und Isabella drohte, die Nerven zu verlieren, tröstete Johanna ihre Freundin mit einem Scherz darüber hinweg.
Die beiden Mädchen waren inzwischen wieder im Innenhof angelangt. Über dem Tor das zum Ausgang führte war neben einigen Fresken ein Sinnspruch aufgemalt und Johanna warf jedes Mal im Vorbeigehen einen Blick darauf, da er ihr so gut gefiel. In goldener Farbe stand dort: „Wer wissen will, was die Welt bietet, muss Türen öffnen und hinausgehen, auf den Wege den er nicht kennt.“
Isabella warf im Durchgang noch einen prüfenden Blick in den großen polierten Spiegel der dort hing, wie üblich saß alles perfekt an ihr und sie zupfte eine ohnehin ordentliche Haarsträhne zurecht, kaute noch etwas auf ihren Lippen herum, um diese größer und rosarot erscheinen zu lassen und ließ sich schließlich von Johanna, die ihr geziertes Gehabe mit verdrehten Augen quittierte, das Tor öffnen.
Sie hatten mit einigen Kindern Lieder und ein kurzes Schauspiel einstudiert und verschiedenste Bastelarbeiten gefertigt. Damit wollten sie zum Jahrmarkt Geldspenden für ihre Schützlinge sammeln. Jetzt machten sie sich auf zum Stadttor beim Innerberger-Speicher. Der Jahrmarkt wurde gerade feierlich mit einer Prozession von der Stadtpfarrkirche über den Friedhof in die Stadt eröffnet.
Der von allen Steyrern, egal ob sie dem alten Glauben angehörten oder Protestanten waren, geachtete katholische Garstner Abt führte die Prozession an. Hinter ihm folgten die Handwerker, getrennt nach ihren Zünften. Johanna und Isabella standen mit den anderen Leuten am Rande und verfolgten das Schauspiel. Da waren die Zimmerleute, Maurer und Steinmetze, Ziegeldecker, Schlosser, Köche, Wagner, Drechsler, Hafner, Bäcker, Sieb- und Kammmacher in ihrer jeweiligen traditionellen Tracht und teilweise hielten sie auch ihre Werkzeuge in Händen.
Es gab zwar ein Gesetz welches zum Inhalt hatte, leichtfertige Spiele, die mehr Gelächter als Andacht erwecken könnten, sollten vermieden werden, doch die Prozession war trotz allem eine Art Selbstdarstellung. Es ging ums Sehen und Gesehenwerden und nicht wenige der Handwerker prosteten deshalb der Menge mit Wein- oder Bierschläuchen zu.
Als die Prozession an ihnen vorbeigezogen war machten sich Johanna und Isabella weiter auf den Weg zu dem kleinen Platz wo sie mit Erlaubnis vom Bürgermeister mit den Kindern basteln und spielen durften, außerdem war hier eine tolle Schaukel in der Form eines Schiffes aufgestellt worden in der man auch zu zweit bequem Platz fand.
Johanna wollte Isa vor dem Eintreffen der Kinder zum Schaukeln überreden, doch diese hatte zuviel Angst, jemand könnte unter ihren Rock spähen wenn der Luftzug mit ihm spielte. So musste Johanna alleine schaukeln. Sie hatte vorsichtshalber ihren Unterrock zwischen den Beinen zusammengebunden und so genoss sie das Gefühl schwerelos zu sein und den Zugwind im Gesicht, der ihre Frisur zwar zerstörte, aber auch wunderbar abkühlte.
Es war ein warmer sonniger Tag und durch das Gedränge am Stadtplatz war sie bereits ins Schwitzen gekommen. Sie schaukelte so hoch bis die Ketten durchzuhängen begannen und sie mit einem Ruck abbremsten. Isabella schrie ihr bereits aufgeregt Warnungen zu, doch aufzupassen und drehte sich dann geniert zu den Menschen um, die durch Johannas lautes Lachen und ihre Rufe aufmerksam geworden waren und befahl schließlich dem Besitzer der Schaukel diese mit dem Bremsholz abzufangen. „Spielverderberin“ schimpfte Johanna lachend mit erhitzten Wangen, als sie aus der ausschwingenden Schaukel sprang.
„Das ist doch nur was für Kinder, aus dem Alter solltest du längst heraus sein.“ murrte Isa als sie Johanna weiter zog, doch Johanna zeigte zurück auf ein junges Pärchen dass soeben gemeinsam in die Schaukel kletterte und widerlegte so ihren Vorwurf.
„Schade dass du so eine Spaßbremse bist, meine Liebe. Du warst sicher ganz neidisch beim Zusehen, oder?“ neckte sie ihre Freundin. „Los gib´s zu – gib´s schon zu!“ meinte sie ausgelassen bis Isabella sich kopfschüttelnd abwandte.
Wenn sie ihrer Freundin so nachschaute, musste sie wohl in ihrem Bemühen, diese mit ihrer guten Laune anzustecken, resignieren. Sie für ihren Teil würde wohl immer jede Gelegenheit für Spaß ausnutzen und Schaukeln war auch ein bisschen wie Fliegen fand sie. Sie hatte beinahe den ganzen Stadtplatz zu überblicken vermocht.
Als zwei Stunden später Adam gemeinsam mit Max auf den Stadtplatz kam, war dieser bereits zu einem anderen Leben erwacht.
Eine ungeheure Menschenmasse war bereits zusammengeströmt und drängte sich zwischen den Ständen hindurch, alle im Sonntagsputz. Sie mussten sich mühsam durch das dichte Gewirr menschlicher Stimmen und Körper schieben. Aus den Buden tönte das Geschrei der Marktständler, die ihre Waren feilboten. Es gab Stände, an denen man Blumen für seine Liebste Zielschießen konnte und ein Mann hatte mehrere Spiegel aufgehängt, in denen man sich total verzerrt begutachten konnte. Die Leute standen Schlange, um nur einen Blick darauf werfen zu können, wie sie wohl als Zwerg mit kurzen Beinen oder als spargeldünner Riese aussehen würden und vergossen dabei lachend Tränen.
Adam konnte sich wegen des Lärms kaum noch mit Max unterhalten und sie mussten fast um einen Platz an einem der Tische, an denen es gegrillte Hühnchen und frisches Fassbier gab, kämpfen. Von ihrem hart erkämpften Platz aus konnten sie die vorbeiflanierende Menge gut beobachten und sie unterhielten sich gut über manch auffallende Gestalten. Gestärkt vom Bier und gesättigt mischten sie sich wieder unters Volk und ließen sich bis ans Ende des Grünmarkts schieben, wo es kaum noch Marktstände gab.
Dort stand eine Traube von Leuten und man hörte lautes Lachen aus den Reihen.
„Komm lass uns nachschauen, was es dort drüben gibt“ überredete er seinen Bruder.
Max, der etwas größer als er war, erspähte zuerst den Grund der allgemeinen Heiterkeit.
„Da ist Johanna. Sie spielt dort oben ein Schauspiel mit ein paar Kindern.“ klärte er Adam auf und sie suchten sich eine Stelle, von der sie besser sehen konnten.
Johanna spielte offensichtlich eine ziemlich verwöhnte Prinzessin, die sich von den Kindern, die wahrscheinlich ihren Hofstaat darstellen sollten, bedienen ließ. Ein Chor von mehreren Kindern spielte zwischendurch immer wieder die Rolle eines Kommentators.
Mit nach oben gereckter Nase gab sie, durch die Nase sprechend, einen unsinnigen Befehl nach dem anderen und die Kinder überwarfen sich fast darin, ihn so schnell wie möglich zu erfüllen. Es war ein köstliches Schauspiel und kein Wunder, dass auch schon viele Erwachsene diesem Kinderspiel belustigt folgten. Sie hatten sich hinter die, am Boden im Halbkreis um die Bühne sitzenden Kinder, aufgestellt. Irgendwie erinnerte Adam Johannas Gehabe an die Erzählungen seiner Mutter, die sie ihnen früher vom spanischen Hof berichtet hatte, wo die echten Prinzessinnen vor lauter Langeweile ihre Dienstboten zu unsinnigen Aufgaben herumschickten, aber auch eine eindeutig abgekupferte Version einer wahren Begebenheit erkannte er in dem Schauspiel. Als Kinder hatten sie immer gerne den Geschichten ihrer Mutter gelauscht, wenn sie von den Geschehnissen am königlichen Hof, wo sie auch kurze Zeit eine Hofdame von Königin Anna gewesen war, berichtete. Eine der Geschichten erzählte von den beiden starken und stattlichen Rittern, Alonso de Menes und Martin de Peredes, welche der selben Kammerfrau der Königin ihre Reverenz erwiesen und dabei in Augsburg so aneinander geraten waren, dass es zu einem für beide tödlichen Zweikampf kam. Diese Geschichte ließ Johanna von den Kindern ebenfalls so trefflich und in urkomischer Weise nachstellen und Adam und Max schlugen sich vor lauter Lachen auf die Schenkel.
Johanna, die die umworbene Kammerfrau spielte, stolzierte im Kreis auf einer kleinen mit Reisig, Bändern und Fahnen geschmückten Holzbühne und ließ den beiden Jungen, die in die Rolle der Ritter geschlüpft waren, gerade Blütenblätter von kleinen winzigen Gänseblümchen zupfen und sich diese beim Herumstolzieren vor die Füße streuen. Einige andere Kinder kehrten schnell die hinter ihr liegenden Blüten zusammen und rannten nach vorne um sie ihr nochmals vor die Beine streuen zu können.
Zweideutigkeiten, ja offenbare Zöteleien, die man eigentlich keinem weiblichen Munde verzeihen konnte, wandelte sie in Anmut und Zierlichkeit um und machte sich über die weiblichen Launen im Allgemeinen lustig, die so schnell wechseln konnten wie sonst nichts.
Johanna ließ sich von einem als Mohr mit Ruß verschmiertem Gesicht verkleideten kleinen Jungen mit einem alten Fächer von Maria Luft zuwehen, dabei deutete sie ihm die Stellen an denen es ihr gerade besonders heiß war und der kleine Junge musste unter anderem auf andere Kinder steigen, die sich bereitwillig auf den Boden warfen, um höher hinaufzureichen. Als Johanna ihren Rock hochhob und ihm bedeutete das ihr darunter auch heiß war hielten sich bereits alle Zuseher vor Lachen den Bauch und klatschten begeistert. Johanna bedeutete allen ihren kleinen Statisten noch einmal anzutreten, sich artig zu verbeugen und machte einen tiefen Hofknicks vor den Leuten und erntete reichen Beifall.
„Hast du gewusst, welche verborgenen Talente unsere Johanna besitzt?“ wollte Adam von Max wissen.
„Meinst du das Schauspielen oder den Hofknicks?“ antwortete ihm dieser ironisch.
Mit diesen theatralischen Lorbeeren geschmückt begab Johanna sich zu den Zusehern und bat um eine kleine Spende für die Hochwasseropfer. Sie machte auf die von den Kindern gebastelten Sachen aufmerksam, die man für einen guten Zweck erwerben konnte und schickte zwei der kleinsten Kinder mit blechernen Töpfen, in die die Erwachsenen Geldstücke werfen sollten, durch die Reihen, während die älteren Kinder sich zu einem Chor zusammenstellten und ein Lied vortrugen.
Man hörte bereits das Klimpern der Münzen, was bedeutete dass die Aktion erfolgreich war.
Johanna sah bezaubernd aus, sie trug ausnahmsweise ein schönes, wenn auch schon etwas altmodisches, mit Spitzen verziertes, Kleid, das sie wahrscheinlich ebenfalls von der Mutter geliehen hatte und einige vorwitzige Löckchen hatten sich aus ihrer geflochtenen Hochsteckfrisur gelöst und umrahmten ihr strahlendes Gesicht. Als sich einige Zeit später die Menge lichtete, kämpften sich Adam und Max bis zu Johanna durch und küssten ihr galant die Hand und gratulierten ihr zu ihrem Erfolg.
Johanna wehrte verlegen die Glückwünsche ab und zog eine andere junge Frau, die bei den Kindern des Chores gestanden hatte, herbei um sie ihnen vorzustellen:
„Das ist meine Freundin Isabella. Isa darf ich vorstellen, Adam und Max Hoffmann. Ich habe dir ja schon viel von ihnen erzählt. Eigentlich hat Isa das hier organisiert“ wandte sie sich wieder den Männern zu „von mir stammt nur die Idee dazu, aber die hätte ich ohne ihre Geduld nie umsetzen können.“ Sie schlang einen Arm um die Taille ihrer Freundin.
„Haben die beiden Damen vielleicht nun Zeit, uns ein wenig zu begleiten?“ erkundigte sich Adam, sichtlich hingerissen von Isabella.
„Ja gerne, wir müssen nur noch die Kinder verabschieden und etwas zusammenräumen, aber wenn ihr ein paar Minuten warten wollt?“ erwiderte Johanna und ignorierte dabei Isabella, der die Schamesröte in die Wangen gestiegen war und die wie angewurzelt Adams Lächeln erwiderte.
Der Nachmittag neigte sich bald dem Ende zu und die meisten Leute suchten sich Platz an einer der vielen Stellen, wo es zu Essen und Trinken gab und musiziert wurde. Adam bot Isabella seinen Arm an und so warf Johanna schulterzuckend einen fragenden Blick auf Max, der sofort mit einem kleinen belustigten Nicken ihre unausgesprochene Frage beantwortete und seinerseits ihr den Arm anbot.
Sie schlenderten an einigen Buden vorbei, wo es köstlich nach frischen Brennzelten duftete und Isabella und Johanna bestaunten neugierig allerlei Krimskrams, der angeboten wurde. Sie kosteten sich durch süße getrocknete Feigen und ölige grüne Oliven, die einen bitteren Nachgeschmack hinterließen und fanden endlich mit etwas Glück einen freien Tisch, wo es dunklen Wein zu trinken gab, der einen herben Nachgeschmack hatte und einen pelzigen Belag auf der Zunge erzeugte.
Der reichlich konsumierte Alkohol brachte die Menschen ringsum dazu, ausgelassen zu singen und zu lachen. Manche dämmerten bereits vor sich hin, andere tanzten einige Volkstänze und wieder andere unterhielten sich geräuschvoll mit alten Bekannten. Johanna hatte es sehr genossen, an Max´ Seite durch die Stadt zu spazieren. Viele Leute hatten sich nach ihnen umgedreht, da Max wegen seiner Größe sofort aus der Menge herausragte, so musste sie sich auch nie Sorgen machen, ihn im Gedränge aus den Augen zu verlieren.
Wenn das Geschiebe gar zu arg wurde, hatte Max sie an der Hand gehalten und Johanna konnte noch jetzt das kribbelnde Gefühl an ihrer Handfläche spüren, das seine warme Hand hinterlassen hatte. Jetzt saßen sie eng nebeneinander auf einer einfach gezimmerten schmalen Holzbank und ihre Knie berührten sich dabei leicht. Johanna fühlte sich etwas verwirrt durch die Gefühle, die das in ihr auslöste und beobachtete verlegen Adam dabei, wie er Isabella hartnäckig den Hof machte.
Sie musste ihre Freundin unbedingt vor Adam warnen, schoss ihr durch den Kopf, er war ein Weiberheld, erst heute bevor sie zum Fest aufbrach hatte sie ihn beobachtet, wie er mit einem der Mädchen von der Burg im Pferdestall verschwand. Geradewegs in die Richtung, in der sich auch der berüchtigte Heuhaufen befand.
Johanna überlegte, wie sie ihre Verwirrung vor Max verbergen sollte und überlegte sich worüber sie mit ihm plaudern konnte. „Dein Stiefvater hat also Probleme mit dem Stadtrat?“ erkundigte sie sich nun, das Thema das sie in Garsten kurz mitgehört hatte, aufgreifend.
„Als Burgpfleger muss er zwischen den Bürgern und dem Rat vermitteln.“ erklärte ihr Max. „Die meisten Ratsmitglieder stammen aus reichen Handelsfamilien und nutzen halt oft ihren großen Einfluss auf gewisse Beschlüsse zum eigenen Vorteil aus, das ist leider eines der großen Probleme in der Politik. Die Bürgermeister und Stadträte werden zwar von den Bürgern gewählt, weil sie sich vor den Wahlen gut verkaufen können und sich so bürgernah präsentieren, sind sie aber erst im Amt, ist sich jeder selbst der Nächste. Adam und ich sind gestern eine endlos lange Beschwerdenliste aller zum Landkreis gehörenden Gemeinden über Steuerbelastungen, schlechte Münze, Zollgebühren und Geleitgelder sowie schlechte Polizei mit ihm durchgegangen. Es ist nicht leicht sich im Namen des Kaisers mit all diesen Sachen herumzuschlagen.“ Interessiert hing Johanna an seinen Lippen.
„Adam sagt, du würdest sicher einmal einen guten Diplomaten abgeben. Ich finde auch, man muss sich immer die Meinungen aller betroffenen Stellen anhören.“ In diesem Augenblick wünschte sie sich nur, er würde noch stundenlang weitererzählen.
Als es langsam dunkel wurde und die zuvor angeregte und flüssige Unterhaltung ob der immer schwerer werdenden Zungen allmählich stockend wurde, beschlossen sie den Aufbruch. Sie geleiteten noch gemeinsam Isabella, die in den vergangenen Stunden sichtlich aufgetaut war, bis vor ihre Haustüre. Erfreut genoss diese es, von Adam mit einem galanten Handkuss verabschiedet zu werden und wieder waren ihre Wangen verdächtig gerötet. Ganz offensichtlich hatte ihre Freundin wohl dummerweise Gefallen an ihm gefunden, bemerkte Johanna.
Beschwipst vom ungewohnt schweren Wein, der mittlerweile an der frischen Nachtluft endgültig seine Wirkung zeigte, ließ sich Johanna anschließend von den zwei Brüdern bis in die Burg und zu ihrem Zimmer begleiten.
Sie waren alle drei in ausgelassener Stimmung und Johanna bemerkte zu ihrem Schrecken, dass sie sich einen ganz schön mächtigen Rausch angetrunken hatte. Sie konnte die Lautstärke ihrer Stimme und das Lachen nicht mehr richtig kontrollieren, sosehr sie sich auch bemühte, und deshalb wurden sie von einigen Leuten, an deren Räume sie vorbeikamen, aufgefordert, etwas leiser zu sein.
„Sch, sch“ machte Johanna daraufhin ungewollt laut und legte den Zeigefinger vor den Mund, dabei machte sie nicht weniger Lärm als zuvor und regte die beiden jungen Männer nur noch mehr zum Lachen an.
Endlich in ihrem Bett liegend schien sich der ganze Raum um sie zu drehen und die Gesichter von Max, Adam und Isabella schienen um sie herumzutanzen. Sie beschloss vorsichtshalber, die Augen zu schließen und war auch sogleich, bekleidet wie sie war, eingeschlafen.
Max war trotz ihrer späten Heimkehr schon am frühen Morgen mit seinem Stiefvater zu einer Versammlung nach Ternberg losgeritten. Davon hatte er Johanna am Vorabend berichtet. Adam hatte sich ursprünglich der Gesellschaft ebenfalls anschließen wollen, war aber zu spät dazu aufgewacht. Deshalb langweilte er sich jetzt anscheinend und suchte schließlich nach Johanna, um etwas mit ihr zu unternehmen.
Er fand sie in der Küche ihrer Großmutter, wo sie beim Erdäpfelschälen half. Wie auch früher immer fühlte er sich gleich wie zu Hause und ließ sich auf der Küchenbank nieder.
„Hast du nicht Lust, ein wenig auszureiten?“ erkundigte er sich nach einiger Zeit mit einer hochgezogenen Augenbraue. Er wirkte noch immer ein wenig verschlafen und hatte sich noch nicht rasiert. Sie blickte von dem Berg Gemüse vor ihr fragend zur Großmutter hinüber und diese meinte sogleich gutmütig „Ja geh, Johanna, ihr solltet das schöne Wetter ausnutzen.“
Johanna sah an sich hinunter, sie hatte nur einen einfachen grauen Leinenrock an, da sie heute nicht vorhatte, auszureiten.
Adam bemerkte ihr Zögern und bot eine Alternative an:
„Wir könnten auch zu Fuß los marschieren, was sagst du dazu?“ Erleichtert nickte Johanna und sprang auf.
Sie spazierten zuerst durch den an die Burg angrenzenden Garten. Maria hatte darin Wege anlegen lassen, die in verschlungenen Pfaden zu einem mit Seerosen überwucherten Teich führten. In einem anderen Teil des Gartens waren sorgsam und liebevoll bunte Blumenbeete angelegt, die bereits zu blühen begannen. Doch viel besser gefiel Johanna der noch nicht kultivierte Teil des Gartens, in dem unter hohen Laubbäumen wilde Zyklamen und an den sonnigeren Stellen Narzissen wuchsen und einen intensiven Duft verströmten.
„Hast du Lust, zu den Klingenschmieden zu schauen?“ fragte sie Adam. Dort hatten sie sich schon früher als Kinder gerne herumgetrieben. Johanna hatte diese Gewohnheit nie aufgegeben und kannte die meisten der dort arbeitenden jungen Männer.
Als sie noch ein junges Mädchen war, hatten sie die Geschichten der dort Arbeitenden fasziniert.
Die Eisenstädte Waidhofen und Steyr deckten ein Viertel des gesamten Eisenwarenbedarfs Europas ab und waren deshalb bekannt dafür, die besten Schmiede auszubilden. So kamen aus dem ganzen Reich junge Männer angereist und nichts interessierte Johanna mehr, als die vielen unterschiedlichen Geschichten und Schilderungen ihrer Heimat und ihrer Reiseerlebnisse.
Als sie älter wurde kam sie auch deshalb gerne, weil es ihr gefiel, den Schmieden bei der Arbeit zuzusehen. Die Männer arbeiteten hier im Schweiße ihres Angesichts vom frühen Morgen bis zum Abend. Wenn die jungen Burschen hier ankamen waren sie meist schmächtige, milchgesichtige, schlaksige Angeber. Mit den Jahren entwickelten sie aber durch die Arbeit im Freien mit dem schweren Stahlhammer mächtige Muskelberge und Johanna genoss, obwohl sich das für ein junges Mädchen wohl nicht schickte, den Anblick der verschwitzten, nackten und braungebrannten Oberkörper. Die Klingenschmiedgesellen führten oft tolle Streiche aus und waren allzeit zu Scherz und Spaß aufgelegt.
Da sie sich nie sonderlich mädchenhaft verhielt, behandelten die Schmiede sie eher kumpelhaft und da sie ganz geschickt mit den Waffen, die sie schmiedeten, umzugehen wussten, hatten sie auch Johanna mit der Zeit einige Tricks beigebracht. Natürlich hatte sie gegen die bärenstarken Schmiede nicht den Funken einer Chance, im Zweikampf zu punkten, doch sie hatte sich einige Tricks angeeignet und herausgefunden, dass sie, wahrscheinlich durch ihren Ehrgeiz angestachelt, viel ausdauernder und wendiger als die großen Männer war.
Der Wehrgraben wurde von vielen Gewerbetreibenden besiedelt. Am Kohlanger befand sich die Kohlenbrennerei. Muntere, singende rußige Gestalten vollbrachten dort ihre harte Arbeit. Ein Nebenarm der Steyr wurde von den Holzflössern zum Transport der Bloche genutzt. In den zahlreichen Schmieden hob die Flusskraft die schweren Eisenhämmer, die donnernd immer wieder hinab fielen. Kleinere Kupfer- und Pfannenhämmer indes drehten sich rastlos in einer lärmenden Bewegung. Diese Geräusche vermischten sich mit dem dumpfen, trommelnden Stampfen der Papiermühle und dem einförmigen Ton der Getreidemühlen.
Nachdem sie über den Schleifersteg den Wehrgrabenkanal entlang spaziert waren, unterhielt sich Adam lautstark mit einem der hammerderrischen Schmiede, einem Riesenkerl der in seinem Fach besonders geschickt und fleißig war. Er beschlug den Fuhrleuten die Pferde und auch Johanna brachte ihre Stute Loni gerne zu ihm. Er hatte aus Eisen einen Hephaistos, den Gott der Schmiede, und einen Donnervogel, einen dem Zeus geheiligten Adler, geschmiedet und vor seiner Werkstatt ausgestellt. Aus der Esse hob er gerade mit dem Schwenkbalken einen glühenden Rohling zum großen Zainhammer und mit großem handwerklichen Geschick begann er, an der Rohform eines Schwertes zu hämmern. In hölzernen Laden bot er verschieden große Nägel zum Verkauf an und Johanna bestaunte die große Auswahl. Dahinter lagen Bajonette, Säbel und Klingen.
Adam prüfte gerade ein besonders edel geschmiedetes Schwert und der Schmied erklärte ihm, es nach einem Auftrag des Stadtrichters gefertigt zu haben, der es als Symbol der hohen Gerichtsbarkeit im Magistrat ausstellen wollte. Es reichte Johanna bis zur Brust, reiche Silberornamente bedeckten den mächtigen Griff. Zu dem schönen Schwert gab es auch bereits eine schöne, mit schwarzem Samt überzogene Scheide. Der Schmied wollte es am nächsten Tag dem Richter übergeben.
„Willst du mir zeigen, was sie dir in Pettau beigebracht haben?“ fragte Johanna Adam keck.
Er blickte sich suchend nach einem geeigneten Gegner um und sie stellte sich resolut vor ihn hin und fragte weiter: „Du hast wohl Angst, gegen ein Mädchen zu verlieren?“
„Also gut – Kratzen und Beißen ist verboten!“ ging er scherzend auf ihre Herausforderung ein. Er gab dem Schmied das kostbare Schwert zurück, reichte ihr ein besonders leichtes Schwert und nahm selbst eine andere vom grinsenden Schmied angebotene Waffe entgegen.
Es hatte sich sofort herumgesprochen, was Johanna vor hatte und schon kamen von allen Seiten neugierige Zuseher herbei, die einen Kreis um sie bildeten. Sie hatte den Rock zwischen ihren Beinen zusammengeknotet, damit sie nicht darüber stolperte und blickte Adam herausfordernd an.
„Bereit?“ fragte sie und schwang das Schwert spielerisch im Kreis.
Adam konnte sich nur mühsam das Lachen verkneifen und nickte nur. Sie begann mit ihrer Lieblingsfinte und wirbelte, mit der freien Hand herumfuchtelnd, andeutungsweise um ihn herum. Adam war einen Moment überrascht und wollte ihrer Bewegung folgen. Inzwischen hatte Johanna aber abrupt gestoppt und einen kleinen wendigen Sprung zurück getan. Jetzt stieß sie sanft mit der Schwertspitze in Adams Hinterteil.
Die Männer rundum, die ihr diesen Trick beigebracht hatten, brüllten vor Lachen und feuerten sie an.
Jetzt ging Adam zum Angriff über, doch wiederum überraschte sie ihn mit einem Ausweichmanöver und packte ihn mit der freien Hand am Schwertarm. Sie hatte herausgefunden, dass bei den Männern der Schwerpunkt viel weiter oben lag als bei ihr, und hatte das auszunützen gelernt. Durch den schweren Oberkörper mit den breiten Schultern in Kombination mit eher schmalen Hüften und langen Beinen waren die Männer nicht so flink in ihren Bewegungen wie sie. Sie ging also in die Hocke und ließ Adam mit einem kräftigen Ruck an seinem Arm über ihren Rücken purzeln. Wie vermutet hatte er nicht so rasch abbremsen können. Er landete verblüfft auf dem Hosenboden. Lachend setzte sie ihm ihre Schwertspitze an die Brust. Ein zweites Mal würde sie ihn so nicht mehr überlisten können.
Jetzt doch ein wenig grimmig blickend, rappelte er sich wieder hoch und sie beschloss ihn mit ihren Fechtkünsten zu beeindrucken. Sie kreuzten eine Weile ihre Klingen. Als sie spürte dass sie die Kraft verließ, täuschte sie ein Stolpern vor und stellte Adam, als er sie angriff, unversehens ein Bein, dieses Mal ließ er sich jedoch nicht von ihr überrumpeln. Er warf sein Schwert zu Boden und packte ihren Schwertarm. Gegen seinen kräftigen Griff hatte sie keine Chance, die Waffe glitt ihr aus der Hand und so konnte er sie lachend in den Schwitzkasten nehmen. Sie holte kräftig mit dem Absatz aus und trat ihm mit voller Wucht auf die Zehen. Er hatte immerhin nur von Kratzen und Beißen gesprochen.
Einen Moment ließ sein Griff nach und sie entschlüpfte ihm und rannte, so schnell sie konnte, mit gerafften Röcken davon. Das Brüllen und Klatschen der Schmiede begleitete ihre Flucht, doch Adam war ihr bereits auf den Fersen.
Sie rannte einen ausgetretenen kleinen Weg, der Steyr aufwärts folgend, dahin und kam nach einigen Minuten an die Stelle, wo der Teufelsbach in sie mündete. Sie wandte sich nach links und lief ein Stück den Bach entlang durch eine dämmrige Waldschlucht. Längst hatten sie die Häuser und Menschen hinter sich gelassen.
Sie warf einen Blick über die Schultern und sah Adam nur wenige Meter hinter ihr nachkommen. Anscheinend wollte er abwarten, wohin sie lief, denn eigentlich hätte er sie längst einholen müssen. Als sie an der Stelle ankam, wo der Teufelsbach in einem tosenden Wasserfall über eine Felswand herunterschoss, erwischte Adam sie schließlich.
Hier hatten sie als Kinder schon gerne gespielt und das Schwimmen gelernt. Hoch über dem Wasserfall ragten die Zinnen des Schlösschens Teufelseck hervor. Sie fielen beide ins weiche Gras und Adam landete wohl ein wenig berechnend genau auf ihr.
Keuchend mit roten Wangen lag sie lachend unter ihm. Sollte er hier sein Erfolgserlebnis ruhig auskosten, beim spielerischen Schwertkampf zuvor hatte sie die Lacher auf ihrer Seite gehabt. Er hielt ihre Handgelenke fest und gab ihr einen kurzen Kuss auf den Mund, dann rollte er sich von ihr hinunter und verschnaufte ebenfalls lachend neben ihr. Johanna drehte sich auf die Seite, streckte ihren Arm aus und begann versonnen seinen verschwitzten Nacken zu streicheln. Sie war wie berauscht durch die gelöste Stimmung.
Adam schloss seine Augen und nach einer Weile sagte er leise „Pass bloß auf, was du tust, du hast ja keine Ahnung, wozu so was führen kann.“ er drehte sich ebenfalls zur Seite und ihre Gesichter waren sich ganz nahe.
Er schaute in ihre großen blauen Augen, die ihn fragend, doch zugleich keck und auffordernd, musterten. Die Sonne zauberte goldene Strähnen in ihr braunes Haar. Wie um seine Warnung zu unterstreichen, ließ er seine Hand zu ihren bloßen Knien wandern, wo ihr der Rock hoch gerutscht war, und er streichelte die weiche Innenseite ihrer Oberschenkel.
Johanna schloss ihre Augen und rollte sich auf den Rücken. Adam stützte sich mit der einen Hand auf den Ellbogen und legte seinen Kopf in den Handteller. Er pustete ihr sanft eine leichte Haarsträhne aus dem Gesicht. Mit der anderen Hand setzte er seine Inspektion fort.
Johanna war noch immer etwas außer Atem, doch das alleine hatte nichts damit zu tun dass sie plötzlich wieder ein heftiges Pochen ihres Pulses im Hals spürte. Ein leichter Schauer durchlief ihren Körper. Natürlich wusste sie, dass das, was soeben geschah, falsch war. Spätestens jetzt sollte sie ihm Einhalt gebieten. Doch ihre Neugier siegte über die Vernunft. Adams Finger waren schließlich unter ihrem Rock am Ende ihrer Oberschenkel angelangt und streichelten sanft über die Wölbung unter ihrem Schamhaar. Sie fühlte eine Hitzewallung, die ihr zu Kopfe stieg und verhinderte, einen klaren Gedanken zu fassen und zu protestieren, wie es sich gehört hätte. Als Adams Finger sich vorsichtig weiter vorantasteten, öffnete sie mit noch immer geschlossenen Augen bereitwillig die Schenkel und gab sich erwartungsvoll dem wohligen Gefühl, das die Berührung in ihr hervorrief, hin. Mit kreisenden, sanften Bewegungen streichelten die rauen Fingerkuppen über die Innenseite ihrer zarten weichen Schamlippen und stürzten Johanna in ein Wechselbad der Gefühle. Sie lag mit rasendem Herzklopfen, reglos gefangen vom Zauber des Moments verzückt da, außerstande sich zu bewegen und spürte, wie eine verzehrende Hitze ihren ganzen Körper betäubte. Sie spürte plötzlich ein unbändiges Verlangen in ihrem Unterleib und dieser begann unkontrolliert unter der Bewegung von Adams kreisenden Fingern zu zucken und fühlte sich feucht an. Schockiert wurde ihr plötzlich die Situation, in der sie beide sich befanden, bewusst. Sie stieß Adams Hand beiseite und rollte sich von ihm weg. „So also kriegst du die ganzen Mädchen herum, die dir immerzu und überall hin nachrennen?“ warf sie ihm, bestürzt von ihrem eigenen Verhalten, vor.
Adams Augen glitzerten sie schelmisch an. Er verschränkte die Hände im Nacken und legte sich zurück. „Das sind meine Zauberfinger, nicht wahr? Denen kann einfach keine Frau widerstehen!“
„Du hinterhältiger Schuft, meine Unschuld wirst du aber nicht rauben!“ lachte Johanna entrüstet. „Ich glaube, wir machen uns lieber auf den Heimweg, bevor du mir noch die Kleider vom Leib reißt.“
„Oder umgekehrt?“ meinte Adam mit hochgezogenen Augenbrauen.
Sie reichte ihm die Hand zum Aufstehen und überlegte ob er vielleicht mit seiner Andeutung Recht hatte.
Natürlich hatte sie bemerkt, dass Adam mit vielen Mädchen „Umgang“ gehabt hatte, seit er mit Max heimgekehrt war. Die meisten waren geradezu versessen darauf, sich ihm an den Hals zu werfen. Jetzt war es also so weit und sie benahm sich nicht anders als irgendeine schamlose Magd. Dieser Gedanke trieb ihr die Schamesröte ins Gesicht. Gemeinsam schlenderten sie langsam nebeneinander her zurück zur Burg. Verstohlen betrachtete Johanna Adam von der Seite und nach einigen Minuten konnte sie nicht anders und fragte ihn: “Gibt es noch mehr von deinen Tricks?“
Er zog sie zu sich heran strich mit einem Finger über die Stelle zwischen ihren Brüsten wo ein Knopf offen stand. Johanna blickte hinunter und Adam, der nur darauf gewartet hatte, gab ihr einen Nasenstüber.
„Melde dich einfach, wenn du mehr von meinen Liebeskünsten lernen willst!“
Sie gab ihm einen entrüsteten Klaps und während sie ihre Knöpfe schloss ging er grinsend weiter. Als sie an der Burg ankamen, gab er ihr noch den Ratschlag, die Haare zu ordnen und zupfte ihr einen Grashalm aus den zerzausten Locken.
Johanna ging in ihre Kammer und warf sich auf das Bett. Sie schlug ihre Hände vor dem Gesicht zusammen und wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Plötzlich schämte sie sich für ihr Verhalten und es wurde ihr ganz bang, wenn sie an die nächste Begegnung mit Adam dachte. Ihre größte Scham überkam sie jedoch bei dem Gedanken, Adam könnte Max von ihrem kleinen Zwischenspiel berichten. Verzweifelt raufte sie sich die Haare.
Sie hatte bis heute immer von der romantischen Liebe und der mysteriösen Leidenschaft geträumt und geglaubt, beides trete nur gemeinsam auf, doch jetzt hatte sie erfahren, wie schnell das Feuer der Leidenschaft überspringen konnte.
Sie glaubte nicht, für Adam so etwas wie romantische Liebe zu empfinden. Eigentlich war sie sich sicher, er war eher so etwas wie ihr großer Bruder, aber diese Einstellung würde sich von nun an wohl ändern. Was war bloß in sie gefahren?
Um sich von dem peinlichen Vorfall abzulenken beschloss sie, in den Stall zu gehen, sie hatte Loni heute noch gar nicht gestriegelt und sie hoffte, diese Aufgabe würde sie von den verwirrenden Gedanken ablenken.
Als sie Max und seinen Stiefvater in die Burg einreiten hörte, versteckte sie sich verlegen in Lonis Box und verhielt sich ruhig und unauffällig. Sie fürchtete sich davor, Max könne ihr ansehen, was am Vormittag vorgefallen war und wünschte sich, der Erdboden möge sich auftun und sie verschlingen.
In den kommenden Tagen ging sie Max und Adam wo sie nur konnte aus dem Weg, doch am zweiten Wochenende des Jahrmarktes, als sich die jungen Burschen aus der näheren Umgebung zur Musterung auf der Burg einfanden und anschließend ein großes Fest für die Landadeligen veranstaltet wurde, konnte sie ein Zusammentreffen nicht mehr vermeiden. Adam erkundigte sich nach ihrem Befinden und natürlich auch nach dem Befinden ihrer Freundin Isabella, die sie aber ebenso lange nicht gesehen hatte wie er selbst und schon schossen die Worte wie von selbst aus ihrem Mund: „Du, wehe, du machst sie unglücklich, ich werde sie vor dir warnen!“
„Aber, aber, Schätzchen, dazu besteht überhaupt kein Grund, ihr guter Ruf würde nie unter mir leiden. Es gibt schließlich noch genug andre Äcker, die noch auf den Pflüger warten und außerdem hat kein unschuldiges Mädchen von mir etwas zu befürchten, ein Edelmann genießt und schweigt!“ Dabei betonte er das letzte Wort und zwinkerte er ihr mit einem Auge heimlich zu, sodass nur sie selbst es bemerken konnte, und freute sich über ihren sichtlich erleichterten Gesichtsausdruck.
Es herrschte ein irrsinniger Tumult im Burghof. Die jungen Burschen, die sich zur Musterung stellten, kamen aus dem Enns- und Steyrtal, aus Konradsheim, Ertl, Rosenau, Tillysburg und Gallenstein, und hatten, falls sie für das Heer der Stadt Steyr nicht rekrutiert wurden, die Gelegenheit, bei einem der anwesenden Landgrafen aus der Umgebung aufgenommen zu werden. Um sich präsentieren zu können war es in den letzten Jahren üblich geworden, nach der offiziellen Musterung ritterspielähnliche Turniere zu veranstalten. Der Erzherzog liebte diese Turniere und viele Landgrafen hatten diese Vorliebe, die auch der Unterhaltung der Zuseher diente, gerne übernommen.
Jeweils zwei Männer wurden ausgelost, gegeneinander zu kämpfen, teils zu Boden am Kampfplatz und teils zu Pferd. Außerdem fand ein Bewerb im Zielschießen statt. Die Waffen waren nicht scharf, doch ging es nichtsdestotrotz manchmal etwas blutig ab.
Für die Zuseher war eine Balustrade mit Bänken errichtet worden, von der aus man eine gute Sicht auf den Kampfplatz hatte. Teilweise waren die Burschen noch nie zuvor auf einem Pferd gesessen und machten deshalb eine lustige Figur, wenn sie reitend mit einer Lanze versuchten, einen aufgehängten Ring zu treffen.
Beim Quintanrennen hatte jeder fünf Versuche, eine Strohpuppe zu treffen, die an einem beweglichen Balken hing. Wenn man nicht aufpasste konnte es passieren, dass zwar die Puppe getroffen wurde, doch anschließend der sich drehende Balken durch den Schwung den Reiter vom Pferd holte.
Natürlich waren es keine echten Ritterspiele. Es gab schon lange keine echten edlen Ritter mehr, die sich in Turnieren miteinander maßen. Eines Ritters Pflicht war der Schutz der Kirche gewesen, der Kampf gegen Verrat, die Ehrfurcht vor der Priesterschaft, die Verteidigung der Armen gegen Unrecht, das Stiften von Frieden in den eigenen Landen sowie das Vergießen des eigenen Blutes und erforderlichenfalls die Hingabe des eigenen Lebens für die Brüder und Schwestern. Doch jetzt, wo der momentane Zustand der Kirche geprägt war von der stattgefundenen Spaltung, die Ehrfurcht vor lasterhaften Predigern und Mönchen durch diverse kursierende Gerüchte stark angegriffen war, die Armen und Bauern heutzutage tapfer und selbstsicherer höchstpersönlich gegen Ungerechtigkeiten auftraten und die schrecklichen Geschichten von den Kreuzzügen ins heilige Land bewirkt hatten, dass viele Menschen von der Rückeroberung Jerusalems unter solchen Bedingungen nichts mehr hören wollten, hatten sich die Zeiten einfach geändert.
Die jungen Männer wollten sich heute messen, die Zuseher wollten unterhalten werden, der Ablauf hatte sich also wenig zu den früheren Turnieren geändert, nur die Umstände.
Es wurde ein unterhaltsamer Nachmittag, zu dem sogar die Rohrer, die berüchtigten, ehemals gewalttätigen Ritter vom steilen Heuberg in Leonstein, wo ihre feste, schier uneinnehmbare Burg stand, nach Steyr gekommen waren. Die Nachkommen des berüchtigten Raubritters Wilhelm von Rohr waren mittlerweile jedoch ein friedfertiges Grüppchen und Johanna, Max und Adam lauschten amüsiert den Schauergeschichten, die ein neben ihnen sitzender alter Mann ihnen über diese Familie erzählte.
Mit einem großen Festessen im Freien, zu dem die anwesenden Landgrafen der umliegenden Burgen und Schlösser geladen waren, wurde der Tag beschlossen.
Zur Unterhaltung hatte man einen der Spielleute, die sich gerade wegen des Jahrmarktes in der Stadt aufhielten, geholt. Er trug die beliebte Sage der Burg Steyr vor. Johanna kannte die Geschichte mittlerweile schon in- und auswendig, doch dieser Gaukler brachte sie mit viel Humor vor und schritt, tolle Possen reißend, mit wildem Gesang über den Platz. Die Sage erzählte vom Westgoten Biterolf, Fürst von Toledo in Spanien, der die Gunst des Hunnenkönigs Etzel gewann und von diesem wegen der geleisteten Treue das Steyrerland geschenkt bekam, eines der schönsten Länder, reich an Getreide, Weiden und Wald, mit vielen jagdbaren Tieren, Salz und Wein, Gold und Silber und den schönsten Frauen der Welt, betonte der Gaukler immer wieder lauthals, wobei er sich vor den Damen verneigte.
Im Anschluss wurde noch Musik, ländlicher Tanz und ein Auftritt der städtischen Schwerttanzgruppe geboten. Das gesellige Beisammensein dauerte im von Fackeln erleuchteten Burghof bis in die Nacht hinein.
Für den kommenden Tag war eine große Jagdgesellschaft auf den bewaldeten, wildreichen Damberg geplant, während in der Stadt Taubenkirtag war. Am Dreifaltigkeitssonntag, dem Sonntag nach Pfingsten, wurden immer an Marktständen Süßigkeiten und Stoffe angeboten. In den Gaststätten wurden hingegen Taubengerichte serviert.
Johanna hatte eigentlich nichts für die Jagd übrig, ihr wäre es eigentlich genauso recht gewesen, sich nur von Brot und Gemüse zu ernähren. Sie hasste den Gedanken, dass lebendige Wesen mit braunen Rehaugen für ihre Küche das Leben lassen mussten.
Die Gelegenheit zu einem Ausflug wollte sie dennoch nutzen, da man vom Damberg, wie auch von den anderen Waldbergen südöstlich der Stadt, einen herrlichen Ausblick über Steyr und die Umgebung genießen konnte.
Die Jagdgesellschaft hingegen freute sich bereits auf das viel gerühmte Revier. Manchen prächtigen mit schönem Geweih geschmückten Hirschen hatte man dort schon zur Strecke gebracht.
Während des Rittes summte Johanna immer wieder ein Lied, das ihr nicht mehr aus dem Kopf zu gehen schien, vor sich hin. Der Gaukler hatte es gestern Abend immer wieder vortragen müssen, weil es so gut angekommen war und es schien ihr einfach nicht mehr aus dem Sinn gehen zu wollen.
Beim Jagdhaus des Grafen wurde eine kurze Rast gemacht. Als die Jäger an der hölzernen Laurenzikapelle vorbeiritten, wo alljährlich am Laurentinstag, dem 10. August, ein Gottesdienst abgehalten wurde, zügelte Johanna ihre Stute und stieg vom Pferd. Adam und Max warfen ihr einen fragenden Blick zu.
„Ihr könnt ruhig weiter reiten, ich für meinen Teil habe nicht vor, mich an einer Jagd zu beteiligen, ich finde so was grässlich.“ teilte sie ihnen leichten Mutes mit.
„Wie stellst du dir das vor?“ erkundigte sich Max. „Sollen wir dich hier allein in der Wildnis zurücklassen?“ Er runzelte fragend seine Stirn, worauf Johanna schnippisch reagierte: „Ach ja ich armes schwaches Weib bin ja so hilflos und verblödet, ich würde mich ohne männlichen Beistand sicher für immer und ewig im dunklen Wald verirren und von Wölfen und Bären zerfetzt werden und nie mehr alleine nach Hause finden!“ stöhnte sie händeringend mit bedeutsamen Seitenblick zur gut sichtbaren Steyrer Burg und dem nur wenige hundert Meter entfernten Jagdhaus. „Bitte, bleib mein Beschützer, oh bitte, oh bitte!“ flehte sie sarkastisch mit gegen den Himmel verdrehten Augen und bedeutete ihnen ruhig weiter zureiten.
Mit einem belustigten Seitenblick beschlossen die Brüder, sich ihr trotzdem anzuschließen. Das Mädchen konnte einen besser unterhalten als eine ganze Jagdgesellschaft, fanden sie.
Sie setzten sich neben der Kapelle ins hohe Gras und genossen den schönen Ausblick auf die Stadt. Irgendwo vor dem hügeligen Gebiet am Horizont musste die Stadt Linz liegen und die Donau fließen. Johanna war gemeinsam mit Maria und früher auch mit den beiden Brüdern einige Male dorthin gereist.
Der Erzherzog hatte dieser Stadt zu einem Aufschwung verholfen, indem er die Linzer Burg für seine Frau und seine Kinder hatte ausbauen lassen, eine Münzstätte in der Stadt errichten ließ und eine städtische Schule eingerichtet hatte. Wegen der günstigen Lage zwischen Wien und Prag kamen immer viele Künstler und Gelehrte an den Linzer Hof, sobald das königliche Paar dort anwesend war. Inzwischen wurde Linz als obderennsische Hauptstadt anerkannt.
Adam fischte eine kleine Trinkflasche aus seiner Satteltasche und reichte sie herum. Es war teuflisch starker Obstschnaps und Johanna verschluckte sich, weil sie heftig nach Luft schnappen musste und sorgte so für Belustigung unter den Brüdern.
Nach der ausgiebigen Rast ging es, allerdings in entgegengesetzter Richtung zur Jagdgesellschaft, um ihr nicht versehentlich bei der Jagd in die Quere zu kommen, weiter den Berg aufwärts. Die Pferde suchten sich von selbst einen Weg durch den schattigen Mischwald und schienen das ungewohnte Terrain zu genießen. Mühelos galoppierten sie auf dem weichen Walduntergrund steile Hänge hinauf und rutschten mit eingezogenen Hinterläufen diese auf der anderen Seite in einem höllischen Tempo wieder hinab. Johanna fürchtete hin und wieder, dass ihre Stute Loni über eine der Wurzeln stolpern könnte, doch diese meisterte spielend jedes Hindernis und konnte gut mit den beiden anderen Pferden mithalten. Sie klopfte ihr zur Belohnung immer wieder den Hals. Nur ab und zu sah man ein Stück blauen Himmels durch das Blätterdach blitzen und Johanna war sich inzwischen nicht mehr ganz so sicher, ob sie alleine nicht doch die Orientierung verloren hätte. Doch alleine wäre sie ohnehin nicht so tief in den Wald geritten, beruhigte sie sich selbst, dafür hatte sie viel zu viel Respekt vor den Bären und Wölfen, die sich hier ebenfalls herumtrieben. Ihr Naturgefühl, beeindruckt vom Verhältnis zu Welt und Landschaft, blühte hier mitten im Wald auf. Tief sog sie den eigenen Geruch des Waldes in sich auf. Das Leben war wunderbar.
Sie erreichten schließlich einen steilen Abhang, wo Waldarbeiter einen Holzvorrat angelegt hatten. Zwischen den Waldbäumen wuchsen auch viele Wacholdersträucher, welche die Bauern auch Kranawetter nannten. Dort stiegen sie ab und banden die Pferde fest.
Ein schmaler Trampelpfad führte zu einem sonnig gelegenen Hain von blühenden Himbeer- und Brombeersträuchern. Zur rechten Zeit ließen sich hier sicher Unmengen wohlschmeckender Beeren sammeln. Zahlreiche grün bemooste Steine, über die man leicht stolpern konnte, wenn man hier nach den köstlichen Beeren sucht, säumten den Weg. Sie folgten diesem bis zu seinem Ende und kamen zum Eingang einer von Waldbäumen beschatteten Höhle.
Langsam näherten sie sich der Höhle. „Hoffentlich kommt uns kein Bär entgegen“ äußerte Johanna zaudernd und unsicher, ein kalter Schauder ergriff sie beim Hinabblicken in das schwarze Innere und sie spürte einen kühlen Windzug, der sie einige Schritte zurückweichen ließ.
Max und Adam fühlten sich durch ihr Verhalten nur dazu angestachelt, sich verwegen einige Schritte in die Höhle vorzuwagen. Sie griffen aber vorsichtshalber zu ihren scharfen Messern und tasteten sich vorsichtig den nach unten führenden finsteren Gang hinab. Johanna folgte ihnen in einigem Abstand.
Es war ein gleichmäßiges Rauschen von Wasser zu hören und sie musste an die Sage denken, die man sich im Kloster Garsten hin und wieder erzählte. Angeblich gab es an der Enns einen geheimen unterirdischen Gang nahe des Klosters der als Fluchtweg vor Raubrittereinfällen gedient haben soll, das Ende dieses Fluchtweges sollte der Legende nach irgendwo am Damberg liegen, doch noch nie hatte jemand einen Eingang gefunden. Vielleicht war dies der Ausgang und wenn sie dem Gang folgten, würden sie den Eingang an der Enns finden. Die Neugier ließ sie ihre Ängste überwinden.
Einige Schritte vor sich hörte sie einen unterdrücken Schrei. „Achtung!“ hörte sie noch Max Warnung und schon rannten die beiden Männer sie fast um den Haufen, gefolgt von einer Unmenge aufgeschreckter Fledermäuse, wie Johanna entsetzt feststellte. Sie zog sich ihre Lederweste über den Kopf und rannte, so schnell sie konnte, geduckt dem hellen Ausgang entgegen. Max folgte ihr mit langen Schritten auf dem Fuß und meinte schon wieder lachend:
„Die Tiere hängen zu Hunderten von der Decke, ich muss wohl eine versehentlich geweckt haben.“
Draußen flüchteten sie einige Meter vom Höhleneingang weg und lugten vorsichtig zurück. Johanna hatte sich bereits vom Schreck erholt und rief nach Adam.
Lautes Fluchen drang zu ihnen und schon sahen sie einen arg zerzausten Adam aus der Höhle wanken. Eine Fledermaus hatte sich vor lauter Angst in seinen langen Haaren verkrallt und er schlug wild fuchtelnd danach, alleine das Tier wollte einfach nicht loslassen. Der Anblick war zu komisch, um sich länger zu fürchten und Johanna und Max brachen in lautes Lachen aus. Johanna musste sich zuerst hinknien und die Lachtränen aus den Augen wischen, bis sie dem armen Adam zu Hilfe eilen konnte. Max hielt sich noch immer vor Lachen den Bauch und war offensichtlich noch nicht fähig dazu.
„Ha, ha.“ Äffte ihn Adam nach seiner Rettung nach. „Jetzt weiß ich, warum du dein Haar so kurz trägst, das hättest du mir auch früher sagen können.“
Am ganzen Rückweg zu ihren Pferden musste er den Spott über sich ergehen lassen. Er nahm es ungerührt hin und spielte den Beleidigten. Johanna und Max alberten indessen die ganze Zeit herum, sie lachten und stritten sich, redeten mit Vorliebe von lang zurückliegenden, gemeinsam erlebten Schandtaten und darüber ging die Zeit dahin.
Als sie zu einem kleinen Bach kamen, über den ein umgestürzter bemooster Baum ans andere Ufer führte, griff sich Max einen abgebrochenen geraden Ast und balancierte, diesen angestrengt mit beiden Armen vor sich haltend, mit zittrig gebeugten Knien in gespielter Angst als letzter darüber hinweg und entlockte Johanna ein Lachen.
„So. Zufrieden? Jetzt habe ich mich auch zum Narren gemacht.“ sagte er danach zu Adam und schlug ihm kräftig auf die Schultern. „Du kannst jetzt wieder aus dem Schmollwinkel hervorkommen!“
Adam antwortete ihm mit einem noch kräftigeren Schlag auf seine Schultern und schon war eine verspielte Rauferei im Gange. Johanna feuerte beide abwechseln an und schüttelte grinsend den Kopf. Insgeheim dachte sie, dass sich eigentlich nichts seit ihrer Kindheit verändert hatte, außer, dass sie sich damals wahrscheinlich liebend gerne selbst an der Rauferei beteiligt hätte. Nach dem Vorfall mit Adam am Teufelsbach ließ sie das aber lieber bleiben. Alleine der Gedanke daran trieb ihr die Schamesröte ins Gesicht.
Sie ritten durch einen schönen Buchenwald noch ein Stück bis zum Bergkamm weiter und konnten von dort bis zum Beginn der hohen Alpen blicken, die sich bis tief in die Steiermark erstreckten. Die Spitzen waren noch mit Schnee bedeckt.
Als sie schließlich wieder beim Jagdhaus ankamen war von der Jagdgesellschaft noch immer nichts zu sehen. Sie setzten sich in die mit Jagdtrophäen geschmückte Stube und ließen sich eine deftige Brettljause auftischen. Stirnrunzelnd sah Johanna sich in der Jagdstube um. Die merkwürdige Sitte, sich mit den Resten des toten „Feindes“ zu schmücken oder sich davon gar Schutz zu versprechen, war ihr zuwider. Sie hielt die Jagd vom Hergang und Zweck, wie früher auch die Mönche, für unchristlich und bevorzugte als Mahlzeit den auch von den Aposteln bevorzugten Fisch. Hin und wieder einem Stück geselchten Fleisch konnte sie aber nicht widerstehen, dafür schmeckte es leider viel zu gut. Sorgfältig schnitt sie die fettigen Ränder von ihrem Braten und wickelte sie in ihr Stofftaschentuch. Ihre Katze würde sich darüber freuen. Die Männer sahen ihr kommentarlos dabei zu, warfen sich aber einen viel sagenden Blick zu, der wohl soviel bedeutete wie, dass sie sie für ein typisches „Mädchen“ hielten.
Leonhard, Freiherr von Hohenwerfen, zog an den Zügeln seines treuen Pferdes, um den stolzen Anblick der vor ihm liegenden Stadt besser genießen zu können.
Zeitlich früh, als noch golddurchwirkter Nebel über dem Gelände gelegen hatte, war er mit seinem Trupp aufgebrochen und nun endlich am vorläufigen Ziel seiner Reise angelangt. Vor wenigen Minuten hatte er Ramingsteg, die erste Ansiedlung, die zur Stadt Steyr gehörte, passiert. Auf einer Anhöhe über dem Fischerdorf hatte er einen stattlichen Bauernhof gesehen.
In Ramingsteg, wo der Ramingbach in die Enns mündete, hatten sich neben den Fischern auch einige Lederer niedergelassen, was er an der Zahl der Zillen am Ufer der Enns und den Stegen hatte feststellen können. Das riesige Landgut über der kleinen Fischhub war sicher einer der Hauptversorger der Gegend. Beiläufig hatte er einige Palisaden bemerkt, die wohl zur Zeit der Türkeneinfälle in diesem Gebiet aufgestellt worden waren, doch jetzt, wo der Erzherzog einen 5jährigen Frieden mit dem Sultan geschlossen hatte, würden sie hoffentlich nicht mehr gebraucht werden.
Er musste kurz daran denken, welch erhebliche finanzielle Ressourcen die Abwehr der Osmanen selbst in Friedenszeiten verschlang. Er hatte in den letzten Jahren miterlebt, wie der Kaiser seinen Bruder, den Erzherzog von Österreich, zumeist allein mit diesem Problem zurechtkommen ließ.
Das gesamte Gebiet verströmte eine ruhige, friedliche Atmosphäre, die er nach den langen Jahren, die er auf verschiedenen Schlachtfeldern und in der Schlangengrube des königlichen Hofes verbracht hatte, genüsslich in sich aufsog.
Nicht alles missfiel ihm am Hof. Es gab einige sehr interessante Menschen dort, mit denen er sich gerne unterhielt. Erst vor kurzem war der Niederländer Ogier de Busberg eingetroffen, um dem Erzherzog beratend zur Seite zu stehen. Er hatte mit Erasmus von Rotterdam und Thomas Morus Kontakte gehabt und war so mit deren Gedankengut des Humanismus vertraut. Die unterhaltsamen Gespräche mit Ogier würde er sicher vermissen.
Für ihn selbst, den jüngsten von fünf Brüdern, hätte sich entweder die geistliche Laufbahn angeboten oder ein Leben als Soldat. Damals war für ihn die geistliche Laufbahn nicht in Frage gekommen. Mittlerweile war er allerdings in ein Alter gekommen, in dem er sich auch für tiefer greifende Fragen zu interessieren begann. Es würde sich herausstellen, ob er in dieser idyllisch wirkenden Stadt ebenfalls auf interessante Diskussionspartner stoßen würde.
Er dachte an den Erzherzog, auf dessen Befehl es ihn hierher verschlagen hatte. Er verehrte Ferdinand, der immer bestrebt war, Würden und Ämter nicht nach Gunst, Adel und Reichtum zu vergeben, sondern nach Tugend und Tüchtigkeit. Als gerechter Herrscher war er immer darauf bedacht, die Dynamik der Macht nicht zu unterschätzen, er schien sein Amt nicht des Herrschens wegen auszuüben und setzte sich stets redlich für den Rechtsschutz und die Friedenswahrung in seinen Ländern ein und sorgte dafür, dass Ruhe, Stabilität und eine friedliche Lösung von Konflikten verfolgt wurden.
Von seinem Standort am Rande eines Dorfes am, mit steilgiebeligen Häusern und Holzhütten gesäumten, rechten Ennsufer aus konnte er die im Morgenlicht badende prächtige Steyrburg, die auf einer Felsenhöhe am Zusammenfluss der Enns und der Steyr thronte, bewundern. Das Wasser der grünen Enns vermischte sich nur langsam mit dem klaren Quell der Steyr und auf einer trockenen Sandbank sonnten sich unbekümmert friedlich Enten und Schwäne.
Unterhalb der mächtigen Burg führten zwei hölzerne Brücken, deren Holzpfähle mit dunkelgrünem Moos bewachsen waren, direkt in die Stadt, eine über die Enns, die andere über die Steyr. Im Hintergrund der zweiten Brücke stach ein einzelner hoher Kirchturm am Fuße eines grünen Abhanges heraus, ragte weit ins Land und fesselte seinen Blick.
Im Bereich zwischen den beiden Brücken stand eine alte große Mühle auf einer spitzen Landzunge. Zum Teil war sie auf mächtigen hölzernen Rammpfählen über dem smaragdgrünen Wasser der Steyr erbaut. Mehrere große, unterschlächtig angetriebene, Wasserräder plätscherten und klapperten dort vor sich hin.
Sein Blick ging weiter auf über die Stadtmauer hinausragende abgewalmte Dächer, Sgraffiti in Kratzputzornamentik und Maßwerk, das den Betrachter mit seinem Formenreichtum begeisterte. Ein wahrlich sehenswertes Produkt der Stadtbaukunst, stellte er fest und die mächtige Mauer schien gut für die Sicherheit und Freiheit der Einwohner zu sorgen.
Leon gab seinem Pferd mit einem leichten Befehl mit den Fersen zu verstehen, dass es weiterging. Sie passierten das erste Mauttor, an dem die übliche Pflaster- und Brückenmaut eingehoben wurde. Langsam ritt er mit seinem treuen Hund Apollo und seinem sechsköpfigen Gefolge über die aus stabilem Holz gebaute Ennsbrücke. Auf halbem Weg war ein großes Kuzifix über der Holzwand der Brücke errichtet worden. Die Leute, die ihm entgegenkamen, sahen hier offensichtlich oft Fremde, denn es fiel ihm kein übermäßiges Interesse auf.
Nachdem sie dicht über die Hälse der Pferde gebückt durch den mächtigen Torturm am Ende der Brücke geritten waren, teilte sich der Weg am Fuße der Burg in drei Richtungen. Linker Hand erstreckte sich eine enge Gasse, die wohl in den Stadtkern führen mochte und daneben markierte ein weiteres mächtiges Steintor den Zugang zur Burg. Rechts könnte er durch den zweiten Torturm über die Steyr hinweg in das angrenzende Dorf, in dem er zuvor die Kirche gesehen hatte, weiter reiten.
Er schlug den steil ansteigenden Weg zur Burg ein. Bei den Wachsoldaten am Burgtor nannte er seinen Namen und sein Begehren und wurde mit seinen Leuten daraufhin von einem Wachmann in den Burghof geleitet. An ihrer Kleidung waren sie sofort als königliche Soldaten erkannt worden und wurden dementsprechend behandelt. Einer der wachhabenden Soldaten winkte einige Knechte zu sich, die sich um die Pferde der Reisenden kümmern sollten und schritt ihnen voran in eine große Halle. Bevor er sich daran machte, den Hausherrn zu informieren, sorgte er freundlicherweise dafür, dass den Gästen frisches kühles Wasser gereicht wurde und ihnen Gelegenheit gegeben wurde, sich den Straßenstaub von Händen und Gesicht zu waschen.
Leon sah sich in der geräumigen, sauber gepflegten Halle um und bewunderte die geschmackvolle Einrichtung. Deutlich erkennbar war die Anwesenheit einer aufmerksamen Hausherrin, die die Wände mit schönen Gobelins und Bildern geschmückt hatte und für frischen Blumenschmuck auf dem breiten Kaminsims gesorgt hatte. Ein mächtiger Kronleuchter mit dicken Kerzen hing in der Mitte des Saales.
Der Wachmann kam einige Minuten später zurück und teilte ihm mit, dass der Graf sofort bereit wäre, ihn zu empfangen und tatsächlich winkte ihn ein Diener nur wenige Sekunden später in einen angrenzenden Arbeitsraum.
Der fragende, aber interessierte Blick des Grafen erwartete ihn und mit einem kurzen militärischen Gruß stellte er sich diesem vor. Ein kurzes Aufflackern des Erkennens huschte über das Gesicht seines Gegenübers. „Hohenwerfen, ja ich glaube, mich an Euch erinnern zu können. Habt Ihr vor einigen Jahren nicht sämtliche Turniere gewonnen, die der Erzherzog veranstaltet hat?“
„Ja, das ist aber in der Tat schon einige Jahre her. Ich bin jetzt Hauptmann der königlichen Leibgarde.“ Er legte ihm seine, vom Erzherzog unterzeichnete, Vollmacht vor und berichtete ihm vom Grund seines Besuches.
Nachdem er seine Informationen weitergegeben hatte, bemerkte er den etwas betrübten Blick seines Gegenübers.
„Wer zu einem Fürsten reist, der wird ein Sklave, kommt er auch als freier Mann.“ zitierte dieser Sokrates. „Ihr werdet verstehen, dass ich gerne noch etwas mehr Zeit mit meinen Stiefsöhnen verbracht hätte, aber natürlich sind wir jederzeit bereit, für das Kaiserreich einzutreten, wenn der Ruf ertönt. Ihr seid natürlich unser Ehrengast und ich werde sogleich veranlassen, dass man eine angemessene Unterkunft für Euch und Eure Männer bereitet.“
„Zu übermäßiger Eile besteht kein Grund.“ beruhigte Leon den Grafen. „Der Erzherzog ist erst vor wenigen Tagen vom letzten Reichstag abgereist und wird vorerst gleich nach Prag weiterreisen. Ich habe ihn noch ein Stück begleitet, ehe ich hierher abgezweigt bin. Er wird nicht vor August wieder in Wien eintreffen und vorher müssen auch wir nicht dort erscheinen. Ich habe nur vier Tage für die Reise hierher benötigt. Es wird also ausreichend sein, in frühestens drei Wochen aufzubrechen. Genießt ruhig solange noch Eure Zeit mit Euren Stiefsöhnen.“
Der Graf dankte ihm für den Bericht und klärte die Details für den weiteren Verlauf kurz mit ihm ab. Am Abend, wenn die Familie an der Tafel zusammenkam, sollte auch Leon daran teilnehmen und nochmals Rede und Antwort stehen, falls die jungen Ritter noch irgendwelche Fragen hätten.
Als er sich mit einem knappen Gruß verabschiedete und zurück in die große Halle trat, bemerkte er eine junge Dame, die sich angeregt mit einem der Mädchen unterhielt. Sie war zwar edel gekleidet, allerdings wenig damenhaft. Ihre Beine steckten in engen schwarzen Lederhosen und hohen Reitstiefeln. Darüber trug sie ein bunt besticktes violettes Korsett über einem dreiviertelärmeligen schwarzen Hemd, dessen obere Knöpfe lässig offen standen und ein Stück leicht gebräunte Haut zeigte. Ihr braunes Haar war zu einem ordentlichen Zopf geflochten und als sie Leon bemerkte grüßte sie ihn mit einem erfrischend unkompliziertem fragenden „Grüß Gott?“ gleichzeitig warf sie dem Mädchen neben ihr einen kurzen, Rat suchenden, Seitenblick zu, als erhoffte sie sich von ihr eine Vorstellung.
Er reichte ihr die Hand, verbeugte sich andeutungsweise über ihrem Handrücken, stellte sich vor und erklärte: „Hauptmann Leonhard von Hohenwerfen, ich überbrachte dem Grafen soeben eine wichtige Nachricht vom königlichen Hof.“
„Johanna von Reichenau“ stellte sie sich ihrerseits höflich vor, doch ihr neugieriger Blick sprach Bände.
„Ich wurde zur heutigen Tafel eingeladen und vermute, wir werden uns dort sehen?“ versuchte er eine sofortige nähere Erklärung zu umgehen.
„Tja, wenn das so ist, werde ich es wohl so einrichten müssen. Ich bin geradezu heiß auf den neuesten Klatsch vom Hof.“ meinte sie und Leon glaubte, einen ironischen Unterton darin erkannt zu haben, der ihre Worte Lügen strafte.
Mit einem zackigen Gruß verließ er die Halle, vor der seine Männer auf ihn gewartet hatten, um sich um ihr Gepäck und die Pferde zu kümmern. Später würde er den Nachmittag zur Erkundung der Stadt nutzen. Er hatte schon viel von Steyr gehört und wollte sich selbst ein Bild von der Eisenstadt machen.
Johanna war begierig darauf, mehr über den Anlass des Besuches des Hauptmannes von Erzherzog Ferdinand zu erfahren, aber sie musste sich wohl bis zum Abend gedulden.
Sie hatte sogleich ihrer Mutter Bescheid gegeben, es einzurichten, dass sie beide am Abend mit Marias Familie zu Abend aßen. Bei besonderen Gelegenheiten hielten sie das immer so, ansonsten bevorzugten sie meist die Gesellschaft der eigenen Familie, wo das Abendmahl in etwas gemütlicherem Rahmen verlief. Erst seit Max und Adam wieder heimgekehrt waren, nahmen sie wieder öfters an der Tafel in der Burg teil. Maria bestand auf besonderen Tischmanieren und dehnte damit das Essen stets sehr in die Länge. Auch dem Grafen entkamen hin und wieder Stoßseufzer, wenn sich die Mahlzeit ewig lange hinzog, aber Maria beherrschte ihn mit ihrer Eitelkeit und Bestimmtheit vollkommen. Wenn sie schon selbst zum Leben in der Provinz gezwungen war, so sollte zumindest ein Funken höfischer Etikette gewahrt bleiben.
Bevor ihre Freunde zurückgekommen waren, hatte sich Johanna in der mittelmäßigen Gesellschaft, die sich an Marias Tafel für gewöhnlich versammelte, oft sehr gelangweilt und deplaziert gefühlt. Sie verhielt sich dann meist schweigsam, da die Gespräche der älteren Anwesenden sie nicht besonders interessierten und geriet darüber wohl auch des Öfteren in üble Laune. Deshalb hatte sie, so oft es ging, Abstand von Marias Tafel gehalten. Nur mit dem Grafen unterhielt sie sich gerne, dieser trank sich aber bisweilen ein herzhaftes Räuschchen an und nickte nach dem Essen deshalb schnell ein.
Sie wollte in der protestantischen Lateinschule in der Berggasse noch wie versprochen ein Buch vorbeibringen und danach versuchen, näheres zu erfahren.
Bevor sie zu Fuß die Burg verließ, legte sie noch standesgemäß einen zum Korsett passenden luftigen Wickelrock an. Beim Gehen konnte man zwar durch einen langen Schlitz vorne anstatt eines Unterrockes ihre Hosen blitzen sehen, doch die meisten ihrer Bekannten kannten ihren unkonventionellen Kleidungsstil und würden nicht schockiert reagieren.
Kaum hatte sie das Burgtor hinter sich gelassen, als sie hinter sich einen Gruß vernahm.
„Darf ich fragen, ob Ihr Arm vielleicht in meine Richtung geht, denn wenn es so wäre, könnte ich ihn ein Stück des Weges mitnehmen.“ erkundigte sich der Hauptmann von vorhin bei ihr und bot ihr den Ellenbogen an.
„Hängt ganz von der Richtung ab, die Ihr einzuschlagen beabsichtigt.“ antwortete sie ihm überrascht und witterte sogleich eine weitere Gelegenheit ihn auszuhorchen.
„Ich wollte nur ein wenig von der Stadt kennen lernen.“ gab er zur Auskunft.
„Und ich wollte nur einen kurzen Spaziergang machen, um ein Buch zurückzubringen“ erklärte sie.
„Wird das also ein privater Spaziergang, oder erlaubt Ihr mir vielleicht, mich anzuschließen?“
Johannas Neugier gebot ihr natürlich, das Angebot anzunehmen, also erwiderte sie möglichst höflich „Durchaus nicht.“. Insgeheim freute sie sich über die Gelegenheit, schon vor dem Abendessen mehr über den Grund seiner Anwesenheit zu erfahren. Deshalb willigte sie bereitwillig ein. Der Hauptmann schien überdies Manieren zu haben.
Höflich erkundigte Leon sich nach dem Buch in ihren Händen und fügte hinzu, selbst nur wenig von der Gelehrsamkeit gekostet zu haben, bevor er in den Dienst des Regenten getreten war. Er informierte sie aber auch sogleich pflichtschuldigst, für seinen Sohn eine umfassende Bildung im Wissen der Zeit angeordnet zu haben.
Sie erzählte ihm von ihrem Vorhaben, sich für eine gründliche Bildung für die Kinder von Bürgern aller Stände einsetzen zu wollen und registrierte nebenbei, wie er sich in der gepflegten Straße neugierig umsah.
„Ich glaube, eine solche Erziehung würde in den Kindern früher den Sinn für die Realitäten des Lebens wecken.“ erklärte sie ihm. „Übrigens, von hier hat man eine schöne Aussicht über die Dächer der Stadt hinweg.“ machte sie ihn an einer bestimmten Stelle aufmerksam.
Sie lehnten sich an die begrenzende Steinbrüstung und sahen die unter ihnen durch steile Stufen erreichbare Ölberggasse mit ihrem Brunnen inmitten eines kleinen Platzes und Leon äußerte sein Erstaunen über das rote Dächermeer.
„In den letzten Jahren mussten alle Hausbesitzer auf Befehl des Stadtrates wegen der Brandgefahr ihre Holzdächer in Ziegeldächer umbauen.“ klärte sie ihn auf.
Sie verweilten einige Zeit und beobachteten das Treiben rund um die Burg dabei genossen sie die warmen Sonnenstrahlen.
„Was hat dieser Boccaccio in diesem Buch geschrieben? Wie hieß es gleich?“ kam er auf den Gegenstand, den sie in ihren Händen drehte, zurück.
„Decamerone. Soll ich euch eine Parabel daraus erzählen?“ erkundigte Johanna sich.
„Ja, wenn ihr wollt.“ forderte er sie bereitwillig auf und Johanna begann ihm die Geschichte des Juden Melchisedech, der von Saladin bedroht wurde, zu erzählen:
„Der Sultan fragte also den Juden, von dem ihm von vielen Leuten dessen Kenntnisse und Weisheit angepriesen worden waren, welche von den drei Lehren er für die wahre hält: die jüdische, die sarazenische oder die christliche? Der Jude erkannte Saladins Absicht, ihn mit seinen Worten zu fangen, und beschloss, von den drei Bekenntnissen weder das eine noch das andere zu loben.
Er sprach: „Um Euch zu antworten, was ich davon halte, muss ich Euch ein Geschichtchen erzählen. Ich habe gehört, dass vor Zeiten ein vornehmer, reicher Mann lebte, der unter vielen anderen Juwelen auch einen wunderschönen, kostbaren Ring besaß. Wegen seines Wertes und seiner Schönheit wünschte er diesen Ring besonders zu ehren und ihn für immer im Besitz seiner Nachfahren zu erhalten. Er befahl daher, dass derjenige seiner Söhne, dem er den Ring vermachen werde, von allen als Oberhaupt der Familie zu ehren und anzuerkennen sei. Sein Sohn, der den Ring erbte, folgte dem Beispiel des Vaters und vermachte den Ring auf die gleiche Weise seinen Nachkommen. So wanderte der Ring viele Generationen hindurch und gelangte schließlich in den Besitz eines Mannes, der drei tugendhafte, gehorsame Söhne sein eigen nannte, die er zudem alle gleichermaßen liebte. Die Jünglinge kannten den Brauch und jeder von ihnen begehrte den Ring und bat den Vater getrennt von den anderen, ihm den Ring nach seinem Tod zu hinterlassen. In diesem Konflikt beschloss er daher, nachdem er jedem der Söhne den Ring versprochen hatte, alle drei zufrieden zu stellen und ließ von einem geschickten Meister zwei identische Kopien des Originalringes herstellen. An seinem Todestag überreichte er jedem seiner Söhne einen Ring. Als sich nach dem Tod des Vaters, als plötzlich alle drei ihr Erbe antreten wollten, herausstellte, dass sie jeder einen Ring hatten und diese sich so sehr glichen, dass keiner den echten herauszufinden vermochte, blieb die Frage, wer nun der rechte Erbe des Vaters sei. Doch dies blieb ungeklärt, und ist es bis heute noch. Und so ist es auch beim Glauben.“ beschloss der Jude seine Geschichte an Saladin.“
Erwartungsvoll sah Johanna den Hauptmann an. Wie würde er auf den Freigeist des Autors reagieren? Sie wäre einer angeregten Diskussion nicht abgeneigt. Genau das war es, was sie an Büchern so liebte. Sie regten zum Nachdenken an und sie liebte es, auch die Meinungen anderer dazu zu erfahren.
„Tja, es hat so etwas tiefgründig Überzeugendes an sich. Etwas, das sich in die Seele wühlt.“ beantwortete er die Herausforderung, die in ihren Augen stand. Er sah sie mit seinen stahlblauen Augen an und lächelte dabei spöttisch.
„Warum habe ich bloß geahnt, dass Sie so darüber denken werden?“ meinte sie resignierend und schlug vor, den Spaziergang fortzusetzen. Max und Adam hätten darüber sicher eine ähnliche Bemerkung gemacht. Anscheinend waren alle Männer in dieser Beziehung gleich, nur kein ernsthaftes Gespräch mit einer Frau anfangen. Das schien eine unausgesprochene Regel bei ihnen zu sein.
Höflich dankte er ihr dennoch für die Zusammenfassung und willigte ein, wieder weiterzugehen. Ohne gelehrte Erziehung, ohne geregelte Studien hatte er doch von jeher den größten Respekt vor den alten Politikern und Philosophen. Auf Diskussionen wollte er sich diesbezüglich aber lieber nicht einlassen.
Johanna lieferte das von ihr kopierte Buch wie versprochen ab und übernahm liebend gerne die Rolle einer Stadtführerin. Sie erklärte Leon, dass es in Steyr neben der soeben besuchten Lateinschule auch noch zwei deutsche Schulen gab.
Nachdem sie ihm erklärt hatte, dass sie sich in der Berggasse am Hof befanden, fügte sie gleich hinzu, dass hier die meisten der zur Burg gehörenden Dienstboten wohnten und zog Leon weiter in Richtung der Stadtpfarrkirche, da diese das bedeutendste Gebäude der Stadt darstellte. Auf dem Weg dorthin sah man dunkle enge Gassen, die auf den Stadtplatz hinunter führten. Jene Stadtbewohner, die in keinem eigenen Haus, sondern in gemieteten Räumen wohnten, nannte man in Steyr Inwohner oder Inleute und sie hatten hier ihr Revier, klärte sie ihn auf.
Die Kirche war 20 Klafter lang und 12 hoch. Dahinter lag der Gottesacker, wo man die Toten begrub.
„Beim Bau der neuen Kirche sind die Arbeiter auf einen großen Haufen Totengebeine gestoßen“ berichtete sie Leon. „Man fragte sich, ob es die zum Tode verurteilten Waldenser oder Wiedertäufer gewesen seien oder Kriegsopfer. Andere glaubten eher an eine Infektion, da auch Kinder unter den Toten waren.“ Sie versuchte, die salbungsvolle Stimme des Abtes zu imitieren: „Wenn ihr es aber genau wissen wollt, könnt Ihr ja am Tag des jüngsten Gerichts in der allgemeinen Auferstehung weiter nachfragen und die wahre Urkund einholen!“.
Sie unterhielten sich ein wenig über die Waldenser, die ja eigentlich die ersten Protestanten gewesen waren. Die Anhänger von Petrus Valdes, einem ehemals reichen Kaufmann aus Lyon, der jedoch nach einem Läuterungserlebnis sein Vermögen aufgab, verzichteten, wie ihr Vorbild, auf persönlichen Besitz, lebten vom Betteln und trugen einfache Gewänder und Sandalen. Valdes hielt die ersten volkssprachlichen Evangelienübersetzungen ab. Die katholische Kirche verfolgte sie jedoch als Ketzer. Sie lehnten die Heiligenverehrung, das Fegefeuer, den Ablass, die weltliche Gerichtsbarkeit, insbesondere die Todesstrafe ab und verbreiteten ihr Evangelium durch Laienprediger.
„Steyr war im 14. Jahrhundert eine Hochburg der Waldenser.“ berichtete Johanna dem Hauptmann. „1397 wurden 100 Waldenser verbrannt, da zwei Jahre zuvor auf den Großinquisitor des Papstes Petrus Zwicker in Garsten ein Anschlag verübt wurde, den man ihnen zugeschrieben hatte. Der Mordanschlag schlug aber fehl. Damals wurden sogar Kinder gezwungen, das Ketzerkreuz als Schandmal auf dem Gewand aufgenäht zu tragen. Eine alte Frau aus Dambach wurde vom Inquisitor daraufhin mit einer schweren Strafe belegt. Für den Rest ihres Lebens musste sie vorne und hinten an ihrer Oberbekleidung das blaue Ketzerkreuz tragen. Außerdem sollte sie an sieben aufeinander folgenden Sonntagen einen Rundgang um die Garstner Stiftskirche antreten, wobei sie von dem ihr folgenden Pfarrer kräftig mit Ruten geschlagen werden sollte. Damit nicht genug, sollte sie sich danach rücklings auf die Schwelle des Gotteshauses legen, damit sie von den Kirchenbesuchern getreten werden konnte. Weil sie sich dieser Strafe widersetzt hatte, wurde sie auf Geheiß Zwickers verbrannt. Ist so etwas heute zutage noch zu fassen?“ fragte Johanna ihren Besucher.
„Nun ja, ich war in Ländern wo es das noch immer gibt!“ gestand ihr ihr Begleiter und erntete ungläubiges Erstaunen.
Ins Gespräch vertieft waren sie über den Gottesacker geschlendert und traten nun in die angenehme Kühle der Stadtpfarrkirche. Leon stellte fest, dass seine Stadtführerin über eine erfrischende Impulsivität zu verfügen schien. Wahrscheinlich neigte sie dazu, manchmal etwas unüberlegt zu handeln, doch im Moment fand er sie sehr unterhaltsam und reizend. Zu passender Gelegenheit würde er vielleicht sogar das von ihr angeregte Diskussionsthema wieder aufgreifen. Zuerst wollte er sie besser kennen lernen.
Diese temperamentvolle Dame wäre sicher für jeden Mann eine echte Gefährtin mit der man auch zu Not einen Karren aus dem Dreck ziehen konnte, mutmaßte er. Mit seiner eigenen Ehefrau verband ihn nicht mehr sehr viel. Geblendet von ihrer jugendlichen Schönheit und den üblichen Schmeicheleien hatte er sich als junger Kerl von ihr einwickeln lassen und später feststellen müssen, dass sie zur Verschwendung neigte und sehr eitel und auch wenig treu war. Er hoffte, sein Sohn würde mehr nach ihm schlagen und die Zeichen dafür standen gut, da seine Mutter keine übermäßige Fürsorge an ihm erkennen ließ und so auch in seiner Erziehung keinen schlechten Einfluss ausüben konnte. Er selbst war froh, dass er sich im Gefolge des Erzherzogs meist auf Reisen befand und er vermied längere Aufenthalte bei Hof.
Nachdem sie im Inneren der Stadtpfarrkirche den Hochaltar und ein schönes Bild, welches die heiligen drei Weisen aus dem Morgenland beim Jesuskind darstellte, bewundert hatten, bestaunten sie nun die beeindruckende Räderuhr mit ihren gut sichtbaren Ziffernblättern am Kirchturm und gelangten dann über die steile Pfarrstiege hinab auf den äußersten Stadtplatz wo sehr alte gotische Häuser mit Maßwerk standen, deren Putz schon etwas verwittert war. Johanna machte ihn aufmerksam, dass hier zweimal die Woche der Bauernmarkt stattfand. Man nannte den Platz Grünordt oder Grünerdt. Am Ende der Straße, gegenüber dem Speicher, war ein weiteres, mächtiges Steintor errichtet worden, von dem eine kleinere Brücke über die Enns führte. Johanna teilte ihm mit, dass diese von den Stadtleuten die Neutorbrücke genannt wurde, da sie noch nicht sehr lange existierte Von dort sah und gelangte man zum gegenüberliegenden Schiffmeisterhaus.
Steyr wurde landläufig die Eisenstadt genannt. Leon konnte überall in der Stadt den Beweis für diesen Namen finden. Die besonderen Eisenhandelsprivilegien hatten die Stadt zu einem politischen und kulturellen Zentrum im Gebiet der steirischen Markgrafen gemacht. Von hier aus wurde erfolgreich Fernhandel nach Venedig, England, Spanien, Russland und Kleinasien betrieben. Dass das Eisenhandwerk hier besonders geschätzt wurde, sah man auch in der künstlerischen Verarbeitung des Eisens, die sich an den vielen Schildern, Fensterkörben, Laternenträger, Gittern und Tür- und Fensterläden darstellte.
Auf der gegenüberliegenden Stadtplatzseite zeigte Johanna ihm die Überreste der Benediktinerkirche, die 1522 bei einem verheerenden Stadtbrand ebenso vernichtet wurde wie das angeschlossene Kloster samt dazugehöriger Schule.
Schließlich gingen sie weiter zum Rathaus, dem Kreisgericht und der Stadtkaserne. Der Stadtplatz war belebt und schien eine Stätte der Begegnung zu sein. Das Kunstverständnis der Bürger schien sehr weltoffen zu sein, wie er an den verschiedenen Baustilen der Häuser ablas. Manche Fassaden waren mit Engeln und Blumen verziert worden. Vor einem in gotischem Stil erbauten Gebäude, das anhand eines Steckschildes als Gaststätte „Zum goldenen Löwen“ zu erkennen war, blieb seine Führerin kurz stehen und deutete auf die Darstellung eines Löwen neben dem Steckschild. „Als der Löwe hier angebracht wurde, hat sich halb Steyr totgelacht über dieses Bummerl. Seither nennen wir es das Bummerlhaus.“ erklärte sie ihm. Die Gestalt der Figur erinnerte wirklich etwas mehr an einen kleinen, zu dick geratenen Hund denn an einen Furcht einflößenden Löwen, bemerkte er schmunzelnd, er hatte tatsächlich schon einmal einen echten Löwen gesehen und konnte sich noch gut an das geschmeidig wirkende Raubtier erinnern.
Er wandte sich um und ließ seinen Blick über den Platz schweifen. Auf dem Stadtplatz gab es zwei schöne Brunnen. Einer davon sei dem heiligen Leopold gewidmet, erklärte ihm das Mädchen, sie erfrischten sich ein wenig mit dem herrlich kühlen Wasser.
Mit einem schelmischen Blick zog ihn die Dame an seiner Seite auf ein zweistöckiges Haus zu, dessen Vorderseite mit herrlichen Kratzputzmalereien bedeckt war. Er wurde neugierig und fragte sich, was sie ihm hier wohl zeigen wollte. In einer Reihe unten und oben befanden sich je acht mystische Drachentiere, links und rechts der Fenster waren Doppelspiralen und Rauten, uralte Symbole und andere figurale Zier aufgemalt. Eine schmale, dunkle Gasse, die zum Ennsufer zu führen schien, tat sich hier auf. Mit betont leiser und heimlich tuender Stimme versuchte sie, Spannung aufzubauen, als sie auf einen dunklen Fleck inmitten der Gasse wies: „Vor einigen Jahren ist ein durchreisender Fremder in dieser Gasse überfallen worden. Als man ihn fand, lag er in einer großen Blutlache und war tot. Die Mörder waren entflohen und man hat nie erfahren, wer die Täter waren. Lange Zeit nun ist schon der Blutfleck zu sehen. Man nennt den Ort seither Blutgasse. Ihr habt Glück, dass ich bei Euch bin, so müsst ihr Euch nicht fürchten.“ sprach sie beruhigend auf ihn ein und zog ihn auf, indem sie scherzend seinen Arm umklammerte.
Johanna verließ ihn, nachdem sie ihn gefragt hatte, ob er auf eigene Faust noch ein wenig die Stadt erkunden wollte und er dies mit den Worten „Ich hoffe ja, Euch bald wieder zusehen und das Vergnügen Eures Umgangs genießen zu können“ bejaht hatte.
Sie wollte unbedingt ihre Freundin Isa besuchen, um mit ihr über Adam zu reden.
Sie bedauerte zwar, dem Hauptmann nichts über seine Mission entlockt zu haben, hatte ihm aber trotzdem bis zu ihrem Wiedersehen am Abend einen schönen Tag gewünscht.
Jetzt saß sie mit Isabella im Wohnraum ihres Stadthauses und berichtete ihr die Neuigkeiten.
„Ich platze beinahe vor lauter Neugier.“ vertraute Johanna ihrer Freundin an. „Ich hoffe nur, der Hauptmann kommt nicht, um Max und Adam wieder zum Hof des Erzherzogs mitzunehmen, sie sind doch gerade erst heimgekommen.“
„Ich würde alles dafür geben, einmal den Hof zu sehen, die ganzen Kleider und feinen Leute.“ geriet Isabella ins Schwärmen.
„Na, wenn du noch circa zehn bis zwanzig Jahre warten kannst, bis sich Adam seine Hörner abgestoßen hat, kannst du ihn ja heiraten. Er hat ohnehin ein Auge auf dich geworfen, scheint mir“.
„Ich fürchte, ich bin für ihn nicht standesgemäß genug. Immerhin ist der Erzherzog persönlich sein Pate.“ seufzte Isabella.
„Ich finde, er könnte keine bessere Ehefrau finden und wahrscheinlich auch keine reichere, oder? Aber nimm dich in acht. Im Moment ist er noch hinter jedem Rock her und würde dir, wenn du dich in ihn verlieben würdest, sicher das Herz brechen!“ Den Vorfall am Wasserfall würde sie lieber für sich behalten. „Wir sollten uns ein Beispiel an Dante nehmen, auch er hat jahrelang seine Beatrice aus der Ferne angebetet und war dabei voller Liebe für sie.“
„Ist diese Beatrice nicht gestorben?“
„Ja, doch. Natürlich wird Adam nicht sterben. Ich wollte dir ja damit nur sagen, dass man auch auf die wahre Liebe warten können muss. Inzwischen geht es um das Gefühl, zu wissen, dass es jemanden gibt, den man so lieben kann. Ach Isa, es ist wunderbar und gleichzeitig schrecklich.“ ihre Augen füllten sich mit Tränen „Ich habe mich unsterblich verliebt!“ und Johanna erzählte Isabella von Ihren Gefühlen für Max und den vielen Blicken, die sie schon getauscht hatten, den zufälligen Berührungen, die jedes Mal einen Schauer durch ihren Körper jagten und die Hoffnung, dass er ihre Liebe erwidern würde. Er hatte tausend Träume in ihr geweckt und trotzdem wusste sie, dass ihre Liebe um nichts aussichtsreicher war, als es die zwischen Isa und Adam sein würde.
Als sich Johanna für das Abendessen fertig machen wollte, fühlte sie sich elend wie nie. Was war das für ein Gefühl in ihrer Magengegend? So hatte sie sich als Kind gefühlt, wenn sie Angst vor Schelte gehabt hatte. So ein flaues Bangen verhieß meist nichts Gutes. Es war, als hinge drohendes Unheil in der Luft.
Gegenseitig halfen ihre Mutter und sie sich in ein Mieder. Wahllos griff sie nach einer ihrer schönen Blusen und erwischte eine aus dünnem, gelbgrünem Seidenstoff mit eckigem Dekolltee, die an Armen und Hüften sanft ihren Körper umschmeichelte und bis unter den Po reichte. Sie zog die Bluse über einen eng geschnittenen dunkelgrünen Wickelrock und trug darunter eine der engen Strumpfhosen, wie sie bei Männer gerade in Mode waren. Dann schlüpfte sie in ihre spitzen aber bequemen Pantoffeln. Ihre Mutter half ihr bereitwillig, noch ein paar Zöpfchen ins Haar zu flechten und daraus eine brauchbare Frisur zu machen.
Das Essen schien sich wieder endlos in die Länge zu ziehen. Johanna saß zwischen der Frau des Försters und einer Offiziersgattin. Beide verwickelten sie bereits während des Essens in eine nervtötende Konversation. Die etwas beleibten Damen sprachen ohne Pause und erzählten ihr endlose Geschichten von Personen, die Johanna noch nie in ihrem Leben kennengelernt hatte. Sie sprachen so langsam und die eine warf bei jedem dritten Wort ein „schau“ ein. Innerlich schreiend nickte sie den beiden freundlich zu und quittierte ihre endlosen Ausführungen, wer mit wem verlobt war und wie viele Kinder ihre Nachbarn bereits hatten, mit ab und zu einem interessierten „Aha“ oder “Hmm“, dabei knabberte sie lustlos an ihrem Stück Brot und stocherte in ihrem Eintopfgericht herum.
Der Hauptmann hatte einen Ehrenplatz neben dem Grafen eingenommen. Als die letzten Speiseplatten abserviert waren erhob sich der Graf endlich und stellte zuerst allen Anwesenden seinen Gast offiziell vor, um darauf gleich das Wort an ihn weiterzugeben.
Es war, bis auf das schwere Atmen der beiden Matronen neben ihr, mucksmäuschen still geworden und jeder harrte gespannt dessen, was da bekannt gegeben wurde. Johanna warf einen Blick zu Max hinüber und stellte fest, dass auch er gespannt auf die Rede wartete.
„Verehrter Graf, verehrte Gräfin!“ Er verneigte sich auch vor den restlichen Anwesenden, „Ich soll Ihnen allen die allerbesten Grüße von Erzherzog Ferdinand überbringen. Er befand sich auf einer kurzen Pause in Wien, nachdem ihn eine seiner vielen Reisen zuvor von Augsburg nach Innsbruck geführt hatte, wo er seinen Kindern einen Besuch abstattete.“
„Er hätte Sie gerne persönlich besucht,“ entschuldigte er seinen Herrn vor der gespannten Zuhörerschaft „jedoch riefen ihn dringende Angelegenheiten bereits weiter nach Prag“.
„Seinem Wunsch entsprechend sandte er mich jedoch hierher, um seine beiden Patenkinder.“, er verneigte sich zu Max und Adam „zum Hof zu geleiten, wo er schon bald ihre Vermählung im Sinne des Hauses Habsburg bekannt geben wird.“.
Geschockt starrte Johanna zu ihren Freunden hinüber. Den beiden wurde bereits von allen Seiten auf die Schultern geklopft und man beglückwünschte sie teilweise mit zotigen Kommentaren. Sie selbst sahen ein wenig betreten drein. Max fing sich als erster wieder und stand auf, um das Wort an den Hauptmann zu richten: „Wann wird Ferdinand unsere Anwesenheit erwarten? Wir sind erst vor kurzem zu unserer Familie heimgekehrt und würden es begrüßen, noch ein wenig Zeit hier verbringen zu können!?“.
Johanna registrierte seine angespannten Kieferknochen und hörte wie betäubt den Hauptmann von einigen Wochen sprechen.
Sie schalt sich eine Närrin, sich Hoffnungen gemacht zu haben, von Max um ihre Hand gebeten zu werden. Eigentlich hätte sie es wissen müssen, dass solcherlei Dinge vom Regenten arrangiert wurden, dessen Absicht darin lag, die Adeligen seines Reiches möglichst gewinnbringend oder wegen geplanter Allianzen zu vermählen. Die Ehe war in vielen Fällen nur vom Streben nach Reichtum oder wirtschaftlicher Absicherung getragen, das war nicht nur unter Leuten ihres Standes so, sondern allgemein gültig. Insgeheim träumte wohl jedes Mädchen von der großen Liebe und hin und wieder traf diese auch ein, wie das Beispiel ihrer Eltern gezeigt hatte. Sie war keine Frau, die von Haus aus zu Unterordnung, Bescheidenheit und Gehorsam erzogen wurde. Sie ging Konflikten nicht aus dem Wege und war nicht bereit, bei einem Streit schnell einzulenken. Sie träumte nicht davon, sich genügsam um Kinder und Familie zu kümmern und war diesbezüglich wenig kompromissbereit.
Der Wunsch der meisten Frauen nach Sicherheit hatte doch erst zur gesellschaftlichen Unterwerfung vor dem Manne geführt. Auch in der Bibel stand, dass Gott die Frau nicht aus Adams Kopf geschaffen hatte, weil sie sein Herrscher sein sollte, auch nicht aus seinem Fuß, weil sie sein Sklave sein sollte, sondern aus seiner Seite, denn sie solle ihm Gefährte und Freund sein. Mit keinem Wort wurde etwas von Liebe erwähnt. Wie töricht von ihr, trotzdem darauf zu hoffen. Wie benommen stand sie von der Tafel auf und flüchtete ins Freie. Sie spürte die Verzweiflung hochkommen und wischte sich verstohlen einige Tränen aus den Augen. Sie beschloss, sich in ihre Kammer zurückzuziehen und ihr wundes Herz zu bedauern.
In Tränen aufgelöst fand sie ihre Mutter wenig später im Bett liegend vor und setzte sich, sie wie ein kleines Kind an sich ziehend, zu ihr. Tröstend vermutete sie: „Du hast dich in Max verliebt, stimmt´s?“
Ein neuerlicher Weinkrampf war ihr Antwort genug, außerdem hatte sie die beiden schon einige Zeit beobachtet und bemerkt, dass sie hintereinander her waren wie der Teufel hinter einer Seele, wie beide einander angesehen hatten, oder, besser gesagt, krampfhaft versucht hatten, sich nicht anzusehen.
„Auch andere Mütter haben schöne Söhne!“ versuchte sie Johanna etwas aufzuheitern.
„Komm mir jetzt ja nicht mit Leander, diesem Schnösel.“ schluchzte Johanna.
„Du musst nur auf das Schicksal vertrauen. Am Ende wendet es sich meistens zum Guten, du wirst sehen.“
„Blödsinn!“ dachte Johanna bei sich und fühlte ihren Kämpfergeist erwachen. So schnell würde sie nicht aufgeben. Sie wollte alles versuchen und um ihre Liebe kämpfen, und wenn sie vor dem Erzherzog selbst vorsprechen müsste, so schnell wollte sie sich nicht geschlagen geben. Im Geiste heckte sie bereits einige Pläne aus, um Max und Adam nach Wien zu begleiten.
Einfach würde es nicht werden, noch dazu, wo sie noch gar nicht wusste, ob Max ihre Liebe überhaupt erwiderte. Immerhin wollte sie sich auch nicht lächerlich machen indem sie ihm zuerst ihre Liebe gestand, die er dann vielleicht belustigt zurückwies. Wieder musste sie an Dantes „Vita Nova“ denken, die sie wohl schon 100mal gelesen und manchmal noch immer nicht verstanden hatte. Wie oft hatte sie sich im Geiste gedacht, warum er sich darin Beatrice nicht aufgedrängt hat, sie mit seiner Liebe direkt konfrontiert hatte. Ja, diese hatte sich „einmal“ über ihn lustig gemacht, das hatte er aber auch verdient. Aber nie hatte sie verstanden, warum er nicht um seine Liebe gekämpft hatte.
Johanna nahm sich fest vor, zu kämpfen.
Gleich am nächsten Vormittag besuchte sie Maria, die gerade eine neue wunderschöne Stickerei bearbeitete. Wie an ihrer Person, so herrschte auch in ihrem Wohnzimmer immer die größte Ordnung. Ein wenig heuchelte sie Interesse und erkundigte sich nach dem Titel der Stickerei und lobte die schöne Farbauswahl.
„Also, Johanna, wo drückt dich der Schuh?“ fragte Maria mit ihrem rollenden spanischen Akzent. „Du interessierst dich doch sonst nicht sonderlich für meine Handarbeiten!“
„Du hast mich doch früher immer gefragt ob ich nicht an den Hof will um feine Manieren zu lernen und das gepflegte Leben dort kennenzulernen?“
„Ja. Und du hast immer ganz entrüstet abgelehnt.“
„Das stimmt, weil ich nicht ganz alleine fort gehen wollte.“ verzerrte Johanna ein klein wenig die Wahrheit.
„Und jetzt?“
„Was jetzt?“
„Na, rück schon raus damit, was du mir sagen willst!“ drängte Maria.
„Na ja, ich dachte, wo doch Adam und Max mit dem Hauptmann nach Wien zum Hof reisen, könnte ich mich vielleicht ihnen anschließen und doch noch eine Hofdame werden.“ sprudelte ihre beste Theorie aus ihr heraus.
„Ein wenig alt bist du aber mittlerweile. Und eigentlich kann ich mir dich nicht wirklich als Hofdame vorstellen, aber wenn es dein Wunsch ist, könnte ich natürlich einigen meiner Freundinnen schreiben und etwas für dich arrangieren.“ meinte Maria, obwohl sie ganz genau zu wissen glaubte, worauf Johanna es abgesehen hatte. Sie kannte sie, seit sie ein kleines Baby war. Das Mädchen wollte ein Abenteuer erleben. Doch da sie Johanna liebte, gönnte sie ihr diese Erfahrung natürlich gerne.
„Vergelt´s Gott, allerliebste Maria!“ jubelte Johanna und umarmte Maria stürmisch und küsste sie auf die Wange.
„Vielleicht kriegen wir dich ja doch noch unter die Haube!“ meinte Maria seufzend.
Johanna beeilte sich alsbald die Neuigkeit zu verbreiten und alle mit ihrer Absicht bekannt zu machen. Sie eilte in die Küche ihrer Großmutter. Ihre Mutter, die ebenfalls anwesend war, versuchte zwar halbherzig, ihr das Vorhaben wieder auszureden, doch die anderen Verwandten machten sie auch darauf aufmerksam, dass ihr das wohl ohnehin nicht glücken würde, wenn Johanna es sich in den Kopf gesetzt hatte.
Am Nachmittag traf sie Max im Pferdestall an und fragte ihn, ob er einen kleinen Spaziergang machen wollte. Bereitwillig ging er auf ihren Vorschlag ein.
Sie wanderten vom Südwesteingang der Burg in eine Gasse, in der, von den weit ausgreifenden Ästen zweier mächtiger Lindenbäume behütet, eine zur Burg gehörende Kapelle stand. Max öffnete das schwere Eisengitter und andächtig gingen sie ins Innere. Auf einem hohen steinernen Sockel stand die lebensgroße Statue des heiligen Nepomuk. Schöne Spiralen, uralte Sonnensinnbilder und das erhaben gemeißelte gräfliche Wappen schmückten den Sockel. Über dem unbedeckten Haupt des Heiligen wand sich ein Heiligenschein in der Form eines eisernen Reifes mit fünf goldenen Sternen. Zu seinen Füßen ruhten zwei niedliche kleine Engel. Sie verweilten einige Minuten schweigend. Es schienen tausende Worte in der Luft zu hängen, doch beiden blieben sie für den Moment im Halse stecken. Schließlich umfasste Max Johannas Taille und führte sie wieder in das warme Sonnenlicht hinaus. Johanna konnte nicht länger schweigen und berichtete ihm von ihrem Vorhaben ihn und Adam in die Hofburg zu begleiten.
„Ich denke, dort wird es dir nicht gefallen.“ meinte Max zweifelnd. „Warum glauben immer alle, für mich denken zu müssen? Ich bin erwachsen, ich kann schon selber denken und es macht mir sogar Spaß!“ setzte sie ihm unwirsch entgegen. Er runzelte skeptisch die Stirn und Johannas Ärger über seine Zweifel löste sich in Luft auf. Sie verlor sich in seinen dunklen Augen. Für sie war er der schönste Mann, den es gab, und sogar das Grübchen an seinem glatt rasierten Kinn gefiel ihr. Ihr Blick wanderte zu einer kleinen beinahe unmerklichen Narbe über seiner Oberlippe, an der sie nicht ganz unschuldig war. Er hatte sich damals die Verletzung beim wilden Spiel zugezogen. Wie sehnte sie sich danach, sie in diesem Moment zu berühren, seine sinnlichen Lippen zu küssen. Sehnsuchtsvoll betrachtete sie seinen Mund. Die schmale Oberlippe stand in Kontrast zu der volleren Unterlippe und Johanna träumte von ihren Lippen auf den seinen.
„Jeder Mann wird um deine Hand bitten und du wirst dich der Aufwartungen gar nicht erwehren können!“ sagte er schluckend, als ob ihm ein Kloß im Halse stecken würde.
„Na, geteiltes Leid ist halbes Leid, oder? Du und Adam, ihr seid doch auch nicht sonderlich begeistert davon, bald in den heiligen Stand der Ehe zu treten?“
Max wandte den Kopf ab und starrte in die Ferne als ob dort eine Antwort auf ihre Frage zu finden wäre.
„Hast du noch etwas vor?“ startete Johanna schließlich den Versuch auf ein anderes Thema zu kommen.
Als Max verneinte, schlug sie ihm eine Partie Schach vor. Sie hatte in letzter Zeit oft mit ihrem Großvater gespielt und viel dabei gelernt. Sie war neugierig, ob sie gegen Max eine Chance hatte. Und so zogen sie sich, zurück in der Burg, in einen ruhigen Raum zurück und genossen die entspannte Atmosphäre an einem offenen Fenster und die Anwesenheit des Gegenübers.
„Du weißt ja, die Dame ist die mächtigste Figur im Spiel!“ machte Johanna Max mit spitzbübischem Lächeln aufmerksam.
„Natürlich – wie im wahren Leben.“ antwortete Max auf ihren Scherz eingehend, dann versank er in tiefes Nachdenken.
Aber die Regeln des Spieles boten tatsächlich eine Chancengleichheit in der anspruchsvollen geistigen Auseinandersetzung. Die Geschlechter waren sich ebenbürtig. Johanna fühlte sich bei diesem Gedanken abermals in ihrer Meinung bestärkt, gegen den gesellschaftlichen Zwang zu kämpfen, der sie daran hindern wollte, die Welt zu erobern und um ihre Liebe zu kämpfen. Sie war voll guter Zuversicht.
Sie gab sich im Spiel tapfer kämpfend, aber musste sich schließlich trotzdem am Ende geschlagen geben. „Schach matt – der König ist tot!“ freute Max sich über den Sieg.
„Zum Glück ist er es nur im Spiel, sonst müsstest du dein Abenteuer, an seinen Hof zu reisen, wieder vergessen. Dir ist hoffentlich bewusst, dass ich morgen eine Revanche will?“ forderte Johanna, als sie die schön geschnitzten Figuren in einem Beutel verstaute.
So wurde das tägliche Spiel ein Fixpunkt und Johanna genoss jede einzelne Sekunde ihres trauten Zusammenseins mit Max. Anschließend machten sie oft noch einen Spaziergang und unterhielten sich über diese und jene Bücher, die beide schon gelesen hatten und was ihnen darin besonders gefallen hatte. Sie waren sich beide einig, dass es nichts Wertvolleres als Bücher gab. Man konnte tausend Leben in nur einem eigenen Leben haben durch sie. Max erzählte ihr über seine naturwissenschaftlichen Entdeckungen, die noch immer seine große Leidenschaft waren und sie half ihm dafür stundenlang auf seiner Suche nach neuen Insekten und Kräutern. Er hatte ein wertvolles Mikroskop, mit dem sie ihre Funde danach genau untersuchten und in den Lexika nachschlugen. Johanna wünschte sich, die Zeit anhalten zu können. Warum konnte es nicht für immer und ewig so weitergehen?
Einmal sprach Johanna das Thema der geplanten Vermählung von Max und Adam auf Wunsch des Erzherzogs an, weil sie wissen wollte, wie Max dazu stand. Seine Untadeligkeit brachte sie schön langsam zur Verzweiflung. Er behandelte sie zuvorkommend und hielt von Zeit zu Zeit in innigen Momenten ihre Hand, aber sie hatte noch immer keinen Liebesbeweis von ihm bekommen. Sie erwartete ja gar keinen Heiratsantrag, sie wollte nur wissen, ob er sie so liebte wie sie ihn. Warum konnte er sie nicht wie in ihren Träumen einfach umarmen und küssen?
„Der Kaiser und der Erzherzog versuchen auf möglichst friedliche Art und Weise eine möglichst große Bundesgenossenschaft zu erreichen. Die Heirat mit Angehörigen eines anderen Adelsgeschlechtes ist halt die friedlichste Art und Weise, das zu bekommen. Im Prinzip ist die Absicht dahinter zu verstehen, so bedauerlich es auch ist, nicht selbst wählen zu dürfen. Das Land braucht einen Kaiser. Einen, der Ordnung in die weltlichen Angelegenheiten bringt und die Einheit von Macht und Glauben verbreitet. Wir haben großes Glück mit unserem Kaiser, er ist ein weiser Mann, genau wie sein Bruder. Beide wollen ihr Wissen für die Menschheit einsetzen und ich vertraue ihnen, dass sie ihre Macht nicht missbrauchen. Ich habe geschworen, ihnen immer treu ergeben zu sein und das heißt auch, ihren Wünschen nachzukommen, und daran wird sich nie etwas ändern.“ erklärte er Johanna seine Einstellung.
„Natürlich. Ich verstehe dich. Wäre ich ein Mann, ich würde mich nicht anders verhalten. Ich würde gerne auch dabei helfen, die Welt im Positiven zu verändern.“ gab Johanna ihm Recht „Das Paradies ist ein Platz, den noch niemand gesehen und vermessen hat“ sagt man doch. „Vielleicht erleben es einmal durch unser selbstloses Handeln unsere Nachfahren“.
Als sie bei Einbruch der Dunkelheit ihren freiwilligen Wachdienst auf der Stadtmauer antrat hing sie noch immer diesem Gedanken nach. Einmal im Monat sollte jeder Stadtbürger dieser, der Allgemeinheit dienenden, Aufgabe nachkommen. Ursprünglich sollte natürlich dabei genau kontrolliert werden, ob keine Diebe und Strolche unerlaubt in die Stadt eindrangen und in unsicheren Zeiten wurde von der Stadtmauer aus beobachtet, ob feindliche Truppen sich näherten, die Ausgänge aus der Stadtmauer waren deshalb nach wie vor mit festen Toren gesichert, die bei Einbruch der Dunkelheit fest verschlossen wurden, es gab danach nur noch durch einige Tore die Möglichkeit gegen Bezahlung eines bestimmten Betrages in die Stadt eingelassen zu werden. Von den meisten erhöhten Stellen der Stadtmauer hatte man bei klarer Sicht immer die Wachtürme am Tabor, am Wachtberg und am Damberg im Auge von wo aus die wichtigsten Zugangswege ohnehin genau kontrolliert wurden. Da gerade friedliche Zeiten herrschten, wurde von dort schon lange keine Zeichen mehr gegeben und so war es eine der Hauptaufgaben der Nachtwächter, zu beobachten, ob nirgendwo in der Stadt ein Feuer ausbrach. Die Gefahr wurde durch eine Verordnung des Landesfürsten, die ein Verbot von Holzdächern anordnete, einigermaßen verringert, doch einige in der Stadt ausgebrochene Feuer hatten bereits gezeigt, wie schnell sich die Flammen dennoch ausbreiten konnten.
Der Himmel über Johanna hatte sich von königsblau in ein tiefes dunkelblau gefärbt. Der letzte helle Streifen am Horizont war schon verschwunden. Johanna genoss die Zeit auf der Mauer, um ihren Gedanken nachzuhängen. Sie setzte sich, den Rücken an eine der Zinnen gelehnt, auf die vom Tag warme Steinmauer und ließ die Beine hinabbaumeln. Wenn sie den Kopf in den Nacken legte, sah sie über sich das weite Sternenmeer funkeln. Je ruhiger es in der Stadt wurde, desto lauter begannen die Grillen in der Graben-Allee, der Promenade unter der Stadtmauer und hinter dem Stadtgraben, zu zirpen, nur vereinzelt sah man auf der gegenüberliegenden Seite Laternenlichter durch die Gassen huschen. Bald würde die ganze Stadt von der Nacht bedeckt liegen.
Je nach Stimmung fühlte sich Johanna in diesen Stunden frei und losgelöst wie die Königin der Welt oder klein und einsam wie ein Spatz im Käfig. Einmal war sie mit dem Grafen nach Kremsmünster geritten und hatte dort nachts in der Sternwarte durch die Fernrohre die Sterne noch größer beobachten können. Der Astrologe hatte ihr die wichtigsten Sternbilder gezeigt, doch sie konnte sich nicht mehr an alle Namen erinnern. Am Horizont war soeben eine Sternschnuppe zu sehen gewesen. Johanna überlegte einen Moment zu lange, was sie sich wünschen sollte, schon war sie wieder verschwunden.
Sie dachte an die sagenumwobenen Sternengeborenen, die mit ihren feuerspeienden Drachen von dort oben auf die Erde gereist sein sollen. Und auf welchem Stern wohl das Paradies liegen würde, von dem der heilige Geist seine geflügelten Götterboten zu den Propheten geschickt hatte. Das Paradies soll ein Ort sein, wo alle Menschen in Frieden und Eintracht brüderlich in Liebe miteinander lebten, egal welche Hautfarbe, Religion oder Ansichten sie hatten. Es soll frei sein von Neid, Missgunst, Habgier und Standesunterschieden. Johanna stellte sich das Leben im Paradies vor und überlegte, ob es da wohl noch diese leidenschaftlichen Gefühle geben würde, die gerade in ihr kämpften. Die Sehnsucht nach Liebe, Leidenschaft und Erfüllung. Die Lust nach Abenteuern und Entdeckungsreisen. Das Streben nach Wissen und Weisheit. Die Freude nach neuen, anregenden Bekanntschaften. Die ausgelassene Stimmung und Unterhaltung in lustiger Gesellschaft. Sie überlegte, ob sie, wenn plötzlich ein Engel vor ihr auftauchen würde und ihr anbieten würde, sie direkt ins Paradies mitzunehmen, diese Einladung wohl annehmen würde. Sie entschied, dass sie das Leben hier auf Erden zu sehr liebte, um dieses Wagnis einzugehen, lieber bliebe sie, trotz aller Gefahren und Ängste.
Sie sah eine Laterne in ihre Richtung kommen. Es war Seppl, einer der insgesamt vier Nachtwächter der Stadt, der wohl kontrollierte, ob sie nicht eingeschlafen war. Er trug einen langen Mantel mit dem Stadtwappen und einen spitzen Helm und um die Schultern hatte er ein mächtiges Horn gehängt. In der einen Hand die Laterne, in der anderen eine Hellbarde. „Johanna! Leb´st eh noch?“ rief er zu ihr rauf. Und sie antwortete mit einem Gruß.
„Sein a paar schlimme Buam unterwegs gwes´n, die letzten paar Nächt!“ wollte er sie warnen, doch Johanna antwortete nur unbekümmert „Ach ja, ich wollte immer schon einmal so richtig schlimme Buben kennen lernen. Wenn du sie siehst sagst du es mir, ja?
Mit seinem unverkennbaren meckernden Lachen ging der alte Nachtwächter weiter seines Weges.
Einige Zeit später meinte sie, Schritte im Dunkeln zu hören. Angestrengt blickte sie in die sternenbeleuchtete Nacht. Ein Geräusch wie ein losgetretener kleiner Stein ertönte von der Steintreppe, die auf die Mauer führte, zu ihr durch. Jemand versuchte, kläglich wie eine Katze zu miauen, als sie wachsam in die Richtung, aus der sie meinte, das Geräusch gehört zu haben, ging. Sie verspürte keine Angst oder Unruhe und war nicht überrascht, als sie zwei dunkle Schatten auf sich zu kommen sah. „Ihr Tierquäler“ begrüßte sie die beiden finsteren Gestalten „welcher armen Katze seid ihr jetzt wieder auf den Schwanz getreten bei dem Versuch, euch heimlich anzuschleichen?“ begrüßte sie die Ankommenden belustigt.
„Spielverderberin“ meinte Adam „wir haben uns so darauf gefreut, dir einen Heidenschreck einzujagen.“
„Da müsst ihr aber noch üben, ich habe gehört, die Wilden in Amerika sollen darin sehr gut sein, vielleicht solltet ihr bei denen eine Lehre machen.“
Johanna war entzückt über den Besuch und nachdem sie es sich wieder auf der breiten Mauer bequem gemacht hatten, begannen sie sich lustige Anekdoten, Witze und Geschichten zu erzählen.
Johanna packte die Gelegenheit beim Schopf und sprach Adam darauf an, was er für Isabella empfand, doch er wich einer klaren Antwort wieder einmal mit einem seiner saloppen Sprüche aus: „Du weißt doch, was ich von Mädchen halte, deren Tugend so groß als ihr Unterrock oder ihr Mieder ist.“ Johanna meinte aber doch, ein leichtes Bedauern in seinen Augen lesen zu können und ließ es deshalb darauf bewenden.
Die Nacht verging fast wie im Fluge. Ihr Wachdienst endete zur Mane, bei Sonnenaufgang. Als im Osten der erste helle Schimmer erschien verabschiedeten sich die Brüder mit dem Hinweis, sie nicht in Verlegenheit bringen zu wollen, indem sie mit ihr gemeinsam in der Burg auftauchten. Sie würden über den unterirdischen Geheimgang ebenso unbemerkt in die Burg zurückgelangen wie sie auch von dort verschwunden waren. Johanna war zwar oft wie ein Junge gekleidet, doch immerhin war sie ein Edelfräulein und es gab immer genug Leute, die sich freuten, solcherlei Dinge zu verbreiten, um sich selbst in einem besseren Licht stehend erscheinen zu lassen.
Es blieben noch vier Tage bis zu ihrem Aufbruch in die Residenz des Erzherzogs nach Wien. Die letzten Tage waren der Familie vorbehalten, doch heute wollten sie noch eine Landpartie machen. Sie hatten dem Hauptmann, der sich in den letzten Wochen mit Max und Adam, und so natürlich auch mit Johanna, angefreundet hatte, versprochen ihm die Gegend zu zeigen und mit ihm in die Ortschaften Wolfern und Stein und zum Benediktinerkloster Gleink zu reiten. Die Köchin hatte ihnen einen Korb mit Brot und Käse hergerichtet, sodass sie unterwegs eine Rast einlegen konnten. Sie verließen die Stadt über die Brücke nach Steyrdorf. Von der Brücke hatte man einen schönen Blick zum Schleifersteg am Wehrgrabenkanal. Das künstliche Gerinne des Wehrgrabens wurde zur Nutzung der Wasserkraft, unabhängig vom wechselnden Wasserstand der Steyr, geschaffen. Dort entstand das gewerbliche Zentrum der Stadt. Neben der Getreidemühle gab es noch eine Schleiferei, an der die unterschiedlichsten Werkzeuge und Waffen geschliffen wurden. Auch eine Säge war angeschlossen und die verschiedenen Geräusche vermischten sich zu einem gleichmäßigen Hämmern, Stampfen und Sägen. Der Hauptmann lobte die sauber gepflegten Gassen des Vorortes.
Vor einigen Jahren war es den Stadtbewohnern per Gesetz verboten worden, sich Schweine innerhalb der Stadtmauern zu halten, denn diese hatten teilweise für eine enorme Geruchsbelästigung in den schmalen Gassen und Innenhöfen gesorgt, erklärte ihm Johanna.
Sie schlugen die Straße beim Bürgerspital hinauf ein. Für alte, arme oder kranke Bürger bestand hier eine Fürsorgeanstalt. Vermögende Bürger stifteten Dienste und Güter zu dessen Unterhalt, aber auch Weinberge in Österreich unter der Enns beteiligten sich, schon von Kaiser Maximilian dazu veranlasst, an dessen Betrieb. Im Kellergewölbe unter der Kirche wurde dieser „Spitalwein“ ausgeschenkt.
Sie ritten durch das alte Mauttor am Schnallenberg, wo die Zölle für in die Stadt eingeführte Handelswaren eingehoben wurden. Zölle und Abgaben mussten an jeder Brücke, jedem Pass und jedem Stadttor entrichtet werden. Einmal aus der Sicherheit der Stadt hinaus geritten schlugen sie sogleich den Weg nach Westen ein.
Von einem ehemals großen Föhrenwald, der sich vom Hang des Dachsberges bis zur Steyr hinzog war nur eine größere Gruppe von Föhren übrig geblieben, die man im Volksmund Föhrenschacherl nannte. Johanna mochte den Ort nicht und mied es sonst, in seine Nähe zu kommen. Dort befand sich das Höchstgericht der Stadt mit seinem, aus Eichenholz gezimmerten, hoch aufragenden, dreieckigen Galgen, an dem die zu Tode Verurteilten durch Henkershand ihr Leben lassen mussten. Des Nachts wollte niemand gerne daran vorübergehen.
Als sie das Föhrenschacherl hinter sich gelassen hatten wurde es doch noch ein lustiger Ausritt, auf den weiten Wiesen ließen sie die Pferde galoppieren und Johanna freute sich noch mehr auf die bevorstehende Reise nach Wien.
Nach einer halben Stunde erreichten sie so einen schönen Aussichtsberg. Sie hatten eine herrliche Fernsicht auf das in blauen Dunst gehüllte Gebirge, über das Hügelland und in das von den Mühlviertler Bergen begrenzte Donautal. Auf der Spitze des Hügels stand ein Steinkreuz welches von den Einwohnern des Dorfes das „weiße Kreuz“ genannt wurde. Der Hauptmann meinte, auf die Kirche des Dorfes hinabblickend, skeptisch: „Die Kirche würde hier viel besser herpassen, ich kann nicht verstehen warum die Menschen sie dort unten bauten.“ Johanna lachte und berichtete ihm von der Sage die um die Entstehung dieser Gemeinde kursierte.
„Die Menschen wollten die Kirche hier erbauen,“ begann sie „doch irgendetwas ging nicht mit rechten Dingen zu. Sobald man das Baumaterial hierher schaffte, verschwand es über Nacht immer wieder dort hinunter. Die Leute dachten, der Teufel hätte seine Hände im Spiel und beschlossen deshalb, die Kirche dort unten zu erbauen, um sich nicht mit ihm anzulegen. Angeblich hat dann der Teufel sogar beim Bau der Kirche geholfen, unter der Bedingung, dass die erste Seele, welche die fertige Kirche zuerst betreten sollte, ihm gehören sollte. Als die Kirche aufgebaut war und so prachtvoll dastand, jagten die Menschen einen Wolf in die Kirche und prellten so den Teufel um seine Seele. Der Teufel war seither nicht mehr hier gesehen und die Leute hier tauften ihre Gemeinde Wolfern.“ schloss sie ihre kleine Geschichte ab.
„Johanna kennt alle Sagen und Legenden dieser Gegend.“ erklärte Max dem Mann entschuldigend.
„Als wir noch Kinder waren, war es bei schlechtem Wetter ihre Lieblingsbeschäftigung, sich Geschichten erzählen zu lassen.“
„Ach ja, auf einmal nur meine Lieblingsbeschäftigung?“ meinte das Mädchen daraufhin spitz.
„Pah, wenn es euch nicht interessiert, braucht ihr es ja nur zu sagen!“ ein wenig eingeschnappt gab sie ihrem Pferd die Absätze und ließ sie die drei Männer in einer Staubwolke zurück.
Leon konnte sich nicht erinnern, wann er sich das letzte Mal so wohl gefühlt hatte. Er genoss die gelöste Gesellschaft der jungen Leute. Sie hatten in den letzten Wochen viel Zeit gemeinsam verbracht und es war trotz des Altersunterschiedes eine echte Freundschaft zwischen ihnen entstanden. Er hatte Adam und Max bereits nach der Schlacht bei Mühlberg flüchtig kennen gelernt, ohne damals zu wissen, wer und wie sie wirklich waren.
Das Verhältnis der beiden zueinander war eigen und einig. Sie waren total unterschiedliche Typen, doch anstatt ständig gegeneinander zu konkurrieren, wie er es von seinen eigenen Brüdern her kannte, waren sie ein eingeschworenes Team. Jeder akzeptierte den anderen so wie er war und er hatte oft bemerkt, dass sie sich vor Entscheidungen gerne miteinander beratschlagten. Adam war frisch, voll Humor, Geist und Selbstironie. Sein bisweilen derb sarkastisches Wesen wurde vielleicht auch aus der unbewussten Konkurrenz mit dem Jüngeren erst so ausgeprägt. Mit seinem langen, wallenden Haupthaar und dem Schnurr- und Spitzbart war er eigentlich ein hübscher Junge, welchem sich die Frauen und Mädchen durchaus nicht abgeneigt erwiesen, und er sich ihnen ebenso wenig. Er machte ihnen unter Scherz und Possen den Hof und hatte offensichtlich großen Erfolg damit.
Max hingegen war der Grübler. Immer war er nachdenklich, ruhig, eine Art Selbstquäler, er schien von seinem Tun und Lassen unbefriedigt. In seinen Ansichten war er aber immer geistreich und prägnant. Er redete nicht viel, doch wenn er es tat war es treffend und er genoss die ungeteilte Aufmerksamkeit aller Zuhörenden, ohne daraus aber allzu großes Selbstvertrauen zu schöpfen.
Er hatte auch erkannt, dass das Verhältnis, welches sich zwischen Max und Johanna schon lange hinschleppte, eine ernsthafte Seite hatte und es sollte endlich zum Ziele führen. Johanna war ein reizendes, charaktervolles Wesen und sie würde dem ernsten Max gut tun. Dieser stand sich aber mit seinen Selbstzweifeln und Nachgrübeln über die Konsequenzen einer Beziehung selbst im Weg.
Leon hatte die milden Abende auf der Steyrer Burg genossen. Stundenlang war über die verschiedensten Themen angeregt diskutiert worden. Mit seinen Männern konnte er nicht so interessante Gespräche führen. Stundenlang ging es bei ihnen ewig ums Reiten und Fechten, um Pferde und Hunde.
Als sie auf ihrem Rückweg in der Nähe des Klosters Gleink eine kleine Gruppe Menschen bemerkten, ritten sie näher hinzu. Eine Bauersfamilie stand rings um eine verirrte Kuh, die wohl versehentlich in einen sumpfigen Teil eines Weihers geraten war. Die alte Bäuerin und ein paar kleinere Kinder greinten verzweifelt. Ein paar junge Männer standen bereits bis zu den Oberschenkeln im Schlamm und versuchten, die Kuh aus ihrem Schlammassel zu befreien. Diese allerdings rührte sich wahrscheinlich aus Furcht keinen Zoll vom Fleck. Was einerseits klug war, denn jede Bewegung ließ sie nur noch tiefer im weichen Ufer versinken. Die nackte Angst stand in ihren großen Kuhaugen zu lesen.
Die kleine Ausflugsgemeinschaft erkundigte sich nach dem Problem und bot sogleich seine Hilfe an, die dankend angenommen wurde. Der Hauptmann band ein Seil, das der Kuh um den Hals gebunden wurde, am Sattel seines Pferdes fest und versuchte so, die Kuh herauszuziehen. Doch diese begann nur angstvoll den Kopf zu bewegen und der Bauer meinte, dass sie wohl schon zu schwach sei, um ihre Beine zu bewegen. Ratlos bedauerten bereits alle den scheinbaren Verlust des Tieres und die Menge schien sich aufzulösen. Johanna tat das Rind leid und so wollte sie nicht aufgeben. Sie nahm Lonis Stallhalfter und glitt aus dem Sattel. So wie sie es bei den Stallburschen schon oft beobachtet hatte, wenn sie mit besonders unruhigen, verängstigten Pferden umgingen, näherte sie sich der Kuh ohne ihr dabei in die Augen zu sehen mit gesenkten Händen. Als sie mit den Stiefeln bereits bis zu den Knien im Schlamm stand, streichelte sie die Kuh beruhigend zwischen den Augen und legte ihr nach einiger Zeit das Stallhalfter an. Ganz ruhig ließ die Kuh es geschehen, es war wohl angenehmer als das enge Seil, dass ihr die Männer um den Hals gelegt hatten und das sich immer fester zusammengezogen hatte. Dann nahm sie das Halfter mit der rechten Hand, wie sie es bei Loni machte, wenn sie sie in den Stall brachte und begann zuversichtlich mit sanftem Druck Richtung trockener Erde zu marschieren und, oh Wunder, die Kuh trottete ihr nach den ersten, anfänglich anstrengenden, Schritten brav hinterher, bis sie auf der Wiese angekommen waren.
„Da! Sie hatte einfach nur Todesangst vor euch und euren schnellen Bewegungen!“ meinte Johanna, selbst ein wenig davon überrascht, wie leicht diese Rettung gewesen war.
Die Bauersleute dankten ihr hundert Mal überschwänglich und luden die Ausflügler nachdrücklich zu einer Bauernjause bei sich ein. Gerne wurde die Einladung angenommen und so labten sie sich an dem guten Speck, Schmalz und Geselchten mit frisch gebackenem Bauernbrot, das Ihnen angeboten wurde und erfrischten sich dazu mit selbst gepresstem Most. Der Bauer bot Ihnen zum Verdauen der fetten Speisen reichlich von seinem Selbstgebranntem an und schenkte sich selbst immer am meisten ein. Die Bäuerin keifte ihn bereits ein wenig wegen seines übermäßigen Zuspruchs an Hochprozentigem an, doch er murmelte zu seinen Gästen gewandt nur ungerührt „Da mechst gern unbeweibt sein, oder?“ und erzählte mit schon etwas schwerer Zunge von der besonderen Fähigkeit seines Sohnes Jogl. Er konnte fehlerhaft gewachsene Hörner bei Ochsen gleichmäßig richten, damit sie kein Hindernis im Anlegen eines Zugjoches bildeten. „Wenn´s an Bauern trefft´s der so an jungen Ochsen hat, kennt´s eam zum Hörndlrichter-Jogl schicken!“ riet er ihnen abschließend noch geschäftstüchtig. So verabschiedeten sie sich schließlich leicht angeheitert von der nochmals herzlich dankenden Familie.
Um den Ausflug noch etwas zu verlängern beschlossen die vier, in der Nähe des Wachturms am Tabor im Stadlmayr Holz noch eine letzte Rast einzulegen.
Von hier konnte man eine wunderschöne Aussicht über die Stadt und bis weit ins Gebirge genießen. Sah man geradewegs hinunter zur Stadt, lag der Zusammenfluß der Enns und Steyr direkt unter ihnen. Hier vereinten sich die beiden Flüsse zum Lauf in die Donau. Johanna breitete ihre Satteldecke auf der Wiese aus und packte den Kuchen, den ihr ihre Großmutter mitgegeben hatte, aus. Nach dem süßen Imbiss genossen sie im Schatten eines alten Baumes den warmen Sommertag. Ihre Pferde trockneten in der Sonne und genossen das saftige Grün der Wiese. Johanna bemühte sich, diesen Moment für alle Zeit einzufangen und malte auf einem Blatt Papier mit einem Kohlestift ein Bild, um sich immer daran zurückerinnern zu können. Als die Sonne schließlich immer längere Schatten zu werfen begann machten sie sich auf den Heimweg.
Soviel Zeit wie möglich verbrachten die drei jungen Leute die letzten Tage im Kreise ihrer Familien. Das Wetter passte sich Johannas Stimmung an und der Himmel öffnete seine Schleusen, um den Regen hernieder prasseln zu lassen. Nachts konnte Johanna oft lange nicht einschlafen und grübelte über ihre vielleicht hoffnungslose, ohnmächtige Liebe nach. Sie schalt sich eine Närrin und nahm sich für jeden Tag vor, Max ihre Liebe zu gestehen, doch im hellen Tageslicht verließ sie wieder aller in der Nacht geschöpfter Mut.
Am letzten Tag vor ihrem Aufbruch in einen neuen Lebensabschnitt kamen alle Tanten und Onkeln, Cousins und Cousinen um Johanna viel Glück und eine schöne und sichere Reise nach Wien zu wünschen. Ihre Großmutter hatte ihre Lieblingsspeisen aufgetischt und noch einen Berg Mehlspeisen extra vorbereitet. Der Großvater hatte den besten Most aus dem Keller geholt. Es schien, alles was Küche und Keller boten, war herbeigeschleppt worden. Es wurde musiziert und gesungen.
Bis auf ihre Mutter wusste niemand von ihrer Liebe zu Max und somit den wahren Grund ihrer Absicht, nach Wien zu gehen. Sie alle gingen davon aus Johanna, würde sich auf das vornehme Leben am Hof freuen und hatten viele Geschenke wie bunte Haarbänder und bestickte Taschentücher mitgebracht, um ihr eine Freude zu bereiten. Bis sich entscheiden würde, ob ihr Plan, Max für sich zu gewinnen, glücken würde, war dies sicher das Beste. Natürlich würde sonst die ganze Familie auf sie einreden und versuchen, sie zu überzeugen, von ihrem Vorhaben Abstand zu nehmen und ihr die Aussichtslosigkeit ihres Vorhabens vorhalten. Sie konnte sich das zur Ehre schätzen. Aber Abwarten zählte nicht unbedingt zu ihren Stärken und ihre Mutter konnte mittlerweile ein Lied davon singen. Ob Verbote oder freundliche Worte, gut gemeintes Zureden oder pure Autorität, sie hatte sich nie in ihrem Freiheitsdrang beschneiden lassen. Wenn es sein musste verfügte sie über einen unumstößlichen Willen. Ihr Wille hatte Gesetz zu sein, tapfer und unerschrocken wollte sie sich diesem Weg stellen. Deshalb quittierte sie die vielen Aufmerksamkeiten schließlich mit den Worten: „Ihr seid so gut zu mir – und das nervt!“
Ihre Familie sollte sie zumindest so gut kennen, um die Worte nicht allzu ernst zu nehmen und so war es auch, alle brachen in heiteres Lachen aus. Mittlerweile wussten sie alle, dass sie das Reden beim Denken oft überholte und es ihr im Traum nicht einfallen würde, andere Menschen zu umschmeicheln oder bedingungslos deren Ansichten zu teilen. Sie meinte es aber auch nicht böse, wenn sie ehrlich ihre Meinung vertrat. Es wurden sämtliche Lieder, die vom Abschiednehmen handelten, gesungen, bis sich die ersten müde aber herzlich von Johanna verabschiedeten und sich zurückzogen.
Auf der anderen Seite des Burggrabens feierten Max und Adam Abschied von ihren Eltern. Adam bemerkte eine besondere Wehmut in den Augen seiner Mutter, wenn sie Max ansah und war dabei etwas eifersüchtig auf seinen kleinen Bruder.
Eigentlich war es sein ganzes Leben lang bereits so gewesen, dass seine Mutter immer besonders besorgt um Max gewesen war. Sie hatte sie beide mit gleich viel Liebe bedacht und Adam schob es immer auf die Tatsache, dass Max der Kleinere von ihnen beiden war, nun ja, mittlerweile gewesen war. Seine Unsicherheit diesbezüglich hatte er meist mit einem unbekümmerten Spruch auf den Lippen überspielen können.
Max hatte die übertriebenen Aufmerksamkeiten seiner Mutter nie herausgefordert und so konnte er seinem kleinen Bruder nicht böse sein deshalb. Während ihrer gemeinsamen Zeit in Pettau hatten sie trotz ihrer gegensätzlichen Interessen immer wie Pech und Schwefel zusammengehalten und sich immer vertraut. Es gab zwischen ihnen nie Versuche, den anderen zu übertrumpfen. Einmal war Max besser im Schwertkampf, dann hatte er dafür mehr Glück bei den Frauen. Er hegte nie die Absicht, sich durch mutige Heldentaten hervorzutun und hatte deshalb beschlossen, sein Lichte eher unter den Scheffel zu stellen um keine unnötige Aufmerksamkeit zu erregen. Er vertrat für sich den Standpunkt, dass sein Leben ohnehin zu kurz war, um es unnötig im Kampf zu gefährden und hatte beschlossen, diese Zeit so unterhaltsam wie möglich zu verbringen. Er liebte die Aufmerksamkeit, die ihm die jungen Damen zollten und mit der Zeit liebte er die Frauen mehr als den Kampfplatz und die immer gleichen Zechgelage unter den Männern. So hatte er gelernt, in deren zarten Gesichtern zu lesen und es bereitete ihm große Freude, ihre Wünsche zu erfüllen ohne dabei skrupellos zu sein. Er hatte bisher in vollen Zügen genossen, was ihm leichtlebige Hofdamen nur allzu freigiebig geboten hatten und sich keinen Arg daraus gemacht, auch mit verheirateten Frauen anzubändeln. Sein Bewusstsein beruhigte er damit, dass es ihm bis jetzt immer gelungen war, keine zu kompromittieren oder irgendwelche Hoffnungen zu wecken, die er nicht zu erfüllen gedachte. Er bemühte sich stets, außer Seufzer und Tränen hier und da, keinen Groll oder ein gebrochenes Herz zu hinterlassen. Manche Frauen hatte er durchaus ohne Neid mit seinem Bruder geteilt, aber er spürte, dass es mit Johanna etwas anderes war. Sie war nicht wie die meisten Frauen, die er kannte. Wenn sie ihm mit ihren vertrauten, schimmernden Augen schier bis auf den Grund der Seele blickte, wusste er, er liebte sie, aber er wollte sie auch beschützen und das hieß, er musste seine Finger von ihr lassen, auch wenn es ihm schwer fiel. Dass Max und Johanna sehr viel Zeit miteinander verbrachten war ihm nicht entgangen. Sein Bruder hatte sich ganz offensichtlich ernsthaft verliebt, doch der Befehl des Erzherzogs, sie hätten wegen ihrer geplanten Vermählung bei ihm zu Erscheinen, machte den beiden einen gehörigen Strich durch die Rechnung. Sicher hätte Max sonst bereits längst um Johannas Hand angehalten. Doch wenn der Regent unbedingt darauf bestand, ihn zu verheiraten, würde er sich dem Wunsch nicht widersetzen. Ehebruch war zwar nach christlichen Regeln eine Sünde, doch besondere Umstände forderten die Umgehung solcher Regeln geradezu heraus und er hatte ohnehin früh gelernt, ein diskreter Liebhaber zu sein, da viele seiner Bekanntschaften selbst bereits verheiratet waren. Max dachte in dieser Beziehung ganz sicher anders, er würde Johanna nie bloß als Geliebte behandeln und sie würde sich mit dieser Rolle wohl auch nicht zufrieden geben. Er hoffte, das Schicksal würde gnädig mit ihnen allen umgehen und sah der Zukunft neugierig entgegen.
Am Morgen der Abreise zeigte der Himmel bereits wieder die ersten hellblauen Flecken und die Wolkendecke schien sich zu lüften. Es lag ein frischer, klarer Geruch in der Luft und Johanna genoss den Aufruhr in ihrem Inneren. Heute würde ihr neues Leben beginnen, sagte sie im Stillen zu sich. Sie hatte bereits am Vortag ihre Sachen gepackt, die sie nach Wien mitnehmen wollte. Ihr schönstes neuestes Kleid und ihr Lieblingsrock waren gemeinsam mit einigen Hemden und Unterröcken und einem salonfähigen Paar Schuhe in ihrer Packtasche verstaut. Max und Adam nahmen wieder die zwei Packpferde, mit denen sie von Pettau angereist waren mit und Johanna wurde freundlicherweise vom Burgstall ebenfalls ein Pferd für ihr Gepäck zur Verfügung gestellt. Maria hatte ihr einige Geschenke für Freundinnen mitgegeben und von ihrer Großmutter hatte sie ein großes Paket Kuchen und ein Glas ihrer Lieblingsmarmelade mitbekommen. Ihre Stute Loni war an längere Märsche nicht gewohnt und deshalb war Johanna froh, sie nicht auch noch mit dem vielen Gepäck überfordern zu müssen. Sie hatte bequeme braune Rauhlederreithosen und feste kniehohe Reitstiefel an und ein weiches Hemd mit einer ärmellosen Lederjacke. Für den Fall, dass es wieder zu regnen beginnen würde, hatte sie einen warmen, wasserabweisenden Mantel hinter ihrem Sattel befestigt. Vor dem wuchtigen römischen Bergfried hatte sich bereits die Kompanie des Hauptmannes versammelt und war bereit für den Aufbruch. Maria befahl Johanna, ihrer Freundin in der Hofburg ihre Sehnsucht nach einem Brief von ihr auszurichten, was sie ihr aufgeregt versprach.
„Laß mich ja recht bald von dir was erfahren, ja?“ meinte ihre Mutter.
Nach dem tränenreichen Abschied von ihrer Mutter und Maria führten sie ihre Pferde die steile Berggasse hinunter, wo sie in Zwischenbrücken schließlich aufsitzen konnten. Über die Ennsbrücke und Ennsdorf verließen sie die Stadt und wandten sich dem Weg auf den Wachtberg zu. Der Hauptmann hatte vorgeschlagen, diesen Weg zu nehmen, da er ihn bereits von seiner Anreise her kannte und als sicher empfunden hatte. Als Alternative hätten sie auch der Enns bis Mauthausen folgen können, wo diese in die Donau mündete und von dort weiter bis Wien reiten können, doch man hörte immer wieder von Unruhen in Mauthausen wegen Zollstreitigkeiten und auch aus diesem Grund wählten sie den anderen Weg.
Am Wachtberg, auf dem man noch neben dem neuen Wachturm die Ruinen eines römischen Wachturmes ausmachen konnte und der schon in der Römerzeit der Sicherung des Tales diente, warfen sie einen letzten wehmütigen Blick zurück auf Steyr. Das Wetter wurde von Minute zu Minute freundlicher und es versprach noch ein warmer sonniger Tag zu werden.
Johanna blickte in die Runde und betrachtete ihre Reisebegleiter. Max und Adam trugen wieder dieselben ritterlichen Kleider wie bei ihrem Eintreffen in Steyr. Ihre schweren Rüstungen und Waffen waren auf den Packpferden verstaut. Der Hauptmann, heute ganz das ernste Haupt der Truppe, die er selbst aufgestellt hatte, trug ein Kettenhemd, das an den Schultern und Ellenbogen verstärkt war, Knieschoner und seinen Helm. Hart, aber gerecht, sorgte er immer für Disziplin. Seine Männer trugen die Uniform des kaiserlichen Heeres. Johanna hatte in den letzten Wochen bereits alle Soldaten des Reiter-Eskadrons kennen gelernt und alle sehr nett gefunden. Es war ein bunt zusammen gewürfelter Haufen. Aber jeder einzelne war ein Mensch von außergewöhnlichen Qualitäten, wie sie bei diversen Übungskämpfen in Steyr schon bemerkt hatte, als sie sich teilweise mit den Soldaten der Burg gemessen hatten. Da war Thomas, ein großer, blond gelockter Bursch aus Brandenburg, der in etwa ihr Alter haben müsste und sich manchmal etwas schwer tat, den hiesigen Dialekt zu verstehen. Er sah ein wenig wie der Liebesbote Amor aus, schien aber ein etwas melancholisches Wesen zu haben. Wenn man es schaffte, dass er doch lachen musste, zeigten sich an den Seiten kleine Zahnlücken, doch bis auf diesen kleinen Makel sah er aus wie ein Engel, fand Johanna.
Carl, der älteste unter den Männern, war zugleich der engste Vertraute von Leon. Im Laufe der Jahre war er ihm ein wahrer väterlicher Freund geworden. Die beiden hatten schon viel gemeinsam erlebt und bei gemeinsamen Abenden darüber berichtet. Johanna hatte dabei gerne seinen weisen Ansichten gelauscht. Er hatte bereits viel in seinem Leben gesehen und sein Standpunkt hatte immer wieder dazu beigetragen, manche Einstellungen, die sie gehabt hatte, zu überdenken. Bei einer in gemütlicher abendlicher Runde geführten Unterhaltung waren sie auf das Thema der sozialen Unterschiede zu sprechen gekommen. Johanna hatte immer den Standpunkt vertreten, dass eine umfassende Bildung viel dazu würde beitragen können, Gewaltausbrüche zu verhindern. Sei es in den armen Familien, in denen die Eltern ihre Kinder schlugen oder bei nachbarlichen Streitigkeiten, wo es immer wieder zu Eskalationen kam und sich die Rivalen bis aufs Blut bekämpften.
Carl hatte damals von einer Begebenheit erzählt, die sich während eines Feldzuges in Sizilien ereignet hatte. Er war mit seiner Einheit in türkische Gefangenschaft geraten. Man hatte sie in ein dreckiges Verlies an Bord einer Galeere gesperrt und ihre Arbeitskraft an den Rudern ausgebeutet. Der Wasserschlauch und die wenigen Brocken Brot, die den Gefangenen nach stundenlanger Schwerstarbeit in der sengenden Sonne zugestanden wurden und bei weitem nicht ausreichten, um alle zu ernähren, hatten zu erbittertsten Kämpfen unter den eigentlichen Waffengefährten geführt. Jeder, gleich welchen Ranges oder welcher Bildung, musste um sein eigenes Überleben kämpfen, auf Freundschaften oder Gerechtigkeit hatte keiner mehr zählen können. Damals hatte er gelernt, dass Menschen, die nicht wissen, wie sie überleben sollen, zu Allem fähig werden und wie wilde Tiere nur noch vom Instinkt zu überleben geleitet werden. Aus dieser Erfahrung heraus hatte er eine für einen Soldaten ungewöhnlich Einstellung zum Krieg erfahren. Denn jede kriegerische Auseinandersetzung, welche auch die Menschen eines Landes betrifft, indem man ihnen das Dach über dem Kopf niederbrennt und das Essen und Trinken verweigert, würde die selben Reaktionen herbeiführen. Den Hass auf den Feind schüren und eine objektive Sicht der Dinge unmöglich machen. Gleiches konnte natürlich auch bei ungerechter Behandlung durch die politische und klerikale Obrigkeit passieren und er hatte so auch ein Argument zu den derzeit in manchen Gegenden tobenden Bauernaufständen geliefert.
Carl mochte wohl schon an die fünfzig sein. Sein Haar war schon etwas licht und der kurz geschnittene Vollbart schon ziemlich silber. Er hatte warme braune Augen und einen breiten, meist lächelnden Mund. Seine Gesichtshaut war braun und wirkte wahrscheinlich durch Wind und Wetter etwas ledrig. Johanna fühlte sich in seiner Nähe geborgen und mochte den meist schweigsamen Mann.
Dann war da Albrecht, der Jüngste, wie Tom kam er aus dem Norden Deutschlands. Er war ein hellhäutiger schlaksiger Typ von besonders freundlichem Wesen, der stets ein Lächeln parat hatte, wenn sich ihre Blicke zufällig trafen. Harald, der meist ernst blickende Tiroler, vielleicht etwas jünger als der Hauptmann, war ein dunkler, muskulöser Typ mit kurzem schwarzem Haar und Kinnbart und hatte einen köstlich trockenen Humor. Martin hatte etwas von einem wilden Wikinger, wie sie sich Johanna immer vorgestellt hatte. Sein aschblondes Haar hing ihm glatt und strähnig bis auf die Schulter und seine Armen waren mit wilden Zeichen tätowiert. Den Oberlippenbart trug er bis um die Mundwinkel und unter der Unterlippe, den Rest hatte er abrasiert. Sie alle waren ein eingespieltes Kommando und vertrugen sich auch untereinander bestens. Die Stimmung war locker, ständig machte irgendwer eine lustige Bemerkung. ohne dabei die nötige Aufmerksamkeit für die Umgebung vermissen zu lassen. Sie ritten mit Rücksicht auf die Packpferde zumeist im gemächlichen Schritt und hatten es in diesem Tempo am frühen Nachmittag bis an die Donau geschafft. Mit einer Fähre waren sie ans andere Ufer übergesetzt, da dort der Weg für die Händler und Reisenden besser befestigt war.
Ab hier war der Weg nicht mehr nur für Pferde benutzbar. Der zunehmende Warenverkehr erforderte anstelle der Packpferde den vierrädrigen Wagen und dieser benötigte einen festen Unterbau. Nicht alles konnte am Wasser transportiert werden. Als sie bei der schönen Burg Grein vorüber ritten, wäre Johanna bereits am liebsten dort geblieben, um die Nacht in sicheren vier Wänden zu verbringen. Doch der Hauptmann berichtete, dass der Burgvogt Johann Löbl einer der kaiserlichen Räte war und nicht unbedingt zu den Vertrauten seines Königs zählte und sah deshalb davon ab, in der Burg um Unterbringung anzufragen. Er wusste zwar nicht, ob der kaiserliche Vertraute überhaupt anwesend war, doch erschien ihm ein respektvoller Abstand dennoch angebracht. Obwohl man ihnen die Gastfreundschaft sicher nicht verwehrt hätte. Johannas sehnsüchtiger Blick war ihm nicht entgangen und so meinte er, nachdem sie die kleine Stadt Grein etwas hinter sich gelassen hatte: „Wir bleiben hier, in Gottes Namen.“ So, wie er bei Aufbruch aus der Steyrburg gemeint hatte, „Brechen wir auf, in Gottes Namen.“ Johanna gefiel die Art, wie er jedes Vorhaben in Gottes Namen anfing und beendete, wie es auch unter den einfachen Leuten der Brauch war. Der Platz, den der Hauptmann ausgesucht hatte, lag am Eingang zu einer überaus romantischen Schlucht. Hier schoss ein kleiner Bach in einem Wasserfall zwischen den Felsen hindurch und mündete in die Donau.
Noch war die Sonne nicht untergegangen, doch ihre Strahlen brannten nicht mehr so heiß herab wie in den Stunden zuvor. Johanna fühlte sich elend. An so lange Ritte war sie nicht gewöhnt. Ihre Beine, in denen sie bereits nach der kurzen Mittagsrast Muskelschmerzen gespürt hatte, fühlten sich steif an, als sie langsam aus dem Sattel glitt und der scharfe Schweiß brannte an der Innenseite ihrer Oberschenkel. Sie zog ihre ledernen Reitstiefel aus und wunderte sich, dass kein Dampf von ihren verschwitzten Füssen hochstieg, es hatte Backofentemperatur in ihnen geherrscht.
Sie sah, wie Max und der Hauptmann die Pferde zur Flussmündung führten, um sie zu tränken und abzureiben. Die Soldaten begannen ein Lager herzurichten. Adam hingegen hatte sich wie sie bereits seiner Stiefel entledigt und steuerte eine Stelle des klaren Baches an, die tief genug zum Baden schien. Er hatte gerade seine Hose ausgezogen, als sie sich von hinten an ihn heranschlich und ihn mit einem kleinen Schubs ins kühle Nass beförderte. Er kam prustend hoch und warf das lange nasse Haar zurück. Während sie noch lachend ihre enge verschwitzte Hose abstreifte, spritzte er sie gehörig nass. Sie suchte sich, nur mit ihrer Tunika bekleidet, welche immerhin einen Großteil ihrer Oberschenkel bedeckte, über die glitschigen Steine vorsichtig einen Weg in das verlockend kühl wirkende Nass. Sie ließen sich genussvoll eine Zeit lang auf dem Rücken treiben und wuschen sich und ihre Haare mit dem klaren Wasser.
Max und Leon hatten ebenfalls die Stiefel ausgezogen und sich mit beiden Händen das erfrischende Flusswasser über Gesicht und Kopf gegossen, nachdem sie die Pferde so an einem Baum festgebunden hatten, dass sie noch bequem im Schatten stehend mit gebeugten Hälsen an die bei dieser Hitze lebensnotwendige Flüssigkeit gelangten. Die beiden hatten sich gerade in die Hocke begeben, um ihre Wasserflaschen neu zu befüllen, als sie Adam und Johannas kichernde Stimmen durch die Sträucher hindurch vernahmen, die ihnen aber die Sicht auf die Zwei verbargen.
Leon blickte Max verstohlen an und wartete auf dessen Reaktion. Der hatte sich erhoben und Leon konnte sehen, wie sich seine Gesichtszüge verhärteten. Als er sich ebenfalls aufrichtete, um über die Büsche zu spähen, hatten sie einen direkten Blick auf die im Wasser Plantschenden. Adam hatte sich von hinten an Johanna herangemacht und dreist seine Hände unter ihre vom Wasser aufgeblähte Tunika gesteckt. Als er versuchte, ihre vom kühlen Fluss fest gewordenen Brüste mit den Händen zu berühren, wehrte sie sich, eine Spur zu wenig entrüstet, dagegen. „Dein Bruder macht sich an dein Mädchen heran!“ stellte Leon mit erstauntem Unterton in seiner Stimme fest.
„Sie ist nicht mein Mädchen, du weißt so gut wie ich, dass wir gerade auf dem Weg zu meiner, vom Erzherzogs geplanten, baldigen Verehelichung sind, oder etwa nicht?“ kam die gepresste Antwort von Max. Er konnte seine Gereiztheit aber nicht vor ihm verbergen.
„Du weißt schon, was ich meine. So wie sie dich ständig anhimmelt, müsste man schon blind und taub sein, um nicht zu bemerken, wie verliebt die Kleine in dich ist und du hast doch jetzt wochenlang ihre Bewunderung genossen, wie mir scheint. Warum glaubst du, hat sie darauf bestanden, mit nach Wien zu kommen? Doch nur, um vielleicht doch noch deine geplante Heirat zu verhindern, oder hast du ihr Märchen, eine feine Hofdame werden zu wollen, etwa geglaubt? Denn das habe selbst ich nicht getan, obwohl ich sie noch nicht so lange kenne wie du!“ versuchte er ihn anzustacheln.
Er wusste selbst nicht, warum er das tat, es war sonst nicht seine Art, sich in anderer Menschen Privatangelegenheiten zu mischen, aber er war wohl der Einzige hier, der wusste, was Max tatsächlich in Wien erwarten würde. Es kamen sicher harte Zeiten auf die drei jungen Menschen zu und es blieben nur noch wenige Tage bis sie die Residenzstadt erreichten. Er fand es deshalb hoch an der Zeit, dass sich Max und Johanna endlich zu ihren wahren Gefühlen zueinander bekannten, sonst würde ihre Beziehung vielleicht für immer und ewig ein unerfüllter Traum bleiben, dem sie ihr ganzes Leben lang nachtrauern würden. Möglich, dass das der bessere Weg wäre, aber obwohl er selbst bisher nichts für romantische Gefühle übergehabt hatte, konnte er ihre Sehnsucht nach diesen einigermaßen verstehen. Es war fast zu dramatisch, wie die beiden immer und immer wieder aneinander vorbeikommunizierten. Was Johanna zuviel an Temperament besaß, hatte Max zuwenig. Sie forderte ihn häufig regelrecht heraus, zu handeln, aber er ließ sich aufgrund seiner hochgeschraubten moralischen Bedenken und bei dem Ernst, der ihm innewohnte, nicht darauf ein. Darauf reagierte das Mädchen stur und zog sich zurück.
Instinktiv wusste er, die beiden würden sich, wenn sie es nur endlich zuließen, gut ergänzen. Eigentlich hoffte er auch, Johanna könne in Max eine Selbstsicherheit wecken, die diesen aus seiner Reserve würde locken können. Dieses ewige Zaudern und Warten würde er sich in Zukunft abgewöhnen müssen.
Er sah, wie Max fest seine Lider schloss und mit seinen Gefühlen zu hadern schien. Natürlich hatte Max nie geglaubt, dass Johanna nur wegen des Hoflebens mit ihnen gereist war, im Grunde musste er schon lange wissen, dass eine magische Anziehungskraft zwischen ihm und Johanna entstanden war. Wahrscheinlich war ihm, als er schließlich fast den Mut gefunden hatte, ihr seine Gefühle für sie zu offenbaren, nur sein Eintreffen mit der Nachricht vom Erzherzog und der Befehl, sich wegen seiner bevorstehenden Heirat am Hof einzufinden, dazwischen gekommen.
Leon konnte sich auch denken, was Max vor hatte. Er würde versuchen, in einem vertraulichen Gespräch den Erzherzog davon zu überzeugen, diese Vermählung noch einmal zu überdenken und bis dahin hielt er es für das Beste, Johanna seine wahren Gefühle zu verschweigen, dieser Narr. In seinem Bemühen, immer korrekt zu handeln, wollte er ihr nicht wehtun, wenn sich die Dinge am Hof nicht nach seinen Vorstellungen entwickeln sollten. Er hatte den Burschen wirklich gerne und er wollte deshalb vermeiden, dass sich dieser ewig für eine verpasste Gelegenheit grämen musste.
Also zwang Leon sich, ihn weiter anzustacheln: „Glaub einem alten Hasen wie mir,“ hatte er plötzlich einen melancholischen Tonfall in seiner dunklen Stimme, „Glück findest du nur selten, wenn du es planst. Man muss schon im rechten Moment zupacken, sonst kann es sein, dass es dir entschlüpft, wie ein gefangener Vogel. Wir sind viel zu kurz auf dieser Erde und sollten jede Gelegenheit der Glückseligkeit beim Schopf packen und dazu gehört auch die Liebe, vor allem die Liebe – sie ist wie ein Kampf, in dem ein Mann sich beweisen muss!“
Max warf ihm einen fast spöttischen, kritischen Blick zu, immerhin war es ein offenes Geheimnis, dass Leons Ehe gescheitert war, doch er zögerte noch immer. Leon schlug ihm mit der Hand auf die Schulter. Er zwinkerte ihm aufmunternd zu, hatte dabei aber einen energischen Zug um den Mund, der versprach, dass er dieses Mal keine Ausrede anerkennen würde. Schließlich straffte sich Max und drückte ihm seine Wasserflasche in die Hand. Anscheinend hatte sein Bemühen Erfolg. Max ging um die Sträucher herum auf die Stelle zu, wo Johanna und Adam gerade gegenseitig versuchten sich unterzutauchen.
Als Adam seinen Bruder mit ernstem Gesichtsausdruck herankommen sah, ließ er schuldbewusst von Johanna ab und erwiderte den grimmigen, vorwurfsvollen Blick mit der Miene eines jovialen Verlierers. Ein wenig genervt meinte er: „Mein Gott, tu nicht immer so erwachsen!“.
Johanna war, als sie die Reaktion von Adam wahrgenommen hatte, ebenfalls der Spaß vergangen und sie hatte sich zum Ufer umgewandt, um zu sehen, was ihn zu der Bemerkung verleitet hatte. Mit ausdruckslosem Gesicht streckte ihr Max seine Hand entgegen und half ihr aus dem Wasser. Völlig überrumpelt nahm sie seine Hilfe an. Das nasse Hemd klebte jetzt durchsichtig an ihrem Körper und gab mehr davon preis als es verbarg. Max gab ihr schnell das große Tuch, das er vorhin zum Abtrocknen benutzt hatte und über der Schulter getragen hatte und meinte lakonisch und bedeutungsschwer auf Johannas nackte Beine blickend in Adams Richtung: „Falls du es noch nicht bemerkt hast, wir sind jetzt erwachsen!“
Johanna musste kurz schlucken. So ernst hatte sie Max bis jetzt nie erlebt. Sie fürchtete sich davor, unbewusst seinen Ärger erregt zu haben und schlang schnell das Tuch um ihren Körper. Max wandte ihr den Rücken zu und wartete, bis sie in ihre Hose geschlüpft war, was, so nass wie sie war, nicht gerade ein einfaches Unterfangen war. Sie starrte währenddessen auf seine gespannten Schultern und als sie die Hose schließlich mühsam über ihre noch feuchten Hüften gezogen hatte umschlang sie mit einem Arm seine Hüfte und warf ihm einen um Entschuldigung bittenden lächelnden Blick zu, von dem sie hoffte, er würde treuherzig genug ausfallen um seine Stimmung wieder zu heben. Ohne einen Blick zu Adam zu werfen ging sie an seiner Seite zurück zum Lager, wo die Männer bereits über einem Feuer Würste brieten und nichts von den Geschehnissen am Wasser mitbekommen hatten.
Das Wetter war den ganzen Tag über schön geblieben und so hatten sie beschlossen, dass es nicht nötig sein sollte ein Zelt aufzuschlagen. Sie aßen eine Ration des mitgebrachten Proviants am Lagerfeuer. Johanna musste zusehen, halbwegs satt zu werden, denn vor den Burschen schwand die Speise so schnell dahin, wie wenn der Wind sie ganz schnell verweht hätte. Ein langsamer Esser hatte dabei immer das Nachsehen. Nachdem sich der Hauptmann und Carl ein Pfeifchen gestopft hatten und es behaglich pafften, lauschte Johanna begierig den verschiedenen Geschichten und Abenteuern, von denen abwechselnd erzählt wurde. Immer wieder wurden auch politische Themen angesprochen, von denen Johanna zwar recht wenig Ahnung hatte, die aber ihre Neugier weckten. So hatte sie aus den Gesprächen herausgehört, dass der Kaiser und der Erzherzog, obwohl sie Brüder waren, sich gegenseitig manchmal zu misstrauen schienen und es unter ihren Vertrauten anscheinend häufiger zu Intrigen kam. Wie schwierig mochten dann erst die Verhältnisse zu anderen Herrscherhäusern sein! Johanna konnte es nur vage erahnen. So erfuhr sie auch, dass, bevor es Kaiser Karl vor vier Jahren endlich gelang, den seit über 25 Jahre dauernden Konflikt mit Frankreich durch ein Friedensabkommen zu entschärfen, der allerchristlichste Ritterkönig Frankreichs, Francois le Roi-Chevalier, mit Sultan Suleiman einen Bündnisvertrag abgeschlossen hatte, nur um Kaiser Karl damit in Schach halten zu können und somit seinen eigenen Machtbereich vergrößern zu können. Der französische Dauphin Heinrich hatte bereits gegen dieses Friedensabkommen mit dem Kaiser protestiert und nun nach dem Tod seines Vaters würde sich die Lage wahrscheinlich wieder verschlechtern.
Aus dem Unterricht wusste sie zwar, dass die Fehde mit Frankreich bereits seit der Regentschaft Kaiser Maximilians bestand und ausgelöst wurde, als dieser die burgundische Erbin Maria, die damals die begehrteste hocharistokratische Erbtochter Europas war, ehelichte und damit die Gegnerschaft des französischen Königs herausforderte. Es wurde zwar damals eine Teilung des Erbes beschlossen, doch sowohl der jetzige Kaiser Karl, wie zuvor auch schon dessen Vater Phillip der Schöne, fochten diesen Vertrag an.
König Franz von Frankreich hatte sich damals überdies nach dem Sieg über die Schweizer und der damit verbundenen Eroberung Mailands erhofft, durch ein Konkordat mit dem Papst selbst Kaiser des heiligen römischen Reiches zu werden. Frankreich war bei seinem Machtantritt immerhin der militärisch und politisch stärkste Staat Europas. Nachdem ihm dies nicht geglückt war hatte er immer wieder die Entscheidung auf kriegerischem Wege zu erzwingen gesucht, wobei er überdies in Gefangenschaft des Kaisers geriet und dies wohl noch dazu als weitere Demütigung empfunden hatte. Im Zuge seines Abgrenzungskrieges zum heiligen römischen Reich hatte er in Frankreich sogar Latein durch Französisch als Amtssprache ersetzen lassen. Nicht einmal die Heirat mit der Schwester des Kaisers, Eleonore von Österreich, konnte den französischen König versöhnlich stimmen. Obendrein blieb diese Ehe kinderlos.
Johanna hielt dennoch diesen Bündnisvertrag mit den Türken für äußerst kurzsichtig. Dem französischen König war es gelungen, wie ein Fels gegen die Ausbreitung der Reformation im eigenen Land zu trotzen, jemand wie er hätte den Kaiser sicher optimal bei dieser Herausforderung unterstützen können, wenn er seinen Egoismus hintanstellen hätte können. Konnte man so manchen Berichten der Händler und Reisenden Glauben schenken, so beschrieben diese Franz als Freund der Künste und Förderer der Wissenschaft, also als durchaus aufgeschlossenen, intelligenten Menschen, der als Gründer des Absolutismus, wie man den von ihm eingeführten Verstaatlichungsprozess nannte, die Aufstellung stehender Heere, den Aufbau eines Beamtenapparates, die Einbindung der Kirche in das Staatswesen und die Errichtung eines merkantilistischen Wirtschaftssystems. Gleichzeitig führte er aber auch ein intensives, dekadentes, höfisches Leben
Aber ihr fehlte auch der nötige Einblick ins aktuelle politische Geschehen. Doch seit sie auf der Welt war, wurden die moslemischen Türken als reelle Bedrohung angesehen und dieses Feindbild trübte möglicherweise ihre Objektivität. Leon hatte einige Male von Verhandlungen und Zusammentreffen mit den Türken berichtet und von dem Dilemma, in dem sich der Erzherzog befand. Es gab nur zwei Möglichkeiten. Entweder einem Waffenstillstand mit dem Sultan zuzustimmen oder sich, so wie es das Papsttum sich vorstellte, sich gegen die Osmanen zu stellen und sich damit dem militärisch überlegenen Heer auszusetzen. Die Option eines modus vivendi war also politisch vernünftig und gefährdete die Existenz des ungarischen Königreiches, das seit der Eroberung Budas und Ofens im Jahre 1541 in drei Teile aufgeteilt war, in das habsburgische königliche Ungarn, das von den Osmanen besetzte und verwaltete Zentralungarn und in das Fürstentum Siebenbürgen, welches ebenfalls vom osmanischen Reich kontrolliert wurde, am wenigsten. Der Kaiser war in dieser Sache anscheinend keine Hilfe. Für ihn war Ungarn nur am Rande interessant und nur ein weiteres lästiges Problem. Ein Kriegsschauplatz, auf dem nicht zuletzt die Rivalität zu Franz mit entschieden wurde, aber vor allem eine politische und finanzielle Belastung und ständig wiederkehrender Verhand-lungsgegenstand auf den Reichstagen. Durch sein Verhalten, das die Leute auch mit „päpstlicher als der Papst“ umschrieben, schlugen sich auch von Seiten der Kirche seine früheren Zwistigkeiten mit derselben nieder. Als seine Armee Rom belagert hatte und einen Nutzen aus der Gefangennahme des Papstes ziehen wollte, oder als er den Schriftwechsel mit dem Papst drucken und an die Liga von Cognac, sowie an die europäische Öffentlichkeit gelangen ließ, bezog er sich auf die antikaiserliche Politik der Kurie und sprach die Befürchtung aus, der Krieg würde zum Ruin der Kirche und der Zerstörung der christlichen Gemeinschaft führen, er hingegen setze seine Kräfte gegen Häretiker und Osmanen ein. Ein allgemeines Konzil stand so seither immerhin drohend im Raum.
Überdies hatte sie bei Leons Berichten, der als Leibgarde des Erzherzogs stets auch bei den persönlichen Zusammenkünften mit dem Sultan zugegen gewesen war, durchaus den Eindruck gehabt, dass die Türken nicht nur Böses im Schilde führten, sondern eher, wie damals auch die Kreuzritter im Heiligen Land, von ihrem Glauben besessen waren und deshalb felsenfest davon überzeugt waren, wenn nötig mit Gewalt die restliche, in ihren Augen ungläubige, Welt bekehren zu müssen. Der Sultan stellte Weltherrschaftsansprüche, die sich auf die mongolische Tradition bezogen. Eine Konfliktlösung auf Dauer schien unmöglich.
Sahen sie denn nicht ein, dass die Religionen alle nur dieselben Botschaften beinhalten und nur ihre Propheten anders hießen? Doch aus eigener Erfahrung wusste sie nur zu gut, wie schwer es war, gegen festgefahrene Meinungen und Vorurteile anzukämpfen.
Die Luft war angenehm lau und der leichte Windzug, den der Fluss mitbrachte, würde sie in der Nacht angenehm kühlen. Johanna hatte die angespannte Stimmung zwischen Max und Adam den ganzen Abend über gespürt und auch gesehen, wie der Hauptmann immer wieder interessiert zu ihnen herübergeblickt hatte. Sie hatte anfangs halbherzig versucht, mit ein paar Scherzen eine Unterhaltung in Gang zu bringen, doch sie hatte wenig Erfolg damit gehabt. Als es dunkel wurde, zog sie sich müde zu ihrem Schlafplatz zurück und entledigte sich ihrer Hose unter der dünnen Decke.
Auch die anderen zogen sich, sobald das Feuer erloschen war, zurück und nur der Hauptmann blieb an einem Felsen lehnend stehen, um die erste Wache zu übernehmen. Johanna blickte zu den Sternen, die am klaren Himmel schön zu erkennen waren und fühlte sich plötzlich sehr einsam. Eine kleine Träne löste sich aus ihrem Augenwinkel und zog eine Spur bis sie ihren Haaransatz benetzte. Was stand bloß zwischen ihr und Max, dass er ihre Liebe nicht erwiderte, dachte sie zum wiederholten Male verzweifelt. Er musste doch längst wissen, dass Adam ihr nicht so viel bedeutete wie er. Sie dachte an die tiefen Blicke, die sie in den letzten Wochen getauscht hatten und erinnerte sich an den warmen Ausdruck seiner schwarzen Augen, an die vielen zufällig wirkenden Berührungen, die doch so viel mehr waren als Zufall. Mit diesem Gedanken fielen ihr schließlich die Augen zu und sie fiel in einen tiefen traumlosen Schlaf.
Johanna spürte die Anwesenheit eines Menschen im Dunkeln, doch bevor sie reagieren konnte legten sich sanft zwei warme Finger auf ihre Lippen. Sie spürte keine Bedrohung und als sie ganz wach war, erkannte sie nach einigen Sekunden, in denen sich ihre Augen an das leichte Mondlicht gewöhnten hatten, die neben ihr hockende Gestalt von Max. Er deutete ihr, keinen Lärm zu machen, und schob seine Hände unter ihre Knie und ihren Nacken. Vorsichtig erhob er sich mit ihr im Arm und Johanna schloss wie im Traum ihre Arme um seinen Nacken und legte ihre Stirn an seine Schulter. Sie spürte seinen Atem und wusste es war kein Traum, sie fühlte sich plötzlich wie trunken vor Liebe.
Der Hauptmann schaute zu ihnen herüber und bedeutete Max mit einem kurzen Nicken, dass alles in Ordnung sei. Mit Johanna im Arm wandte dieser sich einer, hinter ein paar Büschen versteckten, Stelle zu, wo er bereits seine Decke ausgebreitet hatte.
Er ließ sich auf die Knie hinab und legte Johanna behutsam nieder. Sie wollte ihre Arme nicht von seinem Nacken lösen und so waren ihre Gesichter sich ganz nah. Johanna spürte seinen tiefen Atem und erkannte im Mondschein ein Glitzern in seinem tiefen Blick. Sie meinte ihre beiden Herzen im Gleichtakt schlagen zu hören. Unglaublich langsam kam sein Mund dem ihren näher und als ihre Lippen sich sanft berührten schloss sie mit einem leisen, zufriedenen Seufzer ihre Augen. Max hielt mit einer Hand ihre Hüften umfangen und die zweite Hand stützte warm ihren Nacken. Verzweifelt hoffte Johanna wieder, dies möge kein Traum sein, doch sie spürte Max raue Bartstoppel an ihrer Wange und spürte wirklich seine warmen Lippen auf den ihren. Vorsichtig bewegte sie ihre Lippen und zog Max Mund noch fester auf den ihren. Sie hatte schon von Zungenküssen gehört, doch als sich jetzt wie von selbst ihre Lippen öffneten und weich ihre Zungen aneinander trafen, meinte sie vor Glück vergehen zu müssen. Max Kuss wurde immer fordernder und sie spielte dieses Spiel gerne mit. Leicht und spielerisch, alles um sie herum vergessend, knabberten sie sich gegenseitig in die Unterlippe und verschlangen immer wieder ihre Zungen sinnlich ineinander. Sie wollte, dass dieser Moment niemals endete, doch Max ließ sie schließlich auf die Decke sinken, um schnell sein Hemd über den Kopf zu streifen und seine Hosen auszuziehen. Im Licht der Sterne betrachtete sie seinen schönen Körper und sie spürte, wie ihre Brustwarzen dabei hart wurden. Vorsichtig zog er schließlich auch ihr ihre Tunika über den Kopf und senkte wieder seinen Mund auf ihren.
„Ich liebe dich Johanna, mehr als mein Leben, mehr als mich selbst, als alles auf der Welt!“ wisperte er ihr mit rauer Stimme ins Ohr und Tränen des Glücks schossen in ihre Augen. Er bemerkte es und küsste sie sogleich weg. „Ich hätte es dir schon viel früher sagen müssen.“
Seine samtige Zunge leckte die salzige Flüssigkeit von ihrem Gesicht und wanderte dabei immer weiter hinab, über ihr Kinn, den Hals zu der Stelle wo das Brustbein endete. Er kniete sich breitbeinig über Sie und seine Hände umfingen ihren Rücken. Sie streckte den Rücken zum Hohlkreuz und wölbte ihm ihre Brüste entgegen. Max setzte sein Spiel mit der Zunge fort und leckte sanft über ihren Busen. Als er bei den festen Spitzen angelangt war, umschloss sein Mund sie und er saugte vorsichtig daran und spielte mit seiner Zunge um die harte Brustwarze herum. Johanna meinte, vor Verzückung vergehen zu müssen und krallte ihre Finger mit einem leisen Stöhnen in sein kurzes Haar. Seine Lippen wanderten nach einiger Zeit langsam weiter hinunter zu ihrem Nabel und seine warmen Finger streichelten über ihren Bauch. Diese Berührung versetzte Johanna in eine leidenschaftliche Erregung und wieder drang ein Stöhnen aus ihrer belegten Kehle. Ihr ganzer Unterleib schien in Flammen zu stehen und sie spürte, wie sich in ihrem Körper alles lustvoll anzuspannen schien. An ihrer intimsten Stelle spürte sie einen süßen verzehrenden Schmerz und sie wünschte sich nichts mehr, als dass Max ihn lindern sollte. Mit seinem Knie zwang er ihre leicht angewinkelten Beine auseinander bis er dazwischen Platz fand. Seine Hände umschlossen sanft ihren Busen und mit dem Handballen massierte er ihn ganz leicht und küsste dabei ihren Bauch. Seine Finger und Lippen wanderten immer weiter ihren Körper hinab und Johanna wollte ihn wieder zu sich hochziehen. Doch er bedeutete ihr, indem seine Hände mit sanfter Gewalt ihre Handgelenke neben ihrem Körper festhielten, sie solle ihn gewähren lassen. Als sie seine Zunge schließlich an ihrer pochenden Vagina spürte, meinte sie vor Verlangen zu vergehen. Sein warmer weicher Mund kostete von ihr und seine Zunge versuchte mit festem Druck ihre Erregung ins Unendliche zu steigern. Johanna hatte das Gefühl, nicht atmen zu dürfen, um diesen Augenblick nicht zu zerstören. Sie drückte ihren Kopf fest gegen die Decke und wölbte ihm ihren Körper begierig entgegen. Sie verspürte eine tiefe Anspannung unter Max fordernder Zunge und plötzlich hörte sie ihr Blut im Kopf rauschen, zuerst leise dann immer lauter, und ein unglaublicher Glückstaumel überkam ihren ganzen Körper. Sie spürte einen Schwall warmer Flüssigkeit aus ihrem Körper fließen und keuchte dabei erregt. Max hatte auf diese Reaktion gewartet und legte sich vorsichtig auf sie, indem er sich mit den Ellbogen seitlich abstützte, um sie nicht mit seinem Gewicht zu erdrücken und drang in sie ein. Johanna klammerte sich an ihn und rieb sich an seiner Brust. Sie öffnete kurz die Augen und blickte in sein ebenfalls erregtes Gesicht. An seinen Schläfen traten die Adern hervor und seine Augen waren konzentriert geschlossen. Sie versuchte ihn zu küssen, doch er musste sich zu sehr beherrschen, um ihr nicht weh zu tun, um ihren Kuss zu erwidern. Sanft begann er sich in ihr zu bewegen und als sie seinen Rhythmus aufgriff, wurden seine Stöße härter. Johannas Finger umfingen seinen festen Hintern und unterstützten seine Bewegungen. Er konnte sich nicht mehr zurückhalten und nach einem letzten tiefen Stoß ergoss er sich warm in ihr. Nach diesem kurzen Moment der Ekstase rollte er sich, Johanna mit sich ziehend, auf den Rücken und brauchte ein paar Sekunden, um wieder klar im Kopf zu werden. Er spürte dass ihre Körper noch immer vereinigt waren und genoss dieses Gefühl genauso wie sie. Er spürte eine salzige Träne an seinem Mund und fragte leise „Habe ich dir weh getan, Prinzessin?“
„Nein, das Gegenteil!“ drang ihr leises Flüstern an sein Ohr. „Ich glaube, ich muss vor Glück zerspringen. Lass mich bitte nicht mehr los.“ So fühlte es sich also an, wenn sich zwei Seelen vereinigten, dachte sie erstaunt. So hielten sie sich fest umfangen und schliefen, nachdem sie noch einen innigen Kuss gewechselt hatten, zufrieden und wohlig gemeinsam ein.
Im ersten Morgengrauen erwachte Johanna durch das Zwitschern eines Vogels. Sie lag noch immer in Max` Armen und würde ihn bei der kleinsten Bewegung wecken. Sie regte sich vorsichtig und küsste ihn sanft auf den Mund. Sofort umfingen sie seine Arme fester und drückten sie an seinen Körper. Sie wechselten einen tiefen Blick, in dem alle Gefühle dieser Erde zu liegen schienen, Liebe, Glück, Zufriedenheit und auch Wehmut.
„Ich schleiche mich lieber zurück zu meinem Platz, bevor die anderen aufwachen.“ flüsterte Johanna ihm leise zu.
Max zog sie nochmals an sich und küsste sie innig. Dann lockerte er seinen Griff und sah ihr zu wie sie sich auf Zehenspitzen zurück ins Lager schlich. Die anderen mochten nur, falls sie bereits wach waren, denken, sie käme von der Notdurft zurück. Er wartete eine Weile und schlich dann selbst zurück.
Endlich hatte sie also von der Wonne der Liebe gekostet. Sie fühlte sich leicht wie eine Feder und dachte, jedermann müsste aus ihrem Gesicht ablesen können, was diese Nacht geschehen war. Doch die anderen Männer gingen ihren üblichen Tätigkeiten nach und keiner blickte sie forschend oder belustigt an. Ihr Liebesabenteuer war also unbemerkt geblieben.
Max half ihr beim Beladen des Packpferdes und danach beim Aufsitzen, das durch so manch schmerzende Körperteile nicht gerade mühelos fiel. Wie zufällig verharrten seine Hände etwas länger als schicklich war auf ihrem Körper, trafen sich ihre Finger und Blicke. Sie meinte, ihr strahlendes Gesicht müsste sie verraten, doch niemand schenkte ihnen besondere Aufmerksamkeit.
Einige Zeit ritten sie beisammen, bis Adam hinter ihnen Max etwas zurief, was er nicht verstehen konnte und deshalb sein Pferd zügelte. Thomas und Albrecht bildeten die Nachhut. Der Hauptmann und Carl führten die Kompanie an, dicht gefolgt von Johanna und ihrem Packpferd. Dahinter ritten Harald und Martin und nun Max und Adam.
Es war ein warmer Sommertag, doch einige kleinere Wolken machten die Hitze ab und zu erträglicher. Manchmal führte der Weg durch einen schattigen Wald. Meist konnte man das Rauschen der Donau vernehmen, an der sich der Weg meistens entlang wand. Johanna fühlte sich wunderbar, sie wusste, dies ist der schönste Tag in ihrem bisherigen Leben.
Es war die Zeit der ersten Grummetmahd. Auf den Wiesen waren die Bauern damit beschäftigt ihre Sensen zu dengeln und das saftige Grün damit umzumähen. Mit Grasbüscheln wischten sie vor dem Dengeln die scharfen Klingen ab. Die Sonne würde das Gras schnell trocknen und die erste Heuernte dieses Jahres würde wegen des schönen Wetters besonders gut ausfallen. Der Duft der frisch gemähten Wiesen und Kräuter erfüllte die Luft. Ein Bauer mit einem großen Fachtl Heu auf seinem Ochsenkarren kam ihnen entgegen und sie mussten ihm ausweichen, da der Weg nicht breit genug war.
Leon hatte ihnen am Vorabend seine Absicht kundgetan, bis nach Melk zu reisen und dort beim Stift wieder die Donau zu überqueren und im Kloster um Unterkunft zu bitten. Die Etappe würde nicht ganz so anstrengend sein wie der Vortag und so beschloss Johanna, sich ganz der schönen Landschaft zu widmen. Als die Männer eine Rast eingelegt hatten, um zu jausnen, hatte sich der fehlende Schlaf bei ihr bemerkbar gemacht und Max hatte sie liebevoll geweckt als es Zeit war, die letzte kurze Strecke in Angriff zu nehmen. Sie war noch etwas benommen und schlaftrunken und bedauerte, dass die kurze Pause, die ihr nur vergönnt war, so schnell vorüber gewesen war. Im Herzen war sie voll Seligkeit, schwelgte in der neuen Gegenwart, und dachte kaum an die Zukunft.
Plötzlich hörte sie einen Warnruf und im selben Moment brach ein Tumult aus. Die Männer der Eskorte zogen ihre Schwerter und waren binnen Sekunden in einen schweren Kampf verstrickt.
Wie in einer Vision erinnerte sie sich plötzlich daran, dass sie sich gerade noch über den misstrauischen Blick des Hauptmanns gewundert hatte, mit dem er sich zu ihnen umgewandt hatte. Die harmlos wirkende Gruppe blau behoster Soldaten, die sie gerade passiert hatte und denen Johanna keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte, waren offensichtlich bezahlte Söldner und griffen sie aus irgendeinem Grund aus dem Hinterhalt an.
Sie hörte im selben Moment den Rückzugsbefehl des Hauptmanns. So schnell sie konnte zog sie erschrocken mit fahrigen Fingern ihren Dolch aus dem Stiefel und versuchte, sich einen Überblick zu verschaffen. Zwei der Husaren der Eskorte, sie vermutete Thomas und Albrecht, die direkt hinter ihr geritten waren, wurden von den Angreifern attackiert und wahrscheinlich schwer verletzt von den Pferden gestossen und auch der Rest des Trupps befand sich bereits stark in Bedrängnis. Sie hatte zu tun, um Loni und das angehängte Packpferd am Durchgehen zu hindern und blickte sich suchend nach Max um. Sie spürte ihr Herz pochen und fühlte wie ihr die Knie weich wurden, als sie sah, wie mindestens sechs der Fremden auf ihn und Adam eindrangen. Die Angreifer waren zumindest doppelt so viele Männer, wenn nicht noch mehr als ihre Kompanie. Sie fühlte sich wie gelähmt im Angesicht der Übermacht der Angreifer und ohne zu überlegen stieß sie ihren Dolch blindlings in die Flanke eines auf sie eindringenden Pferdes samt finsterer Gestalt im Sattel, die gerade einen Schwerthieb gegen sie geführt hatte und hoffte so verzweifelt, das Tier würde seinen Träger abwerfen, oder zumindest mit ihm durchgehen, denn gegen sein langes Schwert hatte sie nicht den Funken einer Chance. Sie fühlte noch einen Ruck am rechten Bein als ihr Pferd sich wild aufbäumte und spürte, wie ihr die Zügel entglitten.
Im nächsten Moment fand sie sich nach Luft schnappend zwischen gefährlich stampfenden Hufen am Boden liegend. Halb benommen vom unsanften Sturz sah sie eine sich ihr entgegenstreckende helfende Hand und ergriff diese ohne weiter zu überlegen, denn alles war besser, als von den scharfen Hufeisen tot getrampelt zu werden. Unsanft wurde sie vom Boden in eine unbequeme Lage quer über den Sattel ihres Retters befördert, was ihr beinahe den Arm auskugelte und neuerlich den Atem raubte. Sie krallte ihre Finger in das Hosenbein zwischen Stiefel und Knieschutz des Reiters hinter ihr, um nicht vom Pferd zu rutschen. Als das unruhig tänzelnde Ross unter ihr in Galopp verfiel, konnte sie sich endlich in eine etwas bequemere Position bringen und wurde sich ihres Retters gewahr. Zu ihrer großen Überraschung war es der Hauptmann selbst, der ihr zu Hilfe gekommen war.
Ihr rechtes Bein fühlte sich taub an und so versuchte sie schließlich, das linke Bein über den Hals des Pferdes zu schwingen, um so einen sicheren Halt rittlings vor seinem Sattel zu finden. Der Rittmeister wehrte inzwischen zwei Angreifer mit dem gezogenen Schwert ab. Er selbst war mit einem Kettenhemd geschützt, doch Johanna vor ihm trug nur ihr dickes Lederwams. Mit dem zweiten Arm hielt er sie am Hosenbund fest, offensichtlich lenkte er sein Pferd, das sich tapfer durch den Tumult bewegte, nur mit den Schenkeln und schließlich gelang es ihnen, etwas Abstand zum Kampfgeschehen zu gewinnen. Johanna saß jetzt verkehrt auf dem Schoß ihres Retters und es gelang ihr einen Pfiff auszustoßen um ihre treue Stute Loni wissen zu lassen, wo sie sich befand.
Über die linke Schulter des Hauptmanns hinweg sah sie, wie einer der vorhin von ihm abgewehrten Männer sich wieder auf sein Pferd schwang und abermals die Verfolgung aufnahm. Sie griff nach der Armbrust, die hinter dem Sattel des stolzen Schlachtrosses hing und fingerte nervös nach einem Bolzen. Viel Zeit blieb ihr nicht, den Angreifer genau ins Visier zu nehmen, und sie hatte noch nie zuvor von einem galoppierenden Pferd aus geschossen, umso überraschter war sie dann, als der Verfolger schwer getroffen rücklings vom Pferd fiel. Die vielen Stunden Schießübung im Burggraben hatten sich also doch bezahlt gemacht. Sie blickte kurz über ihre Schulter und registrierte, dass außer ihnen noch zwei weiteren Gefolgsleuten die Flucht gelungen war. Sie sandte ein Stoßgebet zum Himmel und bat darum, dass Max und Adam ebenfalls die Flucht gelungen sein möge. Wie hatte das alles nur so schnell passieren können? Wo waren sie da nur hineingeraten? Halb benommen dachte sie an den Mann, den sie vielleicht gerade mit der Armbrust getötet hatte. Sie spürte das Blut heiß durch ihre Ohren rauschen und fühlte, dass ihr die Sinne schwanden.
Leon fühlte, wie das Mädchen vor ihm, dessen hastig gehenden Atem er gerade noch in seinem Gesicht hatte spüren können, plötzlich ohnmächtig wurde und drückte sie mit der Linken fest an seine Brust. Sie mussten sicher sein, den übermächtigen Angreifern zu entkommen, und so jagte er in halsbrecherischem Tempo hinter zwei seiner Rekruten her quer durch den Wald, bis er sich weit genug vom Ort des Überfalles wähnte. Mit knappen Befehlen einigten sich die Männer darauf, ein sicheres Versteck für sich im dichteren Wald zu suchen.
Der Angriff war zu überraschend gekommen. Immerhin hatte er, da Apollo die feindliche Stimmung gewittert hatte und geknurrt hatte, als die Gruppe Soldaten seinen Trupp passierte, noch einen Warnruf ausstoßen und sein Schwert ziehen können. Nichts desto trotz war ihm bewusst, dass er vielleicht mit Verlusten unter seinen Männern rechnen musste. Es war ihm angesichts der Übermacht der Angreifer nichts anderes übrig geblieben, als den Befehl zum Rückzug zu geben. Man hatte ihnen geschickt eine tödliche Falle gestellt.
Sein erster Offizier hatte gerade ein vorübergehendes Versteck gefunden und machte durch einen Pfeifton die anderen Männer darauf aufmerksam. Es war ein auf einer Seite offener Verschlag, in dem Wildhüter Heu für den Winter deponiert hatten.
Er glitt aus dem Sattel und zog das bewusstlose Mädchen vorsichtig in seine Arme. Im Schutze der kargen Hütte legte er sie auf einen letzten Rest des eingelagerten Heus. Sobald das Blut wieder durch ihren Körper zirkulieren konnte begannen ihre Lieder zu flackern und als er leicht ihre Wangen tätschelte schlug sie schließlich die Augen auf.
Er befahl seinen Männern, die Pferde vorübergehend in den Verschlag zu führen, um möglichen Suchtrupps nicht sofort aufzufallen und gab Anweisung, den Verschlag mit Laub und Zweigen zu tarnen und ihre Fluchtspuren zu verwischen. Er war bei dem Überfall unverletzt geblieben und auch sein treuer Hund Apollo war an seiner Seite entkommen. Johannas Pferde waren ihnen ebenfalls gefolgt. Einer seiner Husaren hatte eine Schusswunde an der Schulter, die aber nicht sehr ernst zu sein schien, das Kettenhemd hatte das schlimmste verhindert.
Er selbst spürte klebriges Blut an seinen Händen und suchte nach der Ursache. „Tut dir etwas weh – bist du verletzt?“ wandte er sich der kreidebleichen Johanna zu.
„Mein Bein!“ sie versuchte den rechten Fuß zu heben und stieß gleichzeitig einen Wehlaut aus. Vorsichtig suchte er das Bein nach einer Verletzung ab. Ihr schwerer Lederreitstiefel ging ihr bis unters Knie, doch aus einem langen, wahrscheinlich durch einen Schwerthieb verursachten, Riss, sickerte Blut hindurch. Er legte ihr eine Satteldecke unter den Kopf und zog ihr so vorsichtig wie möglich den Stiefel aus. Mit kläglicher Stimme erkundigte sie sich: „Blutet es?“
Ein tiefer, böse aussehender Schnitt führte quer über die Außenseite ihres Unterschenkels.
„Das Bein ist noch dran, gehört aber schleunigst genäht. Der Stiefel hat das Ärgste verhindert.“ versuchte er sie zu beruhigen und versuchte sofort, die Wunde so fest wie möglich zu verbinden, um die Blutung zu stoppen. Während er die Worte sprach drehte er den schweren Reitstiefel um und ein Schwall hellroten Blutes ergoss sich auf den Boden.
„Oha!“ entfuhr es ihm überrascht. „Halb so wild.“ versuchte er sie gleich darauf zu beruhigen, als sie einen entsetzten Laut ausstieß. Carl wird die Wunde vernähen. „Nicht wahr, Carl?“ wandte er sich an seinen Weggefährten und Freund. „Er hat im Badern bereits Erfahrung.“
Der Erste Offizier untersuchte nun ebenfalls ihr Bein. „Es scheint nur eine Fleischwunde zu sein – der Knochen ist heil geblieben.
Ja, mach dir keine Sorgen, Mädchen. Ich habe schon einmal jemanden erfolgreich zusammengeflickt.“ wandte er sich an Johanna.
„Einmal?“ fragte sie mit einem Anflug von Panik in der Stimme kläglich nach.
„Ja, Apollo wurde voriges Jahr von einem Bären auch böse verletzt und jetzt geht es ihm, wie du siehst, wieder prima!“ berichtete er stolz.
„Ihr habt einmal einen Hund zusammengeflickt? Mir ist schlecht. Ich glaube, ich werde ohnmächtig!“ Sie musste sich übergeben. „Was ist mit Max und Adam? Ihr müsst ihnen helfen! Nach ihnen suchen!“ flehte sie den Hauptmann an. Sie zitterte am ganzen Leib, man konnte sogar ihre Seele mitzittern fühlen, als sie sich in der Herzensangst einen Schluck Schnaps ausbat.
„In meiner Satteltasche habe ich Nähzeug – versucht halt Euer Bestes!“ wandte sie sich wieder an Carl und mit diesen geschluchzten Worten verlor sie abermals das Bewusstsein.
Der Leutnant hielt bereits die Flasche Schnaps unter dem Arm und suchte Nadel und Faden in ihrem Gepäck.
„Schütte ihr genug davon über die Verletzung, es sollte als Betäubung helfen und dass du ja eine schöne Naht führst, sie scheint sich in solchen Dingen auszukennen, und du weißt ja, wie pingelig Weibsbilder in manchen Beziehungen sein können. Immerhin ist sie noch unverheiratet. Ich werde inzwischen nach den beiden und den anderen Männern sehen und versuchen, mit Apollos Hilfe Hinweise auf die Angreifer zu finden. Ihr bleibt solange hier und kümmert euch um das Mädchen und den verletzten Burschen. Und verhaltet euch ruhig. Ich schicke Apollo, wenn ich euch brauche.“
Er ließ Apollo eine Fährte nach seinen verschwundenen Leuten aufnehmen.
Nach kurzer Zeit fand er Harald, der noch zwei Pferde seiner Kollegen, die offensichtlich verletzt im Sattel hingen, am Zügel führte. Es waren Thomas und Albrecht, die bei dem Überraschungsangriff als erstes angegriffen worden waren.
„Wie geht es ihnen?“ erkundigte er sich erleichtert, sie wenigstens lebendig vorzufinden.
„Sie leben. Albrecht hat sich wahrscheinlich die Schulter gebrochen und Tom hat eine Riesenbeule am Kopf und kann sich noch kaum an seinen Namen erinnern.“
„Wo sind die beiden Freiherren?“ erkundigte sich Leon unruhig.
„Ich fürchte, die Kerle haben sie mitgenommen, ich habe keine Spur mehr von ihnen gesehen, ich hatte zu tun, meinen Arsch in Sicherheit zu bringen, als ich deine Warnung gehört hatte, es ging alles zu schnell!“ antwortete ihm der Gefolgsmann.
Leon erklärte Harald den Weg zu ihrem Versteck und machte sich auf, um nach Adam und Max zu suchen.
Einerseits froh darüber, dass alle seine Männer den Angriff lebend überstanden hatten, machte er sich doch die größten Vorwürfe, gerade seine Schutzbefohlenen nicht gerettet zu haben. Wer auch immer die Angreifer waren, es waren mit Sicherheit keine der üblichen Plünderer oder Straßenräuber, sondern sie agierten auf Befehl hin. Die Attacke war geplant und auch der Ort war dafür bestens geeignet gewesen. Wenn er eine Sekunde später reagiert hätte, hätten sie nicht den Hauch einer Chance gehabt. So war ihnen zumindest die Flucht geglückt.
Vorsichtig näherte er sich der Senke, in der der Überfall stattgefunden hatte. Apollo zeigte keine Anzeichen einer Bedrohung, also waren keine Fremden mehr in der Nähe. Der Hund beschnüffelte sogleich den Kampfplatz und lief unruhig herum. Ein wenig erleichtert stellte Leon fest, dass die Söhne des Grafen offensichtlich nicht getötet wurden, man hätte sonst sicher deren Leichen zurückgelassen.
Das Gesindel hatte auch selbst ihre Verletzten mitgenommen, nur ein totes Pferd lag unten in einer Böschung. Der Sattel fehlte, doch das Zaumzeug war blank poliert und an der Trense war ein Wappen eingraviert, deshalb nahm er es als Beweisstück an sich.
Er versuchte, sich an Einzelheiten zu erinnern, doch es würde einfacher sein, Apollo so schnell wie möglich eine Spur aufnehmen zu lassen.
Er ließ den Hund am toten Pferd schnüffeln und gab ihm dem Befehl „Such!“. Sogleich nahm sein treuer Gefährte die Duftnote der Entführer auf.
Er ritt so, aufmerksam und angespannt, einen schmalen Waldweg abseits der Reiseroute dahin. Der Hund schien sich seiner Sache sicher zu sein und man sah auch an so manchem abgeknickten Zweig, dass hier vor Kurzem noch mehrere Reiter durchgekommen waren.
Nach einigen Minuten sah er die Mauern einer Burg vor sich. Es musste bereits Weitenegg sein, er wusste, die Burg lag gegenüber des Stiftes Melk am linken Donauufer. Der Weg führte weiter durch den Wald hinter der Burg vorbei. Leon wusste, dass die Burg Weitenegg unbewohnt war. Bei Türkenbelagerungen hatte sie als Fluchtort für die Bewohner der gefährdeten Gebiete gedient. Der Besitz war an eine aus Kroatien stammende Familie übergegangen, die im nahe gelegenen Schloss Leiben wohnte, doch er meinte sich zu erinnern, dass nur noch eine Tochter dieses Rittergeschlechts überlebt hatte. Er überlegte einen Moment, ob er in den verlassenen Mauern wohl eine Spur der Übeltäter suchen sollte, doch Apollo lief unbeirrt den eingeschlagenen Weg weiter und kläffte nur ungehalten, als er zögerte.
Inzwischen mussten sie auch bereits das Schloss Leiben hinter sich gelassen haben. Die Gegend hier war ihm fremd. Der Trampelpfad hatte in eine Straße gemündet, die dem Weitental folgte.
Er zerbrach sich die ganze Zeit den Kopf über die Urheber der Entführung. Wenn jemand die beiden Burschen loswerden wollte, hätte er sie an Ort und Stelle getötet, das wäre bei dieser Übermacht ein Kinderspiel gewesen. Wer hätte wissen können, wer sie waren und wohin sie reisten?
Der ausgetrampelte, viel benutzte Hohlweg schlängelte sich entlang des Baches dahin. Der Hund lief, noch immer eine Witterung in der Nase, zielstrebig voran. Wieder nahm er die Zinnen einer Burg zwischen den Blättern des Waldes hindurch wahr. Hier war er noch nie im Leben gewesen, doch wusste er von den übersichtlichen Landkarten, die am Hof auflagen, es musste die Burg Streitwiesen sein. Er erinnerte sich daran, dass die Streitwieser in früherer Zeit zu einer der angesehendsten Adelsfamilien des Landes zählten und mit einer Familie, die zum engsten Gefolge der Babenberger gezählt hatte, verwandt war. Seit der Zeit von Maximilian I. war die Burg jedoch abwechselnd von anderen Rittern bewohnt worden. Er glaubte sich an den Namen Kernparn zu erinnern. Der Landmann im Ritterstand hatte vor einigen Jahren in einem Kampf tapfer neben ihm gekämpft. Leon konnte sich nicht vorstellen, dass dieser Mann einer solchen Tat fähig wäre. Doch Apollo ließ auch diese Burg ohne Zweifel links des Weges liegen.
Leon überlegte kurz in der Burg zumindest um Beistand anzufragen, doch er hatte Angst sein treuer Gefährte könnte inzwischen die noch frische Spur verlieren, wenn er sich hier aufhielt. Es wurde bereits dunkler, die Sonne würde bald untergegangen sein. Die Entführer würden nicht in der Nacht reiten, vermutete er. Er konnte sie jeden Moment eingeholt haben, da er und Apollo ein scharfes Tempo eingeschlagen hatte.
Sein großes Kampfschwert, wie es Soldaten seiner Zeit stets zu tragen pflegten, und seine auffällige Uniform versteckte er deshalb nun in einer Felsspalte und auch sein auffälliges, großes Pferd band er weit genug vom Weg entfernt an einen Baum. Er wollte wie ein unauffälliger Durchreisender, die ja in dieser Gegend keine Seltenheit waren, erscheinen, sollte ihm jemand begegnen. Er konnte, sollte ihn jemand nach seinem Ziel fragen, auch sagen, er sei Taglöhner. Nur seine Armbrust hatte er sich zur Vorsicht um die Schulter gehängt. Immerhin waren die Wälder dieser Gegend nicht ungefährlich.
Im Laufschritt folgte er dem Weg doch noch einige Zeit und als sich die Bäume zu lichten begannen, kam er schließlich an den ersten Gehöften seit längerer Zeit vorbei. In einiger Entfernung konnte er schließlich auf einer Hügelkuppe ein Dorf ausmachen, das von einer stolzen Burg überragt wurde. Langsam und möglichst unauffällig näherte er sich der Ansiedlung. Als sie in die Nähe der Burg gelangten verharrte Apollo und knurrte warnend.
Um den Dorfbewohnern nicht über Gebühr aufzufallen, wandte er sich hier um und machte sich unverweilt auf den Rückweg. Hier in dieser Burg befand sich der Auftraggeber des Überfalls und, sofern ihn sein Gefühl nicht trog, auch seine beiden Schutzbefohlenen. Nun hieß es, einen Plan zu ersinnen. Es wurde allmählich dunkel, deshalb beschloss er vorsichtigerweise, auf dem Hohlweg zurück zu reiten und nicht auf dem unruhigen Trampelpfad, dem er großteils hierher gefolgt war, damit sich sein edles Ross im nebelig gewordenen Wald nicht verletzen würde.
Während seines Ritts durch den finsteren Wald zermarterte er sich wieder das Hirn, wem wohl das Attentat zuzulasten wäre. Er hatte den Auftrag von Erzherzog Ferdinand persönlich empfangen, es waren außer ihm und dem Regenten keine weiteren Personen anwesend gewesen.
Ferdinand, der Erzherzog von Österreich und König von Ungarn und Böhmen, hatte ihn unangekündigt eines Abends in seinen privaten Räumlichkeiten in der Hofburg aufgesucht und ihm den Befehl gegeben, die Söhne des Freiherrn von Grünbüchel und Strechau, der zu Lebzeiten Rat, Hauptmann von Wiener Neustadt, Kämmerer und Schatzmeister Ferdinands gewesen war und außerdem sein guter Freund, wegen deren bevorstehender Vermählung nach Wien zu holen.
Von seinen Männern hatte er zu diesem Zweck jene ausgewählt, denen er voll vertraute und deren Charakter er kannte. Es waren alles pflichtbewusste, redliche Leute, trotzdem hatte er sie über den genauen Inhalt des Auftrages in Unkenntnis gelassen. Die Söhne des Grafen und ihre kecke kleine Freundin waren mit Sicherheit ebenfalls erst von ihm über die baldigen Vermählungen und die Reisepläne informiert worden, wie an jenem Abend unschwer von ihren Gesichtern abzulesen gewesen war.
Als er endlich, es war bereits tief in der Nacht, wiederum mit Apollos Hilfe ihr Versteck, das Carl gut getarnt hatte, erreichte, sah er erst unter Anstrengung einen schwachen Lichtschein. Seine Männer hatten gute Arbeit geleistet.
Carl, sein erster Offizier, der Wache geschoben hatte, erwartete ihn bereits und teilte ihm mit, dass einige Meter in entgegen gesetzter Richtung ein zweiter Mann ebenfalls auf der Lauer lag.
„Hast die beiden gefunden?“ erkundigte er sich bei Leon.
Neben der Feuerstelle zwischen einigen Büschen fand dieser die Reste eines gegrillten Rebhuhns. Er war hungrig und teilte diese mit dem treuen Vierbeiner. Carl konnte warten und informierte ihn solange über den Zustand der Verletzten und dass er dem Mädchen, ob ihres bejammernswerten Zustandes, den Rest des Schnapses eingeflößt hatte, damit sie Schlaf finden konnte und ihn nicht länger anjammern würde.
„Sie war so aufgelöst wegen der jungen Herren und wollte am liebsten gleich, nachdem ich ihr Bein genäht hatte, los und hinter dir her.“
Erzähl endlich, „Was konntest du erreichen?“ Leon informierte ihn über seine Entdeckungen. „Wir scheinen hier vorerst sicher zu sein. Apollo hat ihre Fährte verfolgt und ich bin ihr bis weit in die Hügel hinauf zu einer Burg gefolgt. Wir müssen diese gleich ab Morgengrauen unter ständiger Beobachtung halten, um zu vermeiden, dass die Burschen woanders hingebracht werden. Ich bin mir sicher, sie werden dort gefangen gehalten.“
Dann erzählte er seinem alten Freund schließlich von dem wahren Grund ihrer Reise und sie sannen noch einige Zeit über die weitere Vorgehensweise nach. Es war damit zu rechnen, dass es um Lösegeld ging und deshalb musste zuerst der Erzherzog benachrichtigt werden.
Noch vor dem Morgengrauen zeigte er Harald und Martin, den zwei unverletzt gebliebenen Männern, den Weg zu der Burg, die er am Vorabend mit Apollos Hilfe gefunden hatte.
Sie ritten wieder bis zur Waldgrenze, wo sie abermals die Pferde und Waffen zurückließen. Als ein Bauer mit seinem Holzfuhrwerk daherkam erkundigten sie sich beiläufig nach dem Namen des Ortes und erfuhren, dass sich die Wasserburg Pöggstall nannte.
Die Anlage war durch eine Vorburg, die an zwei Seiten halbrunde Torbögen hatte, in denen je ein großes und ein kleines Tor eingelassen waren, zusätzlich geschützt. Er trug seinen beiden Begleitern auf, unauffällig Wachposten zu beziehen und die beiden Tore stets im Blickfeld zu behalten.
„Wir müssen sicher sein, dass die Gefangenen nicht fortgebracht werden, ich schicke euch am Abend eine Wachablöse! Sollte sich etwas rühren bleibt ihr zusammen und verfolgt die Männer, ist das klar?“ befahl er ihnen und gab ihnen etwas Silber um notfalls einen Boten bezahlen zu können.
Zurück in ihrem Versteck im Wald nahe der Donau war Johanna gerade erwacht. Der Schnaps hatte sie bis nach Mittag schlafen lassen. Sie war etwas blass um die Nase und fühlte sich schwach und hinfällig.
Als sich Leon, der gerade zurückgekommen war, nach ihrem Befinden erkundigte, erwiderte sie, sich den brummenden Kopf haltend, tapfer, „Zum Sterben zu gut!“
Nichts desto trotz löcherte sie ihn sogleich mit Fragen nach dem Verbleib ihrer verschollenen Freunde.
Als sie ihn dazu gebracht hatte, ihr Rede und Antwort zu stehen, wollte sie am liebsten gleich aufstehen und zum Befreiungsschlag ansetzen, doch ihr verletztes Bein verursachte ihr bei der leisesten Bewegung stechende Schmerzen und versagte den Dienst.
„Wir können nicht plötzlich alle auf dieser Burg auftauchen. So viele Fremde würden zu große Aufmerksamkeit erregen, außerdem könnte man uns wiedererkennen. Wir sollten uns vorerst aufs unauffällige Beobachten verlagern und in der Zwischenzeit einen Plan schmieden, wie wir weiter vorgehen können.“ versuchte er ihr klarzumachen.
Zerknirscht sah sie ein, dass sie in ihrem derzeitigen Zustand ohnehin nichts ausrichten konnte.
Der Hauptmann ergriff das Wort und tat ihnen seine weiteren Absichten kund.
„Wir befinden uns schon unweit des Klosters Melk. Das Beste wird sein,“ richtete er seine Worte an die Verletzten, „ihr lasst euch dort erst einmal anschauen und eure Verletzungen pflegen. Von dort werden wir sofort versuchen, einen Boten in die Residenz des Erzherzogs zu senden und um Verstärkung anfragen. Er müsste in wenigen Tagen von seiner Reise aus Prag zurückkehren. Wir restlichen Männer werden versuchen inzwischen die Burg auszuforschen und Näheres über den Verbleib der Ritter Adam und Maximilian herauszufinden, vielleicht können wir mit Hilfe der Mönche, wenn sie uns ein paar ihrer Kutten überlassen mögen, getarnt unbemerkt dort eindringen.“
„Ich kenne sogar einen der Geistlichen, Pater Sebastian, im Stift Melk.“ meldete sich Johanna zu Wort.
„Er hat uns als Kinder unterrichtet. Ich kann mich erinnern, er war so ein weiser Mann, wir hatten deshalb sehr großen Respekt vor ihm gehabt. Außerdem war er ein Freund und Vertrauter des Erzherzogs. Er wurde damals von ihm nach Garsten geschickt, um unsere Bildung zu übernehmen. Ich bin sicher, er wird uns behilflich sein.“
Sie bemerkte Leons zweifelnde Miene. Sicher fiel es ihm schwer, nach diesem Hinterhalt jemanden so ohne weiteres das Vertrauen zu schenken, deshalb fügte sie bestimmt hinzu:
„Ihm ist zu hundert Prozent zu vertrauen.“
Wehmütig erinnerte sich Johanna, während Leon den Verletzten half, auf ihre Pferde zu steigen, an ihre Kindheit und an den begeisterten, geistreichen, auch witzigen Pfaffen, der im Unterricht nicht selten auf Abwege geriet und dabei Ausfälle machte, die bisweilen bei anderen Geistlichen Bedenken hervorgerufen hätten, ihnen dabei aber leidenschaftlich den Lehrstoff beibrachte und sie damit in seinen Bann zog. Diesem Mann verdankte sie viel, er hatte sie frühzeitig Lust und Geschmack für Literatur und Kunst gelehrt und auch sonst ihren Geist nach mancher Seite geweckt.
Da sie selbst jedenfalls keine Ahnung hatte, wie sie in den Sattel ihres Rosses kommen sollte, warf sie dem Hauptmann mit schrägem Kopf und klimpernden Wimpern einen hilflosen und zugleich bittenden Blick zu und deutet dabei zuerst auf sich selbst, dann auf ihr Pferd und dann auf seine kräftigen Arme. Erfreut stellte er fest, dass sie ihren Sinn für Humor nicht verloren zu haben schien, und ohne Mühe kam er ihrem Wink nach und hob sie an der Taille umfassend hoch, bis sie sich selbst am Sattel emporziehen konnte und ihr verletztes Bein vorsichtig über den Rücken des Tieres zu schwingen vermochte. Zwar stöhnte sie bei der Bewegung auf, biss aber gleich tapfer die Zähne wieder zusammen. Er ahnte, dass auf dem Weg zum Benediktinerkloster bei jeder kleinen Erschütterung ein stechender Schmerz ihr Bein durchfahren musste.
Zum Glück sahen sie tatsächlich schon nach kurzem Ritt von Weitem den beeindruckenden Turm der großen Stiftskirche von Melk, die durch ihre Reliquie, einem Splitter vom Kreuze Jesu Christi, Berühmtheit erlangte. Auch war das Kloster bekannt für seine Bibliothek und die Kunstfertigkeit ihrer Illustratoren. Johanna hatte immer davon geträumt, eines Tages die Gelegenheit zu haben, an diesen Ort zu reisen.
Bei der Überfahrt mit der Fähre fühlte sie sich, obwohl sie sonst nicht sehr wehleidig war, jämmerlich und kämpfte pausenlos mit den Tränen und konnte den Anblick des stolzen Klosters gar nicht richtig genießen. Nur teilweise waren die Schmerzen in ihrem Fuß für ihren Zustand verantwortlich, doch viel mehr setzte ihr die Panik zu, die sie verspürte, wenn sie an Max und Adam und deren Schicksal dachte.
Sie ritten durch den kleinen Ort, der sich am Fuße des auf einem Urgestein-Felsen thronenden Klosters erstreckte, und von dort einen steilen Weg hinauf.
Am Tor fragten sie einen Novizen nach Pater Sebastian und ließen, als sie hörten, dass dieser sich noch hier aufhielt, erleichtert nach ihm schicken. Wenige Minuten darauf kam der Geistliche mit den scharfen Gesichtszügen und der langen, hageren Gestalt auf sie zu. Er zeigte sich hocherfreut, als er Johanna erkannte und drückte sie aufs herzlichste an die Brust. Trotz seines hohen Alters hatte er sich seine Rüstigkeit in Geist und Sprache erhalten. Als sie ihm von dem Überfall berichteten wirkte er überaus bestürzt aber gleichzeitig auch gefasst.
„Ich dachte, nach den Türkenüberfällen wäre die Gegend wieder einigermaßen sicher.“
Als er allerdings von der Entführung von Adam und Max hörte, zeigte er sich sofort um ein vielfaches besorgter. Beinahe schien er in einem Anflug von Panik etwas Unbedachtes äußern zu wollen. Ein strenger Blick des Hauptmanns ließ ihn aber bereits im Ansatz wieder innehalten und so raufte er sich nur verzweifelt das Haar. Er führte sie zuerst in seine Kanzlei und beriet sich dort mit Leon und zwei anderen anwesenden Klerikern. Er veranlasste, dass sich jemand um die Verletzten kümmerte und für deren Unterbringung gesorgt wurde. Schließlich wurde eine Botschaft, versehen mit dem Siegel des Klosters, an den Erzherzog verfasst und ein zuverlässiger Stallbursche damit beauftragt, sie unverweilt nach Wien zu bringen. Pater Sebastian schärfte ihm nochmals strengstens ein, die Rolle mit der Nachricht von nun an bis zur Übergabe an den Obersthofmeister keine Sekunde aus den Augen zu lassen. Der Bursche schien höchlichst erfreut ob des ehrenvollen Auftrags zu sein und machte sich sofort auf den Weg.
Die Verletzten wurden vom Kräuter- und Giftforscher des Klosters verarztet. Johannas Bein wurde sorgfältig mit Schafgarbentee gewaschen um die Entzündung zu lindern. Anschließend wurde die Naht mit einer brennenden Paste bestrichen und ein frischer, fester Verband angelegt.
Sie bekam eine kleine, karg eingerichtete Zelle zugewiesen und Leon trug sie vorsichtig dort hin. Sie konnte das verletzte Bein noch nicht belasten und konnte so in ihrem bejammernswerten Zustand den guten Rat, die Liegestatt nicht zu verlassen und das Bein möglichst hoch zu lagern, nur befolgen. Sie hatte nach der neuerlichen Behandlung wieder große Schmerzen und hielt sich an den guten Ratschlag.
Als sie sich am Morgen das erste Mal getraut hatte, die Verletzung an ihrem Bein in Augenschein zu nehmen, war sie seltsam unbeteiligt gewesen. Die Wunde war blutverkrustet und unansehnlich gewesen, doch es war ihr auch bewusst geworden, dass sie großes Glück gehabt hatte, dass sie nicht das ganze Bein eingebüßt hatte. Bis auf ein dumpfes Pochen hielt sich im ruhenden Zustand der Schmerz im gesamten Bein in Grenzen und es schien nun auch kein Blut mehr aus der Wunde zu sickern. Der Schmerz in ihrem Inneren brachte sie hingegen fast um den Verstand, ihr Kopf war voll unheilsamer Gedanken.
Normalerweise war es ihre Art, ein Problem objektiv anzugehen, doch jetzt trachtete ihr Herz danach, überstürzt zu handeln.
Was war eigentlich geschehen? Warum sollte jemand, der sich so viele Kämpfer leisten konnte, auf das Lösegeld für Max und Adam angewiesen sein? Oder hatten sie sich irgendwelche gefährlichen Leute zu Feinden gemacht, vielleicht war es während der Schlacht bei Mühlhausen geschehen? Die Gedanken purzelten in ihrem Kopf nur so durcheinander. Eine Feindschaft konnte oft verheerende Wirkung nach sich ziehen. Ihr Vater war schließlich auch das Opfer einer Privatfehde geworden.
Sie versuchte, ruhig zu werden, schloss die Augen und zwang sich, tief in den Bauch zu atmen, um das nagende Gefühl in dieser Gegend zu überlisten und den Schmerz in ihrem Bein zu vergessen.
Der beste Weg bei einem Problem war immer, alle Möglichkeiten abzuwägen und dann darüber nachzudenken und andere Ansichten einzuholen und zu diskutieren. Sie war zwar sehr eigensinnig und konnte mitunter ziemlich stur sein, wie ihr ihre Familie immer wieder bestätigte, dennoch, plausible Ratschläge nahm sie immer gerne an und es bereitete ihr auch keine Probleme, sich hin und wieder von den Ansichten anderer überzeugen zu lassen oder zumindest darüber nachzudenken.
Leons Plan hatte Sinn und wenn sie darüber nachdachte hatte er auch Recht damit, nicht überstürzt zu handeln, er setzte Taktik ein, wirkte entschlossen und er strahlte großes Verantwortungsbewusstsein aus. Sie konnte für den Moment nur ihr ganzes Vertrauen in ihn setzen und vorsichtshalber noch Stoßgebete in den Himmel senden und von dort zusätzlich verzweifelt Hilfe fordern. Dies wiederum trug ihr ein schlechtes Gewissen ein, denn plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie sich in letzter Zeit viel zu selten in Gebeten für die glücklichen Stunden bedankt hatte und eher selten an Gott gedacht hatte. War dies vielleicht so etwas wie die gerechte Strafe? Also nahm sie sich vor, am nächsten Tag zur Messe zu gehen und schließlich gelang es ihr sogar, in einen unruhigen Schlaf zu fallen.
Leon und Carl hatten sich indes unverweilt darangemacht, ihren Plan in Angriff zu nehmen und hatten sich zwei Mönchskutten geborgt. Nun traten sie den Weg zurück zu der Stelle an, wo die Weiten in die Donau mündete. Leon hatte herausgefunden, dass sich von dort weg der Hohlweg dem Bach entlang bis zum Orte Pöggstall wand und so der kürzeste Weg war, der zu ihrem Ziel führte.
Von Pater Sebastian hatten sie den Namen des Burgherrn erfahren. Es war überraschenderweise ein gewisser Ludwig Freiherr von Roggendorf. Genauso hieß doch der Stiefvater der beiden Entführten, doch nach weiteren Erklärungen des Abtes stand fest, dass es sich wohl nur um eine weitschichtige Verwandtschaft handeln konnte. Der Name kam ihm aber noch aus einem anderen Grund bekannt vor, nur konnte er sich, so sehr er sich bemühte, nicht entsinnen, wo er ihn schon einmal gehört hatte. Wahrscheinlich hatte er ihn bei Hofe schon einmal vernommen.
Obwohl sie so schnell wie möglich wieder vom Stift aufgebrochen waren und die Tage im Sommer lange hell blieben, wurde es bereits wieder finster, als sie in die Nähe der Burg kamen. Sein Pferd war ausgelaugt von den Strapazen der letzten Stunden. Gemeinsam hatten sie die Strecke jetzt schon das fünfte Mal zurückgelegt. Er versteckte es gemeinsam mit Carls Pferd in einem verlassenen, halb verfallenen Holzarbeiterverschlag, den er mit seinen Männern zufällig entdeckt hatte. Die beiden Pferde der anderen Soldaten warteten, bewacht von Apollo, an dieser Stelle. Er hoffte, dass kein zufällig vorbeikommender Jäger oder Bär, dieser würde sich zweifellos über die Beute freuen und sein Hund würde als Wache alleine nicht lange aussreichen, den Ort entdeckte. Sobald wie möglich musste er einen der Männer auch hierher schicken, um die Pferde zu bewachen. Unauffällig machten sie sich zu Fuß auf den Weg ins Dorf.
Harald und Martin, die beiden Soldaten, die er als Wachen zurückgelassen hatte, wussten keine Auffälligkeiten zu berichten. Das bedeutete hoffentlich, dass sich Maximilian und Adam noch in der Burg aufhielten.
Mittlerweile als einfache Kapuzinermönche gekleidet, das Gesicht halb von einer Kapuze verdeckt, ersuchten Leon und Carl um Einlass in die Festung. Dieser wurde ihnen auch tatsächlich, wenn auch nur widerwillig, gewährt.
Früher wurden die Kapuzinermönche, so genannt wegen ihrer Kopfbedeckung, als Mittelpunkt des katholischen Lebens sehr geachtet. In diesen von religiösen Wirren schwer heimgesuchten Zeiten wurden sie aber nicht mehr überall so freundlich aufgenommen wie noch vor einigen Jahren. Vielleicht war auch dieser Ort bereits protestantisch geworden, vermutete Leon.
Um nicht ausgefragt werden zu können, hatten sie den Burgwachen angedeutet, ein Schweigegelübte abgelegt zu haben. Das wäre für pilgernde Mönche nicht ungewöhnlich, bedeutete aber auch den Nachteil, sich beim Gesinde nicht nach den beiden Gefangenen erkundigen zu können, das hätte sonst Argwohn hervorgerufen.
Es wurde ihnen gestattet, am Gesindetisch an der Vesper teilzunehmen. An der Tafel in der Halle war von den Entführten keine Spur auszumachen. Sie wurden also nicht wie Gäste festgehalten, wie er kurz hoffnungsvoll vermutet hatte. Sicher wurden sie in einem der Burgverliese bewacht. Womöglich befanden sie sich auch in dem zweistöckigen Rondell dass der Burg angeschlossen war.
So weit wie möglich suchten sie, die Kapuze tief ins Gesicht ziehend, die Nähe des Gesindes, doch neigte dieses offensichtlich nicht zur Neugier und zum Tratsch und so verbrachten sie unverrichteter Dinge eine Nacht in einer zur Burgkapelle gehörenden Kammer, die man ihnen zugewiesen hatte.
Leon hatte zuvor vor dem mit acht Heiligenbildern geschmückten Doppelflügelaltar um eine Eingabe oder einen Hinweis gebetet. Die Heiligenbilder stellten Jesu Leidensgeschichte dar. Von einem Seitenaltar an seiner Linken sah die Heilige Anna von einem Podest zu ihm hinab. Den benötigten Geistesblitz konnte auch sie ihm nicht senden.
Als alles ruhig zu sein schien, schlich er durch die Kirche in die finstere Nacht und gesellte sich zu seinen unauffällig die Burg beobachtenden Männern. Er hieß sie, sich für einige Stunden auszuruhen. Es war zwar unwahrscheinlich, dass man die Entführten in der Nacht wegbringen würde, doch es durften ihnen aus Müdigkeit keine Fehler passieren.
Als er bereits mit dem Gedanken spielte, wohl umsonst länger aufzupassen, öffnete sich ein kleines Tor des Rondells und ein Mann mit einem Pferd erschien in der nur leicht vom Mond beschienenen Nacht. Seine Augen hatten sich indes bereits an die Dunkelheit gewöhnt und so schätzte er den Mann, der Reisekleider trug, sofort als Boten ein. Fieberhaft überlegte er eine Strategie, wie er des Kerls habhaft werden konnte.
Rasch schlich er, geschützt von der dunklen Nacht, etwas weiter von der Burg weg. Sollte es zu einem Handgemenge kommen durfte keine der Wachen aufmerksam werden.
Er kletterte rasch auf einen, den Weg säumenden, Baum mit starken, ausholenden Ästen. Er musste sich konzentrieren, es durfte ihm jetzt kein Fehler unterlaufen, sonst würde der Bote, der im langsamen Schritt auf ihn zuritt, zweifellos Alarm geben.
Es war ein kühnes Unterfangen, das er hier plante. Leon wartete regungslos, bis der Reiter sein Versteck in den Zweigen passiert hatte und sprang gezielt im richtigen Moment los.
Ein günstiges Geschick fügte es und er riss den überraschten Mann genau zur rechten Zeit aus dem Hinterhalt vom Pferd, das sogleich ängstlich davon stob, und verpasste ihm einen gezielten Faustschlag, der ihn sogleich außer Gefecht setzte. Vorsichtig lauschte er in die Nacht, ob irgendjemand auf das nächtliche Geschehen aufmerksam geworden war, doch alles schien ruhig. Er zerrte die reglose Gestalt in ihr Versteck und weckte seine schlafenden Männer.
„Ihr müsst seinen Gaul suchen, sonst wird sein Verschwinden sogleich bemerkt!“ trug er ihnen rasch auf.
Vorsichtshalber knebelte und fesselte er den Bewusstlosen.
In einer ledernen Hülle fand er schließlich, wonach er gesucht hatte. Im Schein einer Kerze las er das Erpresserschreiben und nach und nach wurde ihm das Ausmaß der Entführung bekannt.
Er wollte mit Politik nichts zu tun haben, aber wenn die Berater des Erzherzogs vom Inhalt dieser Nachricht Wind bekommen sollten, und das würde passieren, weil dieser sicher noch nicht in die Residenzstadt zurückgekehrt war, würde wohl kein Stein auf dem anderen bleiben. Langsam und bedächtig zerriss er das Pergament in winzig kleine Fetzchen.
Er war ein einfacher Soldat, seine Aufgabe war einzig die Sicherheit des Erzherzogs und dessen Schutzbefohlenen.
Als seine Männer wenig später mit dem eingefangenen Pferd des Boten zurückkamen, befahl er ihnen, Ross und Reiter bei dem Unterschlupf ihrer Pferde gut zu verstecken. Ein Mann musste von nun an immer dort Wache halten, während der zweite weiterhin die Burg im Auge zu behalten hatte. Selbst kehrte er wieder in den kleinen Raum neben der Kapelle zurück, wo er Carl für den Fall, dass jemand nach ihnen sah, zurückgelassen hatte.
Auf dem harten, kalten Steinboden in ihrer Kammer versank er in das dumpfe Brüten der Verzweiflung. Insgeheim hatte er sich schon gefragt gehabt, wer das riesige Privatheer, das sich hier versammelt hatte, finanzierte. Jetzt wusste er zwar, was in dem Erpresserschreiben stand, doch es fehlte ihm noch immer die letzte Gewissheit, wer hinter
diesem Wahnsinn steckte. Er mochte nicht so ohne weiteres an den Inhalt des Briefes glauben, etwas schien hier ganz und gar faul zu sein. Es schien alles zu klar auf der Hand zu liegen.
Der Entführer gab sich als von den protestantischen Fürsten Beauftragter zu erkennen und forderte Ferdinand dazu auf, auf alle Ansprüche, die er durch die gewonnene Schlacht bei Mühlberg gestellt hatte, zu verzichten und darüber hinaus weitere umfangreiche Zugeständnisse an die Protestanten zu machen. Leon war als Leibgarde Ferdinands bei fast allen Verhandlungen diesbezüglich anwesend gewesen, ohne sich allzu sehr für die Inhalte zu interessieren. Doch selbst ihm war die Redlichkeit der anwesenden Protestanten aufgefallen, die lediglich versucht hatten, ihre Standpunkte darzustellen. Keinem von ihnen traute er so einen Schachzug zu. Die wirklichen Aufrührer unter den Protestanten, die den Krieg heraufbeschworen hatten, saßen längst hinter Schloss und Riegel. Wenn dieser Brief Ferdinand erreicht hätte, wäre ein weiterer Krieg wohl unvermeidlich gewesen. Jeder wusste, dass sich ein Staatsoberhaupt nicht mit Erpressern einließ, geschweige denn auf deren Forderungen einging. Er hatte lediglich aus einem Instinkt heraus gehandelt. So konnte er Zeit gewinnen, sich einen „Plan B“ zu überlegen, nachdem er schon keinen ordentlichen „Plan A“ gefunden hatte. Es dauerte noch geraume Zeit, bis ihn gnädig der Schlaf überkam.
Als der nächsten Morgen graute begaben sich Leon und Carl zu den Stallungen und sahen sich dort unauffällig um. Sie warteten, bis niemand in der Nähe war, denn zwei Mönche im Pferdestall wären sofort verdächtig gewesen. Tatsächlich fanden sie, wie vermutet, in der Sattelkammer ähnliches Zaumzeug wie jenes, welches Leon nach dem Überfall dem toten Pferd abgenommen hatte. Schließlich entdeckten sie auch die vier auffälligen edlen Rösser der Söhne des Steyrer Grafen. Es schien ihm endgültig ein sicheres Indiz dafür zu sein, dass sich die beiden noch innerhalb der Burgmauern aufhielten. Ungesehen konnten sie sich danach wieder zur Burgkapelle schleichen.
Da sie zu viert gegen die große Übermacht in der Burg ohnehin vorerst nichts unternehmen konnten, beschlossen sie, es bei der Beobachtung der Feste zu belassen. Vielleicht konnten sie die Lage des Burgverlieses auskundschaften, oder etwas über die Geschehnisse auf der Burg und die Hintermänner der Tat herausfinden.
Die Burg lag an der Wasserscheide zweier Bäche, des Ysper und der Weiten, und war als spätgotisch-renaissancehaftes Wasserschloss mit einer imposanten, im Süden vorgelagerten, Barbakane verstärkt worden. Im Norden der Burg befand sich der Bergfried mit fast drei Metern Mauernstärke, umgeben von neueren Trakten. Leon vermutete hinter diesen dicken fensterlosen Mauern den Kerker. Die etwas niedriger gelegene, rechteckige Vorburg bestand aus gotischen Trakten mit einer bemerkenswerten Spindeltreppe, die im Inneren des Gebäudes hinauf in die Wohnbereiche der Burgherren führte. Vom Hof aus konnte man zwei kleine rautenförmige Fenster im Treppenaufgang sehen. Natürlich war es unmöglich, unbemerkt diese hinaufzusteigen, ein Wachmann stand immer an der Tür, die ins Innere führte. Im Südosten befand sich der Torturm. Vom Schloss konnte man allerdings direkt in die Burgkirche im Osten gelangen, Leon vermutete hier am ehesten, ungesehen aus und ein zu gelangen, zumindest solange sie sich in Mönchskleidern bewegten sollte das gelingen.
Soweit sich das Burggesinde über Ihren Lehnsherrn unterhielt, konnte man ahnen, dass er ein recht unfriedsames Gemüt hatte und sich mit seinen Exzessen gegen seine Untertanen missliebig gemacht hatte. Er drangsalierte anscheinend seine Hintersassen mit Steuern und maßloser Robot und hatte seinen überaus beliebten jüngeren Bruder Christian im Streit aus dem Schloss geworfen.
Nachdem Johanna und die zwei verletzten Husaren durch die gute Pflege und nach beinahe dreiwöchiger Behandlung im Kloster als fast genesen zu betrachten waren, traf auch endlich, nachdem zuvor bereits ein Kurier die Nachricht überbracht hatte, vorerst abzuwarten, die Verstärkung des Erzherzogs ein.
Johannas Wunde am Unterschenkel war inzwischen gut verheilt, man konnte sogar schon die Fäden ziehen, was allerdings nochmals ein schmerzhaftes Unterfangen war. Allerdings konnte sie das Bein noch immer nicht voll belasten.
Um sich von den verzweifelten Fragen abzulenken und nicht pausenlos zu grübeln, hatte sie die meiste Zeit in Melk mit Illustrationen für die Klosterbrüder, die fleißig die Benediktinerregel vervielfältigten, in der Schreibstube verbracht. Sie hatte bewundernd deren kalligraphische Kunstwerke kopiert und dachte insgeheim daran, wie gerne sie diese dem Abt in Garsten zeigen würde. Bei der Gelegenheit hatte sie der Kloster-Bibliothekar an die von ihm verwahrten Schätze herangeführt, was sie Pater Sebastian zu verdanken hatte, und so hatte sie auch Zugriff auf einige interessante Schriften mit prachtvollen Siegeln bekommen, die sie wissbegierig verschlungen hatte.
Der alte Bibliothekar war so freundlich gewesen, sie auf einige Kuriosa aufmerksam zu machen. Es waren manch sonderbare Berichte darunter, die unter anderem von der Beobachtung angeblich Heiliger handelten. So hatten in einem Dorf nahe Melk die Bewohner von einem heiligen Mann berichtet, der angeblich Geister sehen konnte und sogar den Teufel, der sich aber unsichtbar unter die Menschen gesellt hatte, um ihr sündhaftes Tun zu beobachten und sie im richtigen Augenblick für die Hölle zu erwischen versuchte. Außerdem besaß dieser heilige Mann ein paar Schuhe, mit welchen er meilenweit ausschreiten konnte. Die Ermittler der Kirche kamen allerdings zu spät und konnten diese Berichte nicht mehr aufklären. Die Begebenheit würde wohl, wie schon so viele zuvor, zur Entstehung von Märchen führen, die den Kindern an langen Winterabenden erzählt wurden. Sie selbst hatte diese Märchen, die von Zwergen, Riesen, Lindwürmern und Drachen, Feen und Saligen, Bergschraten mit wehenden Bärten und von innen leuchtenden Bergkristallen handelten, immer geliebt und dabei nie genau gewusst, wo die Grenze zwischen Wahrheit und Unwahrheit verlief. Sie schürten die Fantasie der Kinder und machten sie vielleicht offener gegenüber Althergebrachten.
Im Skriptorium hatte sie sogar originale Werke von Vergil und Ovid entdeckt und begeistert Platos Modell einer idealen Gesellschaft gelesen. Beim Stöbern in der altgriechischen Literatur war sie auch auf einen Hinweis auf die Säulen des Herkules gestoßen, die sich der Kaiser und der Erzherzog als Siegelwappen ausgesucht hatten und das auch das Medaillon, das Max von seinem Patenonkel bekommen hatte, trug. Sie las von einem Land, das die Griechen Atlantis nannten, und das, der Legende nach, jenseits der Säulen des Herkules liegen sollte. Mittlerweile wusste man auch, dass die Säulen, gemeint waren wohl das Atlasgebirge auf einer Seite und der Felsen vor Gibraltar auf der anderen, nicht, wie damals in der Antike behauptet, das Ende der Welt bilden, denn Columbus war darüber hinaus bis Amerika gesegelt und seither hatten es ihm viele andere Abenteurer nachgemacht. Doch für die alten Griechen endete dort damals der bekannte Teil der Welt es war das Non plus ultra und bedeutete, hier geht es nicht weiter. Der neue Begriff „plus ultra“ gefiel ihr deshalb viel besser. Stundenlang schwelgte sie so Tag um Tag in den Schätzen der Bibliothek, zeichnete emsig Notizen für sich auf und versuchte so, ihre Gedanken nicht ständig nur um die Gefahr, in der Max und Adam schwebten, kreisen zu lassen. Lieber zweifelte sie an Aristoteles Zurechnungsfähigkeit, seit sie von seiner Meinung gelesen hatte, die Frau hätte sich dem Manne immer unterzuordnen, da ihre Urteilskraft schwächer als die männliche sei. Sie würde diesen Absatz einmal Maria vorlesen, nahm sie sich fest vor, und dann mit ihr wahrscheinlich lauthals darüber lachen.
Sie war am ersten Morgen nach ihrer Ankunft im Stift, als sie noch mühsam auf einem Bein hüpfend den ihr zugewiesenen Raum verließ, auf den erschreckenden Zustand des Klosters aufmerksam geworden.
Bei ihrer Ankunft hatte sie darauf wenig Aufmerksamkeit verwendet, doch danach war der schlechte Zustand nicht mehr zu übersehen. Der Pater hatte ihr beim gemeinsamen Frühstück dann auch bedauernd erklärt, wie schlecht es um die Anlage bestellt sei.
„Wir sind nur noch 3 Patres und drei Kleriker, die als letzte noch die Stellung halten. Von einigen Laienbrüdern abgesehen sind wir die letzten Vertreter der Kirche, die verhindern, dass das Kloster von den Protestanten gestürmt wird.
Wir haben einen fähigen weltlichen Klosterhauptmann, der uns hilft, den Betrieb mit seinen Leuten aufrecht zu erhalten und vor kurzem sind, Gott sei Dank, einige neue Schüler eingetroffen. Doch sogar die kommen aus den fernen Deutschen Gebieten. Einer kommt aus Schwaben, je zwei aus Bayern und Franken, und zwei weitere junge Männer kommen aus Thüringen und Schlesien.“ zählte er mit Hilfe seiner Finger auf.
„Hier im Lande finden sich überhaupt keine jungen Männer mehr, die im rechten Glauben unterrichtet und ausgebildet werden möchten, es ist ein Jammer. Dabei war doch dieses Kloster noch vor Jahren das geistliche und kulturelle Zentrum des gesamten Kaiserreiches.“
Tatsächlich war Melk durch die so genannte „Melker Reform“ früher ein Vorzeigekloster gewesen, ein kulturelles und geistiges Zentrum, in dem führende Denker wegweisende theologische und wissenschaftliche Werke verfasst hatten. Doch mittlerweile stand es sichtlich schlecht um den Fortbestand dieser ruhmreichen Einrichtung des christlichen Glaubens.
„Der Erzherzog hat mir bei seinem letzten Besuch versprochen, sich für ein Vorantreiben der Kirchenreform einzusetzen. Es ist eine Tatsache, dass die Missstände in vielen Klöstern beseitigt gehören und dem Lebenswandel des Klerus mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird. Selbst mir sind Schauermäre über gewisse Zustände zu Ohren gekommen. So etwas spricht sich natürlich herum. Wenn sich die Eltern nicht mehr sicher sein können, dass ihre Kinder bei uns in guter Obhut sind, wenn sie sich vor pädophilen und homosexuellen Priestern fürchten müssen. Außerdem muss man sich um eine Verbesserung der Ausbildung für das Priesteramt bemühen. Wenn man nur die Priesterehe, communio sub ultraque, genehmigen würde, das wäre schon ein tragfähiges Zugeständnis!“ sinnierte der Abt weiter. „Aber wahrscheinlich würde es nicht einmal dem Kaiser persönlich gelingen, hier wirklich etwas gegen den Papst auszurichten. Dem Papst, dem seine Pfründe und die Politik in Wirklichkeit wichtiger sind als der wahre Zustand der katholischen Glaubensgemeinschaft, der lieber seinen Reichtum mehrt, als den Türkenvormarsch zu stoppen. Die Reichsstände unterstützen den Kampf gegen die Türken kaum, obwohl selbst Luther sie zum blutrünstigen Erbfeind der Christenheit stilisiert hat. Er hat schon immer von der apokalyptischen Gewalt gesprochen, Gog und Magog, Strafrute Gottes und Diener des Teufels, hatte er die Osmanen genannt. Sie fürchten zu sehr den Ausbau der habsburgischen Hausmacht in Ungarn unter dem Vorwand, die Osmanen bekämpfen zu müssen. Und der Papst mit seinem Verhalten bestärkt sie geradezu in ihrem Glauben, indem nicht einmal er Truppen zur Verfügung stellt. Türkenhilfen bekommt der Erzherzog nur, wenn einer der Reichsfürsten den Oberbefehl erteilt bekommt.
Ich sage dir, Kind, ich selbst traue dem Erzherzog mehr als dem Papst, vielleicht haben all die Protestanten wirklich Recht. Doch weil ich an den Kaiser und seinen Bruder glaube, stehe ich nach wie vor zur katholischen Kirche. Für mich sind die beiden die wahren Oberhäupter des alten Glaubens!“
Es rührte Johanna, dass er so offen zu ihr sprach, wie er es auch früher als Lehrer oft getan hatte. Er hatte sie bereits als Kinder als kluge, selbst denkende Personen behandelt und machte keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern. Als Lehrer hatte er, die Größe seiner Schüler erkennend, den höchsten Respekt vor ihnen empfunden und sich nur als Werkzeug betrachtet, um sein Scherflein beizutragen. Umgekehrt hatten auch sie ihm den höchsten Respekt zurückgegeben.
Sie hatte natürlich gehört, dass die römisch-katholische Kirche seit mindestens fünf Jahren bereits versuchte, den sowohl politisch als auch institutionell etablierten Protestantismus insgesamt, auch gewaltsam, zurückzudrängen, nachdem sich scheinbar alle theologisch-geistlichen Argumente erschöpft hatten. Dazu hatte sicher auch der Einsatz der päpstlichen Truppen bei Mühlberg gezählt. Im Südtiroler Trient war nach 20jähriger Verzögerung 1545 schließlich ein Konzil eingeleitet worden, das mit dem Versuch einer Gegenreformation eine Abgrenzung gegen den Protestantismus aufzeigen sollte.
„Weißt du, es besteht ein fundamentaler Unterschied zwischen dem christlichen Europa und dem Sultan: während dieser eine in der Regel gehorsame Gefolgschaft besitzt, haben Kaiser und Papst in den christlichen Fürsten sehr unzuverlässige Partner, die sogar in der Sympathie und Kooperation einzelner Fürsten mit dem Sultan gipfeln, was insbesondere natürlich für Frankreich und Venedig gilt.
30.000 Dukaten im Jahr! 30.000 kostet den Erzherzog der modus vivendi, der abgeschlossene Friedensschluss mit dem Sultan. Und dazu noch zusätzliche Summen an die Großwesire, weiters Geschenke wie Harnische, Pferde, …, aber was sind diese Ausgaben verglichen mit erforderlichen Militärausgaben. In Friedenszeiten würde diese Summe gerade für die Besoldung der Truppen in einem Monat ausreichen, in Kriegszeiten nur halb so lange. Also amortisieren sich in Friedenszeiten die Kosten eines Jahrestributs bereits nach einem einzigen Monat. Das muss einem Regenten wichtig sein, das und das Leben seiner Männer. Er kann nicht an zwei Fronten gleichzeitig kämpfen. Auf der einen Seite gegen die Protestanten, auf der anderen gegen die Osmanen. Der Schmalkaldische Krieg hat Ferdinand wieder eng an die Seite seines Bruders treten lassen, was ihn gleichzeitig aber in seinem eigenen politischen Aktionsradius sehr eingeschränkt hat. Wenn du mich fragst, dieser Kaiser verrennt sich in einer anachronistisch gewordenen Einheitsidee und glaubt fest daran, sich so um eine Einheit der Christenheit zu bemühen. Er sieht vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr.“
Johanna erwiderte sein verschmitztes Lächeln.
„Das ist das allgemeine Problem der Hegemonie, der Vorherrschaft bzw. Überlegenheit einer Institution in politischer, militärischer, wirtschaftlicher, religiöser und kultureller Hinsicht. Natürlich musste es da zu Gegensätzen der katholischen Liga und der Protestantischen Union innerhalb des heiligen römischen Reiches kommen. Die wichtigsten Mittel in der momentanen Gegenreformation sind die Diplomatie und eine Bewegung der geistigen Auseinandersetzung mit der Reformation und dem Ziel, deren Wirkung zu begrenzen und schließlich, sie aufzuheben. Mit machtpolitischen Mitteln müsste der Kaiser versuchen, protestantische Gebiete für den Katholizismus zurück zu gewinnen, nachdem die zumeist geistige Auseinandersetzung mit dem Papst zu keinem Ergebnis in diesem Sinne geführt hat.
Es muss endlich wieder zur Wiedereinführung des katholischen Gottesdienstes in den Pfarrkirchen auf Weisung des katholischen Landesherrn kommen. Für die Eingepfarrten war der Bekenntniswechsel oft ohnehin nicht nachvollziehbar. Die lutherische Reformation behielt ja die meisten kirchlichen Zeremonien bei und trat nur durch die Priesterehe und den Laienkelch unmissverständlich ins Bewusstsein der Menschen.
Aber was sollen wir zwei schon groß ausrichten, Kleines? Es kann nur noch besser werden, oder? Ich bin nur gespannt, wie lange der da oben noch zusieht.“ meinte er mit bedeutungsschweren Blick Richtung Himmel abschließend.
Immer wieder hatte Johanna wahre Verzweiflung ergriffen. Die vielen langen Gebetsstunden, denen sie pflichtschuldigst beigewohnt hatte, übten nur teilweise eine beruhigende Wirkung auf sie aus. Meist waren dabei ihre Gedanken abgeschweift und sie musste ständig an Max denken, außerdem sorgte sie sich auch um Adam und Leon, ihrem Lebensretter, der sich aufgemacht hatte, die beiden zu befreien und sich damit in die Höhle des Löwen begeben hatte. Im Herzen spürte sie, das die drei in Sicherheit und am Leben waren, es musste einfach so sein und sie wollte sich gar nicht erst mit negativen Gedanken zusätzlich belasten. Wem sollte das helfen? Sie baute auf Leons Geschick, auf das sie sich mittlerweile mit einem gewissen Gefühl von Sicherheit verließ. Er war ein Mann von Erfahrung, entschlossen, stark und entschieden gewesen, seine Freunde zu befreien.
Sie brannte darauf, endlich etwas Neues zu erfahren. Was mochte in der Zwischenzeit alles passiert sein? Immer wieder war sie mühsam mit ihrem verletzten Bein auf den windigen Wachturm oberhalb der Donau gestiegen und hatte wehmütig ans andere Ufer geblickt, wo irgendwo ihre Freunde festgehalten wurden. Sanfte Hügel erstreckten sich harmlos vor ihren Augen und passten so gar nicht zu dem Ort des Schreckens, den Johanna vor ihrem geistigen Auge sah. In ihren Albträumen wurden die beiden in einer Festung festgehalten, die der Burg Hochosterwitz ähnelte, welche sie auf ihrer Reise nach Pettau einmal gesehen hatte. Diese Burg bei Launsdorf galt als stärkste Festung in Kärnten und lag so uneinnehmbar auf einem steilen Felsen, dass ein nicht genehmigtes Eindringen niemals möglich gewesen wäre.
Jetzt konnte Johanna es kaum noch erwarten, endlich gemeinsam mit der Verstärkung aus Wien, einem ganzen Bataillon, aufzubrechen. Sie machte sich mit Albrecht und Tom noch am selben Tag nach dem Mittagsgebet mit der Truppe auf den Weg nach Pöggstall. Obwohl offensichtlich war, dass bald böses Wetter eintreten würde.
Sie waren schon einige Stunden unterwegs, als drohend von Westen her schwere Wolken aufzogen und den eben noch voll scheinenden und Licht spendenden Mond verschluckten. Ein schweres Gewitter war im Anzug. Links und rechts des Weges standen uralte Fichten mit graugrün bemoosten Ästen, deren lange Bärte sich rege im Winde wiegten, hoch aufragten und Schatten über das Gelände warfen. Johanna musste an ihren Traum denken. Da blitzte es auch schon und ein weithin rollender Donnerschlag folgte. Johanna hoffte, diese düstere Stimmung sei kein schlechtes Omen für ihr Vorhaben. Unter heftigen Regengüssen mussten sie sich den weiteren Weg suchen.
Als die vom Erzherzog gestellte Verstärkung endlich in die Nähe der Burg kam, zeigten sie sofort, indem sie das Wappen der Habsburger hochhielten, den verbliebenen vier Mann unter dem Rittmeister, die unauffällig das Tor unter Beobachtung gehalten hatten und zugleich den Wachen am Burgtor, wer sie waren. Das schlechte Wetter diente sogar als glücklicher Vorwand, um in der Burg um Unterschlupf anzusuchen.
Die Leute des Königs hatten zwar vorsorglich eine Depesche von Erzherzog Ferdinand mit, sodass ihr Erscheinen auf der Wasserburg nicht unnötig Verdacht schüren sollte. Offiziell befanden sie sich damit auf der Durchreise zum Prager Hofsitz Hradschin, doch weit weniger Aufsehen und Argwohn würden sie trotzdem erregen, wenn sie das Unwetter als Grund ihres Erscheinens anführten. Gott schien in diesem Fall mit ihnen zu sein.
Johanna und die zwei Husaren des Rittmeisters hielten einen gebührlichen Abstand zu den Reisenden, da die Gefahr, dass ein am Überfall beteiligter Söldner sie wieder erkannte ihnen zu hoch erschien. Bei strömenden Regen stießen sie, den herrschenden Aufruhr am Burgtor nutzend, zu den drei Wachposten um Leon, die in den letzten Wochen die Burg von außen ständig im Auge behalten hatten und ihnen nun ein Zeichen gegeben hatten.
Erleichtert glitt Johanna, vorsichtig auf ihr verletztes Bein achtend, vom Pferd und blickte in das vom Regen triefende und mit einem deutlich erkennbaren Bartnachwuchs versehene müde und angespannt wirkende Gesicht des Hauptmannes.
Es war in ihrem Schreiben, das sie von Melk nach Wien gesandt hatten, abgemacht gewesen, eine Verstärkung hierher zu schicken. Leon hatte sich immer wieder den Kopf darüber zerbrochen, was dies nach sich ziehen würde. Wie die Entführer auf das Erscheinen einer ganzen Einheit königlicher Soldaten reagieren würden. Es sollte doch für alle Beteiligten wie ein Zufall wirken. Das Wetter spielte ihnen in die Hände. Die Erpresser konnten schließlich nicht ahnen, dass Ihr Brief abgefangen wurde, geschweige denn, dass der Aufenthaltsort der Entführten dem Erzherzog bekannt war.
Er hatte keinem seiner Männer näheres über den Inhalt des gefunden Briefes berichtet und jetzt hielt er es für das Beste, auch Johanna nichts darüber zu sagen, als sie sich sogleich von ihm über die Geschehnisse in den letzten Wochen informieren ließ. Ausweichend teilte er ihr lediglich mit, was er auch Carl gesagt hatte, nämlich dass aufgrund des Schreibens gesichert sein sollte, dass sich Max und Adam in dieser Burg befanden.
Adam wusste nicht, wie viel Zeit seit ihrer Entführung genau vergangen war. In dem Verlies, in welches man sie gleich nach Ankunft auf dieser unwirtlichen Burg geworfen hatte, war es stockfinster und die Zeit schien stillzustehen, als wäre sie nur ein völlig undurchsichtiges Gebilde. Es bereitete ihm Schwierigkeiten zu erkennen, ob sie gerade kam oder ging. Oder um war, aus und vorbei. Nur ab und zu, wenn man ihnen Brot und Wasser, eine dünne Suppe oder etwas Schmalzkoch brachte, drang etwas Kerzenschein durch die Kerkertüre.
Es gab noch einen weiteren Zelleninsassen, es war ein alter Priester, der viel wirres Zeugs von sich gab, aber soweit sie ihn ausfragen konnten, hatten sie dies getan.
Anscheinend hieß diese Burg Pehstall, was wohl etwas mit Pech zu tun hatte, und gehörte einem Ludwig Freiherr von Roggendorf. Sie vermuteten deshalb, entweder die „Gäste“ eines Verwandten ihres Stiefvaters, des Burggrafen von Steyr, zu sein oder ganz einfach versehentlich in diese missliche Lage geraten zu sein. Sie wussten, dass bereits bevor Johannas Vater das Burggrafenamt in Steyr zugeteilt bekommen hatte, die Roggendorfer dieses innehatten. Auch auf der Burg Weißenstein in Pettau hatten sie einen Roggendorfer kennen gelernt, allerdings hatten sie nicht viel mit ihm zu tun gehabt. Die Familie schien groß und der Name weit verbreitet zu sein. Von Seiten ihres Stiefvaters kannten sie nicht viele Verwandte. Möglicherweise waren sie in eine Familienfehde hineingeraten, diese kam in den besten Familien vor, nur einen Grund dafür konnten sie sich beide beim besten Willen nicht zusammenreimen. Der Stiefvater hatte seit ihrer Rückkehr nie Probleme mit Verwandten erwähnt. Sollte man diesen wegen Lösegeldes zu erpressen versuchen zählte Adam auf dessen bedächtiges Handeln.
Nachdem die Söldner Max und ihn beim Überfall mit vorgehaltenen Büchsen befohlen hatten, sich zu ergeben, und da die Angreifer so offensichtlich in der Übermacht gewesen waren, war es ihnen zweifellos am Besten erschienen, deren Anweisung folge zu leisten.
Bei einem einfachen Raubüberfall wäre ohne Zweifel kurzer Prozess mit ihnen gemacht worden und sie wären sicher sofort getötet worden. Doch weder wurden sie nach Geld und Wertgegenständen durchsucht, noch wirkten die Angreifer wie einfache Räuber.
Während ihres Rittes durch unwegsames Gelände hatte er dann doch versucht, nachdem er Max unauffällig ein Zeichen gab, zu entkommen. Leider scheiterte dieser Fluchtversuch kläglich und das Letzte, an das er sich erinnern konnte war, dass ein grobschlächtiger Kerl mit einer Keule ausholte und ihn damit offensichtlich für einige Tage außer Gefecht gesetzt hatte.
Sein Schädel fühlte sich noch immer wie gerädert an und eine ziemliche Beule war an der getroffenen Stelle aufgeschossen. Max hatte ihm erzählt, wie die Ankunft auf der Burg verlaufen war, dass sie sofort, ohne Begründung, in dieses feuchte, kalte Verlies gebracht worden waren und sich auch seither niemand um sie gekümmert hatte, geschweigedenn ihnen den Grund ihrer Entführung mitgeteilt hätte.
Sicher schon seit Wochen rätselten sie nun um den tatsächlichen Grund. Möglicherweise hatte dieser Burgherr etwas gegen ihren geplanten Besuch beim Regenten. Es konnte sein, dass er ihrem Stiefvater eines auswischen wollte, oder auch, dass er die geplanten Vermählungen verhindern wollte. Aber alles konnte nur Spekulation bleiben.
An Flucht war nicht zu denken. Sie hatten bereits mehrmals die gesamte Zelle von oben bis unten abgetastet aber keinen einzigen losen Stein gefunden. Die Kerkertür wurde nur ein kleines Stück geöffnet, wo ihr Essen durchgereicht wurde. Der unbehauene Steinboden war feucht und mit Moos und Flechten überzogen. Es roch erbärmlich. Anscheinend gab es noch mehr Gefangene in diesem Teil der Burg, denn ab und zu hörten sie Klagen oder Gebete irgendwelcher armer Seelen anderer verzweifelten Gefangenen durch das dicke Holz der Türe.
Neben ihrer eigenen verzwickten Lage machten sich beide auch verzweifelt Sorgen, was mit ihrer Eskorte wohl passiert sein mochte. Sie hatten zwar gesehen, dass den meisten die Flucht gelungen war, doch sie hatten auch die Verfolger bemerkt. War ihnen die Flucht gelungen oder waren sie alle tot? Ahnte jemand etwas von ihrer Lage? Hoffentlich war Johanna nichts geschehen, es war wohl unverantwortlich gewesen, ihr zu erlauben, die Reise mitzumachen, doch wie sie auch selbst angedroht hatte, wäre sie ihnen wahrscheinlich auch heimlich gefolgt. Sein neuer Freund, der Hauptmann, war wohl ein fähiger Mann und genoss sein Vertrauen. Er hoffte, dieser würde, sollte er überhaupt noch am Leben sein, ihre Spur finden und ihnen zu Hilfe eilen, oder zumindest den Vater und den Erzherzog informiert haben.
Mit einigen Übungen versuchten Max und er, sich fit zu halten, um bei der geringsten Möglichkeit nicht entkräftet bei einem Fluchtversuch zu scheitern. Im Dunkeln führten sie gegeneinander Faustkämpfe aus und übten sich im Ringen. Natürlich unterhielten sie sich viel miteinander und ihm entging nicht Max` verzweifelter Schmerz vor Sorge um Johanna.
Wie er bereits richtig vermutete, hatten die beiden sich bereits ihre Liebe gestanden, aber er spürte keinen Neid. Er musste sich selbst eingestehen, dass sein Bruder der ehrenwertere unter ihnen war. Er selbst war zuversichtlich, den Bruder des Kaisers überzeugen zu können, mit ihrer Vermählung noch etwas zu warten, oder an seinem Entschluss noch etwas ändern zu lassen. Er fühlte sich einfach noch nicht bereit zur Ehe.
Johanna verdiente absolute Treue und Loyalität. Mit der Loyalität hätte er zwar auch keine Probleme gehabt, aber bei der Treue war er sich dessen nicht so sicher. Max war in dieser Beziehung sicher verlässlicher. Inständig hoffte er, dass sie am Leben war und es ihr gut ging und nach ihrer hoffentlich baldigen Befreiung aus dieser misslichen Lage einer Vermählung mit Max nichts entgegenstehen würde.
Im Moment war es wegen der Jahreszeit noch nicht so kalt im Verlies, aber sollte ihre Gefangenschaft noch lange dauern, konnte es leicht passieren, dass sie hier elendig erfrieren würden. Sie beteten mit dem armen alten Priester, der wohl schon ziemlich lange hier eingekerkert war, und seit ihrer Ankunft sichtlich aufgeblüht war, und hörten geduldig seinen Erzählungen zu. Er sprach mit leiser heiserer Stimme und erzählte ihnen, dass er schon sein ganzes Leben hier verbracht hatte. Er kannte den Burgherrn schon von klein an.
Anscheinend war der junge Mann in seinen jungen Jahren nach Rom gegangen um Priester zu werden und so irgendwie in den Fängen des Vatikans gelandet. Schon als Knabe war er ein böses Kind gewesen, das gerne Tiere quälte und den Bediensteten und anderen Kindern schlimme Streiche spielte.
„Es brach nur selten ein Sonnenstrahl durch die dunklen Wolken seines Gemüts. Hass, Zorn und Hinterlist behielten bei ihm immer die Oberhand. Seine Familie hatte sich erhofft, dass die Kirche einen positiven Einfluss auf ihn ausüben würde und war damals froh gewesen, als er den Ort verließ. Sein älterer Bruder hätte die Burg geerbt. Doch leider ist dieser schon früh verstorben. Deshalb hat der jüngste Bruder, Christian, stellvertretend für Ludwig das Anwesen übernommen. Einige Jahre schien es allen gut zu gehen. Christian war beliebt und alle waren sich sicher, Ludwig würde als Kleriker im Ausland verbleiben.“
Doch alles hatte sich geändert, als dieser vor etwa einem Jahr überraschend zurückgekehrt war.
„Ich weiß nicht genau, was passiert ist.“ erzählte der müde alte Mann leise.
„Christian ist einfach von einem auf den anderen Tag verschwunden. Als ich Ludwig einmal danach fragte, wies er mich nur barsch ab und sagte, das ginge mich nichts an. Ich habe mich deshalb einmal, als er für einige Wochen nach Wien reiste, in seine Räume geschlichen und in seinen Papieren nach einem Hinweis auf den Verbleib von Christian gesucht. Das hätte ich nicht tun sollen, aber selbst seiner Mutter hatte er nicht die Wahrheit gesagt und diese hatte mich angefleht, es zu tun. Ich fand Briefe, viele Briefe. Es war geradezu unglaublich, was ich darin erfuhr. Vom Vatikan war Ludwig als Agent an den französischen Hof gesandt worden, um einen Kontakt mit dem allerchristlichsten König herzustellen. Der Papst wollte, dass dieser die Macht im gesamten Reich übernehmen sollte. Ich verstand nicht alle Briefe, da viele in Französisch geschrieben waren und ich das nicht spreche. So konnte ich mir teilweise nur in Anlehnung an die lateinische Sprache gewissermaßen einen Reim machen. Ich weiß nicht genau, was er im Schilde führte, aber es war nichts Gutes. Als er wieder zurückkam, sprach ich ihn deshalb darauf an, das war der zweite Fehler, er war wütend. Er hat mich beinahe totgeschlagen und mich hier einsperren lassen. Wahrscheinlich dachte er, ich würde ohnehin bald an den Verletzungen sterben. Aber es gibt Leute hier, die an mich denken und hin und wieder die Wachen bestochen haben, mir warme Decken zukommen zu lassen und hin und wieder ein Stück Obst. Ich kann Euch auch nicht sagen, warum er gerade euch entführt und hier eingekerkert hat. Aber ich ahne, er hat noch ein Ass im Ärmel. Seit ich hier eingesperrt bin grüble ich darüber nach, was alles in den Briefen gestanden hat. Hat es einen Krieg gegen die Protestanten gegeben?“
Adam und Max erzählten ihm von den Umständen bei der Schlacht von Mühlhausen.
„Wie glaubt ihr, würde der Erzherzog auf eine Entführung von Euch durch die Protestanten reagieren?“ murmelte der alte Mann mehr zu sich selbst als zu ihnen.
„Der Erzherzog wird nicht so unklug sein, wegen uns einen neuerlichen Krieg gegen die Protestanten anzuzetteln!“ erwiderte Max trotzdem.
„Es wurden schon aus viel nichtigeren Gründen Kriege angezettelt!“ mischte sich Adam ein.
„Es würde alles einen Sinn ergeben oder nicht? Wenn sich Ferdinand und der Kaiser zu einem Krieg gegen die Protestanten entscheiden würden! Wer würde sich darüber wohl freuen. Da sind zuerst die Türken, denen Österreich mehr oder weniger am Tablett dargeboten würde, wenn sich alle Streitkräfte auf den Norden konzentrieren würden. Das heilige römische Reich wäre so von zwei Seiten bedrängt. Auf der dritten Seite könnte Frankreich mit Hilfe des Papstes, dem die Macht und Beliebtheit der Habsburger nicht behagt, einfallen und so an die Macht gelangen.“
Es brachte sie nicht weiter. Sie konnten sich nicht die ganze Zeit nur die schauerlichsten Umstände ausdenken. Deshalb zwangen sie sich schließlich dazu, lateinische Gebete und Gedichte in griechisch und französisch aus dem Gedächtnis zu rezitieren, um auch im Kopf beweglich zu bleiben. Doch die Angst darüber, was wohl weiter mit ihnen geschehen würde, ließ sich nicht gänzlich ausschalten.
Johanna hatte neben einem schönen Kleid, das Maria für die Hofburg vorgesehen hatte, auch ihren mit Färberkrapp rot gefärbten Lieblingsrock, den sie während des Jahrmarktes in Steyr von den Zigeunern erstanden hatte, dabei. Er wirkte absolut unstandesgemäß, aber genau das war es, was sie für diese Aktion gebrauchen konnte.
Nach Absprache mit Leon und dem Hauptmann des vom Erzherzog gesandten Befreiungstrupps, dem es bisher ebenfalls noch nicht gelungen war, Hinweise über den Verbleib der beiden Gefangenen zu finden, und in Ermangelung eines greifbaren-praktischen Planes, hatte sie damit vor, als Gemeine in die Burg eingelassen zu werden. Sie hatte damit argumentiert, dass wohl eine junge Frau am unauffälligsten an die nötigen Informationen kommen würde. Die Männer hatten zuerst gezögert, sie damit in Gefahr zu bringen, doch ihren Argumenten mussten sie sich schließlich geschlagen geben.
Allerdings bräuchten sie noch einen Grund um in das Burgverlies zu gelangen. Sie schlug Leon, den es ebenfalls schon in den Fingern kribbelte und der ebenfalls endlich etwas unternehmen wollte, vor, er solle sich, als Betrunkener getarnt, von den Wachen an den Burgtoren festnehmen lassen, und dann mussten sie nur darauf vertrauen, dass man ihn auch wirklich in den Kerker warf und ihn nicht einfach für ein paar Tage an den Pranger stellte.
Sie hatten Glück mit ihrem Plan und Leon, als schon stark angetrunkener Taglöhner getarnt, wurde tatsächlich von den Wachposten abgeführt, als er lautstark grölend den ausstehenden Lohn seiner Arbeit am Burgtor einforderte. Er machte seine Sache ganz gut, indem er, vermeintlich einen Humpen Bier zuviel getrunken, auf unsicheren Beinen stehend, schwankend darauf bestand, zum Burggrafen vorgelassen zu werden, um seine Beschwerde vorzutragen.
Als die Wachen ihm befohlen, sich zu verdünnisieren und drohend ein paar Schritte auf ihn zu machten, entwischte er ihnen immer wieder um Haaresbreite und hielt sie so zum Narren.
Den dadurch in Rage versetzten Wachen gelang es schließlich aber zu dritt, Leon zu ergreifen und als zwei Männer ihn links und rechts bei den Armen gepackt hatten und den Widerstrebenden mit Gewalt festhielten, hörte Johanna den Befehl des ersten Wachtmeisters, den unguten Kerl zur Ausnüchterung in den Kotter zu bringen.
Natürlich hatte ihr gemeinsam geschmiedeter Plan gewisse Lücken gehabt. Er war selbst überrascht, wie gut die Dinge sich zu entwickeln schienen. Das Risiko, dass sie dabei eingingen, sollte sich eigentlich in Grenzen halten. Dieses Mädchen war zwar ein echter Wildfang, aber für ihren Tatendrang und ihre brauchbaren Vorschläge bewunderte er sie. Anstatt, wie es jedes andere Edelfräulein getan hätte, sich weinerlich auf die Soldaten des Kaisers zu verlassen und ihre Verletzung von den Mönchen ganz auskurieren zu lassen, hatte sie sich wieder in ihren Männerkleidern, die darüber hinaus im strömenden Regen viel zu verführerisch eng an ihrem Körper klebten, der angeforderten Verstärkung angeschlossen und war mit diesen hierher geritten, um bei der Befreiung mitzuwirken.
In den vergangenen Wochen hatte er ausreichend Zeit gehabt, sich den Kopf über Gott und die Welt zu zerbrechen. Immer und immer wieder spielte er in Gedanken den Tag des Überfalls nach und quälte sich mit Gewissensbissen, ob das Geschehene vermeidbar gewesen wäre. In diesen Tagen wurde ihm auch vieles Andere bewusst. Der Einfluss der jungen Leute auf ihn schlug sich in seinen Gedanken nieder. Die angeregten Diskussionen, die sie bereits in Steyr und weiter während der Reise geführt hatten, hatten ihn nachdenklich gemacht. Seit Jahren war es seine Aufgabe, als pflichtschuldiger Soldat den Befehlen seiner Vorgesetzten zu gehorchen. Jetzt war plötzlich seine eigene Denkfähigkeit gefragt und bestürzt hatte er festgestellt, dass er beinahe verlernt hatte, diese zu nutzen. Kein Wunder, dass er das tatkräftige Handeln Johannas so bewunderte. Natürlich war sie nicht um ihn besorgt, obwohl sie ihn vorhin mit einem halb aufmunternden, halb bittenden, drolligen Blick aus den großen grau-blauen Augen befohlen hatte, ja vorsichtig zu sein und weder sich noch die jungen Herren in Gefahr zu bringen. Was er ohnehin nicht beabsichtigte. Den schwärmerischen Gesichtsausdruck, der ihr zwei bezaubernde Grübchen um die Mundwinkel zauberte, den er schon des Öfteren bei ihr bemerkt hatte, bekam sie aber nur in Gegenwart von Maximilian Hofmann und wenn er richtig beobachtet hatte, hatte dieser Schafskopf endlich darauf reagiert.
Er sollte sich besser auf die Wachmänner rund um ihn konzentrieren, doch seine Gedanken schweiften immer wieder zurück zu Johanna. Insgeheim verfluchte er diese Schwäche, doch das Weibsbild übte eine fast unheilsame Anziehung auf ihn aus und man wusste nie, auf welche Ideen sie kam.
Die Männer stießen ihn inzwischen unsanft durch die kleinere der beiden Türen ins Innere der halbrunden Barbakane und schleiften ihn quer über den runden Hof über eine Holzbrücke ins Innere des Schlosses.
Von außen hatte die Barbakane mit den schießschartenähnlichen Fenstern, die wie bedrohliche dunkle Augen wirkten, selbst wie ein geeignetes Gefängnis gewirkt. Der Hof allerdings wurde als Stall und Gesindetrakt genutzt.
Er hatte in den letzten Wochen bereits vermutet, dass sich nicht darin, sonder im viereckigen Burgturm das Burgverlies befand. Den Wachen spielte er vor, in ihrer Mitte schon vom vielen Alkohol halb eingedämmert zu sein. Vorsorglich hatte er seine Kleider mit Bier benetzt, so dass er auch eine gehörig versoffene Duftnote verströmte. Insgeheim aber versuchte er, unter schweren Liedern hervorblickend, so viele Eindrücke wie möglich zu speichern und sich den genauen Fluchtweg zur Kirche einzuprägen.
Sie führten ihn einige Stufen hinauf in einen, für die herrschende Jahreszeit recht kühlen muffigen Raum, in dem nur durch den länglichen Spalt einer Schießscharte durch eine vergitterte Zelle ein fahler Lichtschein von draußen fiel. Gleich neben der kurzen Treppe, die sie hinaufgekommen waren, hingen rechts und links zwei entzündete Fackeln. Unter einer der Fackeln befand sich ein grob gezimmerter Tisch mit zwei Stühlen, an dem gerade zwei Männer in ein Kartenspiel vertieft waren.
Einer der Kerkermeister erhob sich schließlich, nachdem ihm die Torwachen geschildert hatten, was sich bei dem Tor abgespielt hatte und schloss eine schwere Gittertür auf. Die Männer warfen ihn unsanft in eine mit schmutzigem Stroh ausgelegte Zelle, in der bereits drei weitere Gestalten in einer Ecke kauerten. Hinter ihm wurde sofort wieder abgesperrt und niemand beachtete mehr die gelallten Sätze, die er den Wachen nachwarf und seine geballte Faust, die er ihnen drohend nachschwang. Er rüttelte noch etwas an dem Eisengitter und sah sich in dem finsteren Inneren des Turmes, soweit er blicken konnte, um. An der Wand gleich links von ihm war eine schwere Eichentüre auszumachen, die durch einen doppelten Riegel versperrt war. Mit dem unteren Riegel konnte man höchstwahrscheinlich die in der Tür eingearbeitete Durchreiche aufsperren. Der zweite schwerere Eisenriegel führte von der Tür weg in eine stabile Verankerung an der Wand.
Um die Kerkermeister, welche, soweit er beurteilen konnte, nur mit Knüppeln und zwei langen Speeren bewaffnet waren, nicht weiter auf ihn aufmerksam werden zu lassen, beschloss Leon, sich seinen offensichtlichen Rausch ausschlafend in einer Ecke zusammenzurollen.
Aus der verschlossenen Verliestüre drangen leise Stimmen. Er versuchte, angestrengt lauschend, herauszufinden, wer sich dort wohl befinden mochte. Als einer der Aufpasser nach einiger Zeit drei Schüsseln durch die Durchreiche schob, nutzte er die Gelegenheit und ließ sich lautstark über den spärlichen Inhalt der gereichten Schüssel mit Essen aus. Seine Stimme hallte dröhnend von den dicken Steinwänden zurück. Er hoffte, Max und Adam, sollten sie sich in dem Raum neben ihm befinden, würden seine Stimme erkennen und sich ebenfalls irgendwie bemerkbar machen. Tatsächlich vernahm er, als die Wache sich wieder entfernt hatte, wieder die Stimmen. Angestrengt lauschend vernahm er durch die schwere Eichentüre undeutlich lateinische Worte, die zweifellos von den beiden stammten. Er verstand zwar nur jedes zweite Wort, wegen der dicken Mauern und der massiven Eichentüre, aber es ging ihnen anscheinend gut und sie hatten seine Stimme erkannt. Im Stillen dankte er sich selbst dafür, sich vor einigen Jahren doch noch die lateinische Sprache angeeignet zu haben. Um nicht als völlig vertrottelter Landadeliger zwischen den gebildeten Gefolgsleuten des Erzherzogs dazustehen hatte er sich zu diesem Entschluss durchgerungen und niemals bereut.
Lautstark begann er nun ebenfalls ein Gebet zu rezitieren. Von den Wachen wurde er deshalb zwar argwöhnisch beäugt. Er warf ihnen ein paar lateinische Schimpfwörter zu, um zu testen ob sie diese verstanden, aber dem schien nicht so zu sein.
Das hätte ihn auch gewundert, es war unwahrscheinlich, dass diese einfachen Leute des Lateins mächtig waren. Es war am Land üblich, nur das von den Pfarrern vorgepredigte Gebet einfach nachzubeten, ohne die Sprache und deren Worte zu verstehen und gerade hier im Ort hatte er bemerkt, dass ohnehin beinahe kaum jemand die Kirche zu besuchen schien. Er hatte in den letzten Wochen keinen einzigen Gottesdienst bemerkt.
Während seiner monotonen Leier ließ er auch Fragen nach dem Befinden und der Lage der Vermissten einfließen. Er wollte wissen, wie es den beiden ging und ersuchte sie, ihm mit Klopfzeichen zu antworten. Er wies sie an, ein Mal zu klopfen wenn es ihnen gut gehe, oder zwei Mal wenn einer von ihnen oder beide verletzt wären. Die Wachen wiesen ihn mehrmals harsch zurecht, nicht solchen Lärm zu machen, doch er spielte seine Rolle als schwer Betrunkener gekonnt weiter und ließ sich nicht aus dem Konzept bringen.
Tatsächlich ging sein Plan auf. Er vernahm ein einmaliges Klopfen. Daraufhin gab er ihnen den Auftrag, sich bereit zu halten und ließ sie wissen, dass auch bereits Verstärkung eingetroffen sei.
Als er sich schließlich an einer halbwegs sauberen Stelle gegen die nackte, kalte Mauer lehnte wurde ihm dann doch etwas bang. Ein einiger und ordnender Plan fehlte ihnen eigentlich schon. Der Geist, der über dem Ganzen hier schwebte, es zwar gehörig befruchtet und es siegreich zu Ende führen sollte, war die pure Verzweiflung gewesen. Jetzt, wo er selbst nichts mehr zum Gelingen des Planes beitragen konnte, erschrak er über die Kühnheit des Unterfangens. Er schalt sich selbst einen Narren, dass er Johanna nicht nachdrücklicher zur Vorsicht gemahnt hatte. Sie hätten vielleicht doch gründlicher das Dafür und Dawider abwägen sollen.
Ihr Plan sah vor, dass Johanna sich am zweiten Tag nach Leons Verhaftung als seine Schwester ausgeben sollte und sie hatte sich zu diesem Anlass für ihre Verhältnisse kräftig herausgeputzt. Üblichweise legte sie auf ihr Aussehen nur wenig Wert und ihre Kleidung war dementsprechend eher zweckmäßig als aufreizend. Sie hatte allerdings ein erkorenes Lieblingskleidungsstück, einen roten Rock, den sie zum Jahrmarkt letzten Jahres einer der Zigeunerinnen abgekauft hatte. Ihre Mutter hatte schon protestiert, als sie sah, dass Johanna ihn zu dem Reisegepäck gelegt hatte und ihn danach heimlich wieder daraus entfernt, doch Johanna, die ihre Mutter sehr gut kannte, hatte vorsichtshalber noch einmal überprüft, ob er sich noch in den Taschen befand. Jetzt war er zwar nicht so schön glatt zusammengelegt, wie ihre Mutter es gerne hatte, aber in diesem Fall sollte das wohl der Unauffälligkeit eher zuträglich sein. Er war mit bunten folkloristischen Motiven bestickt und schwang herrlich um ihre Beine. Sie hatte die Zigeunerinnen immer bewundert, wenn sie lebensfroh und, sich ihres erotischen Wertes sehr bewusst, damit aufreizend herumtanzten, sodass ihre Beine, mehr als es schicklich war, entblößt waren und damit gegen jede Konvention verstoßen hatten. Zum weiten roten Rock hatte sie den Ausschnitt ihrer Bluse weit geöffnet, sodass ihr diese etwas über die Schultern hinabrutschte und einen beträchtlichen Teil ihres Dekolletés entblößte. Ein rotes Kopftuch, welches sie in der Art der Bauern im Nacken geknotet hatte, verdeckte den Großteil ihres Haares, neckisch hatte sie einige Locken daraus hervorgezupft.
Sie verstaute in einem Korb Brot, Wein und Äpfel und machte so, auffällig und aufreizend gekleidet, am Burgtor den Wachleuten blinzelnd schöne Augen. Sie hatte Angst, eher lächerlich als verführerisch zu wirken, doch die Männer nutzten die willkommene Abwechslung und ließen sogleich ihren, bedauerlicherweise nicht wirklich vorhandenen, Charme spielen. Johanna machte trotzdem gute Miene und kokettierte eine Weile mit den Männern, wie sie es oft bei ihrer Freundin Isabella beobachtet hatte. Stöhnend, genervt und die Augen dabei verdrehend quittierte sie normalerweise das Gebaren ihrer Freundin, wenn sie mit ihren Verehrern sprach. Jetzt hoffte sie, sich gut genug an diese Gespräche zu erinnern und versuchte, diese so gut wie möglich zu imitieren. Sie kicherte über jedes Wort, das die Männer stammelten und zog, wenn diese sie neckten, immer einen Schmollmund. Erstaunlicherweise kam Isabellas Verhalten bei den meisten Männern gut an und sie erreichte fast immer, was sie beabsichtigte. Und jetzt würde sich herausstellen, ob es auch ihr gelingen sollte und vorsichtshalber schickte sie ein Stoßgebet zum Himmel und zu Isa und bat um Beistand.
Nach einigen Minuten Geplänkel bat sie, möglichst einfältig-dumm dreinschauend, weinerlich darum, ihrem armen „Bruder“ die Sachen zukommen lassen zu dürfen und nach ihm zu sehen.
Die beiden Soldaten, die mittlerweile ihrem Ausschnitt weit größere Aufmerksamkeit zukommen ließen als ihrer Aufsichtspflicht und sich natürlich alle Hoffnung machten, bei ihr anzukommen und es ihr recht zu machen, gestatteten es ihr überschwänglich. Der jüngere der Wachen wurde von seinem älteren Kollegen, der offensichtlich doch über das größere Pflichtbewusstsein verfügte, beauftragt, ihr den Weg in den Kotter zu weisen.
Der Bursche führte sie, etwas dämlich grinsend, mit hochroten Ohren durch ein finsteres Tor, das durch ein gefährlich aussehendes Fallgitter gesichert war vom Rondell hinüber ins Innere der Burg. Quer durch den Innenhof brachte er sie zum Eingang des Burgverlieses. Im Inneren der Burg staunte Johanna über die eleganten Arkadengänge. Doch erschreckende Fabelwesen an der Fassade verliehen dem schönen Innenhof trotz der schönen Architektur ein beklemmendes Aussehen. Vom schweren Eisentor rief ihr Begleiter den dortigen Wachen zu, sie sollten sich weiter um die Frau kümmern.
Ein junger, grobschlächtiger Riese in lichten Beinkleidern, was seiner Gestalt nicht eben zum Vorteil gereichte, erschien aus dem düsteren Gang und nahm sich ihrer an. Sie musste sich erst an die Dunkelheit gewöhnen, da draußen strahlender Sonnenschein herrschte.
Der Riese brachte sie eine dunkle, muffige Treppe hinauf zu der Gefängniszelle. Ein zweiter, schon ergrauter einäugiger Mann erkundigte sich streng nach ihrem Anliegen und sie zeigte ihm den Inhalt ihres Korbes, den er genau inspizierte, und bat darum, ihren Bruder sprechen zu dürfen. Ebenfalls von ihren Reizen und ihrem gespielten verlegenen Gekichere, auch das hatte sie bei Isabella abgekupfert, sichtlich abgelenkt, gestattete auch er ihr bereitwillig, an die vergitterte Zelle zu treten und ein paar Worte mit dem dort gefangenen Hauptmann zu wechseln.
Jetzt musste sie sich wieder ganz auf ihre Rolle konzentrieren. Lautstark zeternd begann sie, Leon seine Sauferei vorzuwerfen und erkundigte sich jammernd, wer jetzt für die alten gebrechlichen Eltern und die Landwirtschaft sorgen sollte, dass er schon wieder ein armes Mädchen geschwängert hätte, und ob sie jetzt vielleicht seinetwegen ihren Körper verkaufen sollte, um die Familie durchzufüttern.
Leon blieb bei ihrem Ausbruch kurz die Spucke weg, soviel Enthusiasmus hatte er von ihr vielleicht nicht erwartet, oder doch? Wenn er genauer darüber nachdachte, Johanna hatte ihn immer wieder überrascht, also war es nicht allzu ungewöhnlich. Die Wachen lachten ihn lautstark und hämisch aus, als sie, zuerst belustigt, Johannas Ansprache zuhörten.
Nach einiger Zeit ließ aber das Interesse der Wachen an Johannas nicht enden wollender Schimpftirade nach und sie warfen schließlich dem armen Burschen hinter den Gitterstäben sogar bedauernd einen mitfühlenden Blick zu. Dann widmeten sie sich wieder ihrem Kartenspiel. Die Weiber sind ja doch alle gleich, sollte diese Geste wohl ausdrücken.
Als die Wachen wieder in ihr Spiel vertieft waren und über die Regeln lauthals ein Streitgespräch entbrannte, erkundigte Johanna sich mit leiseren Worten nach dem Stand der Dinge und er gab ihr zu verstehen, dass die beiden Verschleppten sich direkt hinter ihr in dem Verlies befanden und es ihnen, der Situation entsprechend, gut ging. Ihr fiel sichtlich ein Stein vom Herzen. Er deutete auf den jüngeren bulligen Aufseher und bedeutete ihr, dass dieser wohl geistig etwas beschränkt, aber sonst recht freundlich war. Das mussten sie sich irgendwie zu Nutzen machen. Gefährlicher war hingegen der andere, erfahrenere Mann, der überdies die Befehlsgewalt hier hatte.
Leon hatte genau den Zeitplan und die Angewohnheiten der Wachen beobachtet und aufgeschrieben, jetzt steckte er Johanna heimlich das Papier mit seinen Anweisungen zu und bedeutete ihr, sie solle diese Informationen sofort dem Befehlshaber der Verstärkung mitteilen. Sie flüsterte ihm abschließend zu, dass ihr sicher ein guter Plan einfallen würde und er sich in den nächsten Tagen bereithalten sollte. Schnell wollte er ihr noch sagen, ja nichts zu überstürzen und fasste durch die Gitterstäbe nach ihrer Hand, um sie zurückzuhalten, doch sie rauschte bereits in Richtung der Wachen davon. Hilflos legte er, als sie freundlich grüßend und dabei aufreizend mit ihrem Hinterteil wackelnd an den Wachen vorüberstolzierte, den Kopf in den Nacken und hoffte inständig, sie würde seinen Rat befolgen und alles Weitere den vom Erzherzog gesandten Befehlshabern und Carl überlassen. Er verfluchte seine derzeitige Lage und dass er zur Untätigkeit verdammt war.
Zurück bei Carl und den fünf Männern, die jetzt, solange Leon im selbst gewählten Gefängnis weilte, unter dessen Befehl standen, sprang Apollo an ihr hoch und warf sie beinahe dabei um. Der Hund, der sonst immer voll Freude seinem Herrn folgte, wachsam und lauernd nach allen Seiten spähte, schlich schon seit zwei Tagen mit hängendem Kopf schier trübselig herum. Jetzt nahm er wahrscheinlich einen leichten Duft von seinem Herrn an Johanna wahr und wich ihr nicht mehr von der Seite.
Sie übergab Carl Leons Nachricht für den anderen Hauptmann, wie ihr aufgetragen worden war. Zu zweit entzifferten sie mühsam dessen im Dunklen, womit auch immer gekritzelten Beobachtungen. Er hatte bemerkt, dass der gefährlichere der Wachen immer, wenn die Kirchenglocke das erste Mal zur Vesper läutete, seinen Wachposten verließ und erst eine halbe Stunde später seine Ablösung erschien. In der Zwischenzeit war der einfältig wirkende, jüngere Wärter alleine mit den Gefangenen. Der Schlüssel für die Zelle, in der Leon mittlerweile alleine festgehalten wurde, ging dabei von dem hageren Bärtigen, der ihn an einer Kordel seiner Hose befestigt hielt, an den kräftigen Burschen mit dem struppigen Haar über, dieser wiederum steckte den Schlüssel in eine kleine Ledertasche an seinem Gürtel.
Wenig später fassten sie gemeinsam mit dem Hauptmann der königlichen Garde einen Plan.
Der Medikus des Stift Melk hatte ihnen in weiser Voraussicht ein starkes Schlafmittel mit auf den Weg gegeben. Jetzt beschlossen sie, etwas davon in die Bierkrüge, die bei der Abendvesper in der Burg, an dem auch immer der Burgherr teilnahm, die Runde machten, zu mischen und einen kleinen Weinkrug mit einer höhere Dosis davon zu versetzen, der für den jungen Wachposten im Verlies gedacht war.
Die eingeweihten Männer wussten natürlich alle davon und würden den betäubenden Trank meiden. Johanna stellte sich freiwillig zur Verfügung, abermals ins Verlies zu gehen und die Befreiung der dort Festgehaltenen vorzubereiten. Der Plan sah vor, in der von Leon vorgeschlagenen Zeitspanne den verbliebenen Wachposten abzulenken und ihm den starken, mit Betäubungsmittel versetzten, Wein zu verabreichen. Man setzte hier auf ihre weibliche Taktik und Geschick, der Wache im betäubten Zustand dann den Schlüssel zu entwenden und Leon damit zu befreien, der sich dann um die beiden jungen Grafen im Verlies kümmern würde.
Als man alle Details besprochen hatte, zog sich der Hauptmann zurück zu seiner Unterkunft in der Burg, wo er seine Männer über die weitere Vorgangsweise informierte. Johanna und ihre Vertrauten zogen sich unterdessen in ihr vorübergehendes Versteck am Rande des Dorfes, einen unbenutzten von Sträuchern und Schlingpflanzen überwucherten Heuboden über den bereits die Spinnen ihre silbernen Netze gesponnen hatten und der neben einer verlassenen Schmiede lag, zurück.
Johanna durchwachte vor lauter Nervosität eine schreckliche Nacht. Carl hatte ihr vorhin noch Mut gemacht, doch jetzt, auf ihrem einsamen Lager, hinderten sie Angst und Zweifel am Einschlafen. Erst als sich Apollo zu ihren Füßen zusammenrollte, verfielt sie in einen, von Albträumen durchwirkten, unruhigen Schlaf.
Als der Morgen graute und sie die Glocke zum Frühgebet weckte, sprang sie aus diesem bejammernswerten Zustand von ihrem Lager auf. Sie fragte sich dabei, wie sie den Tag bis zur geplanten Befreiungsaktion überstehen sollte. Ihr Magen fühlte sich nervös an und als ob sich ein kalter Klumpen darin befand.
Um sich abzulenken unternahm sie mit Apollo einen Streifzug zu den mit Obstbäumen umsäumten Feldern und Wiesen, die hinter der Burg begannen. Auf einem der Felder blühte wunderschöner weißer Mohn und verströmte einen durchdringenden starken Geruch. Müde von der unruhigen Nacht setzte sie sich unter einen Schatten spendenden Mostapfelbaum und rupfte nachdenklich ein paar leuchtend blaue Kornblumen ab und flocht diese zu einem Kranz, den sie am Abend tragen wollte.
Müde und vom starken Duft des Mohns eingelullt wurden ihre Lider schwer. Es hatte den Anschein, der Mohn würde sich mit jedem Atemzug, den sie tat, zu ihr neigen und mit jedem Ausatmen in die entgegen gesetzte Richtung. Sie fand den Gedanken beruhigend und spürte, wie sich ihr Körper entspannte. Schließlich übermannte sie die Müdigkeit und sie fiel in einen tiefen Schlaf, während dem sie von Apollo bewacht wurde.
Als sie nach einer Weile erwachte, erinnerte sie sich aufgewühlt an ihren Traum. Ein Engel hatte ihr darin beruhigend zugesichert, sie brauche sich keine Sorgen zu machen, alles würde sich zum Guten wenden.
Wie schon oftmals davor, kam sie ins Grübeln, was ihre Träume wohl bedeuten mochten. Wollte Gott den Menschen durch die Träume etwas mitteilen oder dadurch Ratschläge geben? Sie wurde sich des intensiven Geruchs des Mohns bewusst und dachte über die Wirkung, die dieser Pflanze zugeschrieben wurde, nach. Demnach soll Mohn sowohl dämonische Kraft besitzen als auch die Fähigkeit, böse Geister abzuwehren. Die Mönche nährten mit seinem Öl das ewige Licht an den Altären und in den Schreibstuben und nutzten ihn als Heilmittel, indem sie sein Gift aus Stängel und Kapsel vorsichtig einsetzten.
In einer griechischen Legende hatte sie gelesen, der Mohn wäre der Göttin Demeter heilig gewesen, da er ihr über den Raub ihrer Tochter durch Hades, den Herrscher der Unterwelt, hinweggeholfen hatte. Der Mohn hatte ihr darin die ersehnte Vergessenheit gebracht und sie so von der unermesslichen Sorge um ihre Tochter Persephone befreit. Johanna schärfte sich jedoch sogleich ein, dass Vergessen in ihrem Fall nicht hilfreich wäre, so konnte sie Max und Adam nicht helfen.
Ausgeruht und voller Tatendrang machte sie sich anschließend auf den Rückweg zu den Männern, als sie eine bekannte, auffällig große, Gestalt bemerkte, die soeben das Tor am Rondell verließ. Sie erkannte in dem Mann den jungen tölpelhaften Wachmann aus dem Verließ mit den hellen Beinkleidern und, voller Angst ihr Plan könnte daran scheitern, dass er einen freien Tag haben könnte, ging sie ihm nach und sprach ihn bei der ersten Gelegenheit, die sich bot, an.
Erleichtert hörte sie ihn berichten, dass er nur ein paar Stunden vom Wachdienst befreit war, um am Abend wieder dort seinen Dienst zu versehen. Sie nutzte die Gelegenheit für einen Flirt und konnte ihr Glück, ihn hier getroffen zu haben, gar nicht fassen. Sie fragte ihn, ob er sie gerne wiedersehen würde und mit hochrotem Kopf stimmte er ihr zu. Offensichtlich hatte Leon recht gehabt, in seinem Kapitorium musste es ganz schön hapern. Ermutigt durch ihr albernes Gehabe, versuchte er schließlich sogar dreist, ihre Brüste zu begrapschen und sie musste sich vorsehen, ihn nicht zu ohrfeigen, das würde wohl ihren Plan zunichte machen. Den aufsteigenden Ekel verdrängend, ermutigte sie ihn, ihren Körper an den seinen gedrückt, sogar dazu, ihr einen Abschiedskuss zu geben und versprach ihm, am Abend ihrem Bruder wieder einen Besuch abzustatten. So würde er hoffentlich den Torwachen schon im Voraus Bescheid über ihr Erscheinen geben.
Sie hoffte, er würde ihr nur einen kurzen Kuss geben, doch der Riesenkerl umfasste mit seinen groben Händen ihre Taille und drückte sie fest an sich. Als sein Mund dem ihren immer näher kam, schloss sie die Augen und dachte ganz intensiv an Max und daran, dass sie das nur seinetwegen durchstehen musste. Er, Adam und ihr Lebensretter, Leon, zählten an diesem schrecklichen Ort hinter den dicken Mauern auf sie. Sie spürte eine schleimige Zunge, die in ihren Mund eindringen wollte, und roch seinen schlechten, nach Bier stinkenden Atem und dieses Gefühl reichte, um ihn von sich stoßen zu wollen. Schüchtern stemmte sie ihre Hände gegen seine Schultern und zwang ihn damit, von ihr abzulassen. Verschämt um sich blickend spielte sie das fromme Mädchen, das nicht in aller Öffentlichkeit geküsst werden wollte und hauchte ihm einen leichten Kuss auf die Wange, um ihn mit dem Versprechen, ihn aufzusuchen, stehen zu lassen.
Insgeheim fürchtete sie sich zu Tode, dieser ungebildete Kerl könnte die Situation ausnutzen und weiß Gott was mit ihr anstellen, doch offensichtlich hegte er keine bösen Absichten, wie sie an seinem Gesichtsausdruck ablesen konnte. Möglicherweise lag es auch an dem riesigen Hund der ihr nicht von der Seite wich, dass er es unterließ ihr zu folgen. Als sie sich umgedreht hatte und in Sicherheit befand, konnte sie sich ein zufriedenes Lächeln nicht verkneifen. Dieser glückliche Zufall würde ihren gefassten Plan sehr vereinfachen, zuversichtlich konnte sie also dem nahenden Abend entgegenblicken.
Einige Stunden später hatte sich dieses euphorische Gefühl wieder verflüchtigt. Alles war exakt vorbereitet und geplant. Im Geist hatten sie den Ablauf immer wieder durchgespielt und es sollte alles wie am Schnürchen funktionieren. Je mehr sie sich aber mit den offenen Variablen befasste, was alles schief gehen konnte, wenn auch nur ein Detail nicht nach Plan funktionierte, wenn die schwer bewaffneten Wachen ihr Muster nicht beibehielten. Johanna wollte nicht daran denken. Es musste einfach klappen. Ihre verdeckten Ermittlungen mussten zum Ziel führen. Falls nicht...
Zur verabredeten Zeit erschien Johanna, einen Krug Wein und zwei Becher in Händen haltend, am Absatz der Treppe und rief dem stämmigen Wachposten einen Gruß zu. Die Wachen am Tor hatten sie wieder ungehindert passieren lassen. Von einem Mädchen wurde hier nichts befürchtet. Wie bereits vermutet, reagierten die Wachposten gar nicht erstaunt auf ihr Erscheinen, der Riese hatte wohl tatsächlich schon über seine Eroberung geprahlt. Nun, es konnte ihr nur recht sein. In der Burg würde man wahrscheinlich gerade zu Tisch sein. Der zweite Wachmann hatte zur üblichen Zeit seinen Posten verlassen und hoffentlich den Zellenschlüssel dabei an seinen Kollegen übergeben, alles schien nach Plan zu verlaufen. In der Burg hatte, mit Gottes Hilfe, das Hilfsregiment ebenfalls alles in Griff.
Als Johanna dem jungen Kerkermeister einen Becher Wein und einen Brotfladen, den sie dick mit einem Gemisch aus geröstetem Mohn, Honig und Ei bestrichen hatte, anbot und sich auch selbst einen Becher Wein eingoss, mischte sich Leon aus seiner Zelle in das traute Geschehen ein und wandte sich an das Mädchen, doch lieber ein gutes Wort zu seiner Befreiung einzulegen. Entrüstet antwortete sie ihm darauf, er hätte sich seine missliche Lage doch selbst zuzuschreiben, immerhin fragte sie ihren neuen Freund, ob er vielleicht die Güte hätte, ihren verdammten Bruder endlich freizulassen, doch ging dieser leider nicht darauf ein und verwies nur pflichtbewusst und geflissentlich auf die übliche Woche zur Ausnüchterung, die die Gefangenen absitzen mussten. Ihr Blick fiel auf die an der Wand befestigten Folterwerkzeuge. Sie sah Bein- und Daumenschrauben, Mundbirnen, Streckleitern und ein Richtrad und merkte, wie die nackte Angst sich in ihr breit machte.
Sie verlegte sich schließlich aufs Bitten und Betteln, nicht ohne dem Kerl dabei immer kräftig von dem mit Schlafmittel versetzten Wein nachzuschenken, der indes noch keinerlei Wirkung zeigte. Dafür entfuhren ihm immer wieder laut Gase aus dem Hintern und verströmten einen mächtigen Schwefelgestank. Er hatte wohl zuviel Süßwurzeln gegessen. Angeekelt zwang Johanna sich dazu, sich nicht die Nase zuzuhalten. Dem Kerl schien es jedenfalls nicht peinlich zu sein. Im Gegenteil schien das Gebräu den Mann geradezu anzustacheln, sich Frechheiten herauszunehmen. Er hatte es sich auf einem Hocker am Tisch, mit dem Becher Wein in der Hand, gemütlich gemacht. Mit der zweiten Hand zog er Johanna, die sich diese unwürdige Behandlung widerstrebend gefallen lassen musste, auf seinen Schoß und fummelte an ihrer Bluse herum.
Leon konnte das Geschehen von seiner Zelle aus verfolgen. Hinter dem Rücken des Wachpostens schnitt Johanna verzweifelte Grimassen in seine Richtung, offensichtlich hatte sie damit gerechnet, das Schlafmittel im Wein würde sofort seine Wirkung entfalten. Hilflos konnte er nur mit den Schultern zucken und ihr zudeuten, sie solle den Mann hinhalten und mehr Wein einflößen.
Die Situation wurde allmählich brenzlig, als der dreiste Kerl unter Johannas Rock fasste und ihre weißen Schenkel streichelte. Mühelos und grob hob er sie auf den roh gezimmerten harten Tisch und wollte sich bereits anschicken, seine Hose zu öffnen. Immer noch zeigte er keine Anzeichen von Müdigkeit.
„Halt a weng aus!“ versuchte Johanna ihn abzulenken und prostete dem Mann zu und veranlasste ihn, einen Schluck zu trinken. Um Zeit zu gewinnen nahm sie ihm dann den Becher aus der Hand und stellte ihn neben sich auf den Tisch. Dann rutschte sie wieder von diesem herunter und drückte den Burschen zurück auf seinen Hocker, um sich an seinem Hemd zu schaffen zu machen. Geschickt versuchte sie dabei, ein Gespräch auf das Thema Hochzeit und Familie zu lenken, während ihre Hände die haarige Brust unter dem offenen Hemd streichelten.
Das zeigte den gewünschten Erfolg und der Mann griff abermals, diesmal freiwillig, nach seinem Becher Wein und stürzte den gesamten Inhalt in einem Zug hinunter, um sich selbst Mut zu machen. Ein Teil des Getränkes lief ihm dabei bereits aus den Mundwinkeln und seine Augen hatten endlich einen trüben Blick, und auch die Bewegungen seiner Hände wurden träger. Aufgebracht grollte er Verwünschungen.
Abermals zog er Johanna an sich und küsste ihren, im Gerangel aus der Bluse gerutschten, Busen. Spitze Schreie der Verzückung immitierend ließ das Mädchen ihn gewähren, ohne sich ihre Angst anmerken zu lassen, dabei versuchten ihre Finger unauffällig, an die Ledertasche an seinem Gürtel zu gelangen und unbemerkt den Zellenschlüssel daraus hervorzuziehen. Begleitet von wilden ekstatischen Lauten, die das Geräusch übertönen sollten, warf sie schließlich die Beute in Leons Richtung.
Braves Mädchen. Es war auch schon hoch an der Zeit. Nicht nur Johannas Unschuld stand auf dem Spiel, jeden Moment konnte der zweite Wachposten zurückkehren. Geschickt gelang es ihm, den Schlüssel aufzufangen, bevor er klimpernd auf dem Steinboden aufschlug und womöglich ein verdächtiges Geräusch den zudringlichen Wachmann auf ihn aufmerksam machen würde. So lautlos wie möglich öffnete er sein Gefängnis und schlich sich vorsichtig an den von Johanna abgelenkten Wachposten heran. Außer seinen Fäusten hatte er keine Waffe bei sich und so zielte er damit genau auf einen wunden Punkt im Nacken des Mannes und ließ blitzschnell die geballte Faust darauf niederfahren. Lautlos kippte der Mann vom Stuhl. Johanna konnte gerade noch verhindern, mit ihm zu Boden zu gehen und beäugte misstrauisch die bewusstlos am Boden liegende Gestalt.
Indessen machte er sich bereits an dem schweren Riegel der Kerkertür zu schaffen und öffnete diese endlich. Adam und Max hatten hinter der schweren Türe bereits gelauscht und angestrengt auf ihre Rettung gewartet. Sie machten einen verwahrlosten aber unverletzten Eindruck und bedankten sich vorsichtig leise bei ihren Befreiern. Beiden war in den letzten Wochen ein ungepflegter Bart gewachsen und sie verströmten einen muffigen Geruch. Überglücklich fiel Johanna zuerst ausgiebig Max um den Hals und vergewisserte sich ob noch alles an ihm heil war und dieser erwiderte die Umarmung und drückte sie eng an sich. Adam kniff dem Mädchen danach liebevoll in die Wange und erkundigte sich leise, wie es ihr ergangen war und sie erzählte in kurzen Worten von ihrer Verletzung.
„Wir dachten dort drinnen schon, das Gras wachsen zu hören, in das wir beißen werden!“ scherzte Adam bereits wieder.
Vorsichtig stiegen sie gemeinsam die Treppe nach unten und lauschten, auf ein Zeichen von Kampf aus dem Rittersaal, doch alles war ruhig. Der ebenfalls befreite Geistliche aus dem Kerker hatte sich angeboten, auf den bewusstlosen Wachmann aufzupassen und hielt drohend den schweren Weinkrug über dessen Kopf.
Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, verbargen sich die vier im Schatten der dicken Befestigungsmauer. Die Wachen vorne am Tor hatten scheinbar nichts von den Vorgängen im Verlies bemerkt und wandten ihnen den Rücken zu. Nach endlosen Minuten vernahmen sie aus dem Inneren erste Kampfgeräusche. Die Wachen am Burgtor riefen ihren Kameraden im Rondell zu, dass etwas im Inneren der Burg vor sich zu gehen schien und sie wachsam sein sollten, was diese auch sofort befolgten, indem sie das schwere Fallgitter zwischen Schloss und Vorburg hinab ließen. Das würde dem älteren Wachmann hoffentlich ebenfalls den Zugang versperren und so sollte ihr Entkommen noch einige Zeit unbemerkt bleiben. Da die Wachen in der Vorburg sich danach nicht mehr um das Geschehen im Inneren der Burg kümmerten, war der Weg über die Kapelle in die angrenzende Kirche frei. Sie gaben dem im Verlies wartenden Geistlichen durch ein verabredetes Zeichen Bescheid und schlichen schließlich, den alten Mann stützend, gemeinsam mit ihm vorsichtig und unauffällig durch das unbewachte Gebäude in die Freiheit und zu den wartenden Helfern um Carl, die bereits mit den gesattelten Pferden auf sie gewartet hatten.
Jetzt, wo er Max und Adam endlich befreit wusste, fühlte Leon sich wie von schwerer Schuld befreit. Ohne auf die Soldaten des Hilfsregiments Rücksicht zu nehmen, brachen sie zum verabredeten Treffpunkt auf und warteten dort unter einer uralten, zumindest sechs Ellen dicken, Eiche mit ungeheuer dichtem Geäst, durch das wohl weder Schnee noch Regen hindurch dringen konnten, auf das Eintreffen der Reiter des Erzherzogs.
Max und Adam wollten natürlich den Grund ihrer Entführung wissen, doch in dieser Hinsicht lag nach wie vor alles im Dunklen. Leon berichtete ihnen von dem abgefangenen Erpresserbrief und die beiden äußerten Vermutungen wie der Geistliche. Der alte Mann würde zurück in seine Gemeinde kehren können, sobald der Verbrecher und seine Söldner dingfest gemacht waren. Man konnte nur hoffen und darauf vertrauen, dass die Hofrichter durch Einvernahme des Verbrechers, sofern man dessen habhaft werden konnte, den wahren Hintergrund erfahren würden. Wenn die Intrige allerdings wirklich die Ausmaße erlangt hatte, die sie nun alle vermuteten, würden die tatsächlichen Auftraggeber wohl davonkommen. Nicht einmal der Kaiser konnte einen Papst als Auftraggeber und Drahtzieher eines solchen Komplottes beschuldigen.
Nach einiger Zeit vernahmen sie das Geräusch sich nähernder Reiter. Es war der Hauptmann mit seinem Kontingent und kurz teilte der den Wartenden mit, dass alles nach Plan verlaufen sei und die meisten Männer in der Burg tief schliefen und der Rest unschädlich gemacht war. Den Burggrafen und mutmaßlichen Anstifter der Entführung, der noch halb bewusstlos im Sattel hing, hatte er in Fesseln legen lassen und, von vier Soldaten bewacht, mitgenommen. Eine Verfolgung sei deswegen nicht anzunehmen, trotzdem schlug er vor, schnell so viel Abstand wie möglich zu gewinnen und langsam im Schutz der Nacht weiterzureiten. Er glaube zwar nicht, dass sich die Söldner, jetzt, wo ihr Auftraggeber verhaftet war, zu weiterem Widerstand berufen fühlten, doch in Anbetracht der doch ganz beträchtlichen Anzahl der Söldner der Privatarmee war diese Entscheidung sicher richtig. Man hatte den Kopf des Ungeheuers erbeutet. Der Rest des Körpers würde alleine hoffentlich nicht mehr allzu großen Schaden anrichten.
Im Morgengrauen erreichten sie schließlich wieder Stift Melk und gaben dem aufgeregt wartenden Pater Sebastian Nachricht von ihrem geglückten Unterfangen. Dieser bot den erschöpften Reisenden Räume zum Ausschlafen an und wollte sie danach unbedingt auf ihrem Weg nach Wien begleiten. Hocherfreut stimmten die Männer zu und brachen nach einigen Stunden Schlaf mit den ebenfalls erholten Pferden auf.
Max und Adam hatten sich wieder in zwei gepflegte Edelmänner verwandelt und es war ihnen, außer einer etwas bleichen Gesichtsfarbe und einigem Gewichtsverlust, nichts mehr von den Tagen im Verlies anzumerken. Natürlich brannten die beiden darauf, den Gefangenen zu verhören, doch Leon und der Befehlshaber der zweiten Kompanie hielten es für besser, damit bis nach ihrer Ankunft in Wien zu warten. Gezwungenermaßen erklärten sie sich deshalb damit einverstanden. Die ganze Sache war ohnehin sonderbar und die Geheimnistuerei bestärkte ihre Annahme, in ein politisches Ränkespiel geraten zu sein, nur.
Sie waren bereits von ihrem Weg entlang der Donau abgezweigt, da deren Ufer etwas sumpfiger wurde, und hatten nun eine Abkürzung über das große hügelige Waldgebiet Richtung Wien eingeschlagen, als sie schließlich am späteren Nachmittag ihr Lager errichteten. Bis in die Stadt hätten sie es wahrscheinlich vor Einbruch der Dunkelheit nicht mehr geschafft und aus Sicherheitsgründen wollten die beiden Befehlshaber deshalb hier in sicherem Abstand zu Wien übernachten.
Sobald es ihnen halbwegs unauffällig erschien, suchten Johanna und Max, nachdem sie Leon mitgeteilt hatten, in welche Richtung sie wollten und sein Einverständnis hatten, ein ungestörtes Plätzchen auf einem kleinen Hügel auf, von dem sie trotzdem das Lager im Auge behalten konnten. Sie fanden zu ihrer Überraschung einen Pfennigstein. Diese bedeutsamen mythologischen Denkmale aus keltischer Vorzeit wurden auch Fenessteine genannt. Es waren Felsen, die einen Spalt aufwiesen, durch den die Leute dem Brauch nach hindurch kriechen sollten. Tat man das, nach der Überlieferung unbeschrien und ohne Rückblick, so soll man damit Kreuzweh und andere Krankheiten verhüten und heilen können. Diese Steine verkörperten im Gegensatz zu den, das männliche Prinzip versinndeutlichenden, Phallussteinen, das weibliche Prinzip der Zeugung.
Johanna und Max hielten sich an den Händen und krochen so, sich mühsam das Kichern unterdrückend, hindurch, um sich anschließend lachend gegenseitig in die Arme und in das weiche Moos des Waldbodens fallen zu lassen.
Endlich spürte sie wieder Max` feste und fordernde Lippen auf den ihren und fühlte sich sicher und behütet in seinen Armen.
„Lass uns jeden Moment so leben, als wäre es der letzte in unserem Leben. Lass uns so küssen, als wäre es der letzte Kuss in unserem Leben!“ flüsterte sie melancholisch.
Sie empfand wohlige Wärme in seiner Umarmung und gab sich ganz dem Augenblick hin. Verträumt spielten ihre Fingern mit Max` Amulett, das er schon von klein auf stets trug, denn es war das Taufgeschenk des Erzherzogs und damit der wertvollste Gegenstand, den er besaß.
„Hab ich Dir etwa erlaubt, das anzufassen?“ meinte er mit einem verräterischen Zwinkern, wohl mit dem Gedanken spielend, sie von ihren schwermütigen Überlegungen abzubringen.
Johanna zog einen Schmollmund, sie hatte diese Geste ja in den letzten Tagen zur Perfektion gebracht, und meinte darauf verführerisch „Du hättest wohl gerne, dass ich was anderes anfasse, oder?“ Bedeutsam zog sie ihre Augenbrauen nach oben. Er zeigte ihr, was er gerne hätte, und sie genoss dafür seine im Austausch gegebenen Zärtlichkeiten.
Die letzten Sonnenstrahlen wärmten ihre sich liebenden Körper und es schien, als könnten sie die ganze Schönheit und Kraft der Natur in sich aufsaugen. Ihre beiden Körper vereinigten sich und sie verschmolzen mit dem weichen Moos, auf dem sie lagen. Die Hitze ihrer beiden Körper ließ an den Stellen, wo sie einander berührten, kleine Rinnsale aus Schweiß entstehen, die, wenn ein leichter Windhauch darüber strich, erregend prickelnde Schauer über ihre Körper sandten und ihren Hunger aufeinander immer wieder von neuem entfachten. Die schimmernden Blätter über ihnen bildeten ein natürliches Dach. Der mächtige Fels auf der einen Seite und die dicken Baumstämme ringsum beschützten sie und schufen eine eigene heile Welt um sie.
„Du weißt, dass unsere Welt schon morgen ganz anders aussehen könnte, nicht wahr?“ fragte Max, als sie zufrieden aneinander gekuschelt in den rot gefärbten Himmel blickten. „Heute ist, Gott sei Dank, nicht morgen.“ wollte sie verhindern, dass er weiter sprach.
„Johanna, ich kann dir nichts versprechen, was ich möglicherweise nicht halten kann!“ setzte er erneut an.
„Du musst nicht versuchen ein rotes Wort zu färben. Ich bin nicht so blauäugig wie du annimmst.“ entgegnete sie ausweichend und versuchte zu scherzen.
„Ich kenne doch deine Vorliebe für griechische Tragödien. Ich will nur nicht, dass du aus Liebe auf irgendwelche dummen Gedanken kommst.“ versuchte er ihr auf scherzhafte Weise seine Ängste zu erklären.
„Ich weiß dass du vielleicht bald eine andere heiratest, heiraten musst, obwohl ich hoffe, dass der Erzherzog vielleicht mittlerweile deren Hand schon jemanden anderem gegeben hat, immerhin sind wir schon einige Wochen im Verzug, weil du und Adam ja solange auf dieser Burg weilen musstet. Aber selbst wenn nicht musst du keine Angst haben, dass ich mir aus Verzweiflung etwas antun würde.“ Sie machte eine kurze Pause.
„Ich würde nur dir was antun!“ sagte sie gleich darauf lachend und konnte so auch seine letzten Befürchtungen zerstreuen.
„Keine Angst, du musst dich also nicht aus Gram über meinen Tod anschließend selbst richten, schließlich bin ich hier oben ziemlich normal und meine Eltern waren ja auch nicht Mutter und Sohn!“ spielte sie, sich auf die Stirn tippend, auf Antigones Tragödie an. „Außerdem hat mir Mama bereits versichert, dass auch andere Mütter noch hübsche Söhne haben, der junge Mann, der auf euch aufgepasst hat, war ganz versessen darauf, mir schön zu tun. Oder wer weiß, vielleicht findet sogar der Erzherzog für mich einen alten verwitweten Tattergreis, den er noch aus politisch wichtigen Gründen auf seine Seite ziehen will und mich gut genug für eine Heirat dafür hält.“ versuchte sie, ihn ebenfalls eifersüchtig zu machen.
„Wer weiß schon, was das Leben noch alles für uns bereit hält, wir haben doch eben erst begonnen, uns von der Liebe inspirieren zu lassen, obwohl es schwerlich zu glauben ist, dass ich jemals wieder so glücklich sein könnte wie gerade jetzt. Warum wird uns das Glück so schwer gemacht?“
„Du hast Recht. Lass uns nicht so schauervolle Ausdenkungen anstellen. Morgen werde ich dem Erzherzog erklären, dass meine Hand und mein Herz nicht mehr frei sind.“ Er hatte sich bei diesen Worten erhoben und zog Johanna mit sich hoch.
Die Sonne war schon fast zur Gänze um den Hügel hinüber verschwunden und ihre letzten Strahlen warfen lange Schatten über das Gelände. Sie mussten wieder zurück ins Lager bevor man sich ernsthafte Sorgen um sie machen würde.
Ein gewisses, beunruhigendes Gefühl hatte sich seit seiner Entführung immer mehr in Max Hinterkopf eingenistet. Es waren einfach in letzter Zeit zu viele sonderbare Geschehnisse vorgekommen und er konnte sich keinen Reim darauf machen. Dieses Gefühl steigerte sich noch mehr als sie sahen, was in der Zwischenzeit im Lager passiert war.
Johanna wusste nicht viel über die Würdenträger rund um den Regenten, doch als sie im Lager dem Obersthofmeister des Erzherzogs vorgestellt wurden, der ihnen mit einer Ehrenkompanie entgegengereist war, ahnte sie, dass es keinesfalls üblich war, normale Gäste mit solch militärischen Ehren zu empfangen. Luis de Tovar, der Obersthofmeister, zwar in einfache, doch sichtlich kostbare Kleidung gewandet, war immerhin der oberste Repräsentant des Regenten. Warum zollte man ihnen solche Aufmerksamkeit? Zuerst das Eskadron Leibgarde-Reiter, mit denen Leon sie aus Steyr abgeholt hatte, wo es eine Nachricht ebenso getan hätte, dann diese mysteriöse Entführung und nun diese Ehrenbezeugung?
Die Soldaten, in dunkelgrüne Uniformen mit hellroten Aufschlägen gekleidet, trugen Hellebarden, ihre Rappen waren mit roter Schabracke und Goldzäumung geschmückt, dazu trugen sie einen Silberhelm mit dem Doppeladler, wie ihn auch Leon für gewöhnlich trug, und wirkten ziemlich einschüchternd auf Johanna.
Der Obersthofmeister war ein korrekter, würdevoller Mann, ohne aber überhebend oder arrogant zu wirken. Er teilte Ihnen mit einem leichten Zwinkern, das seinen umgänglichen Geist zeigte, mit, dass er und der Oberstfalkenmeister, Alfonso de Mercado, ihnen auf ausdrücklichen Wunsch Ferdinands entgegengereist waren, um weitere unliebsame Zwischenfälle zu verhindern und dafür zu sorgen, dass sie sicher und rechtzeitig am nächsten Tag zu einem geplanten Ehrenempfang in der Hofburg eintreffen würden.
„Wir befürchteten schon das Schlimmste und dass das Schicksal eurem Dasein bereits ein Ziel gesetzt hätte.“ erzählte er Max von den Sorgen der letzten Wochen.
Max wirkte wegen des Aufwandes ein wenig verdrießlich, sie selbst fühlte sich nur verstört.
Johannas Wunschtraum, sich des Nachts wieder mit Max davonzustehlen, zerplatzte damit. Zu viele Soldaten würden mittlerweile strengstens das Lager beobachten. Sie warf einen Blick auf Max, der gerade im Gespräch mit dem Würdeträger war. Stolz überkam sie, als sie sah, wie selbstbewusst er diesem eindrucksvollen Mann gegenüber auftrat. Sie hörte nicht seine Worte, doch meinte sie an seiner Miene ablesen zu können, dass er eine Frage an diesen gerichtet hatte. Nach dessen Antwort wandte er sich etwas ratlos zu dem schräg hinter ihm stehenden Adam um, der daraufhin nur mit den Schultern zuckte. Irgendetwas war ganz und gar nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Das beunruhigende Gefühl in ihrer Magengrube meldete sich zurück und als es dunkel wurde hielt es sie wieder einmal lange wach.
Ihre Gedanken wanderten zum morgigen Tag. Wie würde Wien sein? Voller Ehrfurcht dachte sie an die eindrucksvollen Schilderungen der Händler. Rom, die Stadt aller Städte, konnte sie sich im Traum gut vorstellen, mit ihren haushohen Aquädukten und den majestätischen Baudenkmälern entstand förmlich ein Bild in ihrem Kopf. Dort sollte es 300 Kirchen geben und der Papst persönlich herrschte über sie. Warum wusste sie so viel mehr von Rom als von ihrer Landeshauptstadt?
Ein wenig stellte sie sich die Stadt vor wie Steyr, nur etwas größer. Darüber nachgrübelnd fiel sie endlich in einen kurzen aber ruhigen erholsamen Schlaf.
Zeitig nach Sonnenaufgang traten sie die letzte Etappe ihrer Reise an und nach einem etwa zweistündigen Ritt erreichten sie einen Hügel, von dessen Spitze sie in der Ferne bereits die mächtige Stadtmauer und Wehrtürme ausmachen konnten.
Es war ein imponierender Eindruck und Johanna konnte bei diesem Anblick besser verstehen, warum der Erzherzog diese Stadt als neues fixes Domizil erkoren hatte. Das ganze Gebiet erschien ihr wie ein ungeheurer, herrlicher Garten, mit schönen Rebenhügeln und Obstgärten bekrönt. Sie ritten über einen der anmutigen Vorberge, an lieblichen Landhäusern, geschmückt mit Fischteichen, Jagdbarkeiten, Häusern und Gärten vorbei, auf die Stadt zu. Hier, in Stadtnähe, hatten sich die vermögenden Bürger offensichtlich Landdomizile errichtet, in die sie vor der Enge der Stadt fliehen konnten und die jedem Bedürfnis und jedem Genusse des Lebens dienlich schienen. Die Luft war köstlich, es wehte ein frischer Hauch über die Hügel.
Die Stadt selbst war mindestens dreimal so groß wie Steyr, schätzte sie, und schien dennoch aus allen Nähten zu platzen. Die Donau floss nahe am Siedlungsgebiet, von einem Gewirr unterschiedlichster Gerinne begleitet, ruhig dahin, verzweigte sich in mehrere, verschieden breite, Arme und dehnte sich an manchen Stellen seeartig aus. Einer der Flussarme zog dicht an der befestigten Stadt vorbei und flutete gleichzeitig den breiten, tiefen Wehrgraben. Sternförmig war dieses Befestigungssystem rund um die Stadt ausgehoben und nur über mehrere Brücken konnte man ins Innere der Stadt gelangen. Der Stadtwall war dahinter höher als so mancher Kirchturm und pfeilförmig ragten imposante Ravelins in den Graben hinein.
Johanna erlangte eine Ahnung, warum sich diese Stadt an dieser historisch schicksalhaften Südostabdachung, die den Westen vom Osten des Kontinents trennt, zum Achsenkreuz uralter Handelsstraßen und Durchzugswege entwickeln konnte. An dessen Nord-Süd-Achse verlief die von den Händlern genannte „Bernsteinstraße“. Sie verband Ostsee und Adria miteinander. Die West-Ost-Achse hingegen verlief entlang der Donau.
Der Kaiser hatte diese Lage wohl richtig als Schlüsselstelle innerhalb Europas erkannt und dass in ihr ein besonderer Drehkreuzcharakter begründet war, der sich auch im Aufeinandertreffen unterschiedlicher Klima-, Flora- und Faunazonen zeigte. Wald, Au und Trockenlandschaft trafen hier aufeinander. Der imposante Wienerwald mit seinen Gipfelhöhen,
durch den sie gerade geritten waren, wurde von einem Abhang begrenzt, der in Terrassen zum Wiener Becken abfällt. Schon die Römer hatten diesen, zu dieser Zeit noch Vindobona genannten, Ort besiedelt. Damals noch im Bemühen, das Vordringen der Germanen an Rhein und Donau aufzuhalten. Später, unter den Babenbergern, war Wien bereits einmal bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts Residenzstadt gewesen. Danach allerdings hinter Innsbruck zurückgetreten. Erst 1517 verlieh Kaiser Maximilian der Stadt neues Stadtrecht.
Sie waren nun ein Stück um die Stadt herumgeritten, ließen die letzten Gutshöfe und Äcker hinter sich und näherten sich einer breiten Brücke, die von nord-westlicher Richtung in die Stadt führte. Wie ihnen erklärt wurde, waren wegen eines neuerlichen Türkeneinfalls vor wenigen Monaten in der Nähe nur die wichtigsten Stadttore geöffnet und das auch nur tagsüber. Wollte jemand nach Einbruch der Dunkelheit in die Stadt, musste er einen Sperrkreuzer zahlen.
Die Stadt hatte wegen der Türkenbedrohung eine Guardia gegründet, die Schießstätten auf den Vorwerken und Basteien errichteten sollte. Am anderen Ende der Brücke ritten sie durch ein mächtiges, dreigeteiltes und von zwei weiteren kleineren Durchlässen begrenztes Tor, das in der hohen Stadtmauer eingelassen war. Furchterregende Fallgitter und schwere Holztore würden jeden unerwünschten Eindringling davon abhalten, in die Stadt zu gelangen. Kaum waren sie aus dem kühlen Gewölbe der dicken Stadtmauer wieder ans helle Tageslicht gelangt, wurde Johanna sofort vom lebendigen Treiben der Stadt gefesselt.
Sie ritt dicht hinter Max und Adam. Der Obersthofmeister hatte sich zu ihnen zurückfallen lassen und erklärte stolz den Aufbau der Stadt.
„Dieses Tor wird „Schottentor“ genannt, da gleich dahinter das Schottenstift liegt.“ erzählte er.
An der linken Seite des Innentores schmiegte sich ein niedriges mehreckiges Gebäude an die Stadtmauer, vor dem gerade zackig ein paar imposant gekleidete Wachsoldaten exerzierten. Johanna bewunderte beeindruckt deren Pracht und den Glanz der blendenden Schwerter.
Es herrschte ein Gewirr aus Pferdefuhrwerken, mehrspännigen Kutschen und Fußgängern. Nur mühsam wich Johanna im letzten Moment einem schimpfenden Mann aus, der mit einem mit Kohle beladenen Schubkarren die breite Straße überquerte.
Sie umrundeten das Stift und der Obersthofmeister erklärte beflissen: „Auf der anderen Seite des Stifts liegt die Universität und das Arsenal der Stadt.“ Sie überquerten gerade einen Platz, der die Ausmaße des Steyrer Stadtplatzes haben mochte, alles schien hier eine Nummer größer zu sein, als Johanna es von Zuhause her kannte. Die Stadt schien irgendwie zu klein für die Menge Menschen zu sein und sie hatte den Eindruck, als sei auf einer Stadt eine zweite darüber gebaut. Die Gebäude waren höher, viele hatten fünf oder sechs Stockwerke, die Straßen breiter, es wimmelte vor Leuten und der Lärmpegel war gewaltig. Die Bevölkerung schien sich aus einem Gemisch unterschiedlichster Völker zusammenzusetzen. Man sah, dass an diesem Drehkreuz keltisch-stämmige Völker mit asiatisch-mongolischen, slowenischen, awarischen, germanischen und römischen Völkerschaften vermischt worden waren. Die Menschen, die sie bis jetzt wahrgenommen hatte, wirkten wie aus einem Schmelztiegel verschiedenster Völker genommen. Auch verschiedene Sprachen waren zu hören und die Umgangssprache hatte hier eine besondere und gänzlich andere Klangmelodie wie sie bemerkte.
Die geistige Aufgeschlossenheit der großstädtischen Bürger spiegelte sich in deren Kleidung wieder. Sie bemerkte, dass einige Männer die Mode der Landsknechte, zerschnittene und zerhauene Kleider, übernommen hatten, dazu trugen sie Barette mit wallenden Federn, die Haare und Bärte hatten sie eckig gestutzt und an den Füßen trugen sie die überbreiten Kuhmaulschuhe mit denen jedoch ein halbwegs anmutiger Gang praktisch unmöglich war. Sie war immer schon neugierig auf den Lebensstil in der bedeutendsten Stadt des Landes gewesen. Sie wusste aus dem Unterricht einiges über die Geschichte der Stadt. War Wien in alter Zeit noch Mittelpunkt höfisch-ritterlicher Kultur gewesen, die sich um die Herzogsburg entfaltet hatte, so wurde es unter dem weltoffenen Kaiser Maximilian und durch das gebildete Bürgertum zum Träger der neuen Kulturepoche und europäisches Zentrum der humanistischen Geistesrichtung.
Die Straße war geschmückt mit prächtigen Häusern, Palästen und Kaufläden aller Art. Gerade ritten sie an der Peterskirche vorbei und schlugen den Weg, der sie bis zur Hofburg führen sollte, ein. Ihr Blick wurde gefesselt vom alles überragenden Turm des berühmten Stephansdoms und dessen bunt gedeckten Daches, das zwischen den übrigen Dächern hervorstach.
Ein hoch mit Tuchballen beladenes Fuhrwerk passierte sie und staunend ob der Menge feinen Stoffes blickte Johanna diesem nach. Der Obersthofmeister, der ihren Blick bemerkt hatte, erklärte ihr daraufhin, in die entgegengesetzte Richtung deutend: „Dort unten befindet sich die Tuchlauben, dort kann man ziemlich billig allerlei Stoffe von überall her erwerben. Dort in den Lauben oder Gewölben der Händler sind Seidentücher viel billiger als in Venedig, auch weil hier die Elle länger berechnet wird als dort“ meinte er mit Gönnermiene.
„Seide ist bei uns um die Hälfte billiger als in Venedig. Genuisische, florentinische und Mailänder-Seide wird hier um weniger als einen Dukaten und zwei Schillinge verkauft. Und unten in der Wollzeile bekommt man auch die Wolle um ein Viertel günstiger als in den meisten anderen Handelsstädten.“ verkündete er mit wissendem Schmunzeln. Der Mann vermutete sicher, sie wäre, wie die meisten Frauen, sehr interessiert an feinen Stoffen, doch sie nahm seine Hinweise nur mit höflichem Nicken zur Kenntnis und staunte ebenso über das wohlfeil angebotene Brot, Fleisch und die Weinfässer, die auf dem Marktplatz angepriesen wurden.
Sie ritten nun durch einen Graben wo es Salz, Wildbret, Mehl, Eier und lebende Hühner zu kaufen gab und wohl noch etwas Anrüchiges dazu. Johanna hatte trotz des diskreten Flüsterns des Obersthofmeisters verstanden, was er Max und Adam mit den Grabennymphen zu zeigen beabsichtigt hatte. Ein aufgeregt krähender Hahn blickte ihr zornig in die Augen als sie zu nahe an seinem Käfig vorbei ritt. Ein paar zankende Marktweiber saßen im Weg herum und sie hörte, wie sich der Obersthofmeister über die anscheinend hier so genannten Fratschelweiber aufregte. Leon war neben sie geritten und erzählte ihr von seinem ersten Erlebnis als er neu in die Stadt gekommen war:
„Ein junger Kutscher ist mir so auf das Genick hinauf geritten, dass ich mich fast erschreckt umgedreht habe. Ich bin einigermaßen höflich geblieben und habe nur gesagt – da muss ich Bitten – aber der unverschämte Kerl meinte nur – wenn sie so schwache Nerven haben, müssn´s nicht ausgehen – und hat mich einfach abgedrängt. So sind sie, die Wiener! Die schimpfen und raunzen für ihr Leben gerne. Inzwischen habe ich mich daran gewöhnt.“
Johanna musste mit ihm lachen und er erzählte ihr von einem Wiener, den man, weil er zu viel getrunken hatte und er seinen Rausch auf der Straße ausschlafen wollte, versehentlich in die Pestgrube geworfen hatte. „Selbst dort hat der noch gewettert, dass ein echter Wiener nicht untergeht!“
Am nächsten Stand gab es eine Vielfalt an Donaufischen und Krebsen, daneben verschiedene Gemüsearten.
Noch immer war Johanna überrascht vom regen Treiben innerhalb der Stadtmauern. In Steyr ging es seit Gedenken eher beschaulich zu. Nur ab und an, vor allem an den Jahrmärkten, herrschte reges Treiben, doch hier sah es ganz und gar nicht so aus, als würde gerade ein Markt abgehalten und trotzdem herrschte furchtbarer Lärm auf der Straße. Die Häuser machten den Eindruck, aus allen Nähten zu platzen. Aus den Gassen drang übler Geruch und das herrschende Stimmengewirr war nicht immer sofort zuordenbar. Vor lauter neuer Eindrücke und Staunen vergaß Johanna fast ihre Sorgen. Sie sah verwahrlost wirkende kleine Kinder in der Gosse spielen und verkrüppelte oder alte Menschen, die um ein Almosen bettelten und erinnerte sich daran, gehört zu haben, dass es im Jahre 41 hier zu einem verheerenden Ausbruch der Beulenpest kam, dem ein Drittel der Stadtbevölkerung zum Opfer gefallen war.
Auf den Straßen war ein rasches Vorankommen beinahe unmöglich, es herrschte ein Chaos, das sich aus einfachen, zu Fuß gezogenen, Karren bis zu mehrspannigen Pferdekutschen zusammensetzte. Sie entdeckte eine Gruppe Landsknechte, die für gewöhnlich ihre Dienste als Söldner anboten. Hier verprassten sie gerade ihren Sold. Schon unter Kaiser Maximilian waren diese Männer von ihm als kaiserliche Fußknechte angeworben worden, als er begann, den französischen Angriffen zu begegnen. Er verpflichtete sie dazu, ihm den Gefolgschaftseid zu leisten. Heutzutage waren ihre Dienste zuletzt während der Bauernaufstände und im Kampf mit dem Schmalkaldischen Bund gefragt gewesen. Die öffentliche Meinung über diese Söldner war sehr unterschiedlich. Es war anscheinend schon vorgekommen, dass sie sich ihren Lebensunterhalt, wenn es ihrem Kriegsherrn am nötigen Geld mangelte, auch gewaltsam sicherten, was aber zwangsläufig die Moral untergrub. So geschehen beim „Saco di Roma“, dem Sturm auf die ewige Stadt, den der Kaiser wegen seiner Differenzen mit dem Papst unüberlegt befohlen hatte. Diese hier machten aber einen friedlichen Eindruck auf Johanna.
In der Straße, die sie gerade entlang ritten, wurde vor den Häusern Holzkohle und Kienspan für die ärmeren Bürger angeboten. Viele der einfach gekleideten Leute blieben ehrfürchtig stehen und blickten den eindrucksvollen berittenen Soldaten hinterher.
Erst als sie an der, im Vergleich zur Steyrer Burg, eigentlich wenig imposanten Hofburg ankamen, wurde ihr wieder bewusst, was sie für einige Zeit verdrängt hatte. Die Residenz des Erzherzogs war von einem breiten Burggraben umgeben und durch eine heruntergelassene Zugbrücke gelangten sie in ihr Inneres.
Sie hielten im gepflasterten Hof der separat stehenden Stallburg, wo die Pferde untergebracht wurden, an. Sogleich stellten sich ihnen einige Burschen auf das bereitwilligste zur Verfügung. Dreistöckig ragten rundum vornehme Arkadengänge in den Himmel. In der Mitte des Hofes befand sich ein Brunnen, an dem sie sich kurz erfrischten, nachdem ihnen die Stallburschen die Zügel aus der Hand genommen hatten und sich fortan um die Versorgung der Tiere kümmern würden. In diesem Gemäuer waren auch die Sattel-, Harnisch- und Rüstkammern und die Wagenburg untergebracht. Der Platz zwischen der Stallburg und der Hauptburg war wunderschön gepflegt und zum Teil in der Art eines Lustgartens angelegt. So hatte sich also Maria die Gestaltung des Burggartens vorgestellt, dämmerte es Johanna. Zuvor hatte sie sich nicht wirklich etwas bei den Schilderungen ihrer Tante vorstellen können, die diese Lustgärten noch aus Spanien und vom Hof Margarethes in den Niederlanden her kannte und selbst davon träumte, einen anzulegen.
Ein paar Damen vergnügten sich gerade bei einem spanischen Ballspiel und der freundliche Obersthofmeister riss sie aus ihrem Vergnügen, als er ihnen Johanna vorstellte. Die Frauen kamen seinen Wünschen gerne entgegen. Auch seine Frau war bereits über ihr Eintreffen informiert und hatte sie schon erwartet. Freundlich bot sie ihr an, ihr den Weg in die Räumlichkeiten der Burggräfin zu zeigen, bei der Johanna auf Marias Intervention wohnen würde.
Etwas überrumpelt sah sie sich nach Max und Adam um, die ihr aber beruhigend nachnickten. Der gefangene Graf Roggendorf wurde von mehreren stark bewaffneten Soldaten soeben abgeführt und der Obersthofmeister hatte sich ihnen zugewandt, um sie ihrerseits in ihre Unterkünfte zu geleiten. So ließ sie sich von der sanften und fromm gekleideten älteren Dame zu ihrem Zimmer bringen.
Leon bemerkte die Gestalt seiner Frau am Fenster seiner kleinen Wohnung im zweiten Stock der Burg. Es war sonst nicht ihre Art, auf seine Ankunft zu warten, deshalb fiel es ihm wahrscheinlich besonders auf. Als er seinen Arm ausstreckte, um ihr ein Zeichen des Grußes zu geben, jetzt, wo sie ihn schon gesehen haben musste, verschwand sie plötzlich ohne eine Erwiderung des Grußes. Eigentlich durfte er nicht überrascht sein, es hatte auch keine herzliche Verabschiedung gegeben, dazu hatten sie sich bereits zu sehr entfremdet.
Ein wenig berührt schaute er Johanna nach, wie sie, von einigen Damen begleitet, in die Burg schritt. Würde sich ihr Charakter durch das höfische Leben ebenso ändern wie der seiner Frau. Er konnte es sich nicht recht vorstellen. Dieses Mädchen war zwar ähnlich temperamentvoll wie seine Frau, als er sie damals kennen gelernt hatte. Durch dieses feurige Temperament hatte er sich überhaupt erst in sie verliebt, aber Johanna war es auf eine gänzlich andere Weise. Seine Frau war wohl schon immer eine berechnende, falsche Schlange gewesen und er schämte sich mittlerweile seiner schlechten Menschenkenntnis als junger Mann.
Johanna war dynamisch und selbstbewusst und hatte bei dem, von ihr mit geplantem, Befreiungsschlag unerschrockenen Mut gezeigt. Sie hatte ihm gegenüber nie diese gewisse Reserviertheit gezeigt, die sie fremden Menschen anscheinend immer zuerst entgegenbrachte. Es war ihm zuletzt bei dem von Ferdinand gesandten Soldaten und dem Empfangskomitee des Obersthofmeisters aufgefallen. Es lag wohl an den besonderen Umständen ihres Kennenlernens, welches damals von ihrer Neugier geprägt gewesen war und überdies in einer ihr vertrauten Umgebung stattgefunden hatte. Wie es auch ihm ergangen war, verstanden die meisten Leute durch ihre dennoch offene, ehrliche
und direkte Art es als Ansporn, ihren Respekt zu erringen. Mittlerweile hatte sich eine tiefe Freundschaft zu ihr wie zu ihren Freunden entwickelt und trotz des Altersunterschiedes hatte er sich in den Wochen ihres Zusammenseins sehr wohl gefühlt in ihrer Gesellschaft. Er wusste, sie war Hals über Kopf in Max verliebt, was er einerseits bedauerte, da er befürchtete dass es schlecht mit einer gemeinsame Zukunft der beiden aussah, doch seinem jungen Freund Max wiederum, der dieses Gefühl offensichtlich erwiderte, war er das Glück dieser Liebe sehr vergönnt, es würden ohnehin keine leichten Zeiten auf ihn zukommen, vermutete er. Es sollte Max nichts Schlechteres passieren, als noch sehr lange an Johannas liebevolle Blicke zurückdenken zu können. Mit ihren, von langen Wimpern umsäumten, Augen vermittelte sie einem Mann zweifellos das Gefühl, er sei Adonis und Herkules in einer Person. Von diesem Selbstbewusstsein würde der Junge noch lange zehren können. Seine Frau hatte ihn früher nie so angesehen, bedauerte er jetzt, vielmehr war es wahrscheinlich damals umgekehrt und er war es, der blind vor Liebe oder Leidenschaft gewesen war.
Als er die Türe zu seiner Wohnung öffnete und hinein trat, rechnete er insgeheim mit der teilnahmslosen Miene seiner Frau, mit der sie ihn üblicherweise zu ignorieren pflegte. Die Wohnung war so pedantisch sauber wie immer. Erstaunt stellte er jedoch fest, dass sie ihn anscheinend zu erwarten schien. Höflich wollte er ihr die Hand küssen, doch sie entzog sie ihm unfreundlich und wandte ihm barsch, indem sie sich dem Fenster zuwandte, den Rücken zu.
„Was war das für ein Gefangener den Ihr in Eurem Gefolge hattet?“ erkundigte sie sich eine Spur zu teilnahmslos.
Plötzlich erinnerte er sich daran, wo er Roggendorf schon früher einmal gesehen hatte. Er hatte ihn in Gesellschaft seiner Frau kennen gelernt, als ihm diese ihn unwillig bei einem Ball vorgestellte hatte. Sie scherzte und flirtete damals auf Teufel komm raus mit dem Mann und Leon hatte sich sofort wieder ans andere Ende des Saales zurückgezogen, als er ihnen damals unverhofft über den Weg gelaufen war. Längst verspürte er keine Eifersucht mehr, wenn er seine Frau mit anderen Männern tändeln sah, er hatte erkannt, dass es für sein Seelenwohl einfacher war, es einfach zu ignorieren. Sie wahrten nach außen hin den Schein, doch lebten sie, zwar in der selben Wohnung, allerdings in getrennten Räumen und kamen sich auch sonst sehr wenig in die Quere.
Ihr Verhalten soeben hatte in alarmiert und machte ihn vorsichtig. Meist konnte er sich auf sein Bauchgefühl verlassen. Was sollte das ungebührliche Interesse an seinem Gefangenen, selbst wenn es sich um eine flüchtige Bekanntschaft handeln sollte? Jedes einzelne Haar seines Körpers sträubte sich plötzlich, als eine Woge kalter Furcht ihn durchströmte. Wie weit würde seine Frau gehen, um ihre Geltungssucht zu befriedigen? Würde sie über seine Leiche gehen?
Angespannt, aber augenscheinlich gelassen, spielte er ihr Spiel mit: „Ach, du meinst deinen alten Bekannten Roggendorf...“ antwortete er ihr teilnahmslos, ohne dabei ihren, ihm zugewandten, steifen Rücken aus den Augen zu lassen.
Er ließ die Worte in der Luft hängen und begann, sich betont ruhig an einem einfachen Klappwaschtisch den Staub von Händen und Gesicht zu waschen. Wie erwartet hatte er ihr so den Ball zugespielt, die Unterhaltung weiterzuführen.
„Was ist mit ihm? Warum ist er in Ketten?“ Sie wandte sich ihm wieder zu und fragte ihn aus und etwas in ihrem Tonfall gefiel ihm ganz und gar nicht. Schwang etwas Hysterisches darin mit? Er musste wohl oder übel dieses Spiel mitspielen, um der Sache auf den Grund zu gehen.
„Er ist ein Hochverräter und die Folterknechte werden nun noch versuchen, alle seine Mitwisser aus ihm herauszukitzeln, bevor er morgen gehängt wird! Ach, und nebenbei, er hat versucht, mich bei einem heimtückischen und feigen Überfall zu ermorden und zwei dem Erzherzog nahe stehende Personen, die unter meinem Schutz standen, entführt und erpresserisch festgehalten. Einzig, woher er seine Informationen bezog, liegt noch im Unklaren. Weißt du vielleicht etwas darüber meine Liebe?“ es fiel im nicht schwer, sie eiskalt aus verengten Augen zu mustern. Mit diesem Blick hatte er schon erfolgreich gestandene Mannsbilder eingeschüchtert, seine Frau schleuderte seinem Blick jedoch einen anderen hasserfüllten entgegen und er musste sich angewidert davon abwenden.
Schon seit Wochen ahnte sie, dass ihre Zukunftsträume wie Seifenblasen zerplatzen würden, eine Gewissheit, dass dies so war hatte sie indes nicht. Sie würde bald in der Mitte ihres Lebens stehen und war von der Erfüllung ihres Lebenstraumes so weit entfernt, wie es nur möglich war.
Schon als junges Mädchen und einzige Tochter eines Händlers hatte sie von einem eigenen Hof geträumt, an dem sie die alleinige Herrscherin sein sollte, davon, der Mittelpunkt aller Aufmerksamkeiten zu sein, ganz so wie es ihr der Vater von Kind auf immer versprochen hatte und sie deshalb immer Prinzessin gerufen hatte. Ihre Mutter war schon lange in der Ewigkeit und all seine Liebe galt so ihr. Mit zunehmenden Jahren hatte dieses Mädchen erkannt, dass nicht alles so passieren sollte, wie sie es vorausgesetzt hatte und geschickt gelernt, dem Schicksal etwas nachzuhelfen.
Als ihr Vater sie schon einem verwitweten, ältlichen aber reichen, Tuchhändler mit rotem, zweispitzigen Bart und weißem länglichen Angesicht versprochen hatte, gelang es ihr problemlos, ihn von diesem gefassten Vorhaben abzubringen, indem sie ihn um ihren kleinen Finger gewickelt hatte, wie sie es von klein auf immer schon vermocht hatte. Der Gedanke, an diesen schrecklichen Mann gebunden zu werden, war schockierend gewesen. Selbst wenn er ihr ein angenehmes Leben in Wohlstand hätte bieten können, entsprach es so ganz und gar nicht ihren Erwartungen in die Zukunft. Sie setzte durch, dass ihr Vater sie durch seine guten geschäftlichen Beziehungen am königlichen Hof in die Gesellschaft einführen ließ und begann, ihre Zukunft somit selbst in die Hand zu nehmen.
Ihr Mann war damals ihrem Liebreiz erlegen, ganz so wie sie es beabsichtigt hatte, er war der am leichtesten zu erreichende und für sie vielversprechendste Ehekandidat gewesen, den sie am königlichen Hof hatte finden können. Da sie nicht von Adel war lag eine Ehe mit einem Fürsten oder Baron, trotz ihres gewinnenden Äußeren, in unerreichbarer Ferne. Ein einfacher, nicht erbberechtigter Landadeliger, der es durch seine Tapferkeit schon in jungen Jahren zu einem guten Ruf gebracht hatte, dem, mit etwas Nachhilfe ihrerseits, durchaus das Tor zu etwas Größerem offen stehen würde, kam ihr geradezu entgegen.
Sie hatte ihren Mann auch tatsächlich bewundert, wie alle Mädchen damals. Er war der stärkste Ritter bei Hofe gewesen, der spielerisch jeden Wettkampf gewonnen hatte. Er war ein Draufgänger und der erkorene Liebling des Erzherzogs. Für sie gab es keinen Zweifel, dass dieser ihm früher oder später als Dank für seine bedingungslose Treue ein beträchtliches Vermögen und womöglich einen eigenen Titel würde schenken müssen. Was lag näher, als sich diesen Edelmann zu angeln? Alleine ihre schönen Augen vermochten es nicht und so lockte sie ihn zu sich ins Bett. Doch auch so kam sie ihrem Ziel nicht näher. Immer wenn sie von Hochzeit sprach, kam ihr ein weiterer wichtiger Auftrag des Erzherzogs in die Quere. So kam ihr die Schwangerschaft letztlich zu Hilfe und endlich wurde sie die Frau eines vielversprechenden Höflings.
Nach jedem erfolgreichen Feldzug ihres Mannes sah sie sich ihrem erkorenen Ziel ein Stück näher gekommen. Doch was tat dieser Trottel von einem Mann? Nicht im Traum kam es ihm in den Kopf, etwas von seinem König zu fordern, im Gegenteil, wenn sie ihn aufstacheln wollte, seinen verdienten Lohn einzufordern, benahm er sich wie der ärgste Mönch und wies auf das große Loch in der Staatskasse hin.
„Willst du vielleicht, dass ich mir Salamanca, den Finanzminister des Königs, zum Feind mache, indem auch ich dem König noch an sein Vermögen gehe?“ bekam sie nur immer wieder zu hören. Mit seiner stillen, opferbereiten Prinzipientreue hätte er wirklich einen vortrefflichen Mönch abgegeben.
Alle anderen Feldherren um ihn herum waren längst vermögende Männer und ihr Mann machte noch immer keine Anstalten, etwas für sich und seine Familie zu fordern.
„Du hast doch hier alles, was du brauchst, es fehlt dir an nichts, ich glaube, du hast bereits doppelt so viel Kleider und Schmuck wie die Königin, warum bist du nur so unzufrieden?“ entgegnete er ihr stets auf ihr Bitten und Drängen. „Reichtum alleine wird dich auch nicht glücklich machen, nur wer am Ende seines Lebens stolz auf seine Leistung ist, wird wirklich reich sein.“ meinte er, immer päpstlicher als der Papst. Dieser Träumer, was wusste er schon von Stolz? Er sah nicht, wie die anderen, adeligen Hofdamen sie von oben herab behandelten, sie nie als Ihresgleichen akzeptieren würden.
Je mehr sie versuchte, ihn vom Gegenteil zu überzeugen, umso sturer wurde er. Sie versuchte, ihre Reize einzusetzen, um ihren Willen zu bekommen und scheiterte jedes Mal. Daraufhin versuchte sie es mit dem Gegenteil und zeigte ihm die kalte Schulter, auch das erwies sich als nicht ziel führend. Sie versuchte, seine Aufmerksamkeit zu gewinnen, indem sie ihn mit anderen Männern eifersüchtig machen wollte und erreichte nur, dass er ihr mit stummer Verachtung begegnete. Mit den Jahren entfremdeten sie sich so voneinander, sie begann ihn, der ihre Wünsche einfach nicht würdigte und erfüllen wollte, zu hassen und er nahm jeden Auftrag, der ihn soweit wie möglich von ihr wegführte, mit Freuden an.
So konnte es nicht weitergehen. Sie würde bald ihren dreißigsten Geburtstag feiern. Noch war sie jung und schön genug, von vorne anzufangen, alleine ihr Mann stand ihr dabei im Weg. Immer häufiger nahm sie sich willige Adelige als Liebhaber und eines Tages kam ihr so das Schicksal unverhofft zu Hilfe.
Als sie ihren Mann bereits wieder auf einem seiner Einsätze wähnte, vergnügte sie sich mit dem zwar etwas sadistisch veranlagten, aber durch eine unverhoffte Erbschaft unermesslich wohlhabenden und unverheirateten Graf Roggendorf in ihrem Wohnzimmer. Als sie Schritte im Vorraum hörten, flüchtete sie gerade noch rechtzeitig mit ihrem Geliebten hinter den Paravent und richtete schnell ihre Kleider, um ihrem Gatten dann unschuldig gegenüberzutreten und ihn abzulenken. Sie nahm bereits den Nachttopf in die Hand und setzte eine überraschte Miene auf, als sie gerade noch rechtzeitig, bevor sie sich zu erkennen zu geben gedachte, bemerkte, dass ihr Mann nicht alleine war. An der Stimme erkannte sie mit Schrecken den Erzherzog persönlich. Wie zur Salzsäule erstarrt verbarg sie sich so mit ihrem damaligen Geliebten in ihrem Versteck und sie beide wurden so zu unfreiwilligen Mithörern dieser Unterredung.
Dass der Erzherzog in eine der Privatwohnungen zu einem Gespräch kam, war äußerst eigenartig und der Grund dazu, es musste sich um eine Sache äußerster Dringlichkeit handeln, lag deshalb auf der Hand. Es war sogar mehr als das. Die belauschte Unterredung war streng vertraulich und als ihr die Macht dessen bewusst wurde, was sie mit Hilfe dieses belauschten Gespräches würde erreichen können, reifte ein klarer Plan in ihr heran, wobei die Ruhmsucht die Sorge um ihr Seelenheil überwog.
Sie hatte damals beschlossen, noch einmal alles auf eine Karte zu setzen und, hätte sie Erfolg, wäre sie ihren verhassten Gatten los und ihrem Ziel, zu einem vornehmen Titel zu kommen, auch wenn es nur der einer Gräfin war, ein großes Stück näher gekommen.
Gemeinsam mit ihrem, ebenso wie sie wie die Jungfrau zum Kind gekommenen, Mitwisser, dem Grafen von Roggendorf, heckte sie einen teuflischen Plan aus. Wenn sie an diesen Augenblick zurückdachte, bekam sie noch immer eine Gänsehaut des Grauens, wenn sie sich an das böse Grinsen des Grafen zurück erinnerte.
Nur sie beide kannten demnach den streng vertraulichen Auftrag des Erzherzogs an ihren Mann und niemand würde ahnen, dass sie es wussten. Alles schien todsicher zu sein. Der Graf entpuppte sich als bereitwilliger Gehilfe, nicht ohne auch seinen eigenen Vorteil aus der Sache schlagen zu wollen. Manchmal hatte er sie an eine Bestie erinnert, die man aus dem Schlaf erweckt hatte.
Er versprach ihr großspurig, sich selbst um die Beseitigung ihres Ehemannes zu kümmern und wollte ihr dessen Finger mit dem Ehering nach vollbrachter Tat zukommen lassen. Dies erschien ihr zwar wenig erstrebenswert, aber wenn es ihn befriedigte, würde sie ihm nicht widersprechen. Zu sehr fürchtete sie zu diesem Zeitpunkt bereits seinen Jähzorn.
Doch schon seit Wochen ahnte sie, dass ihr gemeinsam ausgeheckter Plan wohl nicht aufgegangen war. Schon längst hätte sie die Nachricht vom unerwarteten Tod ihres Gemahls ereilen müssen und sie hätte diesen pflichtschuldigst beweint, alleine, es gab keine diesbezügliche Nachricht. Und anstatt, als Retter der von ihrem Mann unzuverlässig beschützten wichtigen Personen, stolz auftretenden Grafen wurde dieser von ihrem Gatten höchstpersönlich in Ketten dem Erzherzog übergeben.
Sie ging wie benommen zu ihrer Kommode und entnahm ihr ein kleines Fläschchen. Sie wusste selbst nicht, warum sie diese tödliche Menge Gift bereits seit Jahren hier aufbewahrt hatte, es war eigentlich unverantwortlich gewesen, hätte zum Beispiel ihr Sohn es gefunden. Ihr Mann wandte ihr noch immer den Rücken zu und erst als ihr das geleerte Fläschchen aus den Fingern glitt und mit einem leisen Klirren auf dem Parkettboden zerschellte, wandte er sich ihr wieder zu. Das Gift brannte ihr in der Kehle, als sie dessen Wirkung bereits zu spüren bekam. Sie griff sich panisch an den Hals und sank auf die Knie. Es war, als würde sich eine Schlinge um ihren Hals zuschnüren. Ihr Mann begriff schließlich, was sie soeben getan hatte und steckte ihr seine Finger tief in den Rachen, um sie zum Erbrechen zu bringen, doch sie spürte bereits den Tod nahen, als sie ihm noch leise zuflüsterte „Ja ich wollte deinen Tod, jetzt hast du aber doch gewonnen, am Ende siegen anscheinend wirklich immer die Guten und die Bösen holt der Teufel.“
Mit diesen Worten brachen ihre Augen und Leon betrachtete den leblosen Körper seiner Frau in seinen Armen. Sie war noch immer schön, auch im Tod, und niemals hätte er dieser, seiner Frau und Mutter seines Sohnes eine solche Niedertracht zugetraut, die sie ihm gerade offenbart hatte. Noch begriff er nicht das ganze Ausmaß ihrer Beteiligung an dem Komplott, aber nun würde es ihm ein Leichtes sein, die näheren Umstände aus dem Grafen herauszupressen.
Er bettete den leblosen Körper seiner Frau auf den Divan und ging, um seinem Burschen den Auftrag zu erteilen, Wolfgang Lazius, den Leibarzt Ferdinands, zu holen. Wie betäubt blickte er auf seine zitternden Hände. Er fragte sich zum ersten Mal, wie er ihren Tod erklären sollte, dem Arzt, den Höflingen, dem Sohn, dem Erzherzog? Man würde sich, egal was er als Begründung angab, das Maul zerfetzen und die Wahrheit würde in Wirklichkeit niemanden interessieren.
Lazius kam so schnell ihn der Bursche gefunden hatte und stellte schließlich offiziell den Tod seiner Frau fest. Auf dessen Anfrage antwortete Leon nach den genauen Umständen gefragt „Wir hatten eine Auseinandersetzung, ich kann ihnen leider nichts Näheres sagen, ich bin selbst sehr geschockt über das Geschehene. Ich wusste nicht, dass sie Gift in der Wohnung hatte! Wie konnte sie nur daran kommen?“ fragte er den Doktor.
Dieser antwortete mit einem mitfühlenden Kopfschütteln. „Wir werden wohl nie erfahren, warum sie es getan hat, Frauen neigen leider häufig zu hysterischer Impulsivität. Sie können hier nichts tun, gehen sie ruhig, ich werde mich um alles kümmern.“
Auf dem Weg zum Kerker dachte Leon an Max, Adam und Johanna und wie er ihnen die ganzen Umstände erklären sollte. Er bedeutete den beiden Wachen, ihn zu dem gefangenen Grafen vorzulassen und schloss die Zellentür hinter sich.
Der Graf saß noch immer in Ketten auf einem Haufen Stroh an die Steinmauer gelehnt und grinste ihm unverschämt entgegen. Der Teufel musste in diesem Mann stecken. Es fehlte nur der Pferdefuß, um den endgültigen Beweis zu liefern.
„Hat das Vögelchen also schon gesungen?“ erkundigte er sich mit verächtlichem Tonfall in der Stimme. Anscheinend hatte er sein Auftauchen bereits erwartet.
Leon beschloss vorerst nichts vom Tod seiner Frau bekannt zugeben und erwiderte möglichst Respekt einflößend:
„Ich kenne jetzt die Version meiner Frau. Doch ich gebe Euch die Gelegenheit Eure Version zu erzählen.“ Er ahnte wohl, nur so ein wenig mehr Licht in die Sache bringen zu können. Von Max und Adam hatte er von den Vermutungen des alten Priesters gehört, die eine Verschwörung des Papstes mit dem französischen König beinhaltet hatten. Er wusste sich selbst kein richtiges Bild dazu zu machen und im Grunde war es auch egal. Selbst wenn der Graf wirklich ein hochrangiger Spion war, aus diesem Kerker würde für ihn nur noch ein einziger Weg führen, der zum Galgen.
„Wahrscheinlich hat sie Euch angeflennt, ich hätte sie zu der Tat gezwungen, oder? Ihr werdet mir ohnehin nicht glauben, wenn ich etwas anderes behaupte.“ ging der Gefangene tatsächlich auf seinen Vorschlag ein.
„Ihr wolltet mich also mit dem Überfall überraschen und für mein unglückliches Ableben sorgen?“ versuchte Leon sein Gegenüber zum Reden zu bewegen. Doch dieser grinste ihn nur unverschämt an.
„Das ist Euch gründlich missglückt, zum Meuchelmord mögt Ihr euch wohl nicht verstehen. So konntet Ihr wohl nur noch versuchen, Eure anderen Pläne zu verwirklichen. Doch auch das ist Euch gründlich missglückt. Ich würde lügen, wenn mich nicht interessieren würde, was Euer wirkliches Ziel war. Wofür kann man so tief sinken? Gold, Ehre, Ruhm – meine Frau?“ Er versuchte schmerzlich zu lächeln. „Oder habt Ihr gar nicht versucht, bei diesem ganzen Unterfangen einen Vorteil zu erlangen? Habt ihr nur selbstlos und nach Euren Prinzipien, so falsch sie auch sein mögen, gehandelt? Dass Ihr etwas von meiner Frau wolltet kann ich nicht glauben. So dumm könnt nicht einmal Ihr sein. Meine Frau hat mir allerdings verschwiegen, wie Ihr von meinem Auftrag wissen konntet….“
Mit diesem Satz hatte er offensichtlich erreicht, was er wollte und es entlockte dem Gefangenen sein schadenfrohes Geständnis. Dieser hatte sich praktisch unter seinen und des Königs Augen mit seiner Frau vergnügt und so die vertraulichen Informationen, die er dort belauscht hatte, nur versehentlich diesem unverhofften Zufall zu verdanken gehabt. Über seine weiteren Beweggründe schwieg er sich aus. Leon war es egal, sollten sie nur für immer in seiner Brust begraben bleiben.
Wie konnte sie nur so schamlos sein und ihren Geliebten in seine eigene Wohnung einladen? Beinahe bedauerte er im ersten Zorn, sie nicht neben dem Grafen am Galgen baumeln zu sehen. Dieser hatte abschließend noch extra betont, dass er seine Frau selbst dann nicht geheiratet hätte, wenn ihr ursprünglicher Plan aufgegangen wäre und er möge ihr dies bestellen. Leon hatte ihm bis zuletzt nichts von ihrem Selbstmord erzählt.
Er würde dem Erzherzog alles erzählen, die ganze Wahrheit. Von seiner eigenmächtigen Vernichtung des Erpresserbriefes bis zu den so beschämenden Umständen, wie sie eben waren, und ihn bitten, den Gefangenen nicht weiter zu verhören. So konnte er vielleicht den Namen seiner Frau aus dieser Sache heraushalten, sofern der Erzherzog zustimmte. Immerhin hatte sein Wissen um den Aufenthaltsort der Entführten und sein Handeln eine Katastrophe verhindert. Der Erzherzog konnte genauso gut die Burg Pöggstall bis in den letzten Winkel nach Beweismaterial durchforsten lassen. Durfte man dem armen alten Geistlichen glauben, würde das sicher leichter sein, als ein Geständnis des Gefangenen zu bekommen.
Er würde ihm natürlich seinen Rücktritt als Leibgarde mitteilen und so, wie er seinen Herrn kannte, würde dieser seinen Beschluss bedauern, aber keine Einwände erheben.
In Steyr hatte er das erste Mal darüber nachgedacht, sein abenteuerliches Leben zu beenden und sich einen Ort zu suchen, an dem er sich in Ruhe niederlassen konnte. Nie zuvor in seinem Leben hatte er so eine angenehme Zeit verbracht wie die wenigen Wochen dort und er spürte, dass es ihn an diesen Ort zurückzog.
Vielleicht würde er in Steyr noch einmal von vorne anfangen können und das Schicksal würde noch einmal gnädig zu ihm sein. Seine Bedürfnisse waren gering. Er besaß ein kleines aufgespartes Kapital und seine Verhältnisse waren nun ja vollkommen geregelt.
Johanna war aufgeregt, die nächsten Minuten würden über ihre Zukunft und die der beiden Brüder entscheiden. Sie waren alle drei auf dem Weg zur königlichen Audienz. Sie würde notfalls den König auffordern, nochmals zu überdenken, ob er Max und Adam wirklich unbedingt gewinnbringend verheiraten musste. Natürlich hoffte sie, die beiden würde zuerst das gleiche Anliegen vorbringen, denn insgeheim wusste sie, sie würde nie den Mut dazu aufbringen.
Sie trug ein Kleid in dem sie sich wie eine Prinzessin fühlte, Maria hatte es extra für diesen Augenblick für sie ausgesucht. Es war ein schimmernder, tiefgelber, mit gleichfarbigen Blumenranken verzierter, Brokatstoff, der ihren Körper weich umspielte. In der Taille, am Ausschnitt und in den Armbeugen zierte ein pflaumenfarbiges Seidenband den Übergang zu einer dunkelroten, mit Goldplättchen bestickten Korsage. Ein Mädchen hatte ihre Haare geflochten und ihr zur Krönung einen Stirnreif darüber drapiert. Ihre Füße steckten in zierlichen Samtpantoffeln, in denen sie über die langen Gänge der Hofburg zu schweben schien.
Johanna war noch immer schockiert von den Worten von Adam und Max und deren Mitteilung vom Selbstmord von Leons Ehefrau. Ausführlich hatten ihr die beiden soeben von dem hinterhältigen Komplott berichtet und Johanna fühlte Mitleid für den treuen Freund. Wie hatte dieser nette Mann nur an so eine schreckliche Frau geraten können? Alles, was sie in den letzten Stunden in den Frauengemächern über sie gehört hatte, war wenig schmeichelhaft gewesen. Der Selbstmord war das wichtigste Thema unter den Hofdamen gewesen, nur hatte Johanna da noch nicht gewusst, wen es betraf.
Einer der Kämmerer geleitete sie zum Audienzzimmer. Schon der Obersthofmeister hatte sie auf dem Weg in die Stadt auf das strenge spanische Hofzeremoniell vorbereitet. Es umfasste eine strenge Rangordnung, die alle Abläufe am Hofe betraf, das Sitzen, Stehen und Gehen bei Anwesenheit des Königs. Es sollte ihn vor Zufälligkeiten im Ablauf der Geschehnisse bewahren.
Einer der Lakeien öffnete die schwere Doppelflügeleichentüre und Johanna erfasste mit einem schnellen Blick in die Runde die edle Einfachheit, in der dieser Raum dekoriert war, und die dort anwesenden Personen. Ein Geistlicher in glänzendem Ornat, mit goldenem Kreuz auf dem Atlas, stand würdevoll neben dem Erzherzog. Auf dessen anderer Seite erkannte sie den Oberstkämmerer, der auch schon bei ihrer Ankunft anwesend war. Dahinter standen weitere würdevolle Männer, wohl die Geheimen Räte, die höchsten und intimsten Berater des Herrschers in allen wichtigen Regierungs-, Haus- und Hofangelegenheiten.
Nachdem sie vor den Erzherzog getreten waren, machte Johanna voller respektvoller Scheu einen tiefen Hofknicks, wie ihn ihr Maria schon als Kind beigebracht hatte, Max und Adam beugten ebenfalls das Knie vor ihrem Herrn und auf ein Zeichen des Oberstkämmerer versicherten sie ihrem König den Eid der Treue und dieser nahm ihn mit einem kurzen Nicken entgegen. Johanna kannte den Erzherzog bereits ihr ganzes Leben, wobei sie ihm selten so nahe gekommen war. Sie hatte hin und wieder gemeinsam mit ihrer Mutter Maria und deren Familie begleitet, wenn diese Königin Anna in Linz besucht hatten und manchmal, wenn Turniere stattfanden, war auch der Erzherzog dort anzutreffen gewesen, obwohl er den Großteil seines Lebens auf Reisen durch das ganze Reich verbrachte und nur einen Teil seiner Anwesenheit auf den österreichischen Teil konzentrieren konnte.
Sie hatte immer den Eindruck gehabt, der König sei ein Mensch eher heiteren Charakters. In Gesprächen pflegte er mit einem Anflug von Ironie zu reden, was ihn in ihren Augen immer durchaus anziehend und liebenswürdig gemacht hatte. Sie fand, er sah stark gealtert aus und hatte einen ernsten Ausdruck in den Augen. Er hatte sich, entgegen seinen bisherigen Gepflogenheiten, einen dichten Vollbart wachsen lassen, was wohl ein Ausdruck seiner Trauer über den Tod seiner geliebten Gemahlin sein mochte. Jetzt musste sie bei seinem Anblick daran denken, wie tief religiös der Bruder des Kaisers war. Der Garstner Abt hatte mit dem Satz „Eine gute Herde wird nicht von einem Hammel geführt, sondern von einem Hirten.“ immer hervorgehoben, wie glücklich dieses Land sein konnte, einen so würdigen Vertreter des heiligen römischen Reiches als Regenten zu haben. Trotz der Ehrfurcht und einer gewisse Zurückhaltung, welche die Anwesenheit des Monarchen gebot, wäre dennoch eine absolut freie und ungezwungene Meinungsäußerung sehr wohl möglich. Der Erzherzog wollte es ausdrücklich so, hatte sie der Obersthofmeister wissen lassen und hatte sie auf das eiserne Pflichtbewusstsein des Regenten hingewiesen, welches ihm das gewaltige Arbeitspensum, das er Tag für Tag zu erledigen hatte, überhaupt erst bewältigen ließ.
Leon, der ebenfalls unter den bereits im Audienzzimmer Anwesenden gezählt hatte, begab sich zu ihnen. Er hatte seine Uniform angelegt, die ihn als Offizier im Rittmeisterrang auswies und wirkte damit sehr würdevoll.
Der Erzherzog war nach seinem Vieraugengespräch mit seinem engen Vertrauten zutiefst erschüttert. Sein Leben stellte ihm immer wieder schier unüberwindbare Stolperscheine in den Weg. Dieses Jahr schien ihn das Unglück zu verfolgen. Der Tod seiner geliebten Gattin hatte ihn schwer mitgenommen, noch nie zuvor war ihm die Endlichkeit des Lebens so bewusst geworden. Er fühlte sich wie ein halb gebrochener Mann. Doch er war der König dieses Landes und durfte sich nicht seiner Trauer hingeben und der Frage nach dem Warum, nach dem Sinn des Lebens, darüber mussten sich andere den Kopf zerbrechen. Er stürzte sich von seiner Trauer mitten hinein in den schmalkaldischen Krieg und kaum heimgekehrt musste er vom Überfall auf Leon und seine Schutzbefohlenen hören.
Wie konnte unter seinen Augen solche Niedertracht gedeihen, war er wirklich unfähig, seine Werte zu vermitteln? Er war immer bestrebt, den Menschen ein gutes, gläubiges Vorbild zu sein, warum hatten Angehörige seines Hofes keine Moral? Er konnte Leon natürlich keinen Vorwurf machen, dieser war genauso Opfer des heimtückischen Plans gewesen wie er selbst und er hatte alles versucht, ihn zu halten, doch nun würde sein Freund wohl seinen eigenen Weg weitergehen.
Der Hofmeister kündigte den nächsten Besuch an. Maximilian und Adam erschienen mit einem hübschen Mädchen und er glaubte sich zu erinnern, obwohl er sie seit ihrer Kindheit nicht gesehen hatte, dass es die Tochter seines ehemaligen Beraters, von Reichenau, war, die mit den beiden Burschen aufgewachsen war. Er nickte den Gästen, nachdem sie sich höflich vor ihm verneigt hatten, freundschaftlich zu. Er verspürte einen Kloß im Hals, als er seinen Schützlingen nach den Wochen des Bangens endlich wieder gegenüber stand. Man sah ihnen die Strapazen der langen Gefangenschaft schon nicht mehr an – sie strotzten nur so vor Jugend, Energie und Optimismus. Wehmütig schweiften seine Gedanken zurück in eine Zeit, als er selbst noch frei und unbeschwert gewesen war.
Er war noch ein halbes Kind gewesen, 13 Jahre alt, als sein geliebter Großvater starb. Dieser hatte ihm neben einer umfassenden Ausbildung doch immer genug Freiraum gelassen, ein Kind zu sein, unbelastet von heimtückischen politischen Ränken und Intrigen.
„Du weißt ich liebe Dich mehr als alles in der Welt, Fernando, du würdest mir ein würdiger Thronerbe sein, aber gerade deshalb würde ich es lieber sehen, du ließest den Dingen seinen Lauf nehmen. Lass das Schicksal für dich entscheiden, bald wirst du ohnehin nicht mehr wissen, wem du trauen kannst und wem nicht. Vergiss nie, nur auf dich selbst zu vertrauen. Wenn ich die Wahl gehabt hätte, ich wäre lieber nicht König von Kastilien und Aragon geworden. Als einfacher Handwerker oder Bauer wäre ich wahrscheinlich glücklicher gewesen, aber mein Schicksal hat anders entschieden und es war gut so, denn es hat mir auch einen Enkel wie dich geschenkt. Lass nur deinen Bruder die Welt retten, das ist sein gutes Recht als Älterer, aber sei ihm, wo du es vermagst, eine Stütze, denn sein Leben wird noch härter als das deinige werden.“ erinnerte er sich an ein Gespräch mit seinem Großvater vor dessen Tod.
Er war ein weiser Mann gewesen und mit seiner Vermutung, dass gewisse Räte es verhindern würden, dass er das Erbe seines Großvaters, der ihn von Kleinkind an, ohne Mithilfe seiner Eltern, großgezogen hatte, antrat, vollkommen richtig gelegen. Das diesbezüglich verfasste Testament, das ihn als gewünschten Erben nannte, blieb bis zum heutigen Tag verschwunden und würde es für alle Zeiten bleiben, wahrscheinlich war es bereits vor dem Tod des Großvaters von einem seiner „treuen“ Berater vernichtet worden.
Wie auch immer, das Schicksal hatte ihn hierher an die Donau verschlagen und er war längst ein Teil dieses schönen Landes geworden. Die Erinnerungen an seine spanische Heimat verblasste von Jahr zu Jahr mehr und er hatte für seine Kinder gehofft, dass ihnen nie dasselbe zustoßen würde. Und doch hatte er im Sommer vor zwei Jahren wieder zwei seiner Kinder verraten. Er hatte seine hübsche 18jährige Tochter Anna mit dem gleichaltrigen Albrecht, Sohn seines langjährigen Kontrahenten, den Herzog von Bayern, verheiratet und zumindest sie schien wenigstens erfreut mit seiner Wahl gewesen zu sein. Ihre 15jährige Schwester Maria weinte hingegen bittere Tränen, als sie von seiner Entscheidung, den doppelt so alten Herzog von Jülich-Kleve-Berg heiraten zu müssen, erfuhr, ebenso wie seine älteste Tochter Elisabeth, als er sie vor fünf Jahren mit Sigismund August von Polen vermählte. Die Hochzeiten waren für ihn eine Alternative zu gewaltsamen Besitzergreifungen gewesen. Er hatte gehofft, die Ehen seiner Kinder würden trotz der Umstände ebenso glücklich werden, wie seine eigene mit Anna. Ihre Verbindung wurde ursprünglich auch nur aus politischer Räson geschlossen. Sie war eine so schöne, gesellige, unterhaltsame und tanzfreudige junge Dame gewesen und hatte sich seit ihrer Hochzeitsnacht nie wieder beschwert, nur ihn, den kleinen Bruder des Kaisers, bekommen zu haben. Er ertrug es nicht, an sie zu denken. Sie, die sonst immer so voll Leben strotzte, war nach ihrer letzten Geburt kränklich und erschöpft gewesen. Außer ihr waren letztes Jahr viele Große seiner Zeit verstorben: Franz, der König von Frankreich, Barbarossa, der Herrscher über Algier und im Jahr davor war Martin Luther aus dem Leben geschieden. Er wollte seinen Feinden zu Lebzeiten nun nichts mehr nachtragen.
Er hatte keinerlei Verlangen, sich eine neue Frau zu suchen. Sein Bruder hingegen war den weiblichen Reizen immer wieder erlegen. Erst im letzten Jahr hatte ihm eine seiner Geliebten wieder einen Sohn geboren.
Jetzt stand er also diesen beiden jungen Männern gegenüber und würde ihnen seine für sie getroffenen Zukunftspläne mitteilen müssen. Die Zeit schien plötzlich still zu stehen und wie im Traum wurde er an sein eigenes Selbst in deren Alter erinnert.
Das Bild des Lebens, welches er sich im Laufe der Zeit geschaffen hatte, sollte noch seine Enkel entzücken, dagegen sah es nun so aus, als verwehe die Schöpfung dies alles und ließ nichts als wehmütige Erinnerungen zurück.
Eigentlich war er sogar ein paar Jahre jünger gewesen als Maximilian und Adam es jetzt waren, als andere für ihn entschieden, ihn zu verheiraten und ihn so zum König von Ungarn und Böhmen machten. Er hatte nie den gut gemeinten Rat seines Großvaters vergessen, das Schicksal entscheiden zu lassen, doch er hatte trotzdem schon früh gelernt, diesem in den richtigen Momenten auf die Sprünge zu helfen.
Seit der von seinem anderen Großvater, Kaiser Maximilian, verfügten Herrschaftsteilung und seinem gleichzeitigen Herrschaftsantritt in den österreichischen Erbländern, die bereits seit dem 13. Jahrhundert, genauer gesagt, seit dem Sieg seines Ahns Rudolf über Ottokar, der Familie der Habsburger gehörten,
musste er sich selbst behaupten. Als er in etwa im Alter der jungen Männer war, stand er bereits vor drei entscheidenden Problemen: erstens vor der Behauptung und Erweiterung seiner Herrschaft in Opposition zu den aufrührerischen Landständen, die gegen ihn, den Ausländer, hetzten, zweitens vor dem Ausgreifen der Reformation in seinen Erbländern, worauf er von seinem streng katholischen Großvater durch nichts vorbereitet worden war, und drittens, wenn auch zunächst noch im Hintergrund, vor dem bedrohlichen Phänomen der osmanischen Expansion in Ungarn und entsprechender Übergriffe auf seine Länder. Er musste damals schockiert feststellen, vor leeren Staatskassen zu stehen. Nur durch die rücksichtslose und wenig zimperliche Vorgehensweise seines damaligen Generalschatzmeisters, Gabriel von Salamanca, der jedoch dabei politisch Rücksichten walten ließ, konnte er überhaupt einen Staatsbankrott abwenden. Von seinem Bruder Karl, dem Kaiser, konnte er sich nicht viel Unterstützung erhoffen, dieser hatte selbst genug Probleme.
Während er sein Erbe antrat schrie das deutsche Volk bereits „Tod dem römischen Hof!“ und forderte ein Konzil. Alleine der Familie Fugger, die in Luther ebenfalls einen Störenfried sahen, hatte Karl es zu verdanken, diese anfänglich schwere Zeit zu meistern. Diese verhängnisvolle Hilfe der reichen Tiroler, die vom Einfluss und Reichtum durch Zolleinnahmen auf der Brennerstraße, die seit über 200 Jahren bereits befestigt und für Wagen befahrbar war und über die der gesamte Handelsverkehr zwischen Süd- und Nordalpen lief, hatte sie aber in eine Abhängigkeit gedrängt, die ihnen jetzt oft Magenschmerzen bereiteten. Die reiche Silberausbeute des Tiroler Bergbaus war gegen die Fugger und Welser nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Die reichen Handelshäuser verstanden es immer mehr, an Einfluss auch in der Politik zu gewinnen. Neue Organisationsstrukturen des Bankwesens und des Handels, bargeldloser Zahlungsverkehr, Versicherungswesen. In Antwerpen war sogar eine Börse installiert worden.
„Indessen … scheint es mir – um offen zu sagen, was ich denke – in der Tat so, dass überall da, wo es Privateigentum gibt, wo alle alles nach dem Wert des Geldes messen, es kaum jemals möglich sein wird, gerechte oder erfolgreiche Politik zu treiben …“. Wie recht der weise Morus damit gehabt hatte.
Er selbst war sich mit seinem Bruder immer einig, das habsburgische Hausrecht zu akzeptieren, welches vorsah, dass alle Söhne zur gesamten Hand die Herrschaft gemeinsam ausüben sollten. Ihre Tante Margarete in Brüssel war zu jeder Zeit, als insgeheimes Oberhaupt der Familie, ihr Anker gewesen, an dem sie sich bei Meinungsverschiedenheiten orientieren konnten.
Der Tag, an dem er zum ersten Mal seinem Bruder Karl begegnet war, hatte sein Leben für immer geprägt. Es war ein milder sonniger Novembertag im Jahre 1517 gewesen, er war gerade 14 Jahre alt und voll Vorfreude auf sein erstmaliges Zusammentreffen mit seinen Geschwistern, dem 17jährigen Karl und der 19jährigen Eleonore, gewesen. Drei- bis vierhundert Reiter und zwei prächtige Abteilungen zu Fuß, mit fliegenden Fahnen, Hellebarden und Wurfspießen, waren gemeinsam mit ihm nach Mojados bei Valladolid gezogen, um diesem Anlass einen würdigen Rahmen zu bieten. Ihm war, als wäre es erst gestern gewesen. Doch das Gefolge seines Bruders traf nicht wie geplant am späten Vormittag am vereinbarten Ort ein sondern erst Stunden später. Von seinen hohen Würdenträgern umgeben harrte er damals geduldig aus. Hätte er damals bereits gewusst, dass dieses Zuspätkommen noch typisch für seinen Bruder werden sollte, dass seine Nerven noch viele, viele Male auf die Geduldsprobe gestellt werden würden, wäre vielleicht einiges nicht so passiert, wie es sich heute nun ergeben hatte.
Er erinnerte sich an seinen ersten Eindruck von Karl. Seine Späher hatten das Herannahen des Gefolges des Bruders gemeldet und die Spanier empfingen ihn, ihren König, mit Trommeln und Flöten. Sobald sie nahe genug bei Karl angelangt waren, fiel ihm sofort ein wohl anerzogenes Majestätsbewusstsein, ein Bewusstsein der Auserwähltheit, kombiniert mit christlicher Demut und Gottvertrauen an seinem, ihm damals noch fremden, Bruder auf und so fiel es ihm damals nicht schwer, demütig vor ihm von seinem Pferde zu steigen und ihm zu Fuß entgegenzugehen. Gut erinnerte er sich an den peinlich berührten Blick Karls, als er seine Ehrerbietung entgegennahm, wie man es ihn gelehrt hatte. Karl ließ ihn anschließend sofort wieder auf sein Pferd aufsteigen und hieß ihn, ihre Schwester Eleonore zu begrüßen, die ihn freundlich auf beide Wangen küsste. Sie waren eine Familie, das engste Band auf Erden verband sie miteinander. Zusammen begaben sie sich nach Mojados, wo ein festlicher Empfang für Carlos, den spanischen König, stattfinden sollte. Irgendwie hatte Karl es damals geschafft, sich mit ihm einen Raum zu teilen und für wenige Stunden waren sie ganz alleine gewesen. Sie mussten noch einen Weg finden, sich zu verständigen, denn der junge spanische König war der Sprache seines Landes nicht besonders kundig und so erwies es sich von Vorteil, dass sein Großvater ihn unter anderem auch Französisch lernen ließ. Erleichtert, einen bequemeren Weg der Verständigung gefunden zu haben, hatte sich Karl nach dem Befinden ihrer Mutter erkundigt.
„Ich habe sie seit Jahren nicht mehr gesehen. Wie geht es ihr?“ wollte er von ihm wissen und verlegen, da er selbst nicht wusste was dem Bruder über das Befinden der Mutter bekannt war, hatte er ihm geantwortet: „Na ja, es geht ihr gut – soweit.“ und schon sprudelten die Worte nur so aus ihm hervor „Sie ist davon überzeugt, SIE hätten unseren Vater getötet und unseren Großvater und als nächstes würden SIE uns töten“.
Er sah noch bei seinen Worten den Bruder über eine Schüssel Wasser gebeugt, sich den Staub der Reise aus dem Gesicht waschend, und als ihm das Handtuch auf den Boden fiel, bückte er sich schnell und reichte es halb kniend dem Älteren entgegen. Just in diesem Moment öffnete sich die Türe ihres Gemachs nach einem kurzen Klopfen und der Großkanzler und Berater des Königs, Jean le Sauvage, steckte den Kopf in den Raum. Karl hatte ihm einen warnenden Blick zugeworfen, der ihm bedeutete zu schweigen und so reichte er ihm nur stumm das Handtuch und erhob sich schließlich zögernd. Mit einigen harschen Worten hatte Karl dem Mann bedeutet, sie wieder alleine zu lassen und dafür zu sorgen, sie bis zum nächsten Morgen nicht mehr zu stören.
Im Hofklatsch machte dieser Moment, als er kniend seinem Bruder das Handtuch reichte, gedeutet als Unterwürfigkeit gegenüber seinem älteren Bruder, die Runden. Nun, es war zwar das erste, doch noch lange nicht das letzte Missverständnis im Verhältnis zu seinem Bruder gewesen, aber so war es wohl besser als hätte jemand seine zuvor gesprochenen Worte gehört.
Er hatte danach nochmals seinen Bruder auf die sonderbaren Umstände des Todes ihres Vaters hin befragt. Er war immerhin im besten Alter an einer simplen Erkältung gestorben und Ferdinand hatte als kleiner Junge nur so viel mitbekommen, dass seine Mutter danach sämtliche Mitglieder des Kronrates seines Vaters entlassen hatte. Die gutnachbarlichen Beziehungen zu Frankreich waren vielen im Umkreis seines Vaters ein Dorn im Auge gewesen. Schon als Kind war er selbst mehrmals zum Objekt politischen Interessen geworden und dadurch in Gefahr geraten. Sein Großvater hatte ihn immer gemahnt, stets auf der Hut zu sein. Ihre Mutter hatte ihren Vater geliebt. Mag sein, dass sie von ihren Ängsten in den Wahnsinn getrieben wurde. Doch konnten ihre Ängste nicht aus einem wahren Grund entstanden sein? Immerhin hatten diese Wahnvorstellungen sie davor bewahrt, den, in seinen Augen wirklich geisteskranken englischen König Heinrich VIII, zu heiraten.
Als sie schließlich bei Kerzenschein in ihren Betten lagen erzählte Karl ihm das erste Mal von seinen Visionen. Von seinem Traum eines Europa christianitas.
Karl beteuerte, mit ihm gemeinsam die Welt verändern zu wollen. Er predigte leidenschaftlich Hoffnung, Einheit, Versöhnung und eine neue Welt, eine „Monarchia universalis“ und meinte, diese solle die alte wie die neue Welt umfassen und steckte ihn mit seiner Euphorie an. Gemeinsam würden sie ein großes Reich besitzen können, ohne dafür Menschenleben aufs Spiel zu setzten. Ja, sämtliche Völker der modernen Welt würden mit Freuden freiwillig ihrer friedvollen Monarchie beitreten wollen. Gegenseitig würden sich die so verbündeten Länder gegen Angriffe Außenstehender beistehen und wirtschaftlich an einem Strang ziehen.
Spanien war seit der Vereinigung ihrer Großeltern Ferdinand von Aragon und Isabella von Kastilien zur dominierenden Macht in Europa gewachsen und durch die Eroberung der neuen Welt war es auf dem besten Wege zur Weltmacht.
An diesem Abend beschlossen sie also, die sie damals noch naive Kinder waren, sich ihr Leben lang für die Einheit der Christenheit zu bemühen. Eine Friedens- und Rechtsordnung in ihrem Reich auf dem Wege eines Systems der kollektiven Sicherheit zustande zu bringen. Mit einem Kaiser als Garant des Friedens. Was wussten sie damals schon von den nötigen wirtschaftlichen und finanziellen Ressourcen, die sie für diese Politik benötigen würden, oder davon, dass ihr Großvater, Kaiser Maximilian, trotz seiner Verdienste auch hohe Schulden angehäuft hatte.
Selbst ein Kaiser darf nur mit Zustimmung der Kurfürsten politische Entscheidungen treffen und so ein für alle gültiges Gesetz schaffen. Karl hatte die größten Rechtsgelehrten die er finden konnte ausgewählt, um so möglichst klare Gesetzte zu machen, derer die ganze Welt sich gern bedienen sollte und doch war er so oft gescheitert.
Alles was Karl damals wollte war, seiner Berufung zu folgen. Ihre Dynastie dazu einzusetzen, den Frieden über die Welt zu bringen. Und auch er selbst war so davon überzeugt gewesen, dass er keinen Moment am Plan seines Bruders zweifelte. Jetzt, 30 Jahre später, fragte er sich immer öfter, was für ein Teufel sie wohl damals geritten hatte, sich dieser unglaublichen Herausforderung zu stellen. Dem gestellten Anspruch konnten sie gar nicht gewachsen sein – die Funktionsweise der Räte und Ratsgremien, die Formen der Diplomatie und Kommunikation sowie die Wirtschafts- und Finanzpolitik hatten ihrem Traum einen gehörigen Strich durch die Rechnung gemacht. Die Franzosen in Karls Rat hielten sich weder an Wahrheit noch an Freundschaft zu ihrem Herrn.
Er umfasste das Medaillon um seinen Hals. Karl und er hatten in dieser besonderen Nacht gemeinsam dieses Siegel ersonnen. Es zeigte die Säulen des Herkules, aber im Gegensatz zu der überlieferten Bedeutung der Säulen, die die Grenzen des antiken Griechenlands mit dem Sinnspruch „non plus ultra“ markieren sollten, hatte sie es mit dem abgewandelten Sinnspruch PLVS VLTRA versehen. Dieser sollte aussagen, sie würden alle Grenzen sprengen – nichts würde sie aufhalten können. Das Medaillon schnitt in seine Finger.
Er war nicht mehr der junge Mann, der erst in sein Amt hineinwachsen musste, er hatte Jahre mit den Ständen um Verwaltungsreformen gekämpft. Zuerst lagen die Regierungsgeschäfte noch in den Händen des Kanzlers, des Großkämmerers und des Audienciers, doch mit den Jahren war er immer versierter im Umgang mit der hohen Politik geworden. Er wusste, ein absolutistischer Staat mit rigoroser Unterdrückung war nicht mehr zeitgerecht. Doch Demokratie? Das war ein Begriff, der für ihn im antiken Griechenland als Zwilling der Geschichte entstanden war. Was wusste man damals schon von übermächtigen Geldgebern, die den Lauf der politischen Verhandlungen immer zu ihren Gunsten, etwa durch erpresserische Machenschaften oder großzügige finanzielle Geschenke, mitlenkten. Auch Karl hatte erkannt, dass seine enormen Machtmittel größtenteils vergeudet worden waren. Seine Konzeption einer Monarchia Universalis war gescheitert. Sie war weder mit den europäischen Herrschern, die nationale Königreiche regieren wollten, noch mit den deutschen Fürsten zu erlangen. Zu unterschiedlich waren die individuellen Gesetze, Bräuche und Ansichten.
Die gewaltige Ausdehnung ihrer Herrschaftsgebiete brachte es mit sich, dass sie in den meisten Ländern nur selten anwesend sein konnten. Um den Kontakt mit den jeweiligen Regenten aufrecht zu halten, waren sie in ihrer auf das Wohl des Gesamtreiches ausgerichteten Politik auf regen Briefwechsel angewiesen, doch obwohl die Kuriere durch regelrechte Stafetten immer schneller die Wege zurücklegten, dauerte dieser oft viel zu lange und verschlang überdies weiter ganze Reichtümer.
Möglicherweise war der Weg, den die Briten eingeschlagen hatten, indem sie eine Charta eingebracht hatten, die die Grundrechte jedes Einzelnen sichern und so die gemeinsame Identität stärken sollte, der richtige. Allgemeine Menschen- und Bürgerrechte und wirtschaftliche und soziale Rechte. Er fand den Gedanken gut, aber wenn er an die neue Welt und die gerade entdeckten fernen Länder dachte, kamen ihm Zweifel. Die Geschichte hatte sich seit der Antike immer wieder in eine andere Richtung bewegt und er würde Hilfe und Unterstützung gut gebrauchen können. Seine Kinder mussten ihm dabei eine wertvolle Stütze sein.
Jetzt kämpfte er, der sonst nie um die Worte verlegen war um diese. Schon lange beschäftigte ihn die Frage, wie er sein Handeln erklären sollte. Oft war er in schlaflosen Nächten dagelegen und hatte versucht, Sätze in seinem Kopf zu formen. Und nun verspürte er dennoch diesen Kloß im Hals. Der Zauber der Jugend strahlte von den jungen Menschen, die vor ihm standen aus und er wollte ihre Zuversicht nicht enttäuschen.
Er begann zu erwähnen, wie stolz er auf Maximilian und Adam war und das ihm von ihren Lehrern immer nur gutes über sie zugetragen worden war.
„Meine Tante Margarete hat mir, als ich in Eurem Alter war, ein paar gute Ratschläge mit auf den Weg gegeben. Sie wiederum hatte diese von ihrem Vater, meinem Großvater, Kaiser Maximilian, erhalten. Nun will ich, dass diese Ratschläge euch auf euren weiteren Wegen begleiten sollen.
Haltet euch Gott immer vor Augen und bringt ihm alle Arbeiten und Sorgen, die ihr zu tragen habt, dar. Es ist eure Aufgabe, euch zu opfern und hinzugeben und dabei für jeden guten Rat empfänglich und willfährig zu sein.
Das was ich euch heute erklären muss, hauptsächlich dir, mein lieber Maximilian, fällt mir nicht leicht. Ich muss betonen, dass mir Dein Wohl immer ehrlich am Herzen gelegen ist und es mir immer nur darum ging, dich zu schützen und gerade das ist in letzter Zeit beinahe nicht mehr möglich gewesen.“, streifte er die Ereignisse der letzten Wochen. „Heute ist der Tag gekommen, an dem ich euch eine Erklärung schuldig bin“, er stockte kurz, um sogleich weiter zusprechen.
„Als du noch ein kleines Würmchen warst und in Windeln gelegen bist, musste ich eine schwerwiegende Entscheidung treffen, mein Leben und das meiner Familie war damals und ist immer noch in höchster Gefahr. Nach der Schlacht von Mohacs und dem Tod Ludwigs von Ungarn bedrohte mich dieser psychopathische Ungar, Johann Zápolya. Er war nicht der Einzige. Der ebenso kranke Kardinal Jiménez, der nebenbei ein enger Vertrauter meines Bruders Karl war, nahm es mir damals übel, dass ich mich trotz alledem weiterhin um die in Schwierigkeiten geratene Italienarmee meines Bruders bemühte und in seinem Wahn versuchte er, mich mittels eines Giftanschlages zu ermorden. Er schleuste einen meiner kastillischen Gegner, Diego de Guevara, in meinen Hofstaat ein. Offenbar sah er in mir eine Gefahr für meinen Bruder Karl und in meinem Sohn eine Gefahr für den schwächlichen Infanten, der, ebenso wie seine Mutter, immer wieder von Kränklichkeit heimgesucht wurde.
Kardinal Jiménez entließ über meinen Kopf hinweg meine wichtigsten Berater und Vertraute: Nunez, Gonzalo und de Guzmán. Ich war damals jung und unerfahren. Es mangelte mir an Selbstbewusstsein. Immer wurde mir der Respekt vor dem Alter gelehrt. Ich wusste mir nicht zu helfen. Doch ich musste um mein Leben fürchten und um das Leben meines Erben. Damals ließ ich sogar meinen Schlaf von einem meiner burgundischen Vertrauten bewachen, nur dieser Vorsichtsmaßnahme verdanke ich es, heute hier zu stehen. Leider fiel mein Hauptratgeber und damaliger Hofkanzler, Leonhard Harrach, einem dieser Anschläge zum Opfer. Erst später, als ich den Mann, der mich zu ermorden beauftragt war, hatte befragen lassen, erhielt ich diesen Hinweis auf seinen Hintermann.
So erfuhr ich also, dass dies alles verhindern sollte, dass mir Mailand nach Bourbons Tod in Rom zugesprochen werden sollte, weil das möglicherweise ein Anlass gewesen wäre, dass sich die Venezianer und andere italienische Fürsten aus Angst und Eifersucht mit den Türken gegen mich verbinden könnten, noch dazu, wo es in Florenz auch schon zum Sturz der Medici und deren Vertreibung gekommen war. Der Mann hatte nicht einmal den Versuch unternommen, über diese heikle Angelegenheit mit mir zu diskutieren. Er gab einfach den Befehl, mich zu beseitigen.
Eine öffentliche Hinrichtung und Prozess hätten zu viel Staub aufgewirbelt und so ließ ich damals Jimenez` plötzlichen Tod als tragischen Unfall darstellen. Verzeiht mir bitte diese, für euch im Moment alten Geschichten, sie sollen nur mein Handeln und mein Leben zum damaligen Zeitpunkt für euch verständlich machen. Da ich praktisch immer unterwegs war und nur alle paar Monate mit meiner Familie gemeinsam verbringen konnte,“ fuhr er nach einer kurzen Atempause fort, „traf ich folgende Entscheidung:
Ich wollte, dass mein erstgeborener Sohn und Haupterbe gefahrlos, unbehelligt und unbeschwert aufwachsen sollte und so gab ich der Öffentlichkeit bekannt, ihn zu Verwandten nach Spanien oder den Niederlanden schicken zu wollen, wo ich beabsichtigte, seine Erziehung fernab von allen Gefahren stattfinden zu lassen. Es zerriss mir und ganz besonders meiner Frau das Herz, das Kind, unseren Erstgeborenen, wegzugeben, doch wir beide wussten, es war nur zu dessen Bestem. Dennoch brachten wir es nicht über uns, den Sohn ins Ausland zu schicken und vertrauten ihn stattdessen insgeheim unseren engsten Freunden an, mit dem Befehl, ihn wie ein eigenes Kind aufzuziehen.“ Er hatte bei den letzten Worten nicht gewagt, in die schockierten Gesichter seiner Gegenüber zu sehen, in denen ungläubiges Verstehen sich Bahn brach, doch jetzt blickte er Max direkt in die Augen und sagte:
„Maximilian, die Wahrheit ist, du bist mein Sohn und somit Thronerbe und die Patenschaft für dich war damals ein Vorwand, dich trotzdem hin und wieder sehen zu können und unverdächtig einen gewissen Einfluss auf deine Erziehung nehmen zu können.“
Betretenes Schweigen hing im Raum, bis die wenigen anwesenden Hofschreiber und Berater des Königs sich ehrfurchtsvoll vor Max verneigten und so das unglaubliche, eben Gehörte, untermalten.
Adam fasste sich als erster und klopfte Max schließlich auf die Schulter und meinte lakonisch: “Ich wusste immer du würdest es noch weit bringen, Brüderchen. Jetzt dämmert mir auch allmählich der Sinn unserer Entführung. Na ja, ich meine, deiner Entführung. Dass ich dabei war, war wohl eher ein Versehen.“
Johanna hingegen war weniger gefasst, sie dachte kurz daran, dass wohl in solch einer Situation ein durchschnittliches Mädchen in gnädige Ohnmacht versinken dürfte. Nur sie war kein durchschnittliches Mädchen, vielmehr war sie die Geliebte eines Thronerben, wie ihr soeben schmerzlich bewusst wurde und sie war bisher noch nie ohne gleichzeitigen hohen Blutverlust ohnmächtig geworden. Wie versteinert blickte sie auf Max Nacken, den sie vor wenigen Stunden noch geküsst hatte und es schien ihr, als hülle ein unsichtbarer Eisblock ihren Körper ein. Sie fühlte sich stumm und gleichzeitig seltsam unbeteiligt.
Der Erzherzog war zumindest einen Kopf kleiner als Max, sein zum rötlichen neigender Haarwuchs war an vielen Stellen ergraut, er hatte eine große Nase und breite Lippen und trug ein altmodisch wirkendes Wams mit sehr weiten, bauschigen Ärmeln. Johanna konnte auf den ersten Blick keine Ähnlichkeit zu Max erkennen. Auf den zweiten Blick fielen ihr die großen buschige Augenbrauen Ferdinands auf, die von seinen schönen lebhaften Augen ablenkten, den gleichen Augen, in die sie sich bei Max so verliebt hatte.
Es war ein wahrhaft großer und erschütternder Moment, als der König seinen verlorenen Sohn, der für ihn ja eigentlich nie verloren war, schließlich umarmte. Ihr Blick wanderte weiter zu Adam, der ihren fragenden Augen mit einem hilflosen Schulterzucken begegnete, und als sie eine sanfte Umarmung an den Schultern spürte drehte sie sich zu Leon um, der hinter sie getreten war und sie so aus ihrer Versteinerung befreite. Sie drehte sich zu ihm um und flüchtete in eine tröstende Umarmung, heiß spürte sie die Tränen aufsteigen und nahm gerne das ihr angebotene Taschentuch entgegen.
„Entschuldigt bitte, ich bin so gerührt“ stammelte sie als sie bemerkte, dass alle Blicke sich auf sie gerichtet hatten. In Max Augen sah sie dieselbe wehmütige Trauer, die sie selbst soeben überkommen hatte.
„Max, das ist ja wunderbar – ich freue mich ja so für dich, jetzt hast du auch noch einen“ sie stockte und suchte fieberhaft nach Worten „…dritten Vater…!“ versuchte sie vergebens mit einem Scherz zu reagieren. Der Satz ging in einem Schluchzen unter und sie versuchte gar nicht erst, weiter zu sprechen. Er und sie wussten auch so, wie es im jeweils anderen gerade aussah.
Sie beide wussten, dass ihre Liebe so keine Zukunft mehr hatte, dass sie dennoch nie enden würde und immer da sein würde, in ihrer Erinnerung, verbunden durch ein unsichtbares starkes Band. Johanna spürte auf ihrer linken Seite Leons starke Umarmung, auf der anderen Seite Adams festen Händedruck und wusste, sie würde darüber hinwegkommen müssen, über diesen Schmerz, hinaus aus diesem tiefen Loch, in das sie soeben geglaubt hatte, zu fallen. Sie wusste, sie konnte, musste, dennoch zuversichtlich in die Zukunft blicken und auch, dass Max, mehr als sie, der wirklich Leidtragende dieser ganzen Geschichte sein würde. Gerade er, der sensible, schweigsame Max, der nichts mehr hasste, als Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, würde von nun an im Brennpunkt der Öffentlichkeit stehen.
Der Erzherzog hatte seinen Arm um die Schulter seines Sohnes gelegt und bereitete ihn soeben darauf vor, dass der Grund, weswegen er nach ihnen schicken hatte lassen kein Vorwand war und er mit seinem Bruder, dem Kaiser, fest vereinbart hatte, Max mit dessen Tochter Maria zu vermählen. Max warf bei diesen Worten einen Blick auf Johanna, die Liebe seines Lebens, und in ihren Augen las er ihren Stolz auf ihn und das, was sie für kurze Zeit miteinander verbunden hatte. Sie hatten nicht die Wahl, hatten sie nie gehabt, alles, was ihnen blieb, war ihre gemeinsame Erinnerung an einen Sommer voller Glück.
Johanna stand am großen Fenster der Hofburg und blickte auf den Hof hinunter. Verschwommen verfolgte sie das Kommen und Gehen und schrieb ihren unklaren Blick auf das Geschehen dort unten den Maserungen der Glasscheibe zu. Tatsächlich konnte sie es einfach nicht vermeiden, die immer wieder aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. Sie fröstelte, obwohl draußen die Sonne hoch am Himmel stand und schrieb es den dicken Mauern der Burg zu. Tatsächlich fühlte sie die Kälte in ihrem Körper und überlegte sogar kurz, ob dieser für die im Innern des Raumes herrschende Kühle verantwortlich war. Sie sehnte sich nach ihrem zuhause. Sie würde kurz die Augen schließen und wenn sie sie wieder öffnete wollte sie in der Küche ihrer Großmutter stehen und alles würde wieder gut sein.
Leise hörte sie die Stimmen von Adam und Leon, die sich angeregt vor der Tür unterhielten, ohne die Worte in ihren Kopf dringen zu lassen. Als sich nach endlos langer Zeit die Türe hinter ihr öffnete, musste sie sich nicht umwenden, um zu wissen, dass Max im Raum war. Ihr Blick war weiterhin auf den Hof unter ihr gerichtet. Er trat ohne etwas zu sagen hinter sie und sie spürte leicht seine Hände auf ihrer Taille, um sie zu sich umzudrehen. Doch sie konnte nicht. Sie gab ihrem Körper den unsinnigen Befehl, sich zu versteifen, und schüttelte fast unmerklich den Kopf. Alles, nur in seine Augen wollte sie jetzt nicht sehen. Und vor allem wollte sie nicht, dass er in ihre Augen sah. Eine kurze Zeit lang schien Max über sie hinweg ebenfalls blicklos in den Burghof zu sehen. Dann spürte sie seinen sanften Kuss auf ihren Haaren. Mühsam zwang sie sich, möglichst gefasst zu flüstern: „Ich will heim.“
„Ich verstehe dich und ich glaube es wäre wohl im Moment und in Anbetracht der Umstände, die sich heute ergeben haben, das Beste für uns beide. Adam,“ sagte er laut genug, dass ihn dieser hören konnte, „kannst du Johanna zurück nach Steyr bringen?“
Ehe Adam etwas darauf sagen konnte antwortet an seiner Stelle Leon: „Das wird nicht nötig sein. Es ist wohl besser, er bleibt in nächster Zeit in deiner Nähe. Du hast keine Ahnung was auf dich zu kommt, mein Lieber. Aber mir wäre wohler, ihr bleibt vorerst zusammen. Vier Augen sehen mehr als zwei und vier Ohren hören mehr als zwei. Glaub mir, das Leben bei Hof ist alles andere als ein Zuckerschlecken. Hast du dir schon überlegt, warum dich dein Vater gerade mit deiner Cousine verheiraten will? Hier traut keiner irgendwem. Der Erzherzog und der Kaiser sind selbst nichts als Schachfiguren in den Händen der anderen.
Ich werde mit Johanna zurück nach Steyr reiten. Von mir aus können wir gleich morgen früh, noch bevor sie diesen Verräter hängen, aufbrechen. Ich werde mich um alles kümmern.“
Es war eine Frage der Ehre, Max war nun dem Namen verpflichtet, den er fortan trug. Für ihn begann ein neues Leben. Es gab keine Zweifel an dieser Tatsache. Johanna wurde das bei Leons Worten nur noch eindringlicher bewusst. „Ja, ich bin einverstanden damit. Ich reite mit Leon zurück – macht euch um mich keine Sorgen.“ versuchte sie ihrer Stimme einen festen Klang zu verleihen, zweifelte aber daran, dass ihr das gelang.
Es gab ein feierliches Festmahl zum Anlass der bevorstehenden Vermählung Maximilians mit seiner Cousine Maria, die der Erzherzog an diesem Abend bekannt gab.
Johanna saß weit am anderen Ende der riesigen, zu diesem Anlass reichlich geschmückten, Tafel und konnte von ihrem Platz aus nicht einmal einen Blick auf Max werfen, der auf derselben Seite wie sie Platz genommen hatte.
Lustlos hatte sie, nachdem sie die Gräfin in ein nettes, lindgrünes Abendkleid gesteckt hatte und ihr sogar ein paar passende Schmuckstücke dazu geliehen hatte, ihr Spiegelbild betrachtet und der sehr bemühten Dame ein freundliches Lächeln geschenkt. Doch schon Sekunden darauf hätte sie nicht einmal mehr sagen können, welche Frisur man ihr verpasst hatte. Als sie einen Moment alleine in ihrer Kammer war und einen Blick auf ihren gebauschten Rock warf, musste sie eingestehen, dass sie wohl gerade nicht ganz bei Sinnen sein konnte, so etwas zu tragen. Skeptisch glitten ihre Finger über den schillernden glatten Stoff. Ihr Busen war in ein enges Korsett gequetscht und darüber trug sie einen kurzen Goller, ein kurzes Jäckchen mit angeschnittenem Kragen, wie es derzeit in Wien modern war. Im letzten Moment hatte sie verhindern können, dass ihr helles Puder und Wangenrot aufgetragen wurde, doch auch so kam sie sich bereits verkleidet genug vor. Sie sah jetzt genauso aus wie die anderen aufgedonnerten Gänse um sie herum. Was hatte sie nur hier zu suchen, das Geschnattere im Damensalon, es ging vorrangig um die neueste Kopfbedeckung - verheiratete Frauen trugen für gewöhnlich Hauben, Haarnetze, Girlanden oder Schleier - war so gar nicht ihre Welt. Es wäre wohl das Beste gewesen, gleich gar nicht an der Feierlichkeit teilzunehmen. Doch das wäre unhöflich der Gräfin gegenüber gewesen, die sich doch so über ihr Kommen gefreut hatte und sehr enttäuscht war, als sie ihr von ihrem Entschluss, nicht zu bleiben, berichtet hatte. Also hatte sie sich tapfer der Gesellschaft am Hof gestellt.
Die Gruppe der Spanier stach sofort durch ihre typische schwarze Kleidung hervor. Es war interessant zu sehen, wie die Kleidung zum Ausdruck der Persönlichkeit wurde und den individuellen Geschmack und die Bildung ihrer Träger widerspiegelte.
Zuerst hatte sie zurückhaltend und höflich auf ihren Tischnachbar reagiert, als sich dieser bei ihr vorstellte. Der arme wirkte ein wenig wie von Gestern und legte anscheinend keinen großen Wert auf sein Äußeres. Nun, dann passte sie ja an diesem Abend blendend zu ihm. Wahrscheinlich lag es daran, dass sich wohl keine Frau um ihn kümmerte. Auf ihrer anderen Seite pflanzte sich eine ältere Dame hin, die allerdings ziemlich taub zu sein schien. Die Arme tat weiters nicht den Mund auf als zum Verschlingen alles Gesottenem, Gebratenem und Gekochtem. Deshalb schenkte sie ihre Aufmerksamkeit doch dem Herrn an ihrer anderen Seite. Doch im Laufe des Abends hatte er sich als interessanter Tischnachbar entpuppt. Mit ihren eigenen Ansichten und Sorgen brauchte sie nicht herauszurücken, der Schwall seiner Rede ließ sie ohnehin nicht dazu kommen. Als die Tafel aufgelöst wurde bedauerte sie dies sogar etwas, so gut hatte sie sich letztendlich mit ihm unterhalten. Für einige Zeit hatte sie sich tatsächlich von ihrer deprimierten Stimmung ablenken lassen.
Max und Adam standen in der Gruppe um den Erzherzog und waren beide so vertieft in ihre Gespräche, dass sie nicht einmal bemerkten, wie sie mit den anderen Damen den Saal verließ. Einerseits war sie froh darüber, sich nicht vor allen Leuten von ihnen verabschieden zu müssen. Andererseits war sie aber auch enttäuscht darüber, wie schnell sie sie vergessen hatten und sie fühlte sich geradezu panisch dabei, dass sich ihre Leben hier für immer oder zumindest für lange Zeit trennen würden.
In ihrer Kammer fand Johanna eine Nachricht von Leon, in der er ihr mitteilte, wann er jemanden schicken wollte, um sie am Morgen abzuholen. Ihre Habseligkeiten warteten, noch immer ordentlich verpackt, so wie sie sie am Vortag abgestellt hatte, am Fuße ihres Bettes. Er wollte noch im Morgengrauen die Hofburg verlassen. Es war bereits spät geworden und sie würde wohl schnell einschlafen müssen, um noch genügend Schlaf für die bevorstehende anstrengende Reise zu bekommen. Doch immer wieder traten ihr heiße Tränen in die Augen, wenn sie an die nähere Zukunft dachte und als sie ein Mädchen schließlich weckte hatte sie das Gefühl, maximal einige Minuten geschlafen zu haben.
Sie zog wieder ihre bequeme Reithose an und wickelte sich, da es bereits empfindlich kühl am Morgen war, in einen wollenen Umhang. Ihre Haare waren noch vom Vorabend lockig gewellt und wippten in allen Richtungen um ihren Kopf. Mit einem Band versuchte sie, die Mähne im Nacken halbwegs zu bändigen. Sie trug ihre alten bequemen Reitstiefel, die nach dem Hieb mit dem Schwert beim Überfall im Kloster zwar wieder genäht worden waren, doch zu Hause würde sie sich wohl oder übel von ihnen trennen müssen. In diesem Aufzug fühlte sie sich zumindest schon wieder etwas besser als noch am Vorabend und nicht mehr so verletzlich. Es war die richtige Entscheidung gewesen, sofort wieder aufzubrechen, obwohl sie gerne mehr von dieser beeindruckenden Stadt kennen gelernt hätte. Ein Page trug zuvorkommend ihre schwere Reisetasche und begleitete sie zu den Ställen, wo sie sich mit Leon treffen wollte.
Er wartete bereits mit ihren Pferden und Apollo im Hof auf sie. Doch er wartete nicht alleine. Carl war da um sich noch einmal von seinem Freund zu verabschieden und beim Anblick der zwei weiteren Gestalten fühlte Johanna einen Kloß in ihrer Brust.
Es waren Adam und Max, die extra so bald aufgestanden waren, um sie noch einmal zu sehen und sich zu verabschieden. Insgeheim hatte sie sich einen richtigen Abschied herbeigesehnt, andererseits fürchtete sie sich jetzt noch mehr vor diesem Moment. Beide schärften Leon ein, nur ja gut auf sie aufzupassen, als ob sie ein kleines Kind wäre und trotz ihres Kampfes mit den Tränen musste sie natürlich ihren Senf dazu abgeben und darauf beharren, dass sie ihrerseits auch gut auf ihn aufpassen würde.
„Ich hasse Abschiede. Also kommt und lasst euch von mir umarmen und drücken, ihr vornehmen, wichtigen Leute.“
Adam zerquetschte ihr beinahe den Oberkörper und küsste sie mit stoppeligem Gesicht schmatzend auf beide Wangen. Sie konnte Max beinahe nicht in die Augen blicken, so schmerzvoll wie sie diese ansahen. Und doch erwiderte sie seinen Blick und spürte dabei, dass, trotz allem, sie wohl in diesem Moment die Stärkere würde sein müssen. Er war so sensibel auf seine besondere Art. Sie spürte wie seine Hände zitterten als er sie innig umarmte und die Stelle vor ihrem Ohr küsste, die sie immer zum Lächeln gebracht hatte. Er hatte genau die gleiche Angst vor der Zukunft wie sie. Sie konnten bei den sich überstürzenden Ereignissen ohnehin nichts anderes machen, als sich mit ihnen treiben zu lassen. Ein Schwimmen gegen den Strom war aussichtslos und sie beide wussten das. Dann hob er sie in den Sattel und richtete ihr fürsorglich die Steigbügel. Noch einmal beugte Johanna sich zu ihm hinunter und hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen: „Kopf hoch – vergiss nicht, auch andere Mütter haben hübsche Töchter, nicht wahr. Werde glücklich mit Maria.“ flüsterte sie mit verschwörerischem Blinzeln nur für ihn hörbar. Dann nickte sie schweren Herzens Leon zu und sie setzten die Pferde in Gang. Schnell reichte sie auch Carl zum Abschied die Hand und warf den anderen beiden Männern noch einmal eine Kusshand zu.
Der Weg über die Zugbrücke der Hofburg und durch die Stadt verschwamm vor ihren Augen. Sie war froh, dass anscheinend auch Leon nicht zum Reden aufgelegt war. So ritten sie durch die noch verschlafene Stadt, in der sich bereits der neue Tag durch langsames Treiben ankündigte. Als sie durch das Stadttor kamen, verabschiedete sie das dröhnende Läuten der Kirchenglocken, die zum ersten Gebet läuteten. Schlagartig wurde Johanna sich dessen bewusst, was passierte. Ihr Traum von der Liebe war hier und jetzt zu Ende. Es war, als würde gerade eine neue Zeit eingeläutet. Einen Sommer lang hatte sie geglaubt, alles sei so gekommen wie es kommen musste, als wäre es Bestimmung, dass Max und sie zusammengehörten. Jetzt hatte sich in nur wenigen Stunden herausgestellt, dass Teile ihres Lebens Opfer eines riesigen Täuschungsmanövers geworden waren. Gleichzeitig wusste sie, wahre Liebe und wahre Freundschaft würde bis an ihr Lebensende währen. Sie musste an ihr Versprechen an Max denken, sich kein Beispiel an den armen Liebenden der griechischen Tragödien zu nehmen, die das Schicksal getrennt hatte und an Dante, der seine große Liebe immer nur aus der Ferne angebetet hatte. Vielleicht sollte sie auch versuchen, sich den Schmerz von der Seele zu schreiben und damit wenigstens in die Geschichte einzugehen, alleine, mit Worten hatte sie es nicht so. Sie war eher eine Frau der Tat. Sie sollte schleunigst schauen, so bald wie möglich wieder nach Hause zu kommen und sich eine Ablenkung suchen. Leon wollte sich ein Anwesen in Steyr kaufen fiel ihr plötzlich ein. Perfekt! Da würde er wohl eine Hilfe, die sich in der Stadt gut auskannte, gut gebrauchen können.
Für den Moment fand sie die Ablenkung nicht so schlecht und voll plötzlichem Überschwang drückte sie Loni die Fersen in die Flanken und das Pferd verfiel in leichten Trab.
Leon war ihr überrascht gefolgt und als er sie einholte erkundigte er sich belustigt: „He, hast du heimlich die Kronjuwelen mitgehen lassen? Ich dachte wir sind auf dem Heimweg, nicht auf der Flucht.“
„Na, du willst dich doch in Steyr niederlassen, oder? Wir sollten uns also beeilen, bevor der erste Schnee fällt heimzukommen.“ Ihre sonst so lebhaften Augen blickten ihn matt an und straften so ihrer Worte Lügen. Die Sonne war im Aufsteigen begriffen. Der Wind führte den Duft der Kornfelder herüber. Man merkte es schon deutlich, der Sommer begann schwer zu werden. Doch es war gerade erst Ende September und in den letzten Tagen hatte herrlichstes Altweibersommerwetter geherrscht, also sah es noch ganz und gar nicht nach kaltem Wetter aus. Leon hielt es trotzdem für besser, sich jetzt auf keine endlose Diskussion diesbezüglich mit ihr einzulassen und hielt kommentarlos ihr Tempo. Die Pferde würden schon von selbst bestimmen, wann ihnen die Kraft ausging und es zogen von Westen schwere Wolken auf, es war wohl das Beste, wenn sie versuchten, eine möglichst lange Strecke noch im Trockenen zurückzulegen.
Wieder einmal fand er nur Respekt und Bewunderung für Johanna. Anstatt in Selbstmitleid zu zerfließen und ihm weinerlich ihr Herz auszuschütten, wie er es bei anderen Frauen erwartet hätte, ritt sie mit stolz erhobenen Haupt neben ihm her und begann Pläne für seine Niederlassung in Steyr zu schmieden.
Obwohl sie auf ihrem Weg über die bewaldete Hügellandschaft nur eine kurze Pause, während der sie einen Imbiss zu sich genommen und die Pferde versorgt hatten, eingelegt hatten, kamen sie der Wolkenfront immer näher und würden es wohl nicht bis Krems schaffen, wie er es geplant hatte. Man konnte schon an den verschwommenen hellen Konturen unter den rasend schnell treibenden Wolken erkennen, dass es jeden Moment zu regnen beginnen würde.
Schon wehte ein kühler Wind die ersten lockeren Blätter von den Bäumen. Johannas Haare, die sie nur im Nacken zusammengebunden hatte, wehten bereits in alle Richtungen.
„Wir schaffen es nicht mehr bis Krems!“ rief ihr Leon zu, um das Rauschen der Bäume zu übertönen. „Am besten schauen wir uns schleunigst nach einem Unterstand um.“
Johanna nickte ihm zustimmend zu und nach einigen Minuten deutete sie auf einen auf einer Anhöhe gelegenen Hof und trieb die Pferde zum Galopp an. Die ersten dicken Tropfen fielen bereits, als sie das Gebäude endlich erreichten. Es war nur eine kleine Landwirtschaft und eine Horde Kinder kam aus dem Haus gerannt als sie aus den Sätteln glitten.
„Hallo, sind eure Eltern zu Hause?“ erkundigte Johanna sich freundlich bei den Kindern, doch schon kam eine Frau in schmutziger Stallkleidung aus der Scheune gegenüber und begrüßte sie neugierig.
Schnell wurden sie sich einig, dass die beiden Reisenden den Stall als Notquartier beziehen konnten. Johanna hatte einen kurzen Blick ins Innere des Häuschens gemacht. Der Ziegelboden war wellig und ausgetreten. Die alte Tramdecke hing tief und vermittelte Geborgenheit. Sie hatte einen großen gekachelten Herd gesehen, über dem ein Wursthimmel hing. Ein dicker Arbeitstisch zeigte die Spuren der letzten Mahlzeit. Das kleine Haus verfügte über keine Gästezimmer, soviel war sicher, und Leon und Johanna wollten der kleinen Familie nicht unnötig zur Last fallen.
Die Frau erlaubte ihnen, ihre Pferde zu den Kühen im Stall zu stellen. Dieser erwies sich als groß und sauber genug und auf dem Dachboden, wo Heu eingelagert war, konnten sie es sich selbst bequem machen. Draußen prasselte bereits heftig der Regen nieder. Leon überlegte kurz, ob er gewisse sittliche Bedenken äußern sollte, doch da es Johanna anscheinend nichts ausmachte, sich ein und denselben Heuhaufen mit ihm zu teilen, hielt er davon Abstand.
Die Bäuerin hatte sich ein großes eingewachstes Tuch übergeworfen und sie mit einem Stück frischem selbstgebackenen Brot, Schafkäse, Milch und Wasser versorgt und nachgesehen, ob sie alles hatten, um sich halbwegs wohlzufühlen. Sie hatten sich mit einem großzügigen Entgelt dafür erkenntlich gezeigt und mit großem Appetit die Speisen gekostet. Danach vertrieben sie sich die Zeit mit einem Würfelspiel.
Apollo vertrieb sich seinerseits die Zeit damit, die Hühner in ihren Verstecken aufzuspüren und zu erschrecken. Scherzend schimpfte Leon mit ihm: „Hör auf, Lausbub! Du verdirbst uns noch die Gelegenheit auf eine gute Eierspeise morgen zum Frühstück“. Johanna grinste ihn an „Und du glaubst, er versteht dich?“
Schon oft hatte sie bemerkt, wie Leon auf den Hund eingeredet hatte wie auf ein etwas begriffsstutziges kleines Kind. Sie fand es rührend, weil sie annahm, er tat es auch deshalb, um sie ein wenig zu unterhalten und vom Trübsalblasen abzuhalten. Doch eigentlich hatte er es doch selbst nötig, etwas Ablenkung zu bekommen. Er hatte immerhin seine Frau verloren und auch wenn die Ehe anscheinend bereits ziemlich zerrüttet gewesen war, waren die Umstände sicher ein großer Schock für ihn gewesen. Und er hatte beschlossen, ein neues Leben anzufangen und die Stellung in der Leibgarde des Erzherzogs von einem Tag zum nächsten aufgegeben. Sie musterte ihn unauffällig.
Seine Miene war unergründlich wie immer. Er war von der Sorte Mann, die man besser nicht nach ihren Gefühlen fragte, deshalb ersparte Johanna es sich, nachzufragen wie es ihm ginge.
Als es schließlich zu dunkel wurde um weiterzuspielen, wickelten sie sich zum Schlafen in ihre Decken. Es war angenehm warm und duftete nach frischem Heu, Johanna war satt und auch müde von der Reise. Trotzdem fand sie einfach keinen Schlaf. Immer wieder musste sie sich heimliche Tränen aus den Augen wischen und ärgerte sich selbst über ihr Selbstmitleid, das sich plötzlich Bahn zu brechen schien.
Solange sie sich unter Tags mit allerhand Sachen abgelenkt hatte, war es ihr nicht so schlecht ergangen, doch jetzt in der Dunkelheit der Nacht fühlte sie sich nur noch einsam und wie ein Häufchen Elend, mut- und hoffnungslos und voll düsteren Ausblicks in die Zukunft. Still weinte sie immer wieder in ihr Taschentuch. Sie bemerkte auch, dass Leon sich immer wieder unruhig bewegte und hoffte, nicht Schuld an seiner Schlaflosigkeit zu sein. Er würde noch am nächsten Morgen früh genug an ihren verweinten Augen mitbekommen, dass sie die halbe Nacht durchgeweint hatte.
Im Prinzip war sie ja selbst Schuld an der ganzen Misere. Sie hatte sich ja die ganze Zeit über etwas vorgemacht. Sie hatte seit Leons Ankunft in Steyr gewusst, was passieren würde und sie war dennoch munter drauflos in ihr eigenes Unglück gerannt. Obwohl, Unglück konnte und wollte sie ihre Liebe zu Max nicht nennen. Es war das Schönste, was ihr bis jetzt im Leben passiert war, es war wie ein nicht enden wollender Glücksrausch und sie hatte das Gefühl gehabt, auch ihr Liebster empfand dasselbe für sie.
Vielleicht lag auch er gerade wach und sehnte sich genauso nach ihr, wie sie sich nach ihm. Irgendwie schien sie dieser Gedanke zu trösten, denn endlich stellte sich für wenige Stunden doch noch etwas Schlaf bei ihr ein.
Nachdem sie erwacht war blieb sie noch für einen Moment mit geschlossenen Augen liegen und versuchte, einen schönen Traum festzuhalten. Es war früher Morgen, die Sonne war noch lange nicht aufgegangen als die Tiere im Stall schon unruhig wurden. Nach einem herzhaften Frühstück, mit viel frischer Milch und einem großen Stück Käse zum dunklen Bauernbrot, machten sie sich weiter auf den Rückweg.
Sie hatten der Bäuerin noch einmal aufs herzlichste für die bereitwillig gewährte Notunterbringung gedankt und sie nochmals großzügig für die Verkostung und das von ihr aufgedrängte Jausenpaket entschädigt. Johanna hoffte, das Geld wäre für die Kinder gut angelegt, vielleicht würde die Bäuerin sie damit in die Schule schicken können.
Das Wetter war noch immer unbeständig. Es hatte stark abgekühlt und der Himmel lag bedeckt über ihnen. Schnell zogen die Wolken ihres Weges und ließen nur ganz selten ein Stück Blau durchblitzen. Ein Stück legten sie im Trab und leichtem Galopp zurück, um die Kälte in ihren Knochen zu vertreiben. Sie hatten einen schmalen Reitweg von Wien genommen, der für Wagen nicht befahrbar war, dafür aber um einiges kürzer als die Hauptreiseroute war. Es herrschte also wenig Verkehr, nur hin und wieder kamen ihnen Wanderer entgegen.
Leon fragte Johanna, was sie machen sollten. Eigentlich wäre es geplant gewesen, in Krems die Donau zu überqueren und dort zu nächtigen. Jetzt waren sie in Verzug und er wollte wissen, ob sie trotzdem nach Krems reiten, oder lieber den direkten Weg nach Melk einschlagen wollte. Johanna war unsicher. Einerseits hatte sie schon viel über Krems gehört und würde sich gerne selbst ein Bild über die berühmte Handelsstadt in den Weinbergen machen. Auf der anderen Seite war es windig und kühl. Der Reihe nach zählte sie Leon die Dafür und Dawider für den Umweg auf und als sie ihn schließlich nach einiger Zeit nach seiner Meinung fragte, machte er sie nur lakonisch darauf aufmerksam, dass die Abzweigung nach Melk ohnehin schon seit längerem hinter ihnen lag und tatsächlich erreichten sie schon bald darauf das Ufer der Donau.
Die Brücke, die nach Krems hinüberführte, war beeindruckend. Sie war hoch genug um die Schiffe darunter passieren zu lassen und breit genug um mit Wagen befahren werden zu können. Die Brückenmaut war beträchtlich und Johanna rechnete sich aus, wie oft sie mit der Fähre in Melk um dasselbe Geld den Fluss hätten überqueren können. Man konnte nicht einmal behaupten, dafür sei sie in einem guten Zustand. Argwöhnisch beäugte Loni die zwischen den Bohlen durchscheinenden Wellen der Donau. Die Stute war schon seit jeher wasserscheu und machte sogar um Wasserpfützen gerne einen großen Bogen. Johanna hielt sie ganz kurz am Halfter und schritt schneller aus, um ihr keine Gelegenheit zu bieten, ganz zu verweigern, dabei musste sie sich auch selbst dazu zwingen, nicht jede Planke erst vorsichtig zu testen, ob sie ihr Gewicht noch trug. Auf der Mitte des Flusses war das Schwanken der Konstruktion schon enorm und sie war froh, als sie endlich das andere Ufer erreichten.
Krems war eine schöne kleine Stadt, natürlich viel kleiner als Steyr und nur ein Städtchen im Vergleich mit Wien.
Sie gaben ihre Pferde bei einem Schmied ab, der sie versorgen sollte und bummelten durch die engen Gassen. Es tat wohl, nach dem langen Ritt ein paar Schritte zu gehen und so gelangten sie etwas außerhalb der Stadtmauer zu einem Heurigen. Ein ausgesteckter Buschen zeigte an, dass der Besitzer seinen eigenen Wein anbaute und diesen zu bestimmten Zeiten auch verkaufen durfte. Sie hatten Glück, er hatte gerade ausgesteckt, was hieß, sie waren zur richtigen Zeit am richtigen Ort.
Der Wein war herb im Geschmack, aber dennoch köstlich erfrischend. Dazu gab es Hausmannskost und hinterher, für die Verdauung, wie der rotnasige Wirt, der offenbar selbst sein bester Gast war, ihnen versicherte, einen Marillenbrand. Leon ließ sich ein kleines Fässchen davon aufschwatzen und auch Johanna beschloss, als kleines Mitbringsel für Daheim einen guten Wein für den Großvater zu erstehen und für die Damen eine köstliche Marillenmarmelade.
„Na schau, jetzt hat sich der Umweg ja doch gelohnt, oder?“ neckte Johanna ihren schwer bepackten Reisebegleiter, der sich angeboten hatte, auch ihren schweren Einkauf bis zu den Pferden zurück zu tragen. Gutmütig antwortete er nur mit einem Schulterzucken.
Johanna musste sich eingestehen, dass ihm die Last tatsächlich nicht anzumerken war, wahrscheinlich hätte er sie obendrein auch noch huckepack nehmen können, ohne ins Schwitzen zu kommen. Unter seinem Gewand musste er sich wahre Berge von Muskeln antrainiert haben. Sie hatte ihm und seinen Männern in Steyr öfters bei den täglichen Waffenübungen zugesehen und wusste, warum der Erzherzog ihn als Elitesoldat nur ungern hatte gehen lassen. Das Heer in Steyr konnte sich glücklich schätzen, einen so fähigen Soldaten zu gewinnen. Leon hatte sich bereits vor seiner Abreise von dort vom Grafen versichern lassen, als Ausbilder junger Männer jederzeit willkommen zu sein.
Vor der Schmiede in deren Mietstall sie ihre Pferde zurückgelassen hatten herrschte ein gewaltiger Trubel, der sie veranlasste, davor stehen zu bleiben und die größte Hektik einmal abzuwarten. So fand sie schließlich der Schmid unschlüssig herumstehend und erklärte ihnen, dass eine Gruppe Tuchhändler gerade am Aufbrechen sei, sie wollten noch am selben Tag ins Kloster Spitz weiterreisen. Genau genommen wäre ihr weiteres Ziel zwar Linz, aber dort würden sie wohl erst am übernächsten Tag ankommen. Schnell wechselten Leon und Johanna einen Blick und waren sich auch ohne Worte sofort einig. Schon schritt Leon auf den offensichtlichen Wortführer der Reisegesellschaft zu und erkundigte sich, ob sie sich der Gruppe wohl anschließen dürften. Eigentlich hatten die beiden zwar vorgehabt, in Krems zu übernachten und erst am nächsten Tag weiterzureisen, doch die Gelegenheit war zu verlockend. Um Gefahren besser bestehen zu können schlossen sich Reisende gern zu Gruppen zusammen. Der Mann musterte Leons kräftige Gestalt und war sofort einverstanden, sie aufzunehmen. Jeder starke Arm konnte für ihn nur von Nutzen sein. So verlief der Großteil der restlichen Reise in angenehmer Gesellschaft. In Mauthausen trennten sich die beiden von ihren neuen Freunden und nahmen ihnen noch das Versprechen ab, sie bald in Steyr zu besuchen.
Leon fühlte sich voll Energie, Fleiß und Ausdauer in allem, was er anpackte. Was er sich hier schuf sollte etwas Bleibendes, Dauerhaftes sein. Die Arbeitskraft, die ihm innewohnte, zeigte schon erkennbare Ergebnisse der täglichen Schufterei. Untertags bildete er die jungen Soldaten der Stadt in der Burg aus, es waren ganz geschickte Kerle unter ihnen und die Arbeit machte ihm Spaß und forderte ihn. Doch sobald sein Dienst erledigt war, machte er sich dennoch sogleich auf den kurzen Weg hierher und ging hier tatkräftig zur Sache.
Mit so einem tätigen, lebendigen, energischen Geist wie Johanna an der Seite, die überdies ihr Wissen, ihren Geschmack und ihr zwischenmenschliches Verständnis einbrachte, war selbst die ärgste Plackerei ein reines Vergnügen. Sie war so eine resolute Person, die genau wusste was sie wollte und die ihren Willen auch durchzusetzen verstand. Alle Bediensteten schenkten ihr rasch ihr Vertrauen und wetteiferten regelrecht, ihr Bestes zu tun, selbst die Widerspenstigsten fügten sich rasch ihren Wünschen.
Unter tags führte sie die Aufsicht über die zu erledigenden Arbeiten. Allenthalben wurde gebaut und gezimmert, gemeißelt und gemalt.
Unbemerkt beobachtete Leon Johanna bei ihrer Arbeit. Sie trug, wie so oft in den letzten Monaten, ihr Haar im Nacken zu einem etwas wilden Knoten zusammengebunden. Er war voll heftigster Leidenschaft zu diesem reizenden Wesen erfüllt. Jene letzten Monate waren das größte Glück in seinem bisherigen nicht eben freudenreichen Leben gewesen. Er konnte nun im Nachhinein nicht mehr sagen, wann der Augenblick gekommen war, in dem er sich in sie verliebt hatte. Vielleicht hatte er es schon bei ihrem ersten Treffen im letzten Sommer getan. Nun war er sich jedoch dieser Tatsache richtig bewusst.
Er war kein Frauenliebling und wusste von den Gesprächen, die diese mit dem schwachen Geschlecht führten, rein gar nichts. Er versuchte jedoch, Johanna mit Kleinigkeiten zu zeigen, wie sehr er sie schätzte. Er half ihr zuvorkommend in den Sattel, öffnete ihr alle Türen und hofierte sie, so gut er dies vermochte. Alleine, eine beeindruckende Wirkung schien er so bei ihr nicht zu erzielen.
Letzte Woche bekam er unverhofften Besuch eines seiner wenigen wirklichen Freunde. Sie waren in ihren jungen Jahren durch die wilden Erlebnisse des Krieges hindurchgegangen. Sie waren beide hinauf- und hinabgeworfen worden vom Zufall der kriegerischen Geschehnisse und beide hatte das Leben an der Seite des Erzherzogs und des Kaisers im Laufe der Jahre, vom Süden Spaniens und Italiens hinauf ins Niederdeutsche, vom Hessischen ins Fränkische, gelebt, aber heimisch gefühlt hatten sie sich beide nirgends. Das hatte sie immer verbunden. Leon fühlte sich erst hier in Steyr so, als wäre er endlich angekommen.
Während der gemeinsam verbrachten Zeit hatten Luca und er zwar einen guten Teil der Bildung ihrer Zeit in sich aufgenommen, aber für sich befunden, dass das Leben und sein innerer Weg durch andere Bereiche als die des Wissens und der Gelehrsamkeit führten. Sie hatten beide erlebt, dass die menschlichen Erfahrungen, im Guten wie im Bösen, das Wesentliche sind und teilten die Wandlung ihrer Ansichten und Lebenseinstellungen, die sie durch diese Erfahrungen durchgemacht hatten in vielen durchzechten Nächten. Luca hatte ihn damals davor gewarnt, seine Frau zu heiraten, doch Leon hatte den gut gemeinten Ratschlag seines Freundes nicht ernst genommen. In der Ehe hatte sie sich prompt tatsächlich zum Gegenteil alles Strahlenden und Schönen entwickelt.
Luca war Italiener und irgendetwas hatten die Männer dieses Volkes an sich, das die Frauenherzen nur so dahin schmelzen ließ. Johanna war da keine Ausnahme. Sie hing geradezu begeistert an seinen Lippen und quittierte jede seiner Aufmerksamkeiten und seine bewundernden Blicke aus den grünen, mit buschigen Augenbrauen bedeckten, Augen mit einem schüchternen Lächeln. Luca Cannavaro war, wie er, Soldat, er war von kräftiger, ebenmäßiger Gestalt, edler und ausdrucksvoller Miene und einem fast königlichen Anstand. Immer bedacht, eine wahrhaft vornehme Erscheinung zu bieten. Leon dachte trotzdem, oder gerade deshalb, mit tragischem Humor daran, ihn am liebsten auf der Stelle umzubringen. Wie oft hatte er ihn schmunzelnd dabei beobachtet, wie er im Abenddunkel mit hübschen Mägden am Brunnen Konversation führte und sich von ihnen stundenlang anschmachten ließ. Gerade so wie er sich nun von Johanna anschmachten ließ. Es war ihm ein Dorn im Auge, dass ein anderer Mann die Hand nach Johanna ausstreckte.
Sein Freund hatte ihm Einblick in die neuesten Vorgänge am Hof verschafft und einen Brief des Erzherzogs vorgelegt. In einer ruhigen Minute las Leon die vertraute Handschrift seines Herrschers.
„Mein lieber Hohenwerfen, wie Ihr wisst genießen mein Bruder und ich die finanzielle Unterstützung der Welser. Wie Ihr wisst haben diese Augsburger und Nürnberger Großkaufleute durch ihre Handelsgeschäfte zum Aufschwung der europäischen Staaten beigetragen. Sie sind unser größter Partner im Tiroler Silberhandel und handeln, seit sie in den Seehandel und das Reedereigeschäft mit eigener Flotte eingestiegen sind, auch mit Waren aus der neuen Welt. Für die Schaffung eines sicheren Stützpunktes für ihren Amerikahandel hat mein Bruder, der Kaiser, Bartholomäus Welser in einem so genannten Asiento, einem Generalvertrag, im Gegenzug für eine Anleihe, die er dringend benötigte, die Statthalterschaft über die spanische Überseeprovinz Venezuela übertragen. Sein Ziel dabei war auch eine schnelle und kostengünstige Erschließung der Kolonie, da Welser die Schiffsflotte, deren Besatzungen und Ausrüstungen, alleine finanzierte. Wie ihr Euch sicher noch erinnern könnt, hat sich Karl Philipp von Hutten damals gewünscht, als Hauptmann und militärischer Oberbefehlshaber zum Schutz der Augsburger Welser-Gesellschaft nach Venezuela versetzt zu werden. Auf dem Rückweg von einer Expedition ins Landesinnere Venezuelas, auf der Suche nach wertvollen Goldschätzen, wurden er und zwei seiner Gefolgsleute und der junge Welser hinterrücks ermordet. Zeugen, namentlich das Dienstmädchen Magdalena und der Ayamanes-Indianer Perio, die die Leichen der Verstorbenen auf einer Anhöhe über dem Flussbett begraben haben, hegen einen Verdacht gegen den Spanier Juan de Carvajal. Dieser hat sich offenbar selbst durch gefälschte Papiere zum Gouverneur erhoben und eigenmächtig die Hauptstadt Venezuelas ins fruchtbare Landesinnere an den Fluss Tocuyo verlegt. Von Hutten wurde von Karl auch beauftragt, die Einhaltung der „Neuen Gesetze“ zum Schutz der Indios vor den Konquistadoren zu überwachen. Dabei ist er De Carvajal in die Quere gekommen und musste dies mit dem Leben bezahlen. Die Nachricht vom Tode des Welsersohnes und von Huttens hat uns erst vor kurzem erreicht. Philipps Bruder, Moritz von Hutten, und Bartholomäus Welser baten mich nun um eine lückenlose Aufklärung und Bestrafung de Carvajals und seiner Mittäter. Wie ihr seht liegen dort die Angelegenheiten sehr im Argen. Für diesen Auftrag suche ich nun einen fähigen und wohl auch tapferen Soldaten, der überdies mein vollstes Vertrauen genießt. Deshalb richte ich die Anfrage an Euch, würdet Ihr in diesem Sinne nach Übersee reisen und Euch um diese Angelegenheit kümmern?
Auch Machiavelli hat schon erkannt, dass Politik, ohne die Summe der Mittel, die nötig sind, um zur Macht zu kommen und sich dort zu halten, nicht möglich ist. Politik wird von denen gemacht, die diese Mittel haben und wir, mein Bruder und ich, haben womöglich unseren Zenit erreicht. Das deutsche Königtum ist ein Wahlkönigtum. Mein Bruder hat schon immer die deutschen Handelshäuser durch Bestechungsgelder und gekonnte Schachzüge seiner Ratgeber und Diplomaten auf seine Seite zu ziehen verstanden. Ich habe es ihm nie verwehrt, konnte es auch gar nicht. Ich war ja selbst auf dieses Geld angewiesen. Unser – sein - Imperium Romanum - musste funktionieren. Wird nun der Abstieg beginnen, der Verfall der Sitten, wie ihn der oben erwähnte in seinem Buch angekündigt hat? Machiavelli war der Ansicht, die Verfassung eines Reiches solle nicht auf Harmonie ausgelegt sein. Es solle immer ein Konfliktpotenzial bestehen, weil dieser Zustand die politische Aktivität der Bürger wach halten würde. Wie auch immer. Ihr werdet verstehen, dass ich den Welsern deshalb die Bitte nicht abschlagen kann. Falls ihr inzwischen jedoch Euren Frieden gefunden haben solltet, würde ich Eure Absage natürlich mit Bedauern zur Kenntnis nehmen und wünsche Euch viel Glück. Andernfalls erwarte ich Eure Antwort bis Mitte April. Ab Mai wird der Atlantik wieder gefahrlos befahrbar sein und die Mission starten können.
In Erwartung Eurer geschätzten Antwort verbleibe ich mit den besten Grüßen, auch von meinem Sohn, an Euch.“
Der Brief war vom Erzherzog gezeichnet. Leon faltete ihn bedächtig zusammen. Nach so einem Auftrag stand ihm bei Gott gerade gar nicht der Sinn. Nun, er hatte ja noch einige Wochen Bedenkzeit, bis seine Antwort erwartet wurde.
Luca hatte ihn beobachtet als er den Brief gelesen hatte und ergriff das Wort:
„Du hast dem Erzherzog durch mehr als 15 Jahren deine ganzen Kräfte gewidmet, er hält nach wie vor nur das Beste von dir! In unserem Stand ist man gewohnt, sich höheren Rücksichten unterzuordnen. Aber, denk auch einmal an dich. Das Mädchen hat es dir angetan, oder?“
„Warum hat er nicht dich beauftragt?“ wandte sich Leon, sich ablenkend an den Freund.
„Hat er ja, doch ich musste, dankend für sein Vertrauen, ablehnen. Du weißt ja, für mich ist das Leben langsames oder schnelles Sterben – ich habe mich für ersteres entschieden, und der Erzherzog hat es eingesehen. Ich rate dir, dasselbe zu tun! Nach Platon sind die drei Arten von Menschen entweder weisheitsliebend, streitliebend oder gewinnliebend. Die Welser gehören eindeutig der letzteren Gattung an. Nicht nur bei den Königssippen gibt es Machtgelüste und Fehden anderer, bei den Handelssippen verhält sich das nicht anders. Dabei gehen sie über Leichen, wie unser gemeinsamer Freund Philipp von Hutten schlussendlich erleben musste. Ich habe noch nicht vor, so bald das Zeitliche zu segnen.“
Bis tief in der Nacht währte die bedeutende Unterhaltung, aber auch an Laune und Humor, an Narrheit und Tollheit wie in ihren jüngeren Jahren fehlte es nicht. Leons Geselligkeitstrieb war nicht eben groß, umso mehr genoss er die Unterhaltung mit seinem Freund. Natürlich war ihr Gespräch auch auf Johanna gekommen.
Ihr origineller Geist und ihr scharfer Witz imponierten auch Luca von der ersten Stunde an. Leon bedauerte nun doch die baldige Abreise seines Freundes, er war auf der Weiterreise nach Innsbruck, und lud ihn ein, ihn bei Gelegenheit bald wieder zu besuchen.
Endlich wurde sein neues Heim eingeweiht. Anlässlich der Fertigstellung des neuen Dachstuhls gab er eine große Richtfest-Feier. Alle beteiligten Handwerker und Bekannte waren geladen. Und auch die Nachbarn der Umgebung strömten der Feier reichlich zu. Einige der Gäste hatten Musikinstrumente mitgebracht und so war die Stimmung bereits gut und ausgelassen.
Leon beobachtete Johanna, die sich der vielen Aufforderungen zum Tanzen gar nicht verwehren konnte. Erhitzt stahl sie sich in einer Pause unbemerkt ins Freie, um frische Luft zu schnappen. Leon folgte ihr nach draußen. Der Vollmond ergoss sein magisches Licht über den Hof.
„Ein schönes Fest, oder?“ versuchte Johanna ein Gespräch zu beginnen. „Es ist alles so schön geworden, bist du zufrieden?“ mit den Händen umfasste sie das gesamte Gebäude.
„Es hat viel Schweiß, Stöhnen und Quälerei gekostet, aber es ist flott voran gegangen. Aber ganz zufrieden bin ich trotzdem nicht. Es fehlt noch etwas ganz Wichtiges!“
Im Mondschein sah er, dass ihre Stirn eine leise Furche des Zweifels trug. Das Licht verlieh ihren Zügen etwas ätherisches.
„Du fehlst mir zu meinem Glück, Johanna. Ich will ohne dich hier nicht leben.“
Er zog sie an sich, heftig, feurig. Sie spürte das Schlagen seines Herzens und er bedeckte ihre Lippen mit einem glühenden Kuss.
Entrüstet stieß Johanna ihn mit beiden Händen von sich, blickte ihn mit schmerzvollen Augen an und wand sich zu einem überstürzten Aufbruch von ihm ab.
Leon ging ihr langsam zu den Ställen nach. Schon führte sie ihre Stute aus dem Tor und schickte sich an, aufzusteigen. Leon trat zu ihr und wollte ihr dabei helfen, wie er es immer tat. Er wusste zwar nicht, warum er ihr dabei helfen wollte, vor ihm zu fliehen, doch fehlten ihm trotzdem auch die Worte, etwas anderes als das zu tun.
Sie gab ihm zu verstehen, dass sie seiner Hilfe in keiner Weise bedurfte. Er trat einen Schritt zurück und konnte nichts weiter tun, als ihr dabei zuzusehen, wie sie vor ihm in die Nacht flüchtete.
Natürlich hatte er sich nicht der Illusion hingegeben, sie empfinde für ihn das, was sie für Max empfunden hatte, dennoch hatte er gehofft, es würde reichen. Wenig geistreich hatte er die Wirklichkeit verklärt, so war wohl die menschliche Natur beschaffen.
Johanna hatte seit ihrer Rückkehr nach Steyr niemanden von Ihrer Liebe zu Max erzählt. Leon war für sie ein Stück Erinnerung an ihre Liebe zu Max. Er war ihr Freund und er war der Einzige hier, der von ihrer Liebe zu Max wusste, wie konnte er sie küssen, wo doch ihr Herz schon vergeben war und er sogar in dieser schönen Zeit dabei gewesen war. Ihre Gedanken bewegten sich im Kreis. Gerade war ihr Leben wieder zur Ruhe gekommen. Warum musste Leon alles kaputt machen? Sie versuchte, sich Max Gesicht im Traum vorzustellen, doch so sehr sie es versuchte, es schob sich immer wieder ein anderes Gesicht davor. Strahlend blaue Augen, ein markantes, hartes und doch so vertrautes Gesicht. Wann hatte Leon begonnen sich in ihr Herz zu stehlen? Es konnte nicht sein, sie wollte es nicht. Sie wollte weiter von der schönen Zeit des letzten Sommers träumen, jeden Moment immer und immer wieder durchleben. Warum fiel ihr das nur auf einmal so schwer? Max war die Liebe ihres Lebens. Wie konnte ihr das Schicksal nur einen so grausamen Streich spielen und mit ihrem Herzen spielen?
Trotz der Anstrengungen des Tages währte es noch lange, ehe sich der Schlaf auf sie herabsenkte.
Am nächsten Morgen begann sie, sich in den Segen der Arbeit zu stürzen. Sie begann damit, ihre Kammer gründlich aufzuräumen. Die Kleider zu ordnen. Dann nahm sie sich Lonis Stall vor. Die selbst gestellten Aufgaben ließen die Stunden dahineilen und die Tage ließen sich so verringern. Die Nächte wurden ihr trotzdem immer mehr zur Qual. Sie wusste, sie hatte Leon verletzt. Sie hatte es in dem kurzen Moment gespürt, als sie ihn von sich stieß, hatte den Schmerz und die Enttäuschung in seinem sonst so beherrschten Blick gelesen.
Sie hatte ihn schon seit mehr als zwei Wochen nicht gesehen. Jede zufällige Begegnung tunlichst versucht zu vermeiden. Er selbst hatte jedenfalls auch keinen Versuch unternommen, sich ihr aufzudrängen. Johanna befand sich in einem Ausnahmezustand, sie war unglücklich, unzufrieden und voller Zweifel. Ihrer Mutter entging ihr Zustand natürlich nicht und sie stellte sie eines Tages zur Rede.
„Was ist los mit dir Kind? Ich kenne dich ja kaum wieder. Du vergräbst dich und reitest gar nicht mehr aus. War etwas mit dir und Leon?“
Warum musste sie immer genau den Nagel auf den Kopf treffen? Anna erkannte an dem erstaunten Blick ihrer Tochter, dass sie offensichtlich richtig lag. „Also erzähl, was ist passiert?“
„Leon hat mir beim Fest einen Antrag gemacht!“ begann sie zögernd.
„Na fein, darauf hat ja schon die halbe Stadt nur noch gewartet,“ meinte ihre Mutter sichtlich erfreut.
„Was meinst du damit?“
Erstaunt blickte Johanna sie an.
„Ihr seid ohnehin jede freie Minute zusammengesteckt und ich hatte mir schon Sorgen gemacht, das es so lange gedauert hat. Alle Leute haben schon über euch getuschelt.“
Johanna hatte nie etwas davon bemerkt. Aber aus der nüchternen Ferne betrachtet hatte es sich wohl genau so verhalten.
„Du weißt doch, dass ich nur Max liebe?“ unternahm sie einen Versuch, der Mutter ihr Dilemma zu erklären.
„Aber Kleines. Du weißt, dass Max längst verheiratet ist. Das Schicksal hat es so geplant. Es geht nicht immer gerecht mit uns um, aber es führt kein Weg daran vorbei. Du musst im Jetzt leben, nicht in der Vergangenheit. CARPE DIEM. Das war doch immer deine Philosophie, dachte ich. Jetzt gibt es eine neue Liebe für dich, du musst es nur zulassen. Leon ist so ein netter und beliebter Mann, ich hätte gar nichts gegen ihn als Schwiegersohn.“
„Und wenn er mich jetzt gar nicht mehr will?“ Johanna erzählte ihrer Mutter von der Nacht des Richtfestes und ihrer überstürzten Flucht.
„Ich bin sicher, er wartet nur darauf, dass du deinen Fehler einsiehst. Es ist auf jeden Fall noch nicht zu spät, mein Schatz. Morgen ist Sonntag, da ist er sicher den ganzen Tag zu Hause und wartet auf Besuch von dir.“
Johanna fühlte sich gleich etwas besser. Gleich morgen früh würde sie zu Leon reiten und sich für ihr Verhalten ihm gegenüber entschuldigen.
Es war nicht seine Absicht, wegen des Freifräuleins zu schmachten. Er hatte die ersten Tage versucht sich einzureden, sie müsse sich erst über ihre Gefühle ihm gegenüber klar werden. Auf keinen Fall wollte er sich ihr aufdrängen. Er hatte sich ihr erklärt, nun war es an ihr, den nächsten Schritt zu tun. Bei seinem Dienst in der Burg hatte er jedoch vergebens nach ihr Ausschau gehalten, obwohl er besonders ausdauernd versucht hatte, ihr über den Weg zu laufen. Er hatte sogar wiederholt die Einladung des Grafen angenommen, in der Burg zu speisen, nur um sie zu sehen, doch Johanna schien wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Am Abend saß er alleine in seinem neuen schönen Heim und sah in jedem Detail ihre Handschrift. Nachdem die erste qualvolle Woche vorübergegangen war, dachte er zum ersten Mal daran den Brief des Erzherzogs zu beantworten. Er hielt es keinen Tag länger in diesen Mauern mehr aus. Das hier sollte sein restliches Leben werden. Mit Johanna hätte sein Traum von einem friedlichen Leben in Erfüllung gehen können. Ohne sie, erkannte er plötzlich, hielt ihn hier nichts mehr. Schweren Herzens verabschiedete er sich von seinen unerfüllten Träumen und versicherte in einem Antwortschreiben dem Erzherzog seine Zusage zu der besagten Mission. Nun gab es kein Zurück mehr. Vielleicht fand er in der neuen Welt seine endgültige Ruhe. In dem einen oder anderen Sinn. Und vielleicht würde er eines Tages sogar Johanna vergessen können.
Johanna war aufgekratzt. Sie hatte endgültig beschlossen, zu Leon zu reiten. Ihre Mutter hatte recht gehabt. Die ganze Welt hatte richtig erkannt, dass sie ihn längst liebte, nur sie selbst hatte es sich nicht eingestanden. Sie hatte die ganze Nacht gegrübelt, was sie Leon wohl sagen sollte und sich Sorgen gemacht, wie er wohl reagieren würde.
Ihre Familie war bereits zur Kirche aufgebrochen. Die Aussicht, der Predigt des Pfarrers zuhören zu müssen war nicht gerade verlockend, kurzerhand beschloss sie, sofort zu Leon zu reiten. Er würde sicher zu Hause sein. Sie wusste, er scheute den Sonntagsgottesdienst normalerweise wie der Teufel das Weihwasser.
Loni freute sich sichtlich, wieder den vertrauten Weg einzuschlagen. Ohne dass Johanna ihr einen Befehl geben musste fand sie ihr gemeinsames Ziel. Sie trottete langsam durch das geöffnete Tor und blieb unschlüssig mitten im Hof stehen. Johanna machte keine Anstalten abzusteigen. Heiße Angst schnürte ihr die Brust zu. Was, wenn Leon sie nicht sehen wollte? Es war keine Menschenseele zu sehen. Die Bediensteten waren wohl alle gerade unterwegs zum Gottesdienst. Sie hatte Angst vom Pferd zu springen, so sehr schlotterten ihr die Beine.
Leon, flehte sie im Geiste, bitte, sei da!
Er war da. Als er die Schritte des Pferdes gehört hatte, war er aus der Tür getreten und kam nun langsam und sie erstaunt musternd auf sie zu. Sie brachte keinen Ton hervor und auch er hielt es wohl für das Beste, einmal abzuwarten.
Umständlich schwang Johanna ihr Bein über den Sattel und ließ sich langsam, bäuchlings über den Sattel gebeugt, daran hinab gleiten. Auf halben Weg spürte sie Leons festen Griff an ihrer Taille. Bei seiner Berührung stockte ihr der Atem und sie konnte gleichzeitig den seinen in ihrem Nacken fühlen. Scheu wandte sie den Kopf zu ihm um. Seine Gefühle standen ihm ins Gesicht geschrieben, ja, sie las seine Liebe darin. Wie konnte sie nur so blind gewesen sein. Erleichtert schlang sie ihre Arme um seinen Nacken und verschloss seine zu einer Frage ansetzenden Lippen mit den ihren.
Mit leidenschaftlicher Gewalt presste er sie an sich, hob sie hoch und trug sie in seine privaten Räume. Sein Sehnen sollte nun die lang gesuchte Befriedigung finden. Er wollte, musste sie spüren, jeden einzelnen Flecken ihres Körpers. Er fühlte sich wie trunken vor Begierde. Wusste nicht, an welcher Stelle er beginnen sollte, ihr die Kleider vom Leib zu zerren und sich dabei seiner eigenen so schnell wie möglich zu entledigen.
Eher stürmisch denn vorsichtig ließ er sie wie eine Beute auf das große Bett fallen und vernahm ihr nicht allzu tadelnd wirkendes „Leon!“ eher noch als Aufforderung. Sie schlug kichernd beide Hände vor dem Gesicht zusammen, als er ihr hastig die Stiefel von den Füßen zog und sogleich bei ihrer Hose weitermachte. Endlich half sie ihm sein Hemd über den Rücken zu streifen und aufseufzend zog sie seinen harten Oberkörper auf ihren hinab. Heiße Küsse bedeckten seinen Hals, seine Schultern, seinen Mund. Gierig suchten seine Hände ihre weichen Brüste unter der weiten Tunika. Zerrten an den Bändern des Mieders das ihm den Weg zu seinem Ziel noch verwehrte. Oh, wie sie duftete, noch besser als in seinen Träumen. Eine Ewigkeit schien es zu dauern, sich selbst der Stiefel und der plötzlich so eng sitzenden Hose zu entledigen. Inzwischen hatte sich Johanna das störende Mieder über den Kopf gezogen und er konnte den Anblick ihres vollkommenen Körpers bewundern. Sie trug Max Amulett an einem Lederband um den Hals. Es hatte keine Bedeutung mehr, ihr Blick verriet ihm, dass sie im Moment nur ihn, Leon, wollte. Er sah, wie ihre Haut sich vor der im Raum herrschenden Kälte zusammenzog und die kleinen hellen Härchen sich aufstellten. Schnell griff er nach einer bereitliegenden großen warmen Decke und hüllte sie damit und mit seinem Körper ein. Wie süß ihre Haut schmeckte, wie weich ihre Brüste, Bauch und Schenkel waren. Er konnte nicht mehr länger warten und musste sie ganz besitzen. Zuerst mit seinen Fingern fand er die noch weichere, verborgene Stelle, die er so lange ersehnt hatte. Vorsichtig tastete er nach ihrer Bereitschaft, ihn in sich aufzunehmen. Schon schlang sie ihre Beine erwartungsvoll um seine Hüften und half ihm damit, den Weg zu finden.
Ein gepresstes Stöhnen ließ ihn innehalten als er schnell und tief in sie eindrang. Er musste ihr Zeit geben, ihn ganz in sich aufzunehmen und selbst diesen Moment auskosten. Schon spürte er ihre Wollust, die ihn aufforderte, im gemeinsamen Rhythmus dem beidseitigen Ziel zuzustreben. Sie ließen sich beide von der Leidenschaft dahin tragen und vergaßen die Welt um sie herum. Am Höhepunkt seiner Lust riss er seinen Kopf zurück und genoss den Moment. Sogleich spürte er, wie auch die Frau unter ihm heiße Schauer der Erfüllung durchzuckten. Stöhnend ließ sie ihren Empfindungen den Lauf. Er fühlte sich gut. Befriedigt und stolz, auch ihre Wünsche gleich beim ersten Anlauf erfüllt zu haben, rollte er sich, ihren Körper fest an den seinen gepresst, auf den Rücken. Ihr langes, duftendes Haar umfloss seine Brust und er drückte sein Gesicht in dieses nach Blumenwiese duftende Meer. Sanft streichelte er über ihren Rücken und erkundigte sich danach, ob ihr noch kalt sei. Ein wohliges irgendwas schnurrte in ihrer Kehle zur Antwort. Einen Moment wollte er wieder zu Atem kommen und ihr dann neuerlich beweisen, wie sehr er sie tatsächlich brauchte und begehrte.
Noch lange fanden sie nicht den Wunsch, das warme Lager, das nach ihrer Liebe roch, zu verlassen. Irgendjemand hatte sich inzwischen sicher um das einsam im Hof stehende aufgezäumte Pferd gekümmert und die Tür zum Schlafzimmer lautlos geschlossen.
Johanna war gerade aus einem wonnigen Schlummer erwacht als sie spürte, wie Leon sich aus ihrer Umarmung löste. „Nicht!“ versuchte sie ihn davon abzuhalten.
„Mein Gott, Johanna! Du weißt noch gar nicht, was du in deinem Wankelmut angerichtet hast!“ Erschüttert fasste Leon sich an seinen Kopf. Schlagartig war Johanna wach. „Was meinst du?“ erkundigte sie sich vorsichtig.
„Ich habe vor zwei Tagen eine Nachricht an den Erzherzog gesandt. Er braucht mich für einen Einsatz. Ich hatte zuerst vor, mich zu entschuldigen, aber dann, als ich schon fest damit abgeschlossen hatte, dich je umstimmen zu können, habe ich ihm meine Zusage kundgetan.“
„Und was ist das für ein Einsatz?“
„Ich soll für ihn und den Kaiser für die Welser etwas in Venezuela aufklären.“ Sie konnte einen Anflug von Verzweiflung in seiner Stimme hören.
„Venezuela? In Amerika? Am anderen Ende der Welt etwa?“ versuchte sie, dem genauen Sachverhalt auf die Spur zu kommen.
„Ja. Genau das Venezuela.“
Sie schien die Tatsache erst verdauen zu müssen. Nach einer kurzen Pause meinte sie dann: „Tja, eigentlich wollte ich dich ja bitten, mit mir eine Hochzeitsreise nach Venedig zu unternehmen. Ich träume schon mein ganzes Leben lang davon, einmal dorthin zu reisen. Aber wenn es also „Klein-Venedig“ werden soll, mir soll es recht sein.“ meinte sie und drehte sich gähnend zur Seite. Für sie schien der Fall somit geklärt zu sein.
„Du kannst nicht mitkommen! Es wäre viel zu gefährlich!“ entgegnete Leon seinerseits nach kurzer Bedenkzeit.
Johanna wandte sich wieder zu ihm um und setzte sich auf. „Gefährlicher, als den Thronfolger aus den Fängen gemeiner, skrupelloser Verbrecher zu befreien etwa?“ Ihre weißen Brüste lenkten ihn von dem etwas genervten Tonfall ihrer Frage ab.
Ein Polster landete urplötzlich mitten in seinem Gesicht.
„Du lüsterner Kerl! Jetzt sag schon, dass du mich mitnimmst nach Venezuela, oder du kannst was erleben!“
Als sich die Wogen nach einem heftigen, leidenschaftlichen Zwischenspiel wieder geglättet hatten, meinte Johanna dann doch ein wenig entrüstet: „Ich bin überrascht, mit welcher Hartnäckigkeit du versucht hast mich umzustimmen und bewundere deinen Kampfgeist. Du hättest es wenigstens ein zweites Mal versuchen können, mich zu küssen, bevor du davonläufst!“ spielte sie auf seine Bereitschaft an, Steyr so schnell nach ihrer Zurückweisung zu verlassen. Doch Leon mochte gar nicht mehr daran zurückdenken, in welch trübsinnige Stimmung ihn diese Frau noch vor kurzer Zeit gebracht hatte.
Ein Leben ohne sie konnte er sich schon jetzt nicht mehr vorstellen, hatte er sich eigentlich, seit er sie das erste Mal getroffen hatte, schon nicht mehr vorstellen können.
Johanna betrachtete im hellen Morgenlicht versonnen das Amulett, das sie um den Hals trug. „Plus ultra – Immer weiter. Ich freue mich schon auf Venezuela.“ Ein glückliches Leuchten ihrer Augen versüßte ihm diesen Tag bereits von der ersten Minute an. Seine letzten Zweifel verflogen. Gemeinsam konnten sie alles schaffen.
Tag der Veröffentlichung: 25.02.2012
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Widmung:
Für Mama