Rendezvous in Budapest
Kapitel 1 Aufbruch 2
Kapitel 2 Inselbesuch 5
Kapitel 3 Freizügigkeiten 7
Kapitel 4 Illegale Tauschgeschäfte 8
Kapitel 5 Gemeinsamer Disco-Besuch 12
Kapitel 6 Ausflug in die Hauptstadt 14
Kapitel 7 Das Fest 15
Kapitel 8 Annäherung 17
Kapitel 9 Katerstimmung 20
Kapitel 10 Verabredung an der Himbeerhecke 22
Kapitel 11 Ungewissheit 24
Kapitel 12 Sprachbarrieren 27
Kapitel 13 Zweisamkeiten 31
Kapitel 14 Schmerzhafter Abschied 33
Kapitel 15 Zeit der Entbehrung 37
Kapitel 16 Das Einreiseverbot 38
Kapitel 17 Neuigkeiten am Biertisch 42
Kapitel 18 Abenteuerliche Anreise 45
Kapitel 19 Am Treffpunkt 47
Kapitel 20 Plan B 50
Kapitel 21 Die Suche nach einem Nachtlager 53
Kapitel 22 Der zweite Tag 58
Kapitel 23 Fahrt zum Balaton 63
Kapitel 24 Schock in der Morgenstunde 67
Kapitel 25 Der Abschied naht 70
Kapitel 26 Die Ablehnung 71
Kapitel 27 Die waghalsige Flucht 75
Kapitel 28 Begegnung mit der Staatsgewalt 80
Kapitel 29 Das Verhör 82
Kapitel 30 Im Knast 86
Kapitel 31 Trostlose Zukunft 90
Kapitel 32 Die Abreise 91
Kapitel 1 Aufbruch
Endlich, nach wochenlangen Planungen und zahlreichen Vorbesprechungen war es soweit. Drei Autos waren gecheckt, vollgetankt und bepackt. Reisepässe, Führerscheine, Versicherungskarten und Portemonnaies waren kontrolliert. Der Reiseproviant war verstaut. Die Wegbeschreibungen waren verteilt. Die Anwesenheit der Teilnehmer war geprüft. Die Urlaubscheckliste war abgehakt.
Rita war zufrieden. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie rief in die Runde: „Ungarn, wir kommen“ und ließ sich entspannt in ihren Sitz zurückfallen.
Sie gab ihrem Freund Gerald noch einen Kuss und es konnte losgehen. Rita und Gerald waren so etwas wie der bodenständige Kern in unserer Clique. Sie waren zuständig für die Organisation, die Finanzen und für die Grundverpflegung auf unserer Reise. Da sie auch schon etwas länger befreundet waren, waren sie auch schon gut aufeinander eingespielt und hatten sich intensiver auf diesen Urlaub vorbereitet als wir alle anderen zusammen. Rita liebte diese logistischen Herausforderungen und zog diese magisch an um sie dann perfekt zu meistern. Gerald und Rita saßen bei mir in meinem Opel Kadett.
Der zweite Wagen war ein sportlicher Kleinwagen von Mitsubishi und wurde gefahren von Gregor. Gregor selbst war der Softie in unserer Clique. In zahlreichen Diskussionen unter uns Jungs zeigte sich immer wieder, dass Gregor sehr hohe Ansprüche an seine zukünftige Traumfrau stellte und wir versuchten ihm stets klar zu machen, dass er seine Erwartungen etwas herunterschrauben müsse bis......na ja bis zu diesem Urlaub. Doch dazu später mehr.
Bei Gregor saßen Manuel und Annette mit im Auto. Manuel war ein Sonnyboy der Marke blond, kräftig, blauäugig und war unser Frauenheld. Man musste ihm aber zugestehen, dass nicht er den Frauen hinterher lief, sondern eher umgekehrt. Die Frauen liefen ihm hinterher. Aber auch das sollte sich in diesem Urlaub noch ändern.
Annette war bis vor kurzem noch die feste Freundin von Manuel gewesen. Insofern war die Konstellation gemeinsam in den Urlaub zu fahren nicht ganz unproblematisch. Da sie sehr zierlich, hübsch und nun wieder solo war sollte sie noch für allerlei Verwirrungen in unserer Männerwelt sorgen.
Im dritten Auto, einem VW Golf saßen Rüdiger als Fahrer und Siegfried als Beifahrer. Rüdiger, der mit einem feinsinnigen Humor ausgestattet war, war für jeden Schabernack zu haben. Er sollte uns immer wieder mit seinen flotten Sprüchen erheitern.
Siegfried unser Freak war bekennender Langhaarträger. Er trug seine glatte dunkelbraune Mähne immer so, dass sie mindestens die Schulterblätter erreichte. Er war bekennender Heavy Metal - Fan und eiferte im Aussehen den Idolen der einschlägigen Bands wie Metallica oder Iron Maiden nach. Außerdem war er begeisterter Biertrinker und sollte in diesem Urlaub noch ausreichend Gelegenheit bekommen diesem Hobby zu frönen.
Ich selbst war zu dieser Zeit genauso solo und auf der Suche wie fast alle Mitglieder unserer Clique außer natürlich Gerald und Rita.
Für die Fahrt zum Balaton über München und Wien hatte Rita etwa zwölf Stunden eingeplant. Da es zu dieser Zeit noch Visapflicht gab, kam es an der österreichisch-ungarischen Grenze zu einem Zwangsaufenthalt. Die Autoschlange war etwa zwei Kilometer lang.
Größtes Problem war die sengende Hitze, die um diese Uhrzeit herrschte. Es war um die Mittagszeit und nach der langen Fahrt bis hierher waren alle schon etwas genervt. Da die Fahrzeuge zu dieser Zeit auch noch keine Klimaanlagen hatten war das Warten bei relativ heißer und trockener Luft sehr schweißtreibend.
Die Abfertigung am Schlagbaum ging zunächst sehr flott voran. Die ungarischen Grenzer machten ihren Job zwar geflissentlich, waren aber dennoch sehr bemüht die Touristen, die überwiegend aus dem fernen West-Deutschland einfielen, nicht zu lange aufzuhalten.
Als sie jedoch in unseren dritten Wagen schauten und dort unseren Freak Siegfried erblickten witterten sie wohl alle Gefahren der westlichen Welt, die da waren Disziplinlosigkeit, Widerstand gegen die Staatsgewalt, Alkohol, Drogen und zügellosen Sex. Und mal ehrlich, wir hätten Siegfried von keinem dieser Laster mit ruhigem Gewissen freisprechen können.
Also durften wir das volle Programm einer Kraftfahrzeugkontrolle erleben. Nach und nach wurden wir aufgefordert die folgenden Maßnahmen durchzuführen: Komplettes Ausräumen des Kofferraums und des Innenraums, Ausbau des Reserverades, Demontage der Türverkleidungen, Ausbau der Vordersitze und der Rückbank. Es folgte nun die Inspektion des Motorraums, des Innenraumes, des Kofferraumes der Radkästen und des Unterbodens.
Mit jedem Arbeitsschritt wurden unsere Kommentare zu diesen Maßnahmen bissiger wobei wir immer darauf achteten, dass die Grenzbeamten diese schon rein akustisch nicht hören konnten.
Rüdiger, der sich um seinen relativ neuwertigen VW Golf Sorgen machte, stöhnte diesmal humorlos: „Nie wieder Ungarn. Wer ist eigentlich auf diese schwachsinnige Idee gekommen?“ Gerald antwortete: „Nicht Ungarn ist das Problem, sondern der Sozialismus. In diesem System wird jeder zum Staatsfeind, der lange Haare trägt und nicht in ihre Schablonen passt.“ Siegfried fügte hinzu: „Sehe ich vielleicht aus wie ein Staatsfeind? Die leiden wohl unter Wahnvorstellungen!“
Nachdem die Grenzer ihre Kontrollen mit Hilfe von Spürhunden durchgeführt hatten und offensichtlich nichts gefunden hatten, gaben sie das Fahrzeug wieder frei für den Zusammenbau und ließen uns mit den Einzelteilen zurück.
Die ganze Aktion dauerte insgesamt cirka zwei Stunden und sollte noch des öfteren Anlass zu Scherzen geben. So war uns jetzt endlich klar geworden welche gravierende „Bedrohung“ unser langhaariger Freund Siegfried für seine Umwelt darstellte.
Da Rita den drei Fahrern je eine exakte Wegbeschreibung ausgehändigt hatte, konnten diese das angemietete Ferienhäuschen relativ leicht auffinden. Sie hatte streng darauf geachtet, dass vier Zimmer vorhanden waren. Das Häuschen stand in Zamardi, einem Vorort von Siofok, der größten Stadt am Balaton. In der Mitte der Siedlung gab es einen Supermarkt mit Bäckerei, Metzgerei und einem Restaurant.
Das Häuschen selbst war sehr einfach gestrickt und man konnte auf den ersten Blick nicht vermuten, dass es sich für einige von uns noch zu einem Liebesnest mausern sollte.
Wir wurden von den Vermietern begrüßt, die im Dachgeschoss eine kleine Wohnung eingerichtet hatten. Allerdings sollten sie es dort nicht allzu lange aushalten bei den Festivitäten, die sich in den folgenden Tagen noch ereignen sollten.
Wie wir noch schon erfahren hatten, war es wohl zahlreichen Budapestern gelungen sich ein bisschen Geld anzusparen, um sich ein solch kleines Domizil am Plattensee zu erbauen um es dann gewinnbringend an Deutsche, vornehmlich Westdeutsche zu vermieten.
Im Großen und Ganzen waren alle mit ihren Zimmern sehr zufrieden. Sonnyboy Manuel teilte ein Zimmer mit Softie Gregor. Freak Siegfried hatte ein Zimmer mit Spaßkanone Rüdiger. Ich selbst teilte mir ein Zimmer mit unserem bodenständigen Gerald. Die beiden Damen, nämlich Organisationschefin Rita und die nette Annette belegten ein Doppelzimmer obwohl Rita viel lieber mit ihrem Freund Gerald zusammen gewesen wäre. Aber im Zweifelsfall muss eben die Kapitänin selbst Opfer bringen.
Zwar waren alle am Abend ziemlich müde von der strapaziösen Fahrt, aber das sollte uns nicht abhalten einen Teil unseres Vorrates an Büchsenbier zu vernichten. Schließlich waren unsere Kehlen von der langen Fahrt ziemlich ausgetrocknet und die Tatsache, dass uns unsere beiden Damen ermahnten nicht zu viel Alkohol zu konsumieren hat uns eher angespornt als gebremst.
An dieser Stelle sei nochmals erwähnt, dass unsere schöne Annette wohl diesen Urlaub nutzen wollte um sich Manuel zurückzuholen. Allerdings hatte dieser endgültig mit ihr abgeschlossen und es sollte sich herausstellen, dass sich seine Interessen neuen Herausforderungen zuwenden würden.
Dies hatte zur Folge, dass die übrigen Jungs, mich eingeschlossen, in den kommenden Tagen ein Auge auf Annette werfen sollten und diese es hervorragend verstehen sollte mit diesen Avancen zu kokettieren und uns den Kopf zu verdrehen. Aber dazu später.
Fakt war, dass wir uns an diesem Abend sehr stark fühlten und uns die Mahnungen zum maßvollen Alkoholgenuss wie bereits erwähnt eher anspornten noch mehr Bier in uns hinein zu schütten.
Dies führte dazu, dass es bei entsprechender Rockmusik aus dem mitgebrachten Kassettenrekorder ziemlich laut wurde und die Vermieter wohl erstmals Auszugspläne schmiedeten.
Kapitel 2 Inselbesuch
Leider hatten wir bei unser Ankunfts-Fete vollkommen den straffen Fahrplan unserer Organisationschefin Rita unterschätzt. Sie ging am nächsten Morgen mit Kochlöffel und Bratpfanne bewaffnet durch die Zimmer und hämmerte mit dem hölzernen Löffel dermaßen penetrant auf die Stahlpfanne ein, dass alle Alkohol-Leichen der Reihe nach aus den Betten fielen. Nach und nach schaffte sie es auf diese Weise alle Sünder an den Frühstückstisch zu verfrachten.
Sicherlich half hierbei auch der köstliche Kaffeeduft, der uns aus Richtung Küche entgegenströmte.
Der einzige Abtrünnige blieb jedoch unser Freak Siegfried, der nicht einmal durch ein mittelschweres Erdbeben hätte bewegt werden können aus dem Bett zu kommen.
Er musste deshalb damit leben, dass er bei der folgenden Abfahrt zu unserem ersten Ausflug in eines der Autos verladen wurde. Er sollte erst im Laufe des Vormittags zur Besinnung kommen und erst um die Mittagszeit in der Lage sein etwas Festes zu sich zu nehmen.
Auf der Fahrt zur Fähre, die uns über den Balaton auf die Halbinsel Tihany bringen sollte, passierte etwas höchst Sonderbares.
Manuel, der zunächst ziemlich lässig und gelangweilt neben mir auf dem Beifahrersitz saß und die Beine auf dem Armaturenbrett abgelegt hatte, fuhr plötzlich hoch wie von einer Tarantel gestochen und schrie: „Mensch, hast Du die beiden geilen Tussis gesehen?“ Tussi ist Umgangssprache und bedeutet bei heranwachsenden Jungs so was wie „scharfe Braut“. Im Zusammenhang mit dem Adjektiv „geil“ und der ekstatischen Reaktion meines Kumpels konnte ich annehmen, dass es sich um zwei besonders scharfe Exemplare dieser Spezies handeln musste.
Zu meiner Schande muss ich allerdings gestehen, dass ich die beiden Tussis nur im Augenwinkel nach seinem plötzlichen Gefühlsausbruch erblickt habe und dann auch gleich intensiv damit beschäftigt war einen Frontalzusammenstoß mit einem entgegenkommenden, klapprigen Trabbi zu verhindern.
Manuel allerdings konnte sich überhaupt nicht mehr einkriegen. Er, der ansonsten ja eher coole Frauentyp, kreischte nun beinahe hysterisch: „Halt an!! Halt an!! Die müssen wir kennen lernen“. Ich selbst, der ich in diesem Moment froh war einen Crash vermieden zu haben war der Meinung, dass wir mit kreischenden Bremsen schon genug Aufmerksamkeit erregt hatten und entschied weiter zu fahren um unsere Vorhut nicht aus den Augen zu verlieren.
Manuel berichtete mir, und später allen anderen, welche spektakulären Körpermaße die beiden Blondinen hatten und dass sich im Vergleich dazu Brigitte Bardot verstecken müsse. Ja wir alle hatten so ein wenig das Gefühl, dass unser armer Weggefährte sich da wohl in etwas hineingesteigert hatte oder vielleicht im Halbschlaf einer Halluzination erlegen war.
Aber seine Erregung ging sogar soweit, dass er mir ernsthafte Vorwürfe machte, dass ich nicht sofort angehalten habe und dass wir - er hätte mir ja großzügig eine der beiden Tussis abgegeben - damit vielleicht die Chance unseres Leben verpasst hätten die absolute Traumfrau kennen zu lernen und diese Chance unter Umständen auch nie mehr wiederkehren würde.
Der folgende Besuch auf der Halbinsel Tihany war damit von einem ständigen Gezetere von Manuel untermalt, der lediglich damit beschäftigt war Pläne für den Abend zu schmieden wie er nach unserer Rückkehr die beiden „Bräute“ doch noch ausfindig machen könne.
Rita, die wie immer hervorragend auf diesen Ausflug vorbereitet war, berichtete uns einiges Wissenswertes über Tihany und insbesondere über die imposante Begräbnisstätte König Andreas I aus dem zwölften Jahrhundert, das in späteren Jahren auch als Kloster genutzt worden war.
Alle Jungs außer Manuel waren auf diesem Ausflug mehr oder weniger damit beschäftigt um die nette Annette herumzuschleichen und die eigenen Chancen bei ihr auszuloten. Da Annette aber nach wie vor auf Manuel fixiert war, sollten diese Versuche zunächst alle erfolglos bleiben.
Kapitel 3 Freizügigkeiten
An dieser Stelle sollte man die Situation im Jahre 1985 am Balaton beschreiben. Es gab noch den Eisernen Vorhang zwischen West und Ost, zwischen Kapitalismus und Sozialismus bzw. zwischen Überwachungsstaat und Freiheit.
Lediglich Ungarn hatte sich wohl aus der strengen Kontrolle der Sowjetunion etwas losgesagt und war nun so eine Art „neutraler Boden“ zwischen West und Ost. Deshalb war Ungarn auch eines der wenigen Länder wo Westler und Ostler relativ problemlos zusammentreffen konnten. Wir Westler machten in Ungarn Urlaub, da man dort in jungen Jahren mit relativ wenig Geld eine luxuriöse Zeit verbringen konnte.
Für alle Ostler war Ungarn wohl so etwas wie der Hauch von Freiheit, den sie vorübergehend genießen durften, zumindest sahen wir das damals in unserer vereinfachten Weltanschauung so. Sicher war die Sachlage für viele Menschen und Familien doch etwas komplizierter.
Tatsache war jedoch, dass im schönen Urlaubsland Ungarn eine Zweiklassengesellschaft von Urlaubern herrschte.
Dies führte dazu, dass es zwei Arten von Wohnungen gab, die einen für die armen DDR-Bürger und Bewohner der sozialistischen Länder. Die anderen Wohnungen hingegen waren für die reichen Westdeutschen. Das gleiche galt zum Teil auch für die Restaurants, die Einkaufsgeschäfte und so weiter und so weiter. Allerdings galt dies nicht für die Diskotheken, wo beide Welten ungebremst aufeinander prallten.
Im Vorfeld unserer Reise waren wir gewarnt worden, nicht auf Frauen der östlichen Länder hereinzufallen. Angeblich würden diese den westdeutschen Jungs am Balaton extrem auf die Pelle rücken und wären lediglich darauf aus diese zu vernaschen und ihnen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Auch seien die Sexpraktiken in der Regel sehr freizügig und die Ansteckungsgefahr mit Aids daher relativ hoch.
Würde man später unseren Urlaub rein danach beurteilen, ob wir den hübschen Frauen aus dem Osten standgehalten hätten, dann hätten wir sang- und klanglos versagt. Aber der Reihe nach.
Manuel forschte seit seiner magischen Begegnung mit den beiden „geilen Tussis“ unablässig nach deren Aufenthaltsort. Doch obwohl wir diese beiden außerirdischen Erscheinungen bei der ersten Entdeckung in unserem Wohngebiet erblickt hatten, schienen sie in den folgenden Tagen wie vom Erdboden verschluckt. Ja, es schien fast so als seien sie bereits abgereist. Dementsprechend sank auch der Mut bei Manuel sie wiederzusehen.
Wenn wir nicht gerade einen Ausflug in die Gegend unternahmen oder zum Baden an den Strand gingen machten wir es uns in unserem Häuschen gemütlich und vertrieben uns die Zeit mit allem möglichen Schabernack und Spielchen. Sehr oft dienten uns Jungs diese Spielchen um näher an die hübsche Annette heranzupirschen.
Diese Annäherungsversuche waren ihr wohl sehr willkommen, aber es stellte sich immer wieder heraus, dass sie es nach wie vor auf Manuel abgesehen hatte.
Endgültig auf die Spitze trieb es Annette, als sie sich in den Garten unter den Rasensprenger setzte, ihren reizvollen Oberkörper freimachte und sich dann mit nacktem Busen durch das kühle Spritzwasser berieseln ließ.
Das war des Guten zu viel. Zwar führte dieses Tun bei uns anderen Jungs zu keinerlei Protesten aber ich glaube einige von uns tauschten schleunigst ihre Badehose gegen ein etwas bequemeres Beinkleid. Manuel hingegen war außer sich vor Zorn. Er erkannte einerseits, dass dieser Akt – der Ausdruck passt an dieser Stelle ja hervorragend – eine Provokation für ihn selbst war und ein weiterer Versuch ihn zurück zu holen. Andererseits aber verdrehte Annette damit der Männerwelt den Kopf ohne sich auch nur im geringsten über die Auswirkungen im Klaren zu sein. Alles in allem hatte sie aber erreicht, dass alle Jungs in den kommenden Tagen deutlich angriffslustiger werden sollten, wobei ihre eigenen Chancen bei uns Jungs nicht unbedingt gestiegen waren. Kein Junge möchte eine Freundin, die in Gedanken nicht von ihrem Verflossenen loskommt.
Kapitel 4 Illegale Tauschgeschäfte
Eine Besonderheit war es in diesen Tagen, dass die Bewohner der sozialistischen Länder keine Chance hatten mit ihrer eigenen Währung an Westprodukte zu kommen. Besonders begehrt waren hier Luxusartikel wie Markenkleidung, Jeans, Sweat-Shirts Parfüm, Zigaretten etc. In den östlichen Ländern gab es diese Westwaren nur in ganz speziellen Läden, z.B. in den Intershops der DDR und dort auch nur in begrenzten Stückzahlen.
Aus diesem Grunde konnte man den Urlaub in Ungarn gut nutzen um Ostwährung in harte Westwährung umzutauschen. Die Deutsche Mark war hierbei heiß begehrt.
Es war deshalb nicht ungewöhnlich, dass man bei allen möglichen Gelegenheiten angesprochen wurde ob man nicht Forint in DM umtauschen wolle. Der Schwarzmarkt gab es in diesen Zeiten her, dass man als Tourist entgegen dem offiziellen Umtauschkurs das Mehrfache erzielen konnte.
Eines Tages, es war wohl der fünfte Tag nach unserer Ankunft in Ungarn, wurden Gerald und Gregor auf der Straße direkt vor unserem Hause angesprochen. Das Pärchen, das ihnen Forint für DM anbot, sprach nur sehr gebrochen englisch. Es reichte aber um klarzumachen, dass sie bereit waren mehrere hundert DM zu einem hervorragenden Umtauschkurs einzukaufen.
Es stellte sich heraus, dass es sich bei dem Pärchen um Vater und Tochter aus Polen handelte, wobei die Tochter als Dolmetscherin fungierte.
Gerald hatte es wohl geschafft, den beiden klar zu machen, dass es in unserer Clique reges Interesse gab, zu diesem tollen Umtauschkurs Forint zu erwerben. Dies wiederum hatte die Augen des Mannes hell aufleuchten lassen und er bot an die Tauschgeschäfte noch am selben Abend vorzunehmen. Aus lauter Begeisterung lud er uns obendrein für den folgenden Samstag zu einer Party in sein Ferienhaus ein um die Tauschgeschäfte zu begießen.
Bei der Verabredung stellte sich heraus, dass das Haus unseres Geschäftspartners das direkte Nachbarhaus zu unserer Linken war. Bisher war uns noch keiner der Bewohner besonders aufgefallen. Es sollte sich noch herausstellen, dass diese den ganzen Tag am Strand des Balaton verbrachten und selbst das Mittagessen in einem Lokal in der Nähe des Strandes zu sich nahmen.
Bis zum Abend stieg die Spannung spürbar an. Immerhin befanden wir uns in einem fremden, sozialistischen Land und man hatte verschiedentlich auch schon gehört, dass es die Polizei darauf anlegte durch Spitzel solche schwarze Umtauschgeschäfte auffliegen zu lassen. Unsere beiden Damen waren in diesem Punkt besonders ängstlich und warnten uns davor einen Geldumtausch in dieser Größenordnung vorzunehmen. Immerhin waren unsere Geldvorräte in den ersten Tagen erheblich geschrumpft und wir errechneten, dass wir alles in allem etwa 700 DM umtauschen wollten.
Schließlich war es Gerald, der versuchte die Bedenken zu zerstreuen. Bei seinem Gespräch mit dem Familienvater habe dieser den Eindruck erweckt, dass er keiner Fliege etwas zu Leide tun könne und sei absolut nett gewesen.
Rüdiger scherzte, dass schon allein die Tatsache, dass der Geldhändler ein Pole sei, sehr viel Vertrauen erwecke. Aber wir ließen uns von Gerald überzeugen und bereiteten uns auf die Tauschaktion vor.
Letztendlich waren es Gerald, Gregor, Manuel, Siegfried und Rüdiger, die sich gegen 18.00 Uhr auf den Weg machten. Zurück blieben lediglich Rosi, Annette und ich.
Während ich selbst zunächst noch sehr entspannt war, waren Rosi und Annette sehr besorgt und machten sich gegenseitig verrückt.
Die Zeit verstrich und es gelang den beiden Damen nach und nach auch mich mit ihrer Nervosität anzustecken. Sie begannen sich auszumalen, dass unsere Jungs tatsächlich in eine Falle der hiesigen Polizei getappt seien und sich bereits im Kreuzverhör befänden.
Hierzu muss man wissen, dass für uns „Heranwachsende“ auch Ungarn ein Obrigkeitsstaat war wie die übrigen sozialistischen Länder. Ein Polizist war aus unserer Sicht ein herzloser Befehlsempfänger, der mit einem Gesetzesbrecher kurzen Prozess machen würde und diesen ohne zu zögern in ein Staatsgefängnis stecken würde.
Während zunächst nur Minuten zerrannen war es schließlich eine Stunde. Aus der Stunde wurden zwei Stunden. Wir versuchten aus unseren Fenstern etwas im Nachbarhaus zu erkennen. Dies war jedoch nicht sehr Erfolg versprechend, da zwischen beiden Häusern eine hohe ungepflegte Hecke und dazu noch ein riesiger Tannenbaum stand.
Durch die wenigen kleinen Gucklöcher war dann auch nur die Außenwand des Nachbargebäudes zu erkennen. Auf die Straße und in den Garten wagten wir uns nicht, um nicht im Falle einer Razzia die Aufmerksamkeit auf uns zu lenken.
Die Spannung stieg mit jeder Minute des Wartens weiter an und die Geschichten, die wir uns ausdachten, wurden immer phantasievoller. Ich selbst versuchte möglichst locker zu wirken und entsprechend lustige Erklärungen für die lange Abwesenheit der Jungs zu finden.
„Wahrscheinlich stecken sie in einem riesigen Saufgelage, spielen Karten und verzocken unsere Autos“ versuchte ich zu scherzen, aber Rita entgegnete betont pessimistisch „ja und das wohl bei einer Runde „Russisch Roulette.“
Annette fügte hinzu: „Was machen wir denn, wenn sie alle eingebuchtet werden durch die Polizei? Die kommen da so schnell nicht wieder raus.“
„Na, na, jetzt wollen wir mal nicht übertreiben. Man muss ja nicht immer gleich das schlimmste befürchten. Wahrscheinlich führen sie ein gemütliches Gespräch,“ sagte ich ohne Überzeugung in der Stimme.
Rita erwiderte: „Wie soll denn das bitte funktionieren? Auf polnisch? Wie bitte sollen die sich denn drei Stunden mit einer polnischen Familie unterhalten?“ Auf diese Anmerkung folgte Totenstille. Annette und mir fielen da keine Gegenargumente mehr ein.
Endlich nach fast fünf Stunden, es war schon nach 23.00 Uhr hörten wir durch unser geöffnetes Fenster Stimmen. Für unsere Ohren war dies ein rein slawisches Gebrabbel. Wir konnten nicht unterscheiden ob dies ungarisch oder polnisch oder nicht sogar russisch war. Wir konnten lediglich festzustellen, dass nur eine Person, nämlich eine männliche sprach und dies ohne Unterbrechung.
Nach weiteren zwei Minuten erschienen dann unsere Jungs in der Hofeinfahrt.
Ich begrüßte sie gespielt lässig. „Na Ihr habt Euch wohl köstlich amüsiert?“ Rita brachte jedoch ihre Verärgerung zum Ausdruck: „Wie könnt Ihr denn so lange fort hocken und uns kein Lebenszeichen geben? Was habt Ihr denn so lange dort getrieben?“
Die Jungs kicherten nur und zwängten sich an uns vorbei. „Lediglich Gerald sagte: „Nicht so laut. Lasst uns erst unsere Beute verstauen.“ Seine Stimme klang ungewohnt melodisch.
Als wir alle im Haus waren und die Tür hinter uns geschlossen hatten brüllten die Jungs los vor Lachen. Als erster konnte Manuel seine Stimmung in Worte fassen: „Sie sind es! Sie sind es!“. Er konnte sich kaum beruhigen: „Das sind die beiden Schnecken, die wir am ersten Tage auf dem Weg zum Strand gesehen haben. Ich werd’ verrückt. Die wohnen die ganze Zeit im Nachbarhaus und wir Träumer kriegen davon nichts mit.“
So nach und nach stellte sich heraus, dass die Jungs einen feuchtfröhlichen Abend bei unseren Nachbarn erlebt hatten. Die beiden Supertussis, die Manuel schon am ersten Tag gesehen hatte, waren tatsächlich im Nachbarhaus untergebracht. Allerdings war lediglich die jüngere von beiden namens Elena eine Tochter von Kazik und Kristina. Sie war 17 und hatte noch einen 14-jährigen Bruder mit Namen Wojtek. Das zweite Mädchen mit Namen Natascha war 19 und war mit Onkel und Tante nach Ungarn in die Ferien gereist.
Gerald platzte nun heraus: „Dieser Kazik ist eine Kanone!! Der hat mit seiner Frau nichts zu lachen! Habt Ihr gesehen wie sie ihm in die Seite geboxt hat, wenn er seinen Wodka zu früh geleert hat?“
Die Tauschgeschäfte waren wohl sehr schnell erledigt worden und so gingen der Gastgeber Kazik und seine Frau Kristina zügig über zum gesellschaftlichen Teil und kredenzten unseren Freunden Wodka und Apfelsaft zum Nachspülen. Da diese den starken Wodka nicht gewohnt waren, waren sie früh beschwipst und es ergaben sich fröhliche Gespräche.
Diese fanden über die Drittsprache Englisch statt. Da sowohl unsere Jungs als auch Elena nur gebrochen Englisch sprachen ging das Gespräch zwar nur schleppend voran aber die Ergebnisse waren erstaunlich. Zum einen wurden die Tauschgeschäfte erfolgreich abgewickelt, zum zweiten erfuhr man einiges über die polnische Familie und zum dritten gelang es unseren Jungs die beiden Mädchen zu einem gemeinsamen Disco-Besuch einzuladen.
Ach übrigens: Unsere Jungs teilten die Ansicht von Manuel über die beiden polnischen Mädchen einhellig. Vor allem unser langhaariger Freak Siegfried war hellauf begeistert. „Da muss ich erst nach Ungarn kommen um zwei solche Vollblut-Weiber zu sehen. Das kriegst Du in Deutschland nicht vor die Linse.“
Manuel fügte hinzu: „Na hab’ ich Euch zu viel versprochen? Das sind Wahnsinns-Bräute. Wehe wenn sich einer an Elena ranwagt! Die reiße ich mir unter den Nagel.“
Annette entgegnete den Beiden kleinlaut: „In Deutschland gibt es auch hübsche Mädchen.“ Und Rita ergänzte: „Annette, die wissen ja gar nicht was sie an uns haben:“
Von diesem Moment an stand der Disco-Besuch, der am kommenden Abend stattfinden sollte, im Mittelpunkt der Gespräche. Die Jungs, die immer noch nicht genug vom Alkohol hatten, machten sich noch über das Bier her und vertieften ihre Gespräche über polnische Frauen, deutsche Frauen, ungarische Frauen, schöne Frauen usw. usw. So entstanden noch verschiedene interessante Philosophien über Frauen im allgemeinen und schließlich über die beiden polnischen Frauen im besonderen.
Ach übrigens. Es muss wohl in dieser Nacht gewesen sein, dass es unsere Vermieter im Obergeschoss nicht mehr ausgehalten haben. Die lautstarken Diskussionen, die zumeist von lauter Heavy Metal Musik untermalt waren, waren für die beiden älteren Herrschaften wohl doch zu viel und so zogen sie es wohl vor noch in der Nacht abzureisen und nach Budapest zurück zu kehren. Zumindest wurden die beiden ab dem kommenden Tag nicht mehr auf dem Grundstück gesichtet.
Kapitel 5 Gemeinsamer Disco-Besuch
Die Zeit für den Disco-Besuch war gekommen. Beim hektischen Fertigmachen rief Rüdiger durch die Räume: „Hier riecht es ja wie im Männer-Puff!“ Dieser Vergleich war zwar sehr drastisch aber bei den vielen verschiedenen Duftnoten, die im Flur zusammentrafen nicht ganz von der Hand zu weisen.
Vom optischen Eindruck her drängte sich eher der Vergleich mit einer ganzen Herde von Pfauen auf, die sich aufplustern und sinnbildlich ein buntes Rad schlagen um dem weiblichen Geschlecht zu imponieren.
Da Annette, Rita und ich nicht durch das vorabendliche Wodka-Vorglühen angesteckt waren, waren wir nicht so überschwänglich gut gelaunt und deshalb wohl auch eher zurückhaltend was die Menge des aufzutragenden Parfüms angeht.
Nicht zuletzt kam diese Zurückhaltung wohl auch daher, dass wir noch am Morgen damit beschäftigt waren, die ein oder anderen Spätfolgen des Vorabends zu beseitigen. Jeder der schon einmal größere Mengen an Wodka und anschließend noch größere Mengen Bier getrunken hat, weiß wie solche Spätfolgen am kommenden Morgen aussehen. Und jeder, der diese Spätfolgen hat beseitigen müssen, weiß wie toll man sich danach fühlt.
In der Disco „El Chicco“ saßen wir nun mit unseren beiden polnischen Bekanntschaften zusammen. Es kam wie es wohl kommen musste. Manuel nahm Elena wie angekündigt in seinen Beschlag, so dass Natascha sich nicht mit uns verständigen konnte. Die wenigen Versuche dies über Zeichensprache zu kompensieren scheiterten mehr oder weniger kläglich. Hinzu kam, dass durch den niedrigen Alkoholpegel kein richtiger Mut bei uns Jungs aufkommen wollte.
Aber zumindest teilweise konnte der Abend als Erfolg eingestuft werden, da Manuel und Elena sich deutlich näher kamen. Darüber hinaus wurde unser stiller Zeitgenosse Gregor doch tatsächlich von einer besonders hübschen Ungarin angemacht und im Sturm erobert. Es sollte sich herausstellen, dass die schöne Serena aus der Stadt Pecs stammte und hier am Balaton ihren Urlaub verbrachte.
Damit hatte Gregor eindrucksvoll seine Kritiker widerlegt, die ihm immer wieder nahegelegt hatten er solle doch seine Ansprüche in der Suche nach einer Freundin überdenken und etwas schmälern. Er kostete diesen triumphalen Erfolg auch sichtlich aus und genoss das plötzlich massiv angestiegene Prestige in unserer Clique. Irgendwie hatten wir ihm eine solche Leistung niemals zugetraut.
Dies hatte in den kommenden Tagen zur Folge, dass wir unseren Kumpel nur noch sehr selten zu Gesicht bekommen würden. Die beiden sollten eine intensive Zweisamkeit entwickeln und Manuel, der eigentlich im selben Zimmer wie Gregor wohnte sollte noch des öfteren Probleme haben in ihrem Zimmer zu übernachten.
Alle anderen sollten jedoch an diesem Abend Single bleiben, da Annette die Romanze zwischen Manuel und Elena unter Schock erlebte und daher nicht in Flirtstimmung war. Da auch Natascha durch Sprachbarrieren nicht für uns erreichbar war und wir ansonsten auch keine großen Casanovas waren verlief der Abend für uns andere eher langweilig.
Nach Rückkehr in unser Häuschen legten sich alle außer Manuel und ich schlafen. Während Manuel nicht in sein Zimmer konnte – dieses war bereits von Gregor und seiner neuen Errungenschaft belegt – saß ich noch freiwillig in der lauen Sommernacht. Hier trafen nun zwei völlig unterschiedliche Stimmungen aufeinander.
Während Manuel frisch verliebt und auf Wolke sieben schwebte, war ich selbst eher melancholischer Stimmung. Seine Erzählungen über Elena und ihr Heimatland Polen heiterten mich ein wenig auf, wenn auch dieses Land für uns praktisch am anderen Ende der Welt lag und unerreichbar schien.
Meine Gedanken führten mich eher zu einem Vergleich zwischen den Lebensweisen in den sozialistischen Ländern und in den kapitalistischen Ländern. Während man in den westlichen Ländern das Gefühl hatte, dass man lebt um zu arbeiten, konnte man in den sozialistischen Ländern das Gefühl gewinnen, dass die Menschen arbeiten um zu leben. Ganz ungezwungen versuchte ich meine Stimmung wie folgt zu Papier zu bringen:
„Ich sitze hier auf der Veranda unseres Ferienhauses am Balaton. Es ist 3.00 Uhr in der Früh und ich habe noch keine Lust schlafen zu gehen. Die Motorengeräusche, die von der nahe gelegenen Landstraße herüberschallen geben mir ein Gefühl von Freiheit und Mobilität. So kann eine Gruppe von jungen Menschen hierher in ein fernes Land fahren, sich ein Haus mieten, einen herrlichen Urlaub verbringen und eine fremde Kultur kennen lernen.
Während wir bei uns zu Hause tagtäglich Stress erleben und uns, wenn wir ehrlich sind, diesen größten Teils selbst bereiten, hat man hier in diesem Land das Gefühl, dass sich alle Räder ein bisschen langsamer drehen. Man kann den Eindruck gewinnen, dass sich die Leute mehr Zeit nehmen um ihr Leben zu genießen. Selbst die Menschen in den Einkaufsgeschäften scheinen alles ein bisschen ruhiger anzugehen als bei uns.
Soeben war Manuel hier draußen bei mir. Er hat mir erzählt, dass er sich Hals über Kopf in Elena verliebt hat und in ihr seine Traumfrau fürs Leben gefunden habe. Als ich ihn fragte wie er sich die Zukunft vorstelle, hat er nur geantwortet, dass er darüber noch nicht nachdenken wolle.
Ich befürchte, dass er und auch Gregor auf die ein oder andere Weise noch eine ganz besonders schwierige Zeit vor sich haben werden.“
Kapitel 6 Ausflug in die Hauptstadt
Wenn man in Ungarn im Urlaub ist darf natürlich ein Ausflug nach Budapest nicht fehlen. Wie gewohnt hatte unsere gute Seele Rita diesen Ausflug, den wir am Folgetag unternahmen, hervorragend vorbereitet und berichtete uns mit Hilfe ihres Reiseführers viel Wissenswertes über die verschiedenen Gebäude und Sehenswürdigkeiten. Vorab berichtete sie uns jedoch über das Zusammenwachsen von Buda und Pest. Während der bergige Teil Buda schon jeher die Hauptstadt Ungarns war, entwickelte sich die links der Donau liegende Stadt Pest im Laufe der Jahrhunderte zu einer florierenden Handelsstadt bevor sich die beiden Städte im Jahre 1873 zu Budapest zusammenschlossen.
Dann berichtete uns Rita Interessantes während der Besichtigungen in Pest. Sie lotste uns zu der Nationalgalerie, zum Nationalmuseum, zum Parlament und zur St. Stephans-Kirche. In Buda besuchten wir die Burg, die Zitadelle, das Königsbad, das Amphitheater, die Fischerbastei und weitere staatliche Gebäude. Während der Besichtigungen machten wir allerlei interessante und lustige Bilder mit dem Photoapparat. Allerdings war das Hauptgesprächsthema das Fest, das am Folgetag bei unseren polnischen Gastgebern stattfinden sollte.
Kapitel 7 Das Fest
Als wir am kommenden Abend aufbrachen zu unseren Nachbarn hatten wir alle etwas gemischte Gefühle. Wir würden wir von unseren Gastgebern aufgenommen? Wie würde diese arme Familie aus Polen uns verwöhnte Flegel aus dem reichen Deutschland verköstigen?
Zur Sicherheit hatten wir am Vormittag noch einige Flaschen Krimsekt gekauft für den Fall, dass die Vorräte ausgehen sollten.
Aber die mit Abstand größten Sorgen machten wir uns natürlich über die Verständigung. Wie sollten wir uns in aller Welt unterhalten? Es hatte sich ja gezeigt, dass sowohl das gebrochene Englisch als auch die Zeichensprache nicht unbedingt dauerhaften Erfolg versprachen.
Die erste Überraschung als wir zu unseren Gastgebern kamen war, dass sie eine üppige Tafel vorbereitet hatten mit vielen verschiedenen Speisen. Sie hatten sich unheimlich viel Mühe gegeben.
Die ersten Gespräche wurden dann tatsächlich über gebrochenes Englisch geführt. Hierbei ging es um die jeweilige Region, aus der man stammt, die nächste größere bekannte Stadt usw. Wir erfuhren hierbei, dass unsere Gastfamilie aus Bialystok kam. Wenn wir es richtig verstanden hatten, lag diese Stadt ganz im Osten Polens etwa 50 km von Russland entfernt - also wie bereits befürchtet „am anderen Ende der Welt“. Die Familie hatte den Nachnamen Nowakowski und wohnte in einem Hochhaus in einer kleinen Wohnung.
Wie das in Polen Tradition ist, wurde natürlich Wodka mit Apfel- oder Orangensaft getrunken. Da wir gute Gäste sein wollten sagten wir auch beim häufigen Nachschenken nicht nein, so dass die Stimmung mehr und mehr anstieg.
Die Verständigung wurde mit der Zeit auch etwas leichter und der Alkohol löste sowohl deutsche als auch polnische Zungen und so wurde das Tischgespräch ständig intensiver. Das was man zu sagen hatte sagte man in einem Mix aus englisch, deutsch und polnisch und unterstützt durch eine rege Zeichensprache, die auch ständig einfallsreicher wurde.
Das größte Erfolgserlebnis war, wenn man ein polnisches Wort erraten hatte. Dieses wurde dann stolz wiederholt und wurde an diesem Abend immer wieder unter großem Gelächter verwendet.
Eine weitere Steigerung in der Völkerverständigung bahnte sich an, als wir begannen Volkslieder zu schmettern. Dies waren z.B. „Theo, wir fahr’n nach Lodsch“, „Hoch auf dem gelben Wagen“, „In einem Polenstädten, da gab es einst ein Mädchen.“ Aber völlig von den Socken waren wir als unsere polnischen Freunde - diesen Status hatten sie zwischenzeitlich locker erklommen - begannen unsere Lieder zu erwidern und zwar mit der jeweils gleichen Melodie aber natürlich mit polnischem Text. Diese Gesangseinlage dauerte weit über eine Stunde und unter dem Einfluss des starken Wodkas liefen wir zu immer besserer Form auf.
Wer hätte zum Beispiel gedacht, dass es zu dem Lied „Es war einmal ein Wandersmann und mir steckt’s auch im Blut“ ein polnisches Gegenstück gibt, das unsere fünf Gastgeber uns voller Inbrunst entgegenschmetterten. Nachdem die beiden Chöre jeweils ihr Lied beendet hatten brach die ganze Gesellschaft in schallendes Gelächter aus und man prostete sich einmal mehr mit Wodka zu. Unser Trumpf in dieser Situation war einmal mehr Rita, die ein schier unerschöpfliches Repertoire an Volksliedern kannte und auch ein gutes Händchen dafür hatte welche Lieder auch alt genug waren um evt. in Polen bekannt zu sein.
Erst als bei den ersten die Stimme langsam versagte, baute der Sohn des Hauses einen Kassettenrekorder auf und legte ganz stolz nacheinander Michael Jackson, Tina Turner und Whitney Houston auf. Da wir alle Tanzmuffel waren wurden – von Rita eingefädelt - Spiele gespielt.
Der Alkoholpegel führte dazu, dass obwohl wir immerhin schon zwischen 18 und 25 Jahre alt waren plötzlich ernsthaft „Flaschendreherles“ vorgeschlagen wurde. Hierbei werden durch Drehen einer Flasche zwei Partner gesucht, die sich dann küssen müssen.
Alle gaben kreischend Zustimmung. Die einen wohl weil dies der größtmögliche Unfug zu sein schien, den man sich in diesem Moment vorstellen konnte, die anderen weil sie auf diesem Weg hofften vielleicht der einen oder anderen Braut leichter an die Wäsche zu kommen. Ich gebe zu ich gehörte in diesen Augenblicken zu der zweiten Sorte.
Es muss wohl in dieser Zeit gewesen sein, dass sich die Gasteltern zurückzogen. Ich glaube allerdings nicht, dass sie eine besonders gute Nacht verbracht haben, da die Stimmung am Siedepunkt angelangt war und das Gegröle und Gekreische für einen Nichtbeteiligten unerträglich gewesen sein muss.
Kapitel 8 Annäherung
Schon bei den Gesangsrunden war mein Augenmerk auf Elenas Cousine Natascha gefallen. Sie war mir diagonal gegenüber gesessen und damit schien sie unerreichbar. Durch das tägliche Sonnenbaden hatte sie eine schöne Bräune im Gesicht aus welchem die beiden verführerischen Augen herausstachen. Die schulterlangen Haare waren blond und herrlich gelockt. Da Natascha auch sehr schlank war und die Kurven genau an den richtigen Stellen hatte ergab dies ein besonders verführerisches ja erotisches Gesamtbild.
Ich merkte während des Gesanges und der Wodka-Runden, dass meine Kontaktscheue mehr und mehr bröckelte und das Verlangen in mir wuchs ihr näher zu kommen. Gedanken über mögliche Sprachbarrieren traten in den Hintergrund.
Als nun Rita die Spiele eröffnet hatte und die Flasche gedreht wurde durften die jeweils bestimmten Damen und Herren in die Mitte treten und sich küssen.
Während sich anfangs noch alle zierten wurde mit der Zeit die Küsserei immer toller. Die größte Gaudi war hierbei, wenn sich zwei Jungs aus unserer Clique trafen und einen Zungenkuss fabrizierten, für den sie sich noch tagelang schämen sollten.
Die Mädchen in der Runde nämlich Rita, Annette, Elena und Natascha machten die Gaudi mit und hatten auch sichtlich Spaß dabei.
Irgendwann war es dann soweit. Natascha und ich standen uns gegenüber. Das Herz schlug mir bis an den Hals. Was würde passieren wenn wir uns küssen würden. Wie würde ich mich anstellen. Vielleicht war ich für sie vollkommen uninteressant.
Trotz dieser Zweifel überwog das überwältigende Gefühl einer solchen Schönheit einen Kuss geben zu dürfen.
Besonders mutig und beschwingt durch die hohen Alkoholmengen legte ich meine Hände an ihre Hüften und sie legte ihre Hände auf meine Arme. Einen Moment zweifelte ich ob ihre Gestik eher als abwehrend oder als einladend zu werten war.
Aber der nun folgende Moment war nicht von dieser Welt.
Als sich unsere Lippen berührten empfand ich ein Gefühl von höchster Leidenschaft. Es war als würden mich alle nur denkbaren Glücksgefühle auf einmal durchströmen. Dieser Moment sollte für mich unvergesslich bleiben.
Allerdings rissen uns die anderen Jungs und Mädchen sehr bald wieder auseinander, da sie auch selbst wieder in den Genuss kommen wollten.
Aber die Überdosis an Glückshormonen hatte mir Gewissheit verschafft. Ich war verliebt bis über beide Ohren und es gab auf dieser Welt nur noch eine Frage: Wie war es ihr ergangen? Ich selbst war jedoch wild entschlossen ihr noch in dieser Nacht näher zu kommen ungeachtet der zahlreichen Konkurrenz in diesem Raum.
In einem zweiten Spiel tanzte ein Pärchen in der Mitte und alle anderen tanzten drum herum. Zunächst musste sich der Junge eine neue Tanzpartnerin suchen und die derzeitige Partnerin tanzte zurück in den Kreis. Dann tanzte der Junge zurück in den Kreis und das verbliebene Mädchen musste sich einen neuen Tanzpartner suchen.
Plötzlich schien ich ziemlich viele Nebenbuhler zu haben, zumindest empfand ich das so. Ich bekam nahezu panische Angst, dass sich ein anderer meine Traumfrau unter den Nagel reißen könnte. Dies führte dazu, dass ich besonders darauf brannte in die Mitte zu gelangen und holte mir dann jedes Mal Natascha zum Tanz.
Mit der Zeit wurde diese Zeremonie wohl etwas eintönig und der freie Tanz konnte eröffnet werden.
Im Nachhinein betrachtet war dies wohl auch das Ziel von Rita. Sie hatte schließlich dafür gesorgt, dass sich – unterstützt vom Alkoholgenuss – eine prächtige Stimmung entwickelt hatte. Darüber hinaus war es ihr gelungen die tanzfaulste Clique dieser Erde auf das Tanzparkett zu locken und mit Hilfe von Wojtek und seiner Musikkassetten mit westlicher Disco-Musik auch über sehr lange Zeit dort zu halten.
In meiner liebestollen Stimmung ließ ich Natascha nicht mehr aus den Augen. Soweit ich das am nächsten Morgen noch nachvollziehen konnte tanzte ich fast jeden Tanz mit ihr. Sobald sie von jemand aufgefordert wurde begann für mich eine schlimme Leidenszeit. Ich forderte eine andere Partnerin auf und tanzte nach Möglichkeit in Nataschas Nähe brennend vor Eifersucht. Nach spätestens zwei Tänzen forderte ich dann Natascha wieder auf.
Da ich auf diese Weise sehr beschäftigt war sie zu umgarnen fiel es mir schwer ihre Gefühle für mich einzuordnen. Ich konnte lediglich feststellen, dass sie mir keinen Tanz absagte und schon allein dies machte mich sehr glücklich.
Schließlich sollten dann die langsamen Tanzrunden kommen. Wir tanzten Blues. Mit jedem Song wurde es für mich mehr zur Gewissheit. Natascha genoss die rhythmische Bewegung, die romantische Musik und den engen Körperkontakt genauso wie ich und es folgten lange, heiße Küsse. Es war für uns die Nacht der Nächte und nach unserem Wunsch hätte sie niemals enden sollen.
Nach und nach löste sich die Gesellschaft auf. Die anderen schienen wohl alle etwas geschafft vom langen Tag, der langen Nacht, vom Volksliedersingen, Wodkatrinken und schließlich vom Tanzen. So lichteten sich die Reihen und es blieben nur Manuel mit Elena sowie Natascha und ich zurück.
Wir tanzten verliebt bis in den Morgen und konnten nicht mehr voneinander lassen. Schließlich plagte wohl Elena ihr schlechtes Gewissen und sie gab Manuel zu verstehen, dass ihre Eltern ja schon schliefen und auch Wojtek zwischenzeitlich ins Bett gegangen war.
Da wir aber noch keinerlei Lust verspürten schlafen zu gehen und diesen milden Sommermorgen noch genießen wollten, entschlossen wir uns noch an den Balaton zu spazieren.
Dieser Spaziergang war für uns wie ein Wandeln durch das Paradies. Die Mischung aus Alkohol und Glückshormonen ließ die ganze Welt für uns wie in einer rosa Wolke erscheinen.
Allerdings war Elena auch sehr darauf erpicht uns mit ihren wenigen Worten Englisch klarzumachen, dass sie beide streng katholisch erzogen worden seien und an Sex überhaupt nicht zu denken sei. In unserem Gefühlsrausch konnten wir dies - zumindest in dieser Phase – noch relativ gut verkraften.
Ebenso dachten wir in diesen Momenten nicht an Abschiedsschmerz, Sprachbarrieren, Entfernungen, fremde Kulturen oder einen eisernen Vorhang.
Am Strand ließen wir uns die morgendliche Brise um die Nase wehen, liebkosten uns gegenseitig oder trieben neckische Spielchen. Wir amüsierten uns auch köstlich über einzelne Wortfetzen, die wir auf unserer gemeinsamen Party aufgeschnappt hatten oder wiederholten die ein oder andere Strophe der Volkslieder, die wir gesungen hatten.
Auf dem Rückweg in die Siedlung machte uns Elena deutlich, dass deutsche Jungs, insbesondere die westdeutschen, in den slawischen Ländern keinen guten Ruf genossen. Sie würden als arrogant gelten und seien lediglich darauf aus, die Mädchen aus dem Osten flachzulegen. Das kam uns alles sehr bekannt vor, allerdings in umgekehrter Richtung, aber wir hielten uns mit solchen Feststellungen natürlich zurück.
Für Natascha und mich war es vollkommen unproblematisch wenn die anderen beiden sich für kurze Zeit entfernten auch immer wieder mal unter uns zu sein. Unsere Unterhaltung bestand dann aus Zeichensprache, Zärtlichkeiten und Küssen.
Als wir dann an unseren Häuschen angekommen waren mussten wir feststellen, dass es bereits 7.00 Uhr war und dass wir trotz aller Glückseligkeit doch etwas müde geworden waren. Wir beschlossen daher uns am kommenden Tag wieder zu treffen.
Dabei stimmte es uns etwas nachdenklich, dass Elena nach einer intensiven Diskussion mit Natascha ein Treffen am Vormittag absagte und erst auf Drängen von Manuel ein Treffen am späten Nachmittag in Aussicht stellte. Angeblich hätten sie bis dahin einen wichtigen Termin. Aber wir mussten uns mit dieser Begründung zufrieden geben. Nach einem innigen Abschiedeskuss begaben wir uns schleichend in unsere Zimmer.
Kapitel 9 Katerstimmung
Nach dem Aufstehen hatten so ziemlich alle einen Kater aber erstaunlicher Weise war die Stimmung den Umständen entsprechend gut. Lediglich Siegfried hatte sich zu viel zugemutet und schlief noch eine Extra-Runde.
Die gute Stimmung resultierte noch vom erlebnisreichen Vorabend und so gab es einiges zu erzählen über die Eindrücke, die alle mitgenommen hatten. Es mischten sich hierbei die gelernten polnischen Begriffe wie „na Strowie - auf die Gesundheit bzw. Prost,“ „dzien dobry - Guten Tag“ oder „czeszcz – tschüss“ mit den Volksliedern und Beobachtungen bei den polnischen Gastgebern. So bemerkte z.B. Gerald: „Habt Ihr gesehen wie Kristina ihren Mann gestoßen hat als dieser zu tief ins Glas geguckt hat. Sicher hat er von ihr irgendwann einmal eins aufs Auge gekriegt als er mal wieder zu viel getrunken hatte und hat seitdem ein heruntergeklapptes Augenlid!“ Es brach schallendes Gelächter aus.
Rüdiger fügte schelmisch hinzu: „Und zwei unserer Jungs haben sich wohl in die hübschen Polenmädchen verkuckt. Wie soll das weitergehen? Wie soll das enden?“
Manuel entgegnete: „Das ist doch nur der pure Neid, weil Ihr nichts abbekommen habt!“ Gregor, der ausnahmsweise nicht mit seiner hübschen Ungarin zusammen war, fügte hinzu: „Also ich sehe da auch keine Probleme. Ich für meinen Teil verlebe mit Abstand den besten Urlaub meines Lebens und kann da keine Probleme erkennen.“
Es war wohl Manuel, der dann begann den nächsten Disco-Besuch zu planen um dann Elena dazu einladen zu können. Dieser wurde noch für den gleichen Abend terminiert. Tatsächlich traf Manuel seine Elena noch auf dem Weg zum Einkaufen und lud sie für den Disco-Besuch ein.
Damit waren bei ihm die leisen Zweifel vom selben Morgen schnell verflogen und er war wieder in bester Laune.
Als Mensch, der grundsätzlich sehr pragmatisch veranlagt ist hatte ich die Problematik, die Rüdiger in seinen Worten ansprach, durchaus erkannt und hatte begonnen über die Situation nachzugrübeln.
Manuel, der seine Elena bereits einen Tag länger kannte, gab dann auch unter vier Augen zu, dass er sich ebenfalls bereits Gedanken gemacht habe. Besonders machte uns zu schaffen, dass die beiden Mädchen nicht nur aus Polen kamen sondern zu allem Unheil auch noch aus dem hintersten Nordosten diese Landes.
Da wir selbst aus dem Südwesten Deutschlands kamen und Bialystok auf der Diagonalen betrachtet in der äußersten entfernten Ecke Polens lag, ergab sich der weitest denkbare Weg in einem Land, das für uns in diesem Moment vollkommen unerreichbar schien. Warum konnten sie denn nicht wenigstens aus Oberschlesien kommen? Das wäre wenigstens nur der halbe Weg gewesen.
Doch da Manuel eher der Typ Strahlemann war und zudem schon unter dem Eindruck des anstehenden Disco-Besuches mit Elena stand, zerstreute er schnell alle Bedenken: „Ach was soll’s. Heut’ ist heut’ und morgen sehen wir weiter. Was ist eigentlich mit Deiner Natascha? Willst Du sie nicht für heute Abend einladen?“
Unser Gespräch über die weiten Entfernungen, die vorhandenen Sprachbarrieren, aber insbesondere die ablehnende Haltung von Natascha vom Morgen hatten mich zugegebener Maßen schwer verunsichert.
Da meine Katerstimmung diese Bedenken noch förderte begann ich mir einzureden, dass es nur Elena war, die mit Manuel zusammen sein wollte und Natascha lediglich eine schöne Nacht mit einem arroganten Deutschen verbracht hatte, der ja ohnehin im Ruf stand ihr lediglich an die Wäsche zu wollen. Vielleicht hatte sie aber einfach nur einen Freund in Polen.
In dieser Situation erlebte ich wie unheimlich wichtig eine gut funktionierende Clique in höchster Not sein kann. Sowohl die Jungs als auch unsere Mädchen redeten mit Engelszungen auf mich ein ich solle doch unbedingt zu Natascha gehen und sie ebenfalls zum Disco-Besuch einzuladen. „Und wenn sie dann nein sagt, kannst Du ja immer noch Trübsal blasen,“ munterte Rita mich auf.
„Wenn Du nicht gehst geh’ ich zu Natascha und lade sie ein,“ drohte Siegfried, wobei ich mir nicht sicher war wie ernst das von ihm gemeint war, aber ich gebe zu das gab mir zusätzlich zu denken.
Trotz aller aufmunternden bzw. drohenden Worte zog ich mich zunächst in unser Zimmer zurück und begann zu grübeln. Mein Mut vom Vorabend hatte mich verlassen, ja er hatte sich sogar ins Gegenteil verkehrt nämlich in schlichte Feigheit.
Ich versuchte mir die Gründe für mein zögerliches Verhalten klarzumachen. Als Hauptgrund machte ich die Tatsache aus, dass Natascha sich unerklärlicher Weise gegen ein weiteres Treffen ausgesprochen hatte. Dieser Stachel saß sehr tief und er war der einzig wahre Grund für meine mutlose Stimmung.
Inzwischen war es fast 19.00 Uhr geworden. Wenn ich noch lange warten würde wäre der Abend gelaufen und einer unserer Jungs oder gar ein ganz anderer würde vielleicht bei Natascha landen.
Kapitel 10 Verabredung an der Himbeerhecke
Eine Mischung aus grenzenloser Sehnsucht und höchster Zeitnot trieb mich dann schließlich doch noch an mich ca. eine halbe Stunde vor dem vereinbarten Termin auf den Weg zu machen.
Also machte ich mich mit schlotternden Knien auf zum Nachbarhaus und klingelte an der Eingangstür.
Es öffnete Wojtek unser Discjockey vom Vorabend. Ich fragte ihn: „I’m searching for Natascha. Do You know where she is?“
Ich weiß nicht warum ich die Frage auf Englisch stellte. Vielleicht hatte ich die Hoffnung, dass ihm seine Schwester diese Sprache über Nacht beigebracht hatte.
Er antwortete so etwas wie: „Ah Natascha, brabbel, brabbel, brabbel,“ und zeigte um das Haus in Richtung Garten. Mit der Hand machte er noch eine Bewegung mit der Hand zum Mund als würde er etwas essen.
Ich trollte mich also und ging um das Haus herum in Richtung Garten. Mein Herz raste und ich war trotz meiner eigentlich sehr sportlichen Veranlagung wohl kurz vor einem Herzinfarkt.
Tatsächlich entdeckte ich Natascha vor einer Himbeerhecke hockend. Sie pflückte gerade Himbeeren und legte diese in einen Sieb.
Mein Herzschlag erhöhte sich nochmals um mindestens 20 Schläge pro Minute, denn es fiel mir siedend heiß ein, dass ich mir in der Aufregung keine Worte bereit gelegt hatte, die international waren und die man evt. auch im Polnischen verwenden konnte. Also stammelte ich etwa folgendes: „Do You want to go with us to the Disco?“
Auch bei ihr hatte ich wohl die Hoffnung, dass ihr ihre Cousine über Nacht englisch beigebracht hatte. Mein Glück war jedoch, dass wenigstens ein Wort in diesem Satz international war, nämlich „Disco“. Also antwortete sie so etwas wie: „Tak, chetnie. Ale kiedy?“ und zeigte auf ihr Handgelenk.
In meiner Aufregung vermutete ich zunächst sie habe sich ihr Handgelenk verletzt, vielleicht sogar gebrochen, und könne deshalb nicht mitkommen.
Erst als sie meine Hand in ihre Hand nahm und auf meine Uhr zeigte begann es bei mir zu dämmern.
Obwohl mir in diesem Moment eigentlich ein riesiger Stein vom Herzen fiel, steigerte sich mit der Berührung mein Herzschlag nochmals um beängstigende 30 Schläge pro Minute und in meinem Hirn herrschte wohl akuter Sauerstoffmangel.
Natascha fragte nochmals: „Kiedy?“ und zeigte erneut auf meine Uhr. Ich bemühte mich aus meinem narkoseähnlichen Zustand aufzuwachen und zeigte auf 20.00 Uhr. Sie sagte noch: „No, to dobrze.“
Ich wusste bereits, dass „dobrze“ so etwas wie gut heißt und so langsam realisierte ich, dass unsere schwierige Verabredung wohl in trockenen Tüchern war. Vor lauter Atemnot und Glückseligkeit, Herzrasen und Euphorie übersah ich in diesem Moment wie wenig enthusiastisch diese Verabredung eigentlich abgelaufen war.
Aber für meinen Teil hatte ich mit so grundlegenden Dingen wie Sauerstoffmangel und akuter Überlastung des Herz-Kreislaufsystems zu kämpfen gehabt und war daher einfach nicht in der Lage gewesen klar zu denken.
Ich sagte noch „tschüss“ und sie erwiderte „tschüss“. Da fiel mir ein, dass „tschüss“ eines der Wörter war, das wir der polnischen Familie am Vorabend beigebracht hatten.
Auf dem Weg zurück zum Haus machte ich mir klar, dass ich lernen musste in Anwesenheit von Natascha regelmäßiger zu atmen. Es war mir zwar bewusst, dass der Sauerstoffmangel einzig und alleine auf meine Nervosität zurückzuführen war aber dennoch handelte es sich hier um eine ungesunde Situation, in welcher kein klares Denken möglich war.
Aber das ganze hatte auch einen interessanten Lerneffekt: Ich hatte soeben erfahren was es heißt einer atemberaubenden Frau zu begegnen.
Unzufrieden mit dem Verlauf aber sehr glücklich über das Ergebnis der Verabredung traf ich wieder in unserem Ferienhaus, oder sollte ich besser sagen in unserem Hühnerstall, ein.
Es herrschte dort nämlich keine besinnliche Ruhe, die ich in diesem Moment vielleicht gebraucht hätte, sondern das blanke Chaos. Alle bereiteten sich mal wieder auf das Ausgehen vor.
Manuel blockierte das Bad. Siegfried und Gerald standen davor und klopften wie wild an der Tür und riefen er möge sie hineinlassen. Siegfried saß am Kassettenrekorder und drehte gerade das Lied „Hells Bells“ auf megalaut und begann wild mit seinem Kopf zu „shaken“. So nennt man das schnelle Kreisen mit dem Kopf so dass die möglichst langen Haare wie wild umherfliegen.
Rita rief zu Siegfried „mach die verdammte Musik leiser!“ Währenddessen belegte sie zusammen mit Annette noch schnell ein paar Brötchen, damit sich alle vor dem Ausgehen nochmals stärken konnten.
Rüdiger, der beim Vorbeirennen mit der einen Hand versuchte seine Jeans zuzuknöpfen und in der anderen Hand bereits das erste belegte Brötchen hielt, brüllte mir zu: „Na, hat es mit Deiner Verabredung geklappt?“
Ich antwortete: „Ja, schon, aber ich glaube ich habe mich ziemlich dämlich angestellt.“ Die Antwort kriegte er schon nicht mehr mit, da er bereits in seinem Zimmer verschwand.
Ich dachte noch: „Tja die Verständigung. Ich glaube ich habe vor lauter Verwirrung vergessen mich vernünftig zu verabschieden.“
Wider Erwarten kam Rüdiger nochmals zurück gestürmt und rief als hätte er meine Gedanken erraten: „Tja, das hat heute nacht wohl alles etwas besser funktioniert, oder?“ Er hatte bereits einmal vom belegten Brötchen abgebissen und da es ihm wohl zu trocken war schüttete in der Küche einen Schluck Bier hinterher. „Das kannst Du laut sagen,“ entgegnete ich.
Manuel verließ gerade das Bad und es war an der Zeit sich der Warteschlange anzuschließen.
Wie immer verspäteten wir uns mit unserer geplanten Abfahrt zur Disco und es war nur der strengen Organisation von Rita zu verdanken, dass sich diese Verspätung in erträglichen Grenzen hielt.
Die Verteilung aller Mitfahrer auf die drei Fahrzeuge nahm sie in ihrer bestimmten Art vor: „Ein internationales Auto mit Gregor und Manuel. Das fährt Gregor. Zwei deutsche Autos. Es fahren Michael und Rüdiger. Bei Rüdiger sitzen Annette und ich. Der Rest zu Michael ins Auto.
Damit hatte sie den aufkommenden Diskussionen, wer denn mit wem gerne fahren würde oder nicht, ein jähes Ende bereitet. Die zwischenzeitlich eingetroffenen Elena, Natascha und Wojtek setzten sich zu Gregor und Manuel ins Auto.
Es war mir in diesem Augenblick gar nicht so unrecht, dass Natascha in ein anderes Auto „abkommandiert“ wurde, da ich nicht gewusst hätte, wie ich mich vor den anderen mit ihr hätte verständigen sollen vor allem wenn sie mir auch dieses Mal wieder den Atem rauben würde.
Kapitel 11 Ungewissheit
Endlich in der Disco angekommen nahte die Stunde der Wahrheit. Wie würde sich Natascha verhalten?
Zunächst nahmen wir alle an zwei runden Tischen Platz. Wojtek, Natascha und Elena saßen am Nebentisch bei Manuel. Sobald der erste Hit von Michael Jackson gespielt wurde, der uns allen noch vom Vorabend in den Ohren lag, zog Elena Manuel und Natascha mit auf die Tanzfläche. Wir anderen blieben zunächst sitzen. Unser Alkoholpegel reichte zunächst noch nicht aus, um uns in das Getümmel zu werfen.
Ich versuchte mit verstohlenem Blick die Geschehnisse auf der Tanzfläche zu beobachten. Ich war mir ihrer Gefühle nicht sicher, wie sollte ich auch wenn man keinen vernünftigen Satz miteinander sprechen konnte.
Eine Abfuhr von Natascha hätte mir einen schweren Schlag versetzt und obendrein würde die Schmach durch meine Freunde auf dem Fuße folgen. Ich spielte deshalb zunächst den Lässigen und Teilnahmslosen und gab meine Gefühle für Natascha nicht preis.
Brenzlig wurde die Situation aber als sich ein Kerl an Natascha ranmachte. Es war wohl so ein arroganter Westdeutscher mit dem gewissen Ruf. Er tanzte an Natascha heran und begann auf sie einzureden. Nachdem die Tanzrunde beendet war, führte er sie an die Bar und schien ihr einen Drink zu spendieren.
In meinem Inneren machte sich rasende Eifersucht breit und ich musste mich zusammenreißen, dass man mir das nicht anmerkte.
Als ich diese Anspannung nicht mehr ertragen konnte fragte ich Manuel so lässig wie das in dieser Situation nur möglich war: „Was hat denn dieser Kerl von Natascha gewollt?“ Manuel antwortete: „Ich habe das nicht so genau mitgekriegt. Er scheint zwar ein Deutscher zu sein, hat aber kein Deutsch gesprochen.“
Elena, die unser Gespräch verfolgt hatte ergänzte in ihrem gebrochenen Englisch; dass es sich wohl um einen Ostdeutschen gehandelt habe, der sich auch schon am Strand an Natascha herangemacht habe. Er verständige sich mit Natascha auf Russisch. Russisch sei sowohl in der DDR als auch in Polen Schulsprache.
In diesem Moment war mir, als hätte mir jemand mit der bloßen Faust mitten ins Gesicht geschlagen. Solche Vorstellungen hatte ich übrigens öfter, wenn ich in irgendeiner Form seelische Schmerzen erleiden musste. Es war wohl eine Art Selbstschutz. Es sollte mich wohl vom eigentlichen Schmerz ablenken und zeigen: „Es hätte ja auch noch schlimmer kommen können.“
Allerdings war mir, nach der Wucht dieses Faustschlages zu urteilen, als hätte Muhammad Ali höchstpersönlich zugeschlagen, denn die Wirkung war so verheerend wie nie zuvor.
Ich versuchte mir aber nach wie vor nichts anmerken zu lassen. Bei einem weiteren Blick zur Bar musste ich feststellen, dass sich dieser Kerl nach wie vor blendend mit Natascha zu unterhalten schien. Etwas was ich ihr in keinster Weise hätte bieten können.
Weder konnte ich polnisch oder russisch noch konnte Natascha deutsch oder englisch. Meine Stimmungskurve war auf dem absoluten Tiefpunkt. Ich wollte nur noch hier raus und an die frische Luft. Hatte ich mir die Zuneigung Nataschas in der Nacht zuvor nur eingebildet? Ich stand auf, sagte zu Rita, so dass nur sie es hören konnte: „Ich bin mal kurz an der frischen Luft,“ und verlies die Diskothek.
Da es nur etwa zwei Kilometer bis nach Hause waren und ich einen Hausschlüssel hatte spielte ich mit dem Gedanken den Weg nach Hause zu joggen. Körperliche Anstrengung hatte mir schon immer geholfen um mich nach Stress oder Enttäuschungen wieder besser zu fühlen.
Spontan fiel mir ein, dass ich das immer wieder vor den Abiturprüfungen feststellen konnte. Manchmal war es einfach sinnvoller gewesen nach mehreren Stunden Lernen zum Fußballtraining zu gehen und geistig mal drei Stunden auszuspannen als weiter zu büffeln. Man fühlte sich nach dem Training und dem Duschen vollkommen tiefenentspannt und konnte dann wesentlich relaxter und aufnahmebereiter noch die ein oder andere Stunde weiterlernen.
Als ich mit meinen Gedanken zurück in der Gegenwart war wollte ich aber lieber vor Selbstmitleid zerfließen und war nicht bereit gegen diesen Gemütszustand anzukämpfen. Ich entschied mich deshalb in der Dunkelheit in einem nahegelegenen Park spazieren zu gehen. Vielleicht hatte ich aber auch einfach nur Angst, dass dieser furchtbare und doch bittersüße Schmerz nachlassen würde. Irgendwie wollte ich diesen Schmerz empfinden, bevor mich meine Vernunft aus all diesem Schlamassel wieder zurück in die Realität führen würde.
Der Park lag wenige Meter unterhalb der Diskothek und war nicht beleuchtet. Es standen einige Bänke entlang der Wege und einige wenige davon waren von Liebespärchen belegt, was die Situation für mich nicht einfacher machte.
So spazierte ich den ganzen Park hindurch und wieder zurück und konnte feststellen, dass ich in der gleichen Zeit den Nachhauseweg schon weitgehend bewältigt hätte. Aber das bereits beschriebene bittersüße Gefühl ließ mich weder nach Hause gehen noch in die Diskothek zurückkehren. Inzwischen war seit meiner Flucht aus der Disco cirka eine Stunde vergangen.
Plötzlich sah ich in der Dunkelheit zwei Gestalten aus Richtung Disco auf mich zulaufen. Es waren Elena und Wojtek. In ihrem Schlepptau erkannte ich eine dritte Person, die sich aber im Hintergrund hielt.
Elena, die völlig außer Atem war, rief: „Oh David, here You are.“ „We were searching You everwyhere outside the Disco”, was so viel hieß wie dass sie mich schon überhall außerhalb der Diskothek gesucht hatten.
Mit vorwurfsvollem Blick und von unten herauf –sie war nur ca. 1,65 m groß– fragte sie mich: „Didn’t You feel anything last night? – „Hast Du nichts gefühlt in der letzten Nacht?“ Sie zeigte mit dem Kopf hinter sich auf die Person, die sich noch im Hintergrund hielt.
„I think, that Manuel with me and You with Natascha were in Paradise last night, didn’t You feel it? – Ich glaube, dass Manuel mit mir und du mit Natascha im Paradies waren, hast du es nicht auch gefühlt?”
Kopfschüttelnd und ohne eine Antwort abzuwarten drehte sich Elena um, nahm ihren Bruder an der Hand und murmelte indem sie ihren freien Arm resignierend nach oben streckte so etwas wie: „Boys, Boys, Boys,“ und an Natascha gerichtet: „I ty nie placz - Und Du heule nicht!“ worauf Natascha stur aber mit leichtem Schluchzen in der Stimme entgegnete: „Nie plakam - Ich heule doch gar nicht.“ Und schon war Elena mitsamt Wojtek wieder verschwunden.
Kapitel 12 Sprachbarrieren
Wenn man Elena’s Worte und ihre Mimik deutete, dann konnte das nur die Frage sein, ob ich in der vergangenen Nacht nichts für ihre Cousine im Hintergrund mit ihrem Lockenkopf, mit ihrer zarten Haut mit ihren leuchtenden Augen und ihren fehlenden Englisch und Deutsch-Kenntnissen empfunden hatte.
Allein zurück gelassen mit der schluchzenden Natascha dachte ich mir: „Na klasse. Nicht genug damit, dass ich wohl den größten Bockmist meines Lebens fabriziert habe. Nun lässt mich Elena mit meinen exzellenten Sprachkenntnissen in Polnisch und Russisch auch noch hier alleine stehen.
Und ich hätte jetzt nicht nur umgangssprachliche Kenntnisse in einer der beiden Sprachen benötigt, nein es hätten schon absolut perfekte Sprachkenntnisse sein müssen um mich rhetorisch geschickt aus diesem Schlamassel zu befreien.
Ich sah zwischen uns ein Labyrinth aus Selbstzweifeln, Eifersucht, Zweifeln an der Sinnhaftigkeit einer Beziehung über den Eisernen Vorhang hinweg und Zweifeln an einer Fernbeziehung zwischen Südwest-Deutschland und Nordost-Polen.
Natascha stand mit dem Rücken zu mir. Ich näherte mich ihr bis auf ca. einen Meter, hatte aber keinerlei Ahnung wie man sich in einer solchen Situation verhält. Ich spürte lediglich, dass sich die gleiche enorme Spannung, die während unserer Begegnung an der Himbeerhecke geherrscht hatte, wiederum aufbaute.
Erneut völlig von der Rolle drehte ich mich leicht zur Seite. Ich überlegte angestrengt, was man in einer solchen Situation denn in deutsch von sich geben würde. Aber es fiel mir absolut nichts Brauchbares ein. Was um Gottes Willen gibt denn ein Analphabet der polnischen Sprache von sich, das für eine Polin einigermaßen sinnvoll klingt. Vor allem sollten mich diese Worte nicht noch weiter in die Sch..... Sch.... wierigkeiten hineinmanövrieren, als ich ohnehin schon drin steckte
Oh Gott!! Ohne diese Zweifel wäre alles so einfach gewesen.
Ich hätte sie nur ganz vorsichtig umarmt und wenn ich keinen Widerstand gefühlt hätte, hätte ich begonnen sie leidenschaftlich zu küssen in der Hoffnung, dass sie dies mit der gleichen Leidenschaft erwidern würde.
Da die Stille unerträglich wurde begann ich auf deutsch loszuplaudern: „Da Du mich nicht verstehst kann ich Dir ja eigentlich alles sagen. Es ist eigentlich ganz einfach. Ich könnte Dich schlimmstenfalls sogar beleidigen, was mir übrigens im Traum nicht einfallen würde.“
Selbst erschrocken über meine Worte wollte ich prüfen ob sie diesen Blödsinn auch wirklich nicht verstanden hatte und als aus ihrer Richtung auch tatsächlich keine Reaktion kam bemühte ich mich um sinnvolle Inhalte: „Bitte sei mir nicht böse, dass mich verschiedene Zweifel plagen: Wir sind nicht einmal in der Lage uns bruchstückhaft zu unterhalten. Die Entfernung von Bialystok nach Heidelberg beträgt ca. 2.000 km. Die Kultur des sozialistischen Ostens ist meilenweit von der Kultur des kapitalistischen Westens entfernt. Jeder vernünftige Mensch würde sagen, dass es absolut hirnrissig ist unter diesen Umständen eine Liebesbeziehung einzugehen. Schau Dir diesen Kerl aus der DDR an. Er kann sich wenigstens mit Dir vernünftig in russisch unterhalten, was übrigens nichts daran ändert, dass ich ihn dafür umbringen könnte - und dies trotz meiner äußerst positiven Grundeinstellung gegenüber den Bürgern der DDR.
Aber um auf den Punkt zu kommen muss ich dir sagen: Ich habe mich einfach nur fürchterlich, ja wahrscheinlich sogar unsterblich in Dich verknallt und wir sind eingetaucht in einen wunderschönen Traum. Wenn es das Paradies wirklich gibt, dann durften wir es in der letzten Nacht für einige Stunden durchschreiten.
Ich habe wahrscheinlich einfach nur Angst mit einem fürchterlichen Knall aus diesem Traum aufzuwachen und eine herbe Enttäuschung zu erleben. Ich fühle mich wie ein dummer Esel, der nur auf Deinen Gefühlen herumgetrampelt ist.“
Bevor ich weitersprechen konnte spürte ich wie sie meine linke Hand mit ihrer rechten berührte und dann vorsichtig mit beiden Händen umschloss.
Da ich mich schon während meiner Ansprache um Kopf und Kragen geredet hatte und ich gespürt hatte, wie die Leidenschaft meine Vernunft Wort für Wort niedergerungen hatte, brachen nun auch die letzten Dämme.
Sie flüsterte lediglich „Para-dis“. Obwohl das nur ein relativ kleiner Extrakt meiner ausführlichen Ansprache gewesen war, war ich doch etwas stolz offensichtlich auf diesem Wege das Eis gebrochen zu haben.
Ich begann sie ganz vorsichtig zu umarmen und da ich keinen Widerstand fühlte begann ich sie leidenschaftlich zu küssen, was sie übrigens mit der gleichen Leidenschaft erwiderte.
Wir genossen dieses wunderbare Gefühl lange und ausgiebig.
Da ganz in der Nähe noch eine Parkbank frei war zog mich Natascha in diese Richtung und wir setzten uns, um die begonnenen Zärtlichkeiten fortzusetzen.
Sämtliche Nervosität war nun verflogen. Im Vergleich zur vorangegangenen Nacht war nun ohne Einfluss von Alkohol alles viel reeller aber nicht weniger berauschend. Obwohl wir fast ausschließlich mit zärtlichen Berührungen und Küssen beschäftigt waren kam es auch zu einer ansatzweisen Konversation.
Diese bestand darin, dass wir Dinge und Worte in den Sand vor der Parkbank zeichneten. Auf diesem Weg fand ich heraus, dass ihr Nachname Sobolewska war und dass sie in einem achtstöckigen Hochhaus in einer Vorstadt von Bialystok bei ihrem Onkel Kazik und ihrer Tante Kristina wohnen durfte. Dafür war sie den beiden auch unheimlich dankbar.
Natascha’s Heimat war in den Masuren. Dieser Landstrich wird auch die Masurische Seenplatte genannt, da sich hier ein See neben dem anderen befindet. Diese Region ist bekannt für sanften Tourismus und kann mit zahlreichen Naturschutzgebieten und einem großen Fischreichtum aufwarten.
Da es für Natascha in den Masuren keine Arbeit gab, war sie gezwungen in der Stadt arbeiten zu gehen. Ihr Vater war wohl vor kurzer Zeit gestorben und ihre Mutter arbeitete in Amerika um Natascha und ihren Bruder mit Geld zu unterstützen.
An dieser Stelle mussten wir unsere Konversation wieder unterbrechen, da uns ein weiterer Gefühlsaufbruch überwältigte und wir uns erneut in die Arme fielen und uns einfach nur vor lauter Glückseligkeit liebkosten und küssten.
Anschließend sagte Natascha folgenden polnischen Satz:: „Musimy chyba teraz wrócic.“ Hieraus entwickelte sich ein erstes Missverständnis, das ein Beispiel für weitere war: Sie wollte sagen, dass wir jetzt zurückgehen sollten.“ Ich glaubte jedoch als einziges Wort nur „teraz - Terrasse“ zu verstehen und fragte mich warum in aller Welt sie jetzt zu irgend einer Terrasse gehen wolle und vor allem wo sich denn diese ominöse Terrasse befinde.
In der folgenden Diskussion, die wieder von Zeichnungen im Parksand und viel Gelächter begleitet war, kamen wir zwar auf keinen grünen Zweig, stellten aber fest, dass das überhaupt kein Problem war. Später sollte sich übrigens herausstellen, dass das polnische Wort „teraz“ im Deutschen einfach nur „jetzt“ heißt.
Einzig und allein wichtig war in diesen Momenten, dass wir diese sprachlichen Verstrickungen in vollen Zügen genießen konnten und sie zwar eine sonderbare Art von Konversation aber eben auch Konversation darstellten.
Nachdem wir nun diese Diskussion erfolglos abgeschlossen hatten machten wir uns bereit zum Aufbruch. Natascha nahm nun meinen rechten Arm und bedeutete mir ihn um sie zu legen, was ich auch bereitwillig tat. Selig schlenderten wir zurück zur Disco.
Dort angekommen überschlugen sich die Jungs mit Fragen: „Wo warst Du denn so lange. Wir haben Dich schon gesucht?“, „Na, seid Ihr jetzt zusammen?“ oder „Bist Du jetzt der nächste, der von allen guten Geistern verlassen wurde?“ Da alle Fragen ohnehin einen eher frotzelnden Hintergrund hatten, winkte ich nur ab oder gab lediglich einen kurzen Kommentar ab.
Da inzwischen einige Zeit verstrichen war, nutzten Natascha und ich nun die Zeit umso mehr um intensiv zu tanzen. Auch Elena schaffte es immer wieder Manuel auf die Tanzfläche zu locken. Erst spät fuhren wir alle wieder zurück zu unseren Ferienhäuschen. Nachdem wir aus den Autos ausgestiegen waren, begleiteten Manuel und ich die beiden Mädchen und Wojtek noch zu ihrem Haus.
Dort angekommen verabschiedete sich Wojtek artig und ging schon voraus.
Im folgenden Gespräch klärte sich dann auch warum Natascha bei der Verabschiedung am vergangenen Morgen so ablehnend gewesen war. Da sie mit Onkel und Tante unterwegs war wollte sie besonders folgsam sein und nicht schon tagsüber ausscheren und dann noch mit deutschen Jungs.
Da sie nun aber selbst erschrocken war welche Wirkung ihre Ablehnung erzielt hatte, willigte sie ein zusammen mit Elena zu versuchen für den folgenden Tag „frei“ zu bekommen. Damit hätten wir den ganzen Tag zur Verfügung und könnten gemeinsam etwas unternehmen. Beide Mädchen versprachen sich direkt nach dem Frühstück bei uns zu melden.
Bei dieser Gelegenheit erfuhren wir auch gleich noch eine schockierende Nachricht. Die Abfahrt der Nowakowskis zurück nach Polen war für den übernächsten Tag also einen Dienstag vorgesehen.
Wir selbst würden noch die restliche Woche am Balaton bleiben und wir hatten gehofft, dass dies bei den beiden Mädchen auch so sein würde. Damit blieb uns lediglich noch ein ganzer Tag und ein Vormittag.
Da es inzwischen bereits nach 2.00 Uhr war und wir den kommenden Tag in vollen Zügen genießen wollten verabschiedeten wir uns inniglich von unseren Angebeteten und machten uns mit der traurigen Nachricht im Gepäck auf den Heimweg.
Kapitel 13 Zweisamkeiten
Am nächsten Morgen hatten es Manuel und ich sehr eilig unser Frühstück zu uns zu nehmen und uns dann aus unserer Clique zu verabschieden. Beim Gehen stimmten unsere Freunde noch das Lied an:
„In einem Polenstädtchen da fand ich einst ein Mädchen. Sie war so schön. Sie war das allerschönste Kind, das man in Polen find, aber nein, aber nein sprach sie, ich küsse nie.“
So langsam werden unsere Freunde etwas senil, meinst Du nicht auch?“ witzelte ich an Manuel gerichtet. Er erwiderte: „Das ist der reine Neid. Die einen sind neidisch weil sie schon vergeben sind. Die anderen weil sie noch keine Tussi oder keinen Freund abgekriegt haben.“
Bei Nowakowskis angekommen fielen uns Elena und Natascha um den Hals und wir machten uns gut gelaunt auf den Weg an den Strand. Der Balaton zeigte sich an diesem August-Tag von seiner schönsten Seite und da die Wassertiefe sehr gering war und man sehr weit in den See hineinlaufen konnte, war er für allerlei Spiele hervorragend geeignet. Mit dem mitgebrachten Ball konnten wir uns zunächst hervorragend austoben und im Wasser Volleyball, Fußball oder Prellball spielen, wobei es natürlich nie um Sieg oder Niederlage ging, sondern rein um den Spaßeffekt.
Das Mittagessen nahmen wir an einer Strandbar zu uns. Am Nachmittag war dann Sonnenbaden angesagt. Selbstverständlich suchten wir bei allen Aktivitäten den engen Körperkontakt, wie sich das bei frisch Verliebten gehört.
Die Verständigung war über Elena relativ unproblematisch. Immer wieder war das beherrschende Thema die Abreise von Nowakowskis bereits am kommenden Tag. Wir versuchten die beiden Mädchen zu bearbeiten, dass sie vielleicht noch bleiben könnten. Aber das schien wohl vollkommen unmöglich da bei Natascha der Urlaub zu Ende ging und Elena wieder zur Schule musste.
Also beschlossen wir wenigstens noch den Abend ausgiebig miteinander zu verbringen. Da unsere Clique für den Abend Bekannte zu einer Feier eingeladen hatte, die zu dieser Zeit ebenfalls ihren Urlaub am Balaton verbrachten, beschlossen wir Elena und Natascha ebenfalls einzuladen. Allerdings planten wir die Feier früher zu verlassen um am letzten Abend noch einige Zeit für uns zu haben.
Leider verflog die Zeit an diesem Abend viel zu schnell. Zunächst waren unsere beiden polnischen Mädchen und die ungarische Freundin von Gregor die Attraktionen für unsere Besucher. Allerdings machten wir uns dann gegen 23.00 Uhr vom Acker.
Wir versuchten einen letzten Spaziergang an den Balaton bei angenehm milden Temperaturen zu genießen. Allerdings überfiel uns immer wieder die Wehmut über die baldige Abreise und die scheinbare Aussichtslosigkeit unserer Beziehungen.
Die beiden Mädchen schrieben uns ihre Adressen auf und schlugen vor, dass wir sie irgendwann in Polen besuchen sollten.
Für uns schien eine solche Reise ein Ding der Unmöglichkeit. Wir kannten die Probleme und Schikanen, die Westdeutsche hatten, wenn sie in die DDR einreisen wollten. Wir hatten dies ja schon beispielhaft bei unserer Einreise nach Ungarn kenngelernt.
Wir gingen zu diesem Zeitpunkt noch davon aus, dass diese Repressalien an der Grenze zu Polen ähnlich dramatisch seien und dass man als Westdeutscher dann im weiten fremden Polen und mit der bekannten Sprachbarriere vollkommen verloren sein müsse.
Darüber hinaus wussten wir überhaupt noch nicht wie man über die damalige DDR oder vielleicht besser über die damalige Tschecheslowakei weiter nach Polen gelangen sollte. Außerdem war das - noch vor Zeiten des Internets - in kurzer Zeit auch nicht in Erfahrung zu bringen. Wir saßen deshalb bis in die frühen Morgenstunden zusammen und versprachen uns zu schreiben.
Auch stellten Manuel und ich Überlegungen an die polnische Sprache zu lernen während sich Elena und Natascha bemühen wollten die deutsche Sprache zu lernen. Alles in allem waren wir alle ziemlich niedergeschlagen, da wir ahnten, dass all diese Versprechungen und Absichtserklärungen nur auf wackeligen Beinen standen und unsere Beziehungen drohten wie Kartenhäuser zusammenzubrechen.
Wir begannen zu fluchen auf den Sozialismus und den Kapitalismus, auf die polnische und die deutsche Sprache, auf die große Entfernung zwischen dem Südwesten Deutschlands und auf dem Nordosten Polens, auf Hitler und Stalin, die deutsche Wehrmacht und die rote Armee, auf die deutschen und die polnischen Gesetzgeber und nicht zuletzt auf alle Grenzer zwischen Deutschland und Polen.
Das einzige auf das wir nicht fluchten waren die polnische Währung Zloty und die deutsche D-Mark, denn diese hatten uns ja durch das Tauschen über den Umweg Forint zueinander geführt.
Aber dann war es auch wieder gut und wir verabschiedeten uns zu früher Morgenstunde aber nicht ohne uns für den frühen Vormittag nochmals zu verabreden. Da die Nowakowskis am Nachmittag abreisen sollten, konnten wir uns nochmals für einige Stunden sehen.
Kapitel 14 Schmerzhafter Abschied
Der Tag des Abschieds war gekommen. Bereits um 7.30 Uhr schälte ich mich aus dem Bett.
Wieder einmal sollte sich unsere Clique als ein grandioser Rückhalt entpuppen. Es begann mit der Frage Rita’s an Manuel und mich: „Habt Ihr denn wenigstens ein kleines Abschiedsgeschenk?“
Sie war sichtlich gerührt von den romantischen Beziehungen: Selbstverständlich mussten wir verneinen mit der Begründung, dass doch überhaupt keine Zeit gewesen sei ein solches zu beschaffen.
Also beschlossen wir, dass bei den morgendlichen Einkäufen noch zwei Blumensträuße beschafft werden mussten und zwar zwei schöne Rosensträuße. Gemacht getan. Unser Einkaufstrupp für diesen Tag, es waren wohl Rüdiger und Gerald, übernahm diese Aufgabe. Wir selbst wurden von dieser Aufgabe befreit, da unsere Angebeteten jeden Moment kommen könnten.
Allerdings waren Rüdiger und Gerald deutlich vor den beiden Mädchen wieder zurück und präsentierten stolz ihren Einkauf. Sie hatten auf dem Markt 30 wunderschöne rote Rosen erstanden.
Für uns alle unverständlich schlug aber Annette die Hände über ihrem Kopf zusammen und erklärte: „So könnt Ihr diese aber nicht überreichen. Die müssen wenigsten vernünftig zu einem Strauß gebunden werden.“ Dazu muss man wissen, dass Annette gerade eine Ausbildung als Floristin absolvierte und das Binden von Blumensträußen bereits zu ihrem Tagesgeschäft gehörte.
Sie besorgte sich deshalb im Garten noch Füllkraut und band zwei wunderschöne Rosensträuße. Diese Geste von Annette konnte man über die hervorragende fachmännische Qualität hinaus nicht hoch genug einstufen. Denn man musste bedenken, dass sie einen der beiden Sträuße für Manuel gebunden hatte, der sich ja gerade einige Tage zuvor von ihr getrennt hatte.
Schließlich erschienen Elena und Natascha. Sie begrüßten uns zärtlich, entschuldigten sich für ihr spätes Erscheinen, aber da sie ihr ganzes Gepäck auch gleich im Lada eines guten Bekannten der Familie verstauen mussten, hatte dies etwas länger gedauert.
Außerdem hätten sie noch mit Kristina etwas besprochen, das interessant werden könnte.
Wie es der Zufall wolle, sei Kristina in etwa vier Wochen nochmals in Ungarn. Es wäre daher möglich, dass sie, Elena und Natascha, mit dem Zug ebenfalls hierher nach Ungarn kommen könnten und dass sie dann mit Kristina wieder zurückfahren würden nach Polen.
Manuel und ich brachen beinahe in Jubel aus und waren von der Idee sofort begeistert. Er sagte: „Da müsste ich mich dann sofort nach unserer Rückkehr um Urlaub kümmern.“ Allerdings versuchte Elena uns klarzumachen, dass diese Reise noch von einigen Faktoren abhinge. Auch der Zeitpunkt war noch nicht zu hundert Prozent fest.
Durch die Sprachbarriere und mit Hilfe eines Notizblockes dauerte es etwas mehr als eine Stunde, bis sich folgendes herauszukristallisieren schien. Elena und Natascha würden wohl am 21. August 1985 nach Budapest kommen. Es sei aber wohl möglich, dass die Ankunft auch am Folgetag oder am übernächsten Tag erfolgen könne. Dies würden sie aber dann versuchen uns noch mitzuteilen.
Nun ging es aber noch um einen zweiten Punkt. Wo solle man sich denn in Budapest treffen? Ein weiteres Blatt im Notizblock wurde aufgeschlagen.
Als Treffpunkt wurden angesprochen das Schloss, verschiedene Kirchen, eine der sechs Brücken über die Donau und vieles mehr.
Schließlich schlug Elena aber eine Insel auf der Donau vor. Diese habe den Namen einer Blume, die auf polnisch „margerita“ heiße. Wir schlossen daraus, dass es sich um die „Margeriten-Insel“ handeln musste. Dieser Name kam uns auch irgendwie bekannt vor.
Wie sich jedoch noch herausstellen sollte handelte es sich bei der Insel eigentlich um die Margeretheninsel, die nach dem Namen einer Tochter eines der ungarischen Könige benannt worden war, die hier als Nonne ihre letzten Lebensjahre verbracht hatte.
Für uns war sie mit der Vorstellung einer Blumeninsel einfach nur die Margeriteninsel. Nun ging es aber noch darum wo man sich auf der Insel treffen wolle. Nach einer weiteren ausführlichen Erörterung stellte sich heraus, dass es auf der Margeriteninsel an einer prägnanten Stelle nahe des südlichen Endes einen großen Platz mit einem auffälligen Denkmal oder einem Brunnen in seiner Mitte gebe. In diesem Falle sollte sich noch zeigen, dass es sich hierbei um das Zentenariumsdenkmal, das zum Anlass der Zusammenlegung der Städte Buda, Pest und Obuda im Jahre 1873 erbaut worden war, handelte. Dort könne man sich treffen.
Da unsere Zeit inzwischen schon knapp geworden war, vereinbarten wir in aller Eile uns an dieser Stelle am 21. August um 10.00 Uhr morgens zu treffen. Sollte dies nicht klappen, sollte der nächste Versuch um 17.00 Uhr anvisiert werden. Sollte auch dieser erfolglos bleiben, dann würde der nächste Versuch am kommenden Morgen um 10.00 Uhr erfolgen. Da wir keine Zeit mehr gehabt hatten dies auch vernünftig aufzuzeichnen war uns nicht klar ob die beiden das so richtig verstanden hatten. Wir hofften daher, dass es mit dem ersten Treffpunkt am 21. August klappen würde.
Ich hatte diesen Vorschlag unterbreitet, da ich in einem Spionage-Thriller gelesen hatte, dass zwei Agenten auf diese Art ein Treffen in London vereinbart hatten. In diesem Thriller war der genaue Zeitpunkt der Übergabe von geheimen Dokumenten nicht genau vorher bestimmbar und deshalb hatte man sich auf zusätzliche Ersatztermine geeinigt.
Kazik Nowakowski war schon etwas ungeduldig und drängte auf die Abfahrt. Er erinnerte die Mädchen an die genaue Abfahrtszeit des Zuges und tippte dabei auf seine Armbanduhr.
Annette drückte uns heimlich die Blumensträuße in die Hand. Wir überreichten diese unseren Angebeteten und küssten sie. Hierbei flossen nicht wenige Tränen.
Da die Zeit schon relativ knapp geworden war blieb nicht viel Zeit für allzu lange Abschiedszeremonien. Es reichte gerade noch um die ganze Familie zu drücken und zu küssen und schon kurze Zeit später durften wir ihnen hinterher winken.
An den verbleibenden drei Tagen unseres Urlaubs in Ungarn schmiedeten Manuel und ich Pläne was in den kommenden vier Wochen alles zu tun war.
Und wenn wir keine Pläne schmiedeten, dann träumten wir von der kurzen aber überaus schönen Zeit mit den beiden Mädchen.
Und wenn wir nicht träumten, dann fluchten wir auf den Sozialismus und den Kapitalismus, auf die polnische und die deutsche Sprache, auf die Entfernung zwischen dem Südwesten Deutschlands und dem Nordosten Polens, auf Hitler und Stalin, die deutsche Wehrmacht und die rote Armee, auf die deutschen und die polnischen Gesetzgeber.
Wir fluchten schlicht auf alle, die in irgendeiner Weise Schuld daran hatten, dass hier mitten in Europa ein eiserner Vorhang entstanden war, der nicht nur als materielle Barriere sichtbar wurde sondern auch zahlreiche weitere Barrieren nach sich zog. Im Einzelnen fühlten wir uns als Opfer der sprachlichen und kulturellen Barrieren, die unsere Beziehungen tagtäglich gefährdeten und in Frage stellten.
Und wenn wir nicht fluchten, dann erwischten wir uns gelegentlich dabei, dass wir lachten über die vielen lustigen Geschehnisse und Missverständnisse, die wir mit den beiden Mädchen erlebt hatten.
Jedenfalls beklagten sich unsere Freunde, dass wir etwas seltsam daher kämen und irgendwie nicht richtig anwesend seien. Wir seien des öfteren auf eine Art verklärt und man müsse uns gelegentlich mehrmals ansprechen bis man ein Lebenszeichen bekomme.
Wir gelobten zwar feierlich Besserung, aber dieser Zustand sollte sich in den kommenden vier Wochen nicht gravierend ändern.
Kapitel 15 Zeit der Entbehrung
Nachdem wir nach Deutschland zurückgekehrt waren gab es viel zu tun. Zunächst musste der nächste Urlaub geplant werden, was bei unseren jeweiligen Vorgesetzten nicht gerade Begeisterungsstürme auslöste.
Dann mussten wir uns ein polnisches Wörterbuch, ein Übungsbuch für Polnisch und natürlich eine polnische Landkarte kaufen.
Beim ersten Studium der Landkarte bestätigten sich unsere schlimmsten Befürchtungen. Die Strecke nach Bialystok führte tatsächlich diagonal durch Süddeutschland, die damalige DDR und dann praktisch diagonal durch ganz Polen. Wir mussten obendrein feststellen, dass es zwar durch die DDR Autobahnen gab, aber in Polen fast die ganze Strecke über Landstraßen führte. Diese Erkenntnis trug nicht gerade zu unserer Erheiterung bei.
Die Aufgabe eine neue Sprache zu lernen hatte meinen vollen Ehrgeiz geweckt. Eigentlich war ich sogar gezwungen dazu, da ich nicht wie Manuel die Drittsprache Englisch zur Verständigung mit Natascha nutzen konnte.
Hierbei sollte mir der Latein-Unterricht aus früheren Tagen eine große Hilfe sein. Nicht weil ich in Latein eine große Leuchte gewesen wäre, sondern weil ich die Grundsystematik von Deklination und Konjugation aus Latein auch beim Lernen der polnischen Sprache sehr gut verwenden konnte und der Satzbau sich in beiden Sprachen sehr ähnelt.
Größere Probleme bereiten einer deutschen Zunge die zahlreichen Zischlaute und verschiedene Nasallaute basierend auf „a“ und „e“.
Ich ließ mich jedoch von anfänglicher Frustration nicht abbringen und kämpfte mich nach und nach über erste Grammatikübungen und Sprechübungen zum ersten Kurztext. In dieser Systematik, nämlich „Grammatik – Sprechübungen – Kurztext“ waren alle Lektionen in dem Übungsbuch aufgebaut.
Wenn man dann beim Lesen des Kurztextes die Inhalte schon relativ gut verstand stellte sich ein Erfolgsergebnis ein. Da sich also das Lernen und ein Erfolgserlebnis abwechselten, gab es immer einen Antrieb weiterzupauken.
Schließlich war der große Wunsch sich möglichst schon beim folgenden Urlaub zumindest ansatzweise mit meiner „Traumfrau“ auf polnisch verständigen zu können.
Ein weiterer Grund für mich polnisch zu lernen war, dass ich in der Woche mindestens einen Brief an Natascha schreiben wollte um ihr eine Freude zu bereiten. Die Inhalte waren zu Beginn noch sehr banal wie:
„Jestes ladna – Du bist schön
Jestes cudowna – Du bist zauberhaft
Jestes piekna – Du bist sehr schön“
Obwohl nicht immer grammatikalisch richtig, wollte ich ihr mit den Briefen zeigen, dass ich es absolut ernst mit ihr meinte.
Da Manuel und ich noch furchtbar wenig über unsere Mädchen wussten schossen uns bei den gemeinsamen Lagebesprechungen alle möglichen Gedanken durch den Kopf. Wir malten uns aus wie die beiden ständig mit polnischen Jungs in Kontakt kamen und deren hartnäckigen Avancen ausgesetzt waren.
Manuel formulierte es einmal so: „Das kann doch nicht sein, dass die polnischen Jungs so blind sind. Ich wette, dass sich da ständig welche an unsere Prachtweiber ranschmeißen und wir sitzen hier im fernen Deutschland und drehen Däumchen.“
Kapitel 16 Das Einreiseverbot
An einem Montagmorgen Anfang August saß ich an meinem Arbeitsplatz im Büro und sortierte missmutig meine Unterlagen um meinen Wochenplan aufzustellen.
Am Abend zuvor hatten wir mit unserer Clique das Fest des örtlichen Fußballvereins besucht. Das Fest hatte in der Region schon einen legendären Ruf und dauerte eine volle Woche. Wie immer war sehr viel Alkohol im Spiel und auch an diesem Morgen hatte man noch ganze Gruppen von Alkoholleichen johlend durch die Gassen ziehen sehen.
Für Manuel und mich war das Fest eine weitere Gelegenheit gewesen, bei mehreren Humpen Bier Trübsal zu blasen über unsere verstrickte Situation und die Tatsache, dass „unsere Mädchen“ quasi am anderen Ende der Welt wohnten und so unerreichbar schienen.
Wir hatten uns in unserer Verzweiflung mal wieder ausgemalt, wie sie mit ihren Freunden ausgingen, sich in Kneipen und Diskotheken vergnügten und der ständigen Angriffen der polnischen „Konkurrenz“ ausgesetzt waren.
Unser Selbstmitleid war lediglich gemildert worden durch die Aussicht des baldigen Treffens in Budapest.
Eine Hochstimmung wie bei unseren Freunden und den Besuchern des Fußballfestes hatte sich bei uns nicht einstellen wollen und so hatten wir uns kurz nach Mitternacht auf den Heimweg gemacht.
Während ich noch über das vergangene Wochenende und die grüblerischen Gespräche mit Manuel nachgrübelte fiel es mir schwer mich auf die Arbeit zu konzentrieren. Ich wurde in meinen trüben Gedanken durch das Klingeln des Telefons aufgeschreckt.
Ich nahm den Hörer ab und meldete mich: „Stadt Weinheim. Sie sprechen mit Herrn Müller. Womit kann ich Ihnen dienen?“ Es fiel mir schwer eine freundliche Stimme aufzulegen.
Am anderen Ende meldete sich eine männliche Stimme und ich vernahm in gebrochenem Deutsch: „Guten Morgen. Hier ist ungarische Botschaft in Stuttgart. Mein Name ist Zoltan Puskas. Sprechen dort David Müller?“ Ich bestätigte: „Ja, der bin ich,“ und spürte wie die Anspannung in mir wuchs, da der Anruf mit unserer bevorstehenden Ungarn-Fahrt zusammenhängen musste. Der Anrufer fuhr fort: „Haben Sie Antrag auf Visum zu Ungarn gestellt?“ Ich bestätigte erneut, während ich eine gewisse Verunsicherung verspürte.
Er wurde nun belehrend: „Kennen Sie nicht Einreisebestimmungen von Ungarn? Nach Ausreise darf deutscher Bürger sechs Monate nicht wieder einreisen in Ungarn. Einreise ist also möglich erst in Januar kommende Jahr.“
Ich war nicht in der Lage zu sprechen. Der Schreck war mir in die Glieder gefahren und ich konnte im ersten Moment keinen klaren Gedanken fassen. Die Reise nach Ungarn sollte in elf Tagen erfolgen. Manuel und ich sehnten diesen Tag herbei in der Hoffnung das Wiedersehen mit unseren Mädchen würde gelingen und genauso paradiesisch verlaufen wie unsere erste Begegnung am Balaton.
Ich stammelte nun ungläubig in den Hörer: „Aber das ... das kann doch gar nicht sein. Warum stand kein Wort davon im Visum-Antrag? Das ist vielleicht eine Regelung für Verbrecher, aber doch nicht für harmlose Bürger aus West-Deutschland.“
Der Botschaftsmitarbeiter blieb beharrlich: „Nein, nein. Das ist falsch. Diese Regeln gelten für alle Menschen aus Deutschland. Sie müssen neue Antrag stellen für Einreise vielleicht in Januar. Ich müssen Ihren Antrag vernichten. I’m sorry. Bitte sagen auch Bescheid Ihre Freund Manuel Heibter.”
Ich war vollkommen fassungslos und stotterte weiter: „Aber.....aber wir sind verabredet in....in Budapest. Wenn wir nicht kommen werden unsere Mädchen vergeblich aus uns warten und wir werden sie vielleicht nie im Leben wiedersehen.“
Der Anrufer antwortete kurz und mit leicht bebender Stimme: „Leider ich nicht helfen kann. Sind Einreisebestimmungen Ungarn sehr streng. Bitte später neue Antrag stellen. Good Bye.“
Nachdem der Angestellte das Gespräch beendet hatte, hielt ich den Hörer noch einige Zeit in der Hand und versuchte den Alptraum, den ich gerade erlebt hatte, zu verarbeiten. Der Schreck saß jedoch zu tief und ich hatte zunächst keinen Schimmer was ich als Nächstes tun sollte.
In meiner Verzweiflung versuchte ich dann Manuel anzurufen, obwohl ich wusste, dass er eigentlich um diese Zeit auf irgendeiner Baustelle sein musste. Er hatte gerade seine Ausbildung als Steinmetz abgeschlossen und hatte nach dem Urlaub im gleichen Betrieb als Geselle angefangen. Gewöhnlich kam er nach 16.00 Uhr nach Hause. Ich bat daher seine Schwester Regina, die das Gespräch angenommen hatte, ihm auszurichten, dass er bitte schnellst möglich zurückrufen solle. Es gehe um unsere Fahrt nach Ungarn und das notwendige Visum.
Die Zeit im Geschäft verging noch langsamer und qualvoller als in den Wochen seit dem Urlaub. Ich wagte niemandem über unseren Lapsus zu berichten. Wie konnten wir auch bei Antragstellung für die Visas eine Regelung übersehen, die eine Wiedereinreise innerhalb eines halben Jahres verbietet?
In der Mittagspause klingelte plötzlich das Telefon. Manuel meldete sich. Er schien völlig aufgelöst zu sein. „Hallo. Ich bin’s. Regina hat mir erzählt, dass es Probleme gibt mit den Visas. Erzähl!“
Ich berichtete ihm über das morgendliche Telefonat mit der Botschaft und über das sechsmonatige Einreiseverbot. Ich spürte förmlich wie Ungläubigkeit und Enttäuschung in ihm hochstiegen. Ich musste ihm mehrmals bestätigen, dass wir definitiv und unter gar keinen Umständen ein Einreisevisum für Ungarn bekommen würden.
Es war wohl in diesen Minuten, dass wir anfingen zu fluchen auf jeden, der an dieser vermaledeiten Situation nur im geringsten Schuld hatte. Wir fluchten über das Innenministerium der Bundesrepublik Deutschland und das ungarische Innenministerium, die diese bescheuerten Einreisebestimmungen ausgehandelt hatten. Doch während wir fluchten stellten wir fest, dass die ganze Misere aus der Historie entstanden war und eigentlich schon im Zweiten Weltkrieg ihren Anfang genommen hatte, da letztendlich der Krieg und die anschließende Neuaufteilung Europas zum Eisernen Vorhang zwischen Ost und West geführt hatte. Also fluchten wir über Hitler und die kriegsführende Wehrmacht und Stalin und seine Rote Armee.
Außerdem fluchten wir über die Sprachbarriere zwischen dem deutschsprachigen Ländern und den slawischen Staaten und die Tatsache, dass unsere Beziehungen auch wegen der unzulänglichen Verständigung an einem seidenen Faden hingen. Zu guter Letzt fluchten wir noch auf die große Entfernung zwischen Südwestdeutschland und Nordostpolen mit dem zusätzliche Transfer durch die DDR.
Inzwischen war die Mittagspause verflogen. Während Manuel spontan beschloss den Nachmittag frei zu nehmen musste ich im Büro die Stellung halten.
Eigentlich hatte ich ebenfalls Lust heimzugehen, da ich ohnehin keinen Kopf für Papierkram, Zahlen und dienstliche Fachgespräche hatte. Da ich aber darauf angewiesen war, dass mich meine Kollegen bald für eine zusätzliche Woche vertreten würden, musste ich mich bis dahin durchbeißen.
Bevor Manuel und ich unser Telefonat beendeten verabredeten wir uns noch für diesen Abend auf dem Fußballfest. Dieses endete alljährlich immer Montags mit dem Endspiel des Fußballturniers, das über die ganze Festwoche ausgerichtet wurde.
Doch so viel war jetzt schon klar. Der Fußball würde uns an diesem Abend überhaupt nicht interessieren. Vielmehr würden wir unseren Frust im Bier ertränken und unsere geschunden Seelen beweihräuchern.
Kapitel 17 Neuigkeiten am Biertisch
Zu meinem Erstaunen war an diesem Abend unsere ganze Clique auf dem Fest erschienen.
Wie nahmen an einer Biergarnitur Platz und während die Jungs Bier bestellten, bevorzugten die Mädchen ein Gläschen Wein.
Interessanter Weise hatten in der Zeit nach dem Urlaub Rüdiger und die hübsche Annette zusammengefunden nachdem diese wohl endgültig eingesehen hatte, dass Manuel andere Wege eingeschlagen hatte. Auch Gregor wusste Positives zu berichten. Er erwartete in Kürze Besuch von seiner ungarischen Flamme Esther, die er nach Deutschland eingeladen hatte.
So hatten in diesem Ungarn-Urlaub bis auf Siegfried alle eine Partnerin oder einen Partner gefunden.
Siegfried hatte an diesem Abend einen amerikanischen Kollegen aus seiner Musikband mitgebracht. Es handelte sich hierbei um den Bass-Gitarristen Lewis. Lewis Eltern waren beide bei den amerikanischen Streitkräften und wohnten deshalb schon seit Jahren in Heidelberg.
Es ist müßig zu erwähnen, dass die fünfköpfige Band, in der die beiden mitspielten ausschließlich Hard Rock-Musik spielte.
Lewis war offensichtlich ein sehr lustiger Zeitgenosse und nach seinen ersten beiden Humpen Bier begann er sich in gebrochenem Deutsch in die Gespräche einzumischen.
Eigentlich hatte ich in meiner frustigen Stimmung kein großes Interesse ihn näher kennen zu lernen, aber mit seinen Rasterlocken und seiner lauten Stimme war er eine so auffällige Erscheinung, dass man immer wieder auf ihn aufmerksam werden musste.
Unsere Freunde schwelgten in Erinnerungen an den vergangenen Urlaub am Balaton während im Hintergrund das Endspiel des Fußballturniers lief.
Gerald schwadronierte gerade: „Bei unseren polnischen Freunden würden jetzt schon die Wodka-Flaschen auf den Tischen stehen und in den nächsten Minuten würden sie anfangen Volkslieder zu schmettern.“ Rüder fügte hinzu: „Ja, und später gegen Mitternacht würden sie auf den Tischen tanzen. Die wissen halt wie man feiert.“
Manuel und ich konnten diese freudige Stimmung nicht teilen, da sie bei uns überlagert waren von starkem Trennungsschmerz, der durch die Mitteilungen des Tages noch eine deutliche Steigerung erfahren hatte. Wir hatten uns bewusst an das Ende des Tisches gesetzt um unsere missliche Lage zu besprechen. Wie zu erwarten fielen uns keine brauchbaren Vorschläge ein, wie wir unsere Situation hätten verbessern können und wir versuchten weiter unsere Pein im Bier zu ertränken.
Es war in diesen Tagen keine Besonderheit, dass sich unsere Freunde über uns lustig machten. Allerdings war das Gespött im weiteren Verlauf dieses Abend besonders penetrant. Gerald und Rüdiger konnten gar nicht genug davon kriegen uns fertig zu machen. Sie machten Bemerkungen wie: „Das hat man davon, wenn man sich an arme wehrlose polnische Mädchen heranmacht.“ Der Einzige, der sich bei den Frotzeleien zurückhielt, war Gregor, der mit seiner ungarischen Freundin ähnliche Schwierigkeiten durchlebte wie wir.
Alle übrigen schaukelten sich förmlich hoch in ihren spöttischen Bemerkungen. Zu guter Letzt stimmten sie mal wieder das Lied „in einem Polenstädtchen, da gab es mal ein Mädchen“ an und brachen anschließend in schallendes Gelächter aus.
Die Situation war besonders peinlich, da inzwischen so ziemlich alle Festbesucher auf uns aufmerksam geworden waren und sie sich teilweise schon über das Gegröle amüsierten.
Als sich der Lärmpegel an unserm Tisch wieder etwas gelegt hatte schlug ich Manuel vor einen Brief nach Polen zu schreiben um den beiden Mädchen über die abgelehnten Visen zu berichten. Die große Gefahr hierbei war jedoch, dass der Brief nicht rechtzeitig bei ihnen ankommen würde. Eine Telefonnummer von den beiden hatten wir auch nicht. Wir wussten nicht einmal ob sie überhaupt ein Telfon besaßen. Auf Grund der mangelhaften Verständigung war ein Telefonat auch bisher noch kein Thema gewesen.
Im Hintergrund fiel im Endspiel gerade ein Tor und die Zuschauer klatschten Beifall.
Unsere Kumpels begannen nun angeregt über Fußball zu diskutieren. Gerald tönte gerade so laut, dass man es nicht überhören konnte: „Wo wir gerade bei Ungarn und Fußball sind. Das ultimative Fußballspiel war das legendäre Endspiel der Weltmeisterschaft 1954 zwischen Ungarn und Deutschland in Bern. Ungarn hatte schon 2:0 vorne gelegen und dann hat Deutschland am Ende noch sensationell 3:2 gewonnen. Das erste Tor für Ungarn hat damals Ferenc Puskas geschossen.“
Da ich mich eigentlich mit Manuel unterhielt bekam ich die Worte von Gerald nur in Bruchstücken mit aber irgendwie klingelten sie mir im Ohr.
Manuel fragte nun: „Was hast du? Hör doch nicht auf das kindische Gelabere dieser Rasselbande.“
Rüdiger fügte nun betont laut und prägnant hinzu: „Und das zweite Tor für Ungarn erzielte Zoltan Czibor.“
Ich machte nun eine abwehrende Handbewegung in Richtung Manuel er möge einen Moment innehalten und schaute in Richtung unserer Freunde: „Moment, Moment. Mir dämmert da etwas. Zoltan Czibor und Ferenc Puskas. Aus Zoltan Czibor und Ferenc Puskas ...........wird Zoltan ...Puskas.“ Auch Manuel blickte nun in Richtung der anderen.
Diese nickten und wiederholten im Chor: „Zoltan Puskas.“
Ich schlug mir mit der Hand auf die Stirn.
Manuel konnte mit diesem Namen noch nichts anfangen, da ich ihm diesen noch nicht genannt hatte: „Kann mit mal einer erklären was hier los ist.? Was haben die Spieler eines blöden Fußballspiels aus dem Jahre 1954 mit unseren heutigen Problemen zu tun?“
Ich begann zu erklären: „Zoltan Puskas hieß der Mtarbeiter der ungarischen Botschaft in Stuttgart, der mich heute morgen angerufen hat. Wenn ich es mir genau überlege hatte er einen ungewöhnlichen und so gar nicht slawischen Akzent und benutzte einige englische Worte. Verdammt, ich hätte gleich drauf kommen müssen.“
Manuel verstand nach und nach die Zusammenhänge und blickte nun auf mich: „Und du meinst, die da stecken hinter der ganzen Geschichte mit dem Konsulat?“ Er zeigte mit dem Daumen auf unsere Clique.
Ich antwortete: „Ich meine es nicht nur. Ich weiß es. Ich habe mich noch gewundert, dass dieser Puskas wusste, dass wir beide Freunde sind, obwohl wir unsere Visa - Anträge getrennt eingereicht haben.
Jetzt hatte Manuel vollends begriffen: „Aber das könnte ja heißen, dass dieser vermeintliche Zoltan Puskas auch an diesem Tisch sitzt.“
Ich richtete meinen Blick auf unsere Freunde und dann auf Lewis. Er hatte wie alle anderen ein breites Grinsen im Gesicht.
Ebenfalls in die Runde blickend raunte Manuel: „Ihr habt uns verarscht!“ In diesem Moment platzte das Lachen aus ihnen heraus und wir saßen da wie zwei begossene Pudel.
Als sich unsere Freunde wieder beruhigt hatten berichteten sie uns, dass die Jungs in der vergangenen Nacht durchgefeiert hatten und am Morgen beim Frühstück auf die Idee gekommen waren uns diesen Streich mit dem Einreiseverbot für Ungarn zu spielen. Lewis, der ebenfalls gut alkoholisiert gewesen war, war begeistert von der Idee einen strengen Mitarbeiter der ungarischen Botschaft zu spielen. Er hatte allerdings große Mühe gehabt sich zusammen zu reißen und nicht lauthals heraus zu lachen, als er bemerkte wie ernst ich seine Visa - Ablehnung nahm.
Manuel und ich wussten nicht ob wir lachen oder weinen sollten. Einerseits waren wir dem Schwindel sehr leichtgläubig aufgesessen, andererseits jedoch waren wir auch überaus erleichtert, dass unserer Reise nach Ungarn wohl nichts im Wege stand.
Das folgende Bier schmeckte dann auch gleich besonders gut und wir drohten unseren Freunden sie künftig in unsere Flüche über den Sozialismus und den Kapitalismus und unsere missliche Lage mit einzubeziehen.
Abschließend stießen wir dann noch an auf Ungarn, unseren gemeinsamen Urlaub und all die neuen Beziehungen, die dieser in unserer Clique hinterlassen hatte.
Kapitel 18 Abenteuerliche Anreise
Am 20. August 1987 war es dann soweit. Die Abreise nach Ungarn stand bevor.
Manuel und ich waren vollkommen aufgedreht und voller freudiger Anspannung. Wir malten uns das Wiedersehen mit unseren Angebeteten in den schönsten Farben aus.
Noch am frühen Abend nach der Arbeit brachen wir auf nach Ungarn. Dieses Mal fuhren wir mit dem alten klapprigen, in verschiedenen Grüntönen lackierten Audi 100 von Manuel. Der Audi stammte aus den 70er Jahren und der Motor hatte bereits weit über 200.000 km auf dem Buckel.
Manuel war sehr überzeugt von seinem Auto: „Der Motor hat 2,5 Liter. Den kriegst Du nicht kaputt. Wir müssen uns also keine Sorgen machen. Die Kiste macht garantiert noch mal 100.000 km.“
Tatsächlich schnurrte der Motor genüsslich und zuverlässig bis...na ja... bis kurz nach Wien. Dann begann er zu stottern und kurze Zeit später ging er ganz aus. Manuel ließ den Wagen auf dem Seitenstreifen ausrollen.
In seiner coolen Art brummte er: „Ist sicher nur ’ne Kleinigkeit.“ Wir stiegen aus und öffneten die Fronthaube. Manuel berichtete mir bei dieser Gelegenheit, dass er an dem Wagen schon zahlreiche Reparaturen selbst durchgeführt habe.
Eigentlich wollte er mich mit diesem Hinweis beruhigen und feststellen, dass er die Sache fest im Griff hatte, aber er erreichte bei mir genau das Gegenteil. Ich jammerte: „Hier ist weit und breit keine Werkstatt und es ist drei Uhr in der Nacht. Wie sollen wir denn rechtzeitig am Treffpunkt sein?“
Manuel, der gerade im Motorraum verschiedene Handgriffe ansetzte rief plötzlich triumphierend: „Ich hab’s! Der Keilriemen ist gerissen!“ Ich entgegnete: „Und was gibt es daran so positives?“
Manuel dozierte: „Das ist genau wie beim Menschen, wenn er krank ist. Die richtige Diagnose ist der erste Schritt zu Heilung.“ „Und wo sollen wir jetzt einen Keilriemen herbekommen? Wachsen die in Ungarn auf den Bäumen?“ fragte ich konsterniert.
Manuel schien Gefallen an meiner Hilflosigkeit zu finden und dozierte weiter: „Wir brauchen einen Ersatz für den Keilriemen. Ideal wäre eine Strumpfhose.“ Ich brummte zurück: „Na klasse, vielleicht wachsen die ja auf den Bäumen.“
Manuel kramte völlig unbeeindruckt und mit stoischer Ruhe im Kofferraum bis er eine Art Spanngurt fand. Er schaffte es den Gurt auf die beiden Spulen an der Lichtmaschine und am Akkumulator aufzulegen und zu befestigen.
Nun mussten wir versuchen den Wagen wieder anzuschieben. Da wir an einer leicht abschüssigen Stelle zum Stehen gekommen waren, schoben wir den Audi an und Manuel sprang ins Wagensinnere: Tatsächlich sprang der Motor auch an und wir konnten unter Jubelschreien unsere Fahrt fortsetzen.
Zwar sollte uns der Spanngurt noch mehrmals von den Spulen rutschen. Aber da wir nun die richtige Diagnose schon kannten war die jeweilige Heilbehandlung schnell vollzogen und wir konnten unsere Reise jedes Mal fortsetzen.
Kapitel 19 Am Treffpunkt
Nach den verschiedenen Autopannen trafen wir in Budapest gegen 9.30 Uhr ein. Es blieben uns also streng genommen noch 30 Minuten bis zum vereinbarten Termin.
Anhand der Straßenkarte manövrierten wir uns in Richtung Zentrum und in Richtung Donau. Eine der sechs Brücken über die Donau führte zur Südspitze der Margeriteninsel. Obwohl schon auf der Karte ersichtlich war, dass es auf der Insel keine offiziellen Parkmöglichkeiten gab, wollte es Manuel in unserer Zeitknappheit versuchen das Auto eventuell illegal auf der Insel abzustellen.
Falls das nicht klappen sollte, hätten wir diese zumindest schon mal gesehen und wüssten wie der Zugang auf die Insel aussieht. Die Zeit verstrich.
Die Uhr zeigte 9.45 Uhr.
Nervosität machte sich breit.
„Hoffentlich warten sie auf uns,“ wurde auch mein sonst so cooler Freund so langsam unruhig.
An der Insel angekommen waren dann über alle Zufahrtsverbote aufgestellt und an ein illegales Abstellen war überhaupt nicht zu denken, erst recht nicht aus dem fließenden, dichten Verkehr heraus. Wir waren gezwungen weiterzufahren.
Die Uhr zeigte 10.00 Uhr.
Aus Nervosität wurde helle Aufregung.
„Warum sind wir nicht schon früher losgefahren,“ haderte ich wohlwissend, dass ich im Büro noch bis zur letzten Minute damit beschäftigt gewesen war meinen Schreibtisch freizuschaufeln und Vorgänge abzuschließen.
Auf der Gegenseite der Donau angekommen trieben wir nun im morgendlichen Budapester Stadtverkehr mit und suchten vergeblich nach einer Parkmöglichkeit. Da uns dies entlang der Hauptverkehrsstraße nicht gelang und wir uns wieder weiter von der Donau entfernten entschlossen wir uns links in ein Wohngebiet abzubiegen um dann bei der nächsten Gelegenheit nochmals links abzubiegen um dann wieder hoffentlich zurück in Richtung Donau zu fahren.
„Wenn wir nicht rechtzeitig am vereinbarten Treffpunkt sind, laufen sie uns wieder weg und pfeifen auf die unzuverlässigen Deutschen,“ prophezeite ich.
„Ich brauche einen Parkplatz,“ murmelte Manuel vor sich hin. Er war sichtlich unter Strom und war daher kurz angebunden.
Offensichtlich war in Budapest wie in vielen anderen Städten Europas auch die Anzahl der Autos wesentlich schneller gestiegen als die Anzahl der Parkplätze. Eine legitime Parklücke war also in dem Wohnviertel, das wir nun in Richtung Donau durchquerten, nicht zu finden.
Die Uhr zeigte 10.15 Uhr.
Aus heller Aufregung wurde Verzweiflung.
Viele der Bewohner parkten aus purer Not ihre Autos bereits in Kreuzungsbereichen, mitten auf den Gehwegen oder sogar quer zwischen zwei Fahrzeugen, womit beide praktisch eingekeilt waren.
Schließlich stellten wir den Audi direkt an einer Kreuzung ab, so dass die Schnauze sogar leicht in den Kreuzungsbereich hineinragte. Hauptsache raus aus dem Auto und so schnell wie möglich zu unserem Treffpunkt. Ohne noch irgendwelche Utensilien wie Photo, Verpflegung oder ähnliches einzupacken rannten wir los in Richtung Insel.
Anfangs fluchten wir noch über die frühmorgendliche Hitze, den vermaledeiten Verkehr und die katastrophale Parkplatzsituation. Allerdings verstummten die Flüche während des Laufens mit zunehmender Sauerstoffknappheit sehr schnell und wir japsten nach Luft.
Zum Glück ging unsere Rechnung, dass man nach zwei Linkskurven wieder in Richtung Donau gelangen musste, auf und wir kamen nach ca. 15 Minuten Dauerlauf am Fluss an.
Die Uhr zeigte 10.40 Uhr.
Aus Verzweiflung wurde Panik.
Wir rannten noch schneller in Richtung Brücke und stürmten die seitliche Treppe hoch. Inzwischen pfiffen unsere Lungen aus dem letzten Loch. Oben auf der Brücke angekommen kämpften wir uns weiter auf dem Gehweg entlang der Fahrbahn hinaus in Richtung Margeriteninsel.
Im Eingangsbereich zur Insel lief man zunächst durch ein Portal und gelangte nach weiteren fünf Minuten auf einen wunderschönen, runden großen Platz.
Überall gab es schöne gepflegte Blumenbeete, bunte Sträucher und hochgewachsene Bäume. In der Mitte des Platzes gab es tatsächlich das besagte Zent.............Denkmal, genau so wie es Elena vorausgesagt hatte.
Dieser Ort schien wie geschaffen für ein romantisches Wiedersehen nach entbehrungsvollen Wochen des Getrenntseins.
Bei einem ersten Blick über den recht menschenleeren Platz waren unsere beiden polnischen Mädchen nirgends zu sehen.
Als wir auf die Uhr schauten stockte uns der Atem.
Es war inzwischen 10.55 Uhr.
Aus Panik wurde Resignation.
Völlig erschöpft und desillusioniert ließen wir uns auf einer der leeren Parkbänke fallen und schnappten nach frischer Luft.
„Wir haben’s vermasselt. Sicher waren sie pünktlich. Ja, wahrscheinlich waren sie sogar schon vor 10.00 Uhr hier und haben es irgendwann als wir noch jenseits der Donau herumgeirrt sind und einen Parkplatz gesucht haben, aufgegeben,“ vermutete Manuel.
Nach der großen Hoffnung auf ein glückliches und überschwängliches Wiedersehen waren wir nun im Tal der Tränen angelangt. Mit jeder weiteren Minute schwand unsere Hoffnung, dass wir unsere beiden Mädchen noch sehen würden.
Obwohl der Treffpunkt sehr eindeutig beschrieben schien schlug ich vor: „Vielleicht gibt es noch eine ähnliche Stelle auf der Insel. Schließlich gibt es zwei Brücken, über die man auf die Margeriteninsel gelangt. Wir sollten auf jeden Fall die ganze Insel abgrasen.“ Besonders überzeugt war ich aber von meinen Worten nicht.
Wir beschlossen, dass zunächst einer von uns die Stellung halten und der zweite die nähere Umgebung des Platzes absuchen solle.
Nach etwa zwei Stunden des Abwartens und Suchens machten wir uns gemeinsam auf den Weg ans andere Ende der Insel. Einen weiteren großen Platz mit einem Brunnen gab es auf der ganzen Insel nicht. Aber siehe da es gab dort tatsächlich einen kleinen Parkplatz, der zu dieser Zeit voll belegt war. Aber von den beiden Mädchen war weit und breit nichts zu sehen.
Also beschlossen wir an die Südspitze der Insel und auf den runden Platz zurückzukehren. Noch einmal hegten wir die Hoffnung, dass wir die beiden Mädchen dort antreffen würden, aber erneut wurden wir enttäuscht.
Nachdenklich stellte ich fest: „Jetzt bleibt uns nur noch auf Plan B zu hoffen. Wir hatten ja besprochen, wenn es am ersten Tag um 10.00 Uhr nicht klappt, dass wir es um 17.00 Uhr nochmals versuchen. Dann wäre es auch egal, ob die beiden heute morgen schon mal da waren oder nicht. Hauptsache sie sind um 17.00 Uhr hier.“
Manuel entgegnete: „Ich bin nicht sehr überzeugt, dass sie das richtig verstanden haben, da wir das nur kurz und auf den letzten Drücker angesprochen haben. Und wenn, hätten sie das doch in irgend einem Brief erwähnt. Außerdem kann ich mir kaum vorstellen, dass man einen solch wichtigen Termin verstreichen lässt und das Risiko eingeht, es auf einen Ersatztermin ankommen zu lassen.“
Tatsächlich waren die Ausweichtermine in keinem der Briefe von Natascha und Elena ein Thema gewesen.
Da es inzwischen schon 14.00 Uhr geworden war und wir einen Bärenhunger hatten, beschlossen wir in einem der Restaurants auf Insel eine Mahlzeit zu uns zu nehmen und dann auf dem runden Platz bis 17.00 Uhr zu warten.
Kapitel 20 Plan B
Als wir unsere ungarischen Grillspezialitäten verspeisten spielten wir verschiedene Szenarien durch, die zu einer Verspätung bei den beiden Mädchen geführt haben könnten. So langsam kehrte ein wenig Hoffnung zurück, dass wir an diesem Tag vielleicht doch noch ein Wiedersehen feiern würden.
Was uns allerdings nach wie vor nachdenklich stimmte war, dass wir aus unserer Sicht nie und nimmer riskiert hätten es auf einen Ausweichtermin ankommen zu lassen. Aber dann fiel uns ein, dass auch wir durch unsere Pannen mit dem Auto zu spät angekommen waren und selbst froh sein mussten, dass es die Ersatztermine überhaupt gab.
Soweit uns bekannt war würden die beiden mit dem Zug anreisen. Vielleicht hatte ja durch eine Verspätung irgend ein Anschluss nicht geklappt und die Reise hatte sich dadurch gravierend verlängert.
Da zusätzlich auch das Hungergefühl durch die warme Mahlzeit vertrieben wurde, kehrte langsam etwas mehr Zuversicht in unser Gemüt und unsere Stimmung stieg wieder leicht an.
Im Anschluss suchten wir uns zwei leere Bänke auf dem runden Platz und versuchten ein wenig Schlaf nachzuholen.
Bereits ab 16.00 Uhr waren wir beide aber wieder hellwach und fieberten dem möglichen Treffen entgegen. „Was machen wir eigentlich falls sie heute nicht kommen?“ fragte ich. Manuel antwortete indem er sich die Augen rieb und dann seine Arme ausstreckte und sich räkelte: „Daran will ich gar nicht denken. Vielleicht finden wir ein paar andere Bräute,“ wohlwissend, dass daran weder für ihn noch für mich zu denken war. Die Enttäuschung wäre in diesem Moment wohl einfach zu groß als dass man so einfach zur Tagesordnung übergehen könnte.
Die Minuten bis 17.00 Uhr vergingen einerseits wie eine Ewigkeit, da man die beiden Mädchen sehnsüchtig erwartete, andererseits vergingen sie aber auch fast zu schnell, da wir große Angst vor einer neuerlichen Enttäuschung hatten.
Schließlich war es soweit. Wir sondierten den Platz und seine Zugänge. Aber auf den ersten Blick waren die beiden nicht zu sehen. Da der Platz jetzt relativ gut gefüllt war, trennten wir uns um die einzelnen Personengruppen etwas näher in Augenschein zu nehmen und umrundeten ihn in entgegengesetzten Richtungen.
Aber als wir wieder aufeinander trafen konnten wir nur mit den Achseln zucken. Die Farbe war uns aus dem Gesicht gewichen. Eigentlich wollten wir uns auf eine der Bänke, die den Platz umsäumten, setzen aber diese waren bei unserem Pech zwischenzeitlich alle belegt. Manuel zischte nur: „Was kann eigentlich noch alles schief gehen?“ Wir setzten uns auf den Sockel am Denkmal in der Mitte des Platzes um einen möglichst guten Überblick zu behalten.
Nachdem also der zweite Blick auch nicht zum Erfolg geführt hatte wagten wir einen dritten Blick in die Menge. Aber dieser sollte genauso wenig Erfolg bringen wie die beiden zuvor oder der vierte, fünfte und sechste danach.
Die Zeit verstrich. Es wurde schließlich 19.00 Uhr und nun stand uns eine Zerreißprobe bevor.
Manuel war in diesem Moment der Mutigere und stellte die entscheidende Frage: „Soviel zu Plan B. Was machen wir nun? Fahren wir nach Haus’ oder suchen wir eine Unterkunft?“
Wir hatten im Vorfeld zwar mit vielen Varianten gerechnet, aber nicht wirklich damit, dass wir am Abend dastehen würden wie zwei begossene Pudel ohne ein Lebenszeichen von unseren beiden polnischen Angebeten.
Es hätte uns schon genügt wenn wenigstens Tante Kristina gekommen wäre und uns mitgeteilt hätte, dass die beiden ein zwei Tage später kommen würden.
Aber wir mussten auf diese schmerzliche Weise erfahren wir entmutigend Ungewissheit sein kann.
Ich entgegnete: „Wenn auch nicht vieles dafür spricht, so müssen wir doch davon ausgehen, dass sie vielleicht morgen kommen werden. Wenn wir dann abgereist wären, dann würden wir dies vielleicht unser ganzes Leben bereuen.“ Manuel, der nicht sonderlich überzeugt schien, fragte: „Wann haben sich denn eigentlich die Agenten in Deinem Roman getroffen?“ Ich antwortete: „Beim ersten Termin.“ Darauf erwiderte Manuel: „Da hast Du’s. Ich befürchte, dass wir hier unsere Zeit verplempern.“ Trotz aller Bedenken entschieden wir uns ein Hotel aufzusuchen.
Es kam hinzu, dass wir seit unserer Mittagspause nichts gegessen hatten. Dies verstärkte unsere missmutige Stimmung noch.
Am Auto angelangt stellten wir fest, dass dieses wenigstens nicht abgeschleppt war. War Manuel am Morgen noch sehr vorsichtig rückwärts vor das nächststehende Auto geparkt, legte er nun, gefrustet wie er war, einen Kavaliersstart hin.
Plötzlich gab es einen fürchterlichen Krach. Als wir ausstiegen stellten wir fest, dass der Bordstein an dieser Stelle sehr hoch war und wir mit dem Unterboden aufgesessen waren. Als Manuel unter das Auto schaute und den Unterboden inspizierte konnte er keinen Schaden erkennen. Er brummte: „Ist wohl noch mal gut gegangen. Kann nichts erkennen.“
Es kam wie es kommen musste. Nach cirka einem Kilometer begann es aus dem Motorraum fürchterlich zu qualmen. Wir waren gezwungen in eine Seitenstraße zu fahren und den Schaden zu begutachten.
Da ein Blick auf den Motor keine Klarheit verschaffte legte sich Manuel unter das Auto und gab mir Anweisungen bei laufendem Motor.
Nach etwa fünfzehn Minuten und dem Hantieren mit einem Gabelschlüssel stellte er fest: „Durch das Aufsetzen beim Ausparken hat es wohl eine Schelle am Ablauf der Ölwanne gelöst und es ist Öl ausgetreten, das auf dem Auspuffrohr gelandet ist. Daher kommt das Dampfen. Das wird jetzt auch noch ein Weilchen so gehen bis das letzte Öl verdampft ist. Ist nichts Dramatisches. Ich habe die Schelle wieder befestigt.“ Wir setzten unsere Fahrt trotz des Qualmes fort.
Wären wir nicht so down gewesen hätte uns das Szenario wahrscheinlich köstlich amüsiert. Dennoch konnte ich mir nicht verkneifen zu sagen: „Hat was von ’ner Dampflok!“ Keiner lachte. Als Ich Manuel ins Gesicht schaute um seine Reaktion zu sehen musste ich doch schmunzeln, „du siehst übrigens aus wie ein Lokführer. Du hast Öl im Gesicht, hier auf der rechten Wange. Er drehte den Rückspiegel so dass er sich selbst sehen konnte.
Beim Versuch das Öl abzuwischen machte er alles nur noch schlimmer und verschmierte sich noch mehr das Gesicht. Schließlich resignierte er und wischte mir mit seiner verschmutzten Hand ebenfalls Öl ins Gesicht. Jetzt musste auch er schmunzeln.
Trotz aller Rückschläge war die Entscheidung ein Hotel zu suchen eine gute Entscheidung. Damit hatten wir eine Aufgabe und waren ein bisschen abgelenkt von den Misserfolgen dieses Tages. Es sollten aber nicht die letzten gewesen sein.
Kapitel 21 Die Suche nach einem Nachtlager
Wir hatten uns für den Fall, dass unser Zusammentreffen mit den beiden Angebeteten gelänge, alles so schön ausgemalt. Wir wollten unseren beiden armen Polenmädchen etwas ganz besonderes bieten. Nicht nur, dass wir in einem der besten Hotels einchecken wollten, es sollten beim Ausgehen auch ganz besondere Restaurants sein. Wir wollten sie förmlich verwöhnen und ihnen ein wenig von dem Luxus bieten, den sie im Osten überhaupt nicht kannten. Wir selbst im Westen zwar auch nicht, aber das mussten sie ja nicht erfahren.
Wir glaubten aber, dass gerade Ungarn wo unsere Deutsche Mark durch den Schwarzkurs besonders viel wert war, gut geeignet war sich einmal den besonderen Luxus zu gönnen. Nicht zuletzt wollten wir natürlich den beiden jungen Damen mächtig imponieren.
Es sollten zwei bis drei herrliche Tage in Budapest werden, die wir alle nicht vergessen sollten. So war zumindest der Plan.
Erst im Anschluss daran wollten wir dann weiter zum Balaton fahren, der schon für unser erstes Zusammentreffen eine solch paradiesische Kulisse geboten hatte.
Über unseren Reiseführer hatten wir uns das Hotel Intercontinental am Ufer der Donau ausgesucht. Das erschien uns das Mindeste was wir als Deutsche unseren polnischen Mädchen bieten müssten. Allerdings hatten wir in diesem Falle keinen Plan B ausgedacht und so hielten wir auch aus Zeitknappheit – es war inzwischen bereits 20.00 Uhr – an diesem Hotel fest.
Als wir mit unserem hippiemäßigen Audi in mehreren Grüntönen, der obendrein noch aus dem Motorraum qualmte, vor dem Hotel vorfuhren, wurden wir von den Pagen schon misstrauisch beäugt.
Aber noch besser wurde es als wir das Auto verließen. In unseren schmutzigen T-Shirts und kurzen Sporthosen, mit ölverschmiertem Gesicht und mit ungepflegtem Dreitagebart müssen wir wohl einigermaßen deplaziert ausgesehen haben.
Offensichtlich schienen alle Hotelangestellte plötzlich irgendeine andere Aufgabe gefunden zu haben um uns nicht empfangen zu müssen. Jedenfalls liefen sie sinnbildlich in alle Himmelsrichtungen davon und ließen uns alleine stehen vor unserem qualmenden Audi 100.
Trotz aller Niedergeschlagenheit ließen wir uns nicht beirren und stiegen die Eingangstreppe empor, durchschritten die Eingangspforte und gingen direkt zu einem der Empfangsschalter.
Der Portier musterte uns von oben bis unten. Er glaubte wohl er habe es mit zwei Automechanikern direkt aus der Werkstatt zu tun.
Manuel fackelte nicht lange: „Sprechen Sie deutsch?“ Da der Portier zunächst keine Worte zu finden schien schüttelte er nur den Kopf. Die Kinnlade war ihm heruntergefallen.
„Do You speak englisch?“ fragte Manuel weiter. Diese vertraute Frage schien den Portier wieder wachzurütteln. Er haspelte: „Yes, Sir. How can I help You?“
Nun war ich dran: “We need a room for this night. We had a date with two girls here in Budapest, but they didn’t come. So it’s very late now. We are sorry.” Ich weiß selbst nicht genau warum ich ihm unsere Geschichte von diesem Tag erzählte.
Wahrscheinlich dachte er: “Wenn Ihr dieses Date mit meinen Töchtern gehabt hättet, hätte ich sie auch nicht aus dem Haus gelassen – so wie Ihr ausseht!“
Tatsächlich sagte er aber sehr höflich: „I think all hotels in Budapest are full. But maybe I can help You. Please wait a minute.”
Er schnipste mit dem Finger in Richtung eines Pagen, der sofort herbeieilte. Nachdem der Portier ihm etwas ins Ohr geflüstert hatte, eilte der Page in Richtung Ausgang.
Manuel, der sich gerade in einem Spiegel hinter der Theke betrachtet hatte war über das was er sah sichtlich erschrocken. Er fragte mich gespielt locker: „Was läuft?“
Ich erklärte ihm, dass der Portier gemeint habe, dass wohl alle Hotels in Budapest ausgebucht seien, dass es aber vielleicht eine andere Möglichkeit gäbe und er nun den Pagen geschickt habe sich darum zu kümmern.
Wie zur Bestätigung sagte nun der Portier in unsere Richtung: „Please wait a moment,“ und wandte sich dem nächsten Gast zu.
Der Page kam nach etwa zwei Minuten mit einer Frau mittleren Alters zurück. Sie hatte braunes, hochgebundenes Haar und war sehr schlicht gekleidet. Sie stellte sich auf ungarisch vor: Wir verstanden so etwas wie Barbara Nowara. Sie stammelte in sehr mangelhaftem Englisch: „Searching room?“ Wir antworteten beinahe im Chor: „Yes, we do.“ Endlich schien es einen Lichtblick zu geben.
Wir sollten erst nach und nach realisieren, dass man uns auf elegantem Weg aus dem Hotel hinaus komplimentiert hatte. Das war uns in diesem Moment aber ziemlich egal, denn wir waren einfach nur abgekämpft, niedergeschlagen, hungrig und furchtbar dreckig.
Die Frau bat uns mit einer Handbewegung ihr zu folgen. Vor dem Hotel gab sie uns zu erkennen, dass wir sie zu unserem Auto führen sollten. Dort angekommen stieg sie mit uns ein und zeigte mit ihrer Hand in welche Richtung wir fahren sollten.
Auf der Fahrt berichtete uns Frau Nowara vieles über die schöne Stadt Budapest allerdings auf ungarisch, was uns nicht wirklich weiterhalf.
Wenn sie uns mit fragendem Blick anschaute ob wir sie verstanden hätten nickten wir eifrig.
Soweit wir auf der Fahrt erkannten führte uns diese aus dem Zentrum heraus in eine Vorstadt. Die Strecke war sehr einfach, da wir praktisch die ganze Zeit auf einer Hauptverkehrsstraße in Richtung Nordosten fuhren.
So schien es auch relativ einfach zu sein wieder in das Zentrum zurück zu finden.
Schließlich bogen wir auf ein Zeichen von Frau Nowara einmal links ab und fuhren dann nur noch etwa 200 Meter um dann anzuhalten.
Frau Nowara zeigte auf ein zweistöckiges Wohnhaus und winkte uns mit hineinzukommen.
Es handelte sich bei dem Haus wohl um ein geräumiges Einfamilienhaus mit leerstehenden Zimmern im ersten Obergeschoss. Frau Nowara schien alleinstehend zu sein – wohl geschieden oder verwitwet - und deshalb Zimmer zu vermieten und sich etwas Geld zu verdienen.
Im ersten Obergeschoss angekommen wies sie uns ein größeres Zimmer mit zwei Betten zu. Offensichtlich handelte es sich bei diesem Zimmer um ein ehemaliges Arbeitszimmer, da dort auch noch ein Schreibtisch zu finden war. Allerdings gab es bis auf ein gefülltes Bücherregal keine weiteren Überbleibsel des früheren Arbeitszimmers, so dass wir ausreichend Platz fanden um uns dort auszubreiten.
Frau Nowara zeigte uns noch die Toiletten und die Duschen auf dieser Etage. Alles in allem schienen die Räume für ungarische Verhältnisse sehr ansprechend ausgestattet zu sein.
Bevor Sie uns wieder verließ zeigte uns Frau Nowara noch, indem sie mit den Händen gestikulierte, wie wir zu einem nahegelegenen Restaurant finden würden.
Erst als wir unsere Koffer im Zimmer verstaut hatten, wir frisch geduscht und vom Öl befreit und neu eingekleidet waren und in dem nahegelegenen Restaurant vor einem kalten ungarischen Bier saßen und auf unser Essen warteten, spürten wir, dass sich unser Wohlbefinden wieder langsam besserte und nach und nach auch wieder ein wenig Hoffnung in unser verzweifeltes Dasein zurückkehrte.
Mit Heißhunger machten wir uns über das scharfe ungarische Lammgulasch her.
Manuel seufzte zwischen zwei Bissen: „Was für ein Tag. So etwas kann nur uns passieren. Wir fahren 1.000 km um uns mit zwei Phantomen zu treffen, verschrotten fast unser Auto, lungern den ganzen Tag auf einer Insel rum und anstatt im Hotel Intercontinental landen wir bei Hempels unterm Sofa.“ Wir mussten beide lachen.
Mit ironischen Unterton entgegnete ich: „Na ja, ganz so schlecht haben wir’s ja auch nicht getroffen. Stell Dir vor wir wären noch wegen Rumtreiberei oder Fahren mit einem nicht verkehrssicheren Auto verhaftet worden. Und mit der Unterkunft haben wir es doch recht passabel erwischt. Dafür, dass wir uns erst um 20.00 Uhr darum gekümmert haben, haben wir doch ein recht nettes Zimmer bei Frau Nowara ergattert. Na ja und dann noch en kühles Bierchen und ein extra scharfes Lammgulasch zum Ausklang dieses ereignisreichen Tages. Was will man mehr?“
Manuel konterte sofort: „Ja, aber Du hast den eigentlichen Grund unserer Expedition vergessen. Die Bräute! Wo bitteschön sind die Bräute? Die sitzen vielleicht in einer Disco in Polen mit ihren Boyfriends und lachen sich kaputt über die dämlichen Deutschen!“
Scherzhaft fügte ich hinzu: „Ach ja die Bräute, die hätte ich ja fast vergessen. Hoffentlich sind sie nicht an irgendeiner Grenze aus dem Zug gezogen worden und sind in irgend einem Kittchen gelandet.“ Das Lachen gefror uns auf den Lippen. Schließlich waren wir hinter dem Eisernen Vorhang und da waren solche Horrorvisionen an der Tagesordnung.
Nachdem jeder von uns noch drei bis vier kühle Bierchen getrunken hatte, hatten wir die nötige Bettschwere um uns zur Ruhe zu begeben. Nach der Hitze des Tages verfehlte das relativ starke Bier seine Wirkung nicht. Wir lagen uns auf dem Nachhauseweg in den Armen, fluchten über die altbekannten Despoten und über ihre Armeen, über unzuverlässige, lästernde Polinnen, bemitleideten uns gegenseitig und schlichen in Frau Nowaras Haus und dann in unser Zimmer.
Als wir bereits im Bett lagen stellte Manuel in möglichst ernstem Ton fest: „Es reicht, wenn wir um 8.00 Uhr aufstehen. Die Fahrt zur Margeriteninsel ist vollkommen easy. Wenn wir der Hauptverkehrsstraße folgen, treffen wir auf die Nordspitze der Insel und können dort parken.“ Manuel plapperte noch etwas weiter. Aber da ich bereits in das Land der Träume abtauchte, kriegte ich nur noch einzelne Wortfetzen mit wie: „Elena – wehe wenn ich sie erwische – 1000 km gefahren – lächerlich – Hitler – Stalin...“
Kapitel 22 Der zweite Tag
Als wir am nächsten Morgen gegen 8.00 Uhr aufstanden hatte Frau Nowara bereits Kaffee für uns gekocht.
Wir versuchten ihr zu erklären, dass wir unsere Koffer in der Wohnung lassen würden und voraussichtlich gegen Abend zurückkehren würden. Sie gab uns einen Hausschlüssel und ließ uns alleine frühstücken.“
Da nun erneut die Aussicht bestand unsere Mädchen zu treffen und die Morgensonne das Frühstückszimmer durchflutete, waren wir relativ guter Dinge.
Pünktlich um 9.00 Uhr stiegen wir in das Auto und fuhren in Richtung Zentrum. Tatsächlich fanden wir den Weg zur Donau über die Hauptverkehrsstraße relativ leicht. Wir fuhren auf die Brücke, weiter bis zur Margeriteninsel und bogen gegen 9.30 Uhr ab auf den dortigen Parkplatz.
Bevor wir aber nach einem freien Stellplatz suchen konnten, kam uns ein eifriger Parkwärter mit wedelnden Armen entgegen gerannt und gab uns zu erkennen, dass wir hier nicht parken könnten. Er zeigte auf einen Ausweis in einem Autofenster, den man offensichtlich benötigte. Der Parkplatz schien wohl ausschließlich für Personal reserviert zu sein, das auf der Insel arbeitete.
Da der Parkwärter immer noch lauthals ungarische Anweisungen rief hoben wir beschwichtigend die Arme. Wir wendeten das Auto und fuhren wieder zurück in Richtung Ausfahrt des Parkplatzes.
Als wir wieder auf der Brücke in Richtung Osten weiter fuhren und mal wieder leidenschaftlich vor uns hinfluchten kam uns das alles wie ein schreckliches „Deja-Vu“ vor.
Ich brodelte: „Kann das wahr sein? Ich dachte wir hätten unser Waterloo schon hinter uns. Jetzt geht das schon wieder los!“
Allerdings hatten wie diesmal mit dem Parken etwas mehr Glück und fanden etwa 100 m nach der Brücke einen freien Stellplatz direkt am Straßenrand. Also gleiches Spiel wie am Vortrag. Türen auf – raus aus dem Auto – Türen zugeknallt - und ab im Laufschritt Marsch.
Dieses Mal war zwar der Weg zur Insel kürzer, aber dafür mussten wir diese der Länge nach durchlaufen.
Gerade als wir von der Brücke auf die Insel einbogen zeigte die Uhr 10.00 Uhr. Auf dem Weg durch die Insel durchlebten wir mit jedem Blick auf die Uhr stufenweise die bekannten Gefühle Nervosität - helle Aufregung - Verzweiflung – Panik.
Wir waren zwar am Vortag auch der Länge nach durch die ganze Insel marschiert, aber nun unter Zeitnot kam uns diese noch viel länger vor.
Wir passierten scheinbar zahllose Schwimmbäder, Sportplätze, Imbissbuden, Restaurants, Grünanlagen und Blumenbeete bis wir endlich wieder auf dem großen runden Platz mit dem Zentenariumsdenkmal in der Mitte und den vielen Bänken drum herum angelangten.
Es war nun 10.30 Uhr.
Da wir die ganze Strecke in relativ schnellem Dauerlauf zurückgelegt hatten, waren wir nun vollkommen platt. Wir mussten uns schwer atmend vornüberbeugen und stützten die Hände auf die Knie.
Auch diese Situation hatten wir bereits einmal durchlebt.
*****
Während wir den Platz sondierten keuchte Manuel konsterniert: „Wie kann man nur zweimal hintereinander so blöd sein, einen solch wichtigen Termin nicht einzuhalten.“
Der Platz war schon erstaunlich voll, aber wie befürchtet war erneut nichts zu sehen von unseren Angebeteten. Ich ergänzte: „Wir gehen wohl in die Geschichtsbücher ein, als die beiden Trottel, die im Lotto den 30-Millionen Jackpot geknackt haben aber vergessen haben den Tippschein abzugeben.“
Wir lächelten gequält.
Plötzlich hörte man aus einer Menschentraube ein Kreischen und Hände wedelten in der Luft. Nach den vergangenen Enttäuschungen kam uns das folgende Bild wie eine Fata Morgana vor. Unsere Mädchen stürmten auf uns zu. Wir liefen ebenfalls los in ihre Richtung und fielen ihnen in die Arme.
An Sprechen war in den ersten Minuten nicht zu denken. Völlig aus dem Häuschen vor Freude küssten wir uns, umarmten uns und es flossen diverse Freudentränen. Dieser Moment war für uns alle so überwältigend, dass er hätte ewig andauern können.
Wahrscheinlich zogen wir die Aufmerksamkeit des ganzen Platzes auf uns, aber das war uns in diesem Augenblicken völlig schnuppe.
Unsere beiden Mädels hatten sich für uns besonders chic gemacht und rochen atemberaubend nach Parfüm. Sie hatten wohl extra für uns enge Hot Pants angezogen und sahen darin extra scharf aus.
Alle Erinnerungen an die kurze aber paradiesische Zeit am Balaton waren plötzlich wieder hellwach. In diesen Momenten war der große runde Platz mit dem Denkmal in der Mitte der schönste Ort auf dieser Erde geworden und diese schien sich nur um uns zu drehen.
Als wir schließlich trotz aller Glückseligkeit auch wieder in der Lage waren vernünftige Sätze von uns zu geben, plauderte Manuel in Englisch los und versuchte unsere Odyssee der Vortage in Worte zu fassen. Hierbei standen wohl nicht so sehr unsere Belastungen und Probleme im Vordergrund, sondern die große Angst vor dem Scheitern oder die peinlichen Situationen im Hotel Intercontinental oder mit dem qualmenden Auto im Straßenverkehr.
Bei Natascha und mir war das naturgemäß etwas anders.
Ich hatte mir zu Hause noch einige Worte zur Begrüßung zurecht gelegt wie „Dzien dobry – Guten Tag“ und „Jak sie masz? – Wie geht es Dir?“ oder „kocham Cie – Ich liebe Dich.“ Allerdings wollte ich zunächst mit „kochem Cie“ noch zurückhaltend umgehen, da ich mir im Unklaren war, wie die Begrüßung ausfallen würde. Da waren noch die alten Bedenken hochgekommen, dass Natascha nur wegen Elena die Reise mitmachen würde und selbst vielleicht doch einen Freund in Polen haben könnte.
In der Aufregung während der stürmischen ersten Begrüßung waren mir alle zurecht gelegten Worte entfallen.
Doch nun kamen sie so langsam ins Gedächtnis zurück und ich legte los: „Dzien dobry“ oder „jak sie masz?“ Dies führte bei Natascha zu höchster Entzückung und sie gab ihrerseits erste deutsche Worte zum besten wie „guten Tag“ oder „wie geht es Dich.“
Im Rausch der Glücksgefühle gab ich nun auch meine Zurückhaltung auf und flüsterte „kocham Cie, kocham Cie“ und immer wieder „kocham Cie“ bis sie schließlich erwiderte „kocham Cie.“
Nach den ersten Gefühlsausbrüchen setzten wir uns auf eine der Bänke und begannen unsere jeweiligen Nachtlager in Budapest und den Weg dahin zu erklären. Dies führte zwar zu keinem nennenswerten Ergebnis, aber wir stellten immerhin fest, dass wir Männer in Buda, und damit westlich der Donau und die Frauen in Pest, also östlich der Donau untergebracht waren. Es handelte sich wohl bei ihren Gastgebern um Bekannte von Tante Kristina.
Da die Zeit bei den vielen Liebkosungen, Zärtlichkeiten, Küssen und Sprachübungen wie im Fluge verging, war sehr schnell die Mittagszeit gekommen. Wir suchten uns ein schönes Lokal und schmiedeten Pläne für den Aufenthalt in Budapest und am Balaton.
Am Nachmittag schlenderten wir durch die Altstadt und die Einkaufsstraßen. Allerdings war uns nicht nach Shoppen zu Mute sondern viel eher nach flörten, tuscheln oder küssen und bei all diesen Gelegenheiten versuchten wir möglichst viele Photos zu schießen.
Als herrliche Kulisse dienten uns hierbei die zahlreichen Skulpturen wie Adler, Löwen, Heilige, Herrscher und Götter in der Altstadt.
Da wir es bei unserem ersten Zusammentreffen am Balaton versäumt hatten viele Photos von unseren beiden Mädchen zu schießen, hatten wir dieser verpassten Chance vier Wochen lange nachgetrauert. Wir wollten daher in dieser Woche Urlaub möglichst viele Bilder unserer Mädchen haben um die Sehnsucht danach besser verarbeiten zu können und vielleicht auch um ein bisschen vor unseren Freunden zu prahlen. Aber das hätten wir natürlich nie zugegeben.
Irgendwie erlebten wir die Altstadt mit ihren vielen Sehenswürdigkeiten wie im Rauschzustand und wenn ein Straßenmusikant seine Geige spielte war es als hing der ganze Himmel voller Geigen und wenn wir durch einen der Parks spazierten, dann fühlten wir uns wie im Garten Eden.
Als wir am späten Nachmittag in unsere Wohnung kamen begrüßte uns Frau Nowara und wir stellten Elena und Natascha vor. Frau Nowara war von Tränen gerührt und wünschte uns – so weit wir das nachvollziehen konnten - viel Glück.
Am kommenden Tag besuchten wir verschiedene Sehenswürdigkeiten in Budapest. Elena und Natascha, die offensichtlich nicht zum ersten Mal in Budapest waren, präsentierten diese nicht ohne Stolz.
Als wir zu einer Kirche gelangten war gerade eine Hochzeitsgesellschaft auf dem Vorplatz versammelt. Wir nutzen auf Drängen unserer Mädchen die Gelegenheit mit in die Kirche zu gehen und der Zeremonie beizuwohnen. Manuel flüsterte mir zu: „Hoffentlich ist das ein gutes Omen!“
Die zahlreichen Skulpturen auf den Plätzen und Straßen der Innenstadt dienten uns erneut als Hintergrund für zahlreiche Erinnerungsphotos.
In unserer euphorischen und verklärten Stimmung wurden die zahlreichen Parks zu romantischen Liebesgärten, in die wir uns immer wieder gerne zurückzogen um unsere Glücksgefühle und Liebkosungen voll auszuleben, die Brücken über die Donau mit ihren verschiedenartigen Konstruktionen wurden zu wundervollen Kunstwerken und die alten Herrschaftshäuser mit ihren vielen Verzierungen zu prachtvollen Palästen.
Am Abend gingen wir noch in ein Restaurant in der Innenstadt. Nach den zahllosen Niederlagen der Vortage waren wir nun auf Wolke sieben angelangt und unser Resümee fiel entsprechend euphorisch aus.
Nach den ersten beiden Gläsern Rotwein versuchte ich unsere Stimmung in Worte zu fassen und philosophierte: „Und sie stiegen wie Phönix aus der Asche. Kannst Du dich an unsere katastrophalen Auftritte von gestern erinnern? Das lange vergebliche Warten auf der Margeriteninsel, die Autopanne und die „Lokomotivfahrt“ durch die Stadt?“ Matthias ergänzte: „Ja und nicht zu vergessen der sensationelle Auftritt im Intercontinental mit den flüchtenden Pagen und der prompten Abfertigung am Empfangsschalter?“
Ich musste lachen, „ja im Hotel waren wir so perplex, dass wir gar nicht gleich geschnallt haben, dass man uns rausgeworfen hatte. Aber was soll’s - pfeif drauf. Dafür haben wir heute den Himmel auf Erden und werden für alle Enttäuschungen entschädigt.“
Wir beredeten nun das Programm für die folgenden Tage.
Am nächsten Morgen stand ja die Abfahrt zum Balaton auf dem Programm. Da uns die beiden Mädchen berichteten, dass Kristina im Laufe der Woche nachkommen würde um sie dann nach Polen mitzunehmen, versuchten wir sie zu bearbeiten, dass sie doch länger bei uns am Balaton bleiben könnten: „Ihr könntet doch noch bis Samstag bleiben und dann alleine zurückfahren nach Polen,“ bat Manuel auf englisch.
Sie machten uns aber deutlich, dass diese Entscheidung einzig und alleine bei Kristina liege. Sie habe schließlich die ganze Verantwortung und würde wohl Elena nicht alleine zurücklassen, zumal sie ja noch minderjährig sei.
„Musicie nas odwieczyc w Polsce!“ platzte Natascha plötzlich heraus. Sie schaute etwas ratlos drein als sie unsere fragenden Gesichter sah. Sie hatte wohl einen Moment lang völlig vergessen, dass sie lediglich Elena verstehen konnte. Diese beeilte sich aber nun ins Englische zu übersetzen: „You must come to Poland.“
Manuel drehte sich nun zu mir und sagte belustigt: „Sie wollen uns allen Ernstes nach Polen einladen, hinter den Eisernen Vorhang, ans Ende der Welt, da wo sie die Deutschen noch hassen wie die Pest.“ Ich fügte hinzu: „Da wo es nicht einmal Autobahnen gibt und wo man den Wodka wie bei uns das Bier in sich hineinschüttet. Ob sie das ernst meinen?“
Tatsächlich wollten sie das dann auch bei nächster Gelegenheit noch mit Kristina besprechen.
Nachdem wir mit dem Abendessen fertig waren und es schon sehr spät geworden war, brachten wir unsere beiden Mädchen zurück in ihre Unterkunft bei ihren Bekannten in Budapest und verabredeten uns für den kommenden Morgen um dann weiter zu fahren an den Balaton und dort eine Ferienwohnung zu suchen.
Kapitel 23 Fahrt zum Balaton
Die Fahrt zum Balaton dauerte mit Pausen etwa zwei Stunden. Verflogen waren Zeitdruck, Hektik oder Gefühle wie Aufregung, Verzweiflung oder Panik. Wir kosteten einfach jede Minute des Zusammenseins in vollen Zügen aus.
Wir öffneten die Fenster unseres Hippie-Autos und ließen uns den angenehmen Fahrtwind um die Nase wehen. Aus dem Kassettenrekorder klangen Lieder von Pink Floyd, Neil Young und Genesis.
Natascha und ich lagen Arm in Arm völlig tiefenentspannt auf der Rückbank und testeten spielerisch unsere Kenntnisse in der jeweils fremden Sprache. „Ktora jest godzina? – Wieviel ist es Uhr?” fragte ich. Natascha antwortete: “Es ist elf Stunden.”
Obwohl die Grammatik noch sehr zu wünschen übrig ließ und so manche Antwort überhaupt nicht zur jeweiligen Frage passen wollte, amüsierten wir uns köstlich.
In Siofok angekommen begaben wir uns in ein Vermittlungsbüro für Ferienwohnungen. Leider war es nicht möglich eines der beiden früheren Ferienhäuschen in Zamardi zu bekommen. Die Angestellte hatte aber einige Photos von Unterkünften zu bieten. Am besten gefiel uns ein Häuschen am Ortsrand von Siofok. Es grenzte an ein Maisfeld, lag in einer sehr ruhigen Gegend und der Zuschnitt passte genau zu uns. Auch wohnte keine weitere Partei in diesem Haus was uns sehr wichtig war. Wir unterschrieben einen Mietvertrag für die restliche Woche.
Das Häuschen war nicht groß, aber es war tatsächlich wie geschaffen für uns. Im Erdgeschoss befanden sich Küche, Wohn-Essbereich und das Bad. Da es im Obergeschoss lediglich drei Schlafräume gab, die über eine Treppe und eine Empore erreicht werden konnten gab es über dem Wohn- und Essbereich einen freien Luftraum, der den Eindruck von Großzügigkeit vermittelte.
Erst jetzt wurde uns bewusst, wie überwältigend das Gefühl war den ganzen Tag nur unter uns zu sein und entscheiden zu können was wir miteinander unternehmen. Das Häuschen erschien uns hierbei wie ein gemeinsamer Zufluchtsort, den wir am liebsten gar nicht mehr verlassen wollten.
Aber zuallererst gingen wir gemeinsam einkaufen und während sich Manuel und ich verstärkt auf die Süßigkeiten und Spirituosen stürzten kümmerten sich Natascha und Elena um die Zutaten für das Abendessen. Die beiden planten wohl offensichtlich uns mit ihren Kochkünsten zu überraschen.
Auf dem Heimweg hatte Elena ihre Mutter Kristina angerufen um den Treffpunkt und die gemeinsame Rückreise nach Polen abzustimmen.
Zurück in der Wohnung bereiteten die beiden ein köstliches Mittagessen zu. Da wir auf der Fahrt recht hungrig geworden waren fielen wir über die mit Hackfleisch und Pilzen gefüllten Kartoffelklöse her. Manuel bat nun Elena über das Gespräch mit Kristina zu berichten.
Doch da begann Elena in ernstem Ton zu sprechen.
Ihre Nachricht schlug ein wie eine Bombe.
Kristina sollte bereits am folgenden Tag, also am Mittwoch kommen, in Siofok übernachten und die beiden Mädchen am Donnerstagmorgen mitnehmen zurück nach Polen.
Das war zu viel für uns. Kaum konnten wir das traute Glück gemeinsam genießen, sollten die beiden auch schon wieder mit Kristina abreisen.
„Das würde heißen wir haben nur noch einen Tag mit euch,“ brach die Enttäuschung aus mir heraus. Die beiden schauten uns mit großen Augen an.
Manuel übersetzte und langsam schienen sie zu verstehen und Elena beeilte sich zu erklären, dass sie ebenfalls enttäuscht seien. Andererseits mussten sie aber auch froh sein, dass Kristina überhaupt bereit gewesen war sie mitzunehmen und die Verantwortung für diese Reise zu übernehmen.
Wir beschlossen die Zeit, die noch blieb, richtig auszukosten. Noch am gleichen Abend wollten wir groß ausgehen und den Tag mit einem langen Spaziergang am See ausklingen lassen.
Bei der Suche nach einem romantischen Restaurant in der Nähe des Sees wurden wir schließlich fündig und entdeckten ein verträumtes Kellerlokal mit einer vielversprechenden Speisekarte. Wir machten es uns richtig gemütlich und suchten uns ein Vier-Gänge-Menü und einen delikaten Rotwein aus. Die Mischung aus scharfem Essen und lieblichem Rotwein führte zu einem angenehmen Wohlgefühl und wir alberten in unserem deutsch-englisch-polnischen Kauderwelsch herum und versuchten den nahenden Abschied zu verdrängen.
Wir genossen den Abend so sehr, dass es uns überhaupt nicht in eine Diskothek oder eine Kneipe zog. Der anschließende Spaziergang war für uns ein erneutes Wandeln durch das Paradies und wir dehnten diesen aus bis weit nach Mitternacht.
Wir konnten im Anblick des drohenden Abschieds nicht genug bekommen von den Liebkosungen, Zärtlichkeiten und den Küssen.
Nachdem wir wieder in unserem Häuschen angekommen waren kamen zu den Liebkosungen, Zärtlichkeiten und den Küssen noch Süßigkeiten aus dem Kühlschrank und dann war Kuscheln angesagt.
Aber bekanntermaßen hört ja das Verliebtsein nicht mit dem Kuscheln auf, sondern aus Kuscheln wird Verlangen nach mehr. Aus dem Verlangen nach mehr wird Begierde und aus der Begierde wird blanke Gier nach dem Körper des Zielobjektes.
Aber genau jetzt war es wieder an der Zeit für Elena den Vortrag über ihre und Natascha’s strenge katholische Erziehung zu halten. Da half alles Betteln nichts und schließlich zogen sich die beiden in höchster Not in ihr Zimmer zurück.
Manuel und ich setzten uns vor das Zimmer und traten in Verhandlungen mit den Mädchen ein. Selbstverständlich konnten wir durch die Tür und in der hierbei notwendigen Lautstärke keinen Disput über sexuelle Bedürfnisse oder die Sinnhaftigkeit katholischer Sexualerziehung abhalten.
Deshalb kämpften wir für eine Verlängerung ihres Aufenthaltes um zwei Tage bis zum kommenden Samstag. Im wesentlichen fand diese Verhandlung zwischen Manuel und Elena statt. Natascha und ich hätten da mit unseren bruchstückhaften Kenntnissen in der jeweiligen Fremdsprache nur zur Belustigung beigetragen.
Manuel bettelte, ja flehte um eine Verlängerung und schlug vor, dass Kristina ja noch so lange in Budapest bleiben könne. Schließlich wären wir alle ja so weit gereist und hätten uns ja erst vier Tage gesehen. Da Manuel immer weiter bohrte und nicht mehr locker ließ, hatte Elena irgendwann ein Einsehen und öffnete die Tür.
Sie sagte: „But only talking! - Aber nur reden!“ Manuel hob zum Zeichen seiner Unschuld beide Hände in die Höhe. Als Elena ihn an der Hand nahm und ihn in dessen Zimmer schleppte deutete er mit seiner freien Hand hinter dem Rücken Elena’s an wie er ihr an den Hintern fassen werde und grinste triumpfierend in meine Richtung.
Bei Natascha und mir sah das naturgemäß anders aus. Sie war im Damenzimmer zurückgeblieben und hatte die Tür hinter Elena verschlossen. Mit Hilfe des deutsch-polnischen Wörterbuchs stammelte ich: „Prosze otwieratsch - Bitte mach auf.“ Sie plapperte etwas wie: „Jestem katolycka dziewczyna. Ich bin ein katholisch erzogenes Mädchen.“ Ich verstand nur etwas mit katholisch und wusste, dass an ein Öffnen der Tür nicht zu denken war.
Da ich ohnehin „gerade“ nichts besseres vorhatte setzte ich mich direkt vor die Tür und machte mir Gedanken wie das ganze eigentlich weitergehen sollte. Natascha hatte ja bereits zu verstehen gegeben, dass sie sich nicht vorstellen könne ihr Heimatland Polen jemals zu verlassen.
So kam es, dass ich diese Momente mit Gefühlen zwischen „himmelhoch jauchzend“ und „zu Tode betrübt“ durchlebte. Das positive Gefühl nährte sich aus der Tatsache, dass meine „Ukochana – Geliebte“ sich direkt hinter dieser Tür befand und ich in diesem Moment nirgendwo anders auf dieser Welt sein wollte.
Das negative, ja melancholische Gefühl stellte sich ein, wenn ich an die drohende Abreise – oder noch schlimmer – an die ungewisse Zukunft dachte. Polen schien nicht nur entfernungsmäßig so unheimlich weit weg, sondern auch aus politischer und kultureller Sicht wahrlich am anderen Ende der Welt zu liegen. Schließlich schien für Natascha ein Umzug nach Deutschland überhaupt kein Thema zu sein.
Als Elena irgendwann aus Manuels Zimmer kam um zu Natascha ins Zimmer zu gehen, trollte ich mich und Elena sagte nur: Oh, problemy, problemy.!“ Ich musste nicht gut polnisch sprechen um dies zu verstehen und sagte nur bestätigend „Tak, tak,“ was so viel heißt wie „Ja, ja, so ist es.“
Kapitel 24 Schock in der Morgenstunde
Am nächsten Morgen wurde ich von Manuel aus dem Schlaf gerissen. Er kam in mein Zimmer gestürzt und wirkte völlig aufgebracht. Er zeigte in Richtung Hauseingang und rief: „S...sie sind weg!!
D..das Zimmer ist leer. D...die Koffer sind auch weg. D...die Bräute sind weg. D...die Eingangstür ist offen!!“
Noch etwas benommen war meine erste Feststellung, dass ich Manuel noch nie so aufgeregt gesehen hatte. Meine zweite Feststellung war, dass eine mittlere Katastrophe passiert sein musste und erst in meiner dritten Feststellung erfasste ich das komplette Ausmaß dieser Katastrophe.
Ich stammelte: „Was faselst Du da. Das kann doch nicht wahr sein. Wieso sollen die denn weg sein? Gestern Abend war doch noch alles in Ordnung.“
Manuel wurde nun noch lauter, wobei sich seine Erregung weiter hochschaukelte: „Von wegen in Ordnung. Ich hatte gestern Abend eine lange Diskussion mit Elena über unsere Zukunft. Vielleicht habe ich sie zu sehr bedrängt. Jedenfalls betonte sie, dass sie auf keinen Fall dauerhaft nach Deutschland gehen wolle.
Natürlich habe ich auch versucht ihr näher zu kommen und ihr an die Wäsche zu gehen. Bei ihrer Figur kann ich mich einfach nicht mehr zurückhalten. Ich konnte ja nicht ahnen, dass sie diese ganze Geschichte mit der „strengen katholischen Erziehung“ ernst meint.“
Wir flatterten nun wie zwei aufgescheuchte Hühner durch die Wohnung und suchten irgend einen Hinweis auf den Verbleib der beiden Mädels. Das Zimmer der beiden war komplett leer geräumt und sauber hergerichtet.
Plötzlich kreischte Manuel aus der Küche: „Komm schnell! Komm schnell!“
Ich rannte in vollem Tempo barfuss die Treppe hinunter wobei es mich auf halber Höhe fast aus der Kurve getragen hätte.
Manuel wedelte mit einem Zettel. Ich riss ihn ihm aus der Hand und las: „We had to meet Kristina in a hurry. Sorry. – Wir mussten in höchster Eile Kristina treffen. Entschuldigung!“ So wie der Text gekritzelt war hatte es die Verfasserin wirklich sehr eilig gehabt.
Manuel greinte: „Ich fass es nicht. Die sind abgehaun’ mit Sack und Pack und ich Rindvieh hab’ sie vertrieben.“
Ich konnte mir einen gewissen Vorwurf gegen ihn nicht verkneifen und fügte hinzu: „Ja wie sollen wir denn da etwas gegen unseren Ruf des arroganten, kapitalistischen, dekadenten und sexsüchtigen Klassenfeindes ausrichten wenn du über die Mädels herfällst wie ein wild gewordenes Kaninchen.“
Es war inzwischen kurz nach 10.00 Uhr. Wir beschlossen in das Auto zu steigen und ganz Siofok abzusuchen in der Hoffnung, dass sie hier noch irgendwo unterwegs waren. Es ist wohl überflüssig zu erwähnen, dass wir auf der ganzen Fahrt über die üblichen Verantwortlichen für unsere Misere wie die bekannten Despoten Hitler und Stalin, die deutsche Wehrmacht und die Rote Armee, den Sozialismus und den Kapitalismus und die aus alledem resultierende Sprachbarriere fluchten.
Nach etwa zwei Stunden Suche am Bahnhof, im Einkaufszentrum, am Strand, in verschiedenen Restaurants und an verschiedenen Bushaltestellen kehrten wir in unser Häuschen zurück. Wir hatten zunächst noch die Hoffnung die beiden Ausreiserinnen dort anzutreffen, aber dem war leider nicht so.
Es war inzwischen nach 13.00 Uhr und wir hatten noch nichts gegessen. Da unsere Hoffnung, dass beide Mädchen noch in Siofok waren, auf den Nullpunkt gesunken war, bereiteten wir uns nun ein spartanisches Essen zu. Dazu musste es schon ein besonders starker Kaffee sein ohne Milch und ohne Zucker.
„Warum,“ stammelte ich, „warum der plötzliche Aufbruch mit Sack und Pack?“ Manuel fuhr fort: „Was sollte eigentlich der Wunsch, dass wir sie in Polen besuchen sollen? Das war wohl nur ein schlechter Witz!“
„Was nun?“ Sollen wir sofort die Zelte abbrechen? Wir haben das Häuschen ja bereits für die ganze Woche bezahlt.“ sagte ich einfach um etwas gesagt zu haben.
Manuel antwortete: „Jetzt lenke nicht vom eigentlichen Thema ab. Lass uns lieber nachdenken was wir in Bezug auf die Bräute machen sollen. Schließlich gibt man seine Traumfrau nicht kampflos auf. Wir haben doch ihre Adressen in Polen. Lass uns Visas besorgen und so bald als möglich da hin fahren. Wir müssen der Sache auf den Grund gehen.“
Ich entgegnete ihm: „Zu einer Liebe gehören immer zwei. Wenn sie uns im Regen stehen lassen, dann hat das seinen Grund. Oh, es gibt viele Gründe..... ja tausend Gründe.....ach was sag’ ich, es gibt Millionen Gründe, die gegen einen arroganten, kapitalistischen, dekadenten und sexsüchtigen Deutschen als Freund sprechen. Außerdem wer sagt Dir, dass die beiden keinen Freund in Polen haben? So wie die aussehen, können sie sich die auf dem silbernen Tablett servieren lassen und von dort bei Nichtgefallen einfach mit dem Finger runterschnippen.“ Manuel hatte aufmerksam zugehört und ergänzte, „so wie gerade uns.“
„Ja so wie gerade uns. War ja ne schöne Gelegenheit. Wir fahren mal eben nach Budapest und testen unsere Ausstrahlung auf ein paar degenerierte Deutsche und wenn uns die ganze Sache zu heiß wird, dann machen wir einen auf „streng katholisch erzogen“ und rennen schnell heim zu Mami.“
Manuel saß nur da mit offenem Mund. Er gab völlig entgeistert von sich: „Man sagt sehr schlimme Dinge wenn man auf Liebesentzug ist.“
Mitten in die Weltuntergangsstimmung, die wir verbreiteten, klingelte es an der Haustür. Ich ging hin und öffnete.
Das was ich dort sah versetzte mir einen Schock. Ich konnte nicht sprechen und winkte verzweifelt Manuel zu mir. Als er endlich neben mir stand erging es ihm ähnlich und er verfiel ebenfalls in eine Art Schockstarre.
Kapitel 25 Der Abschied naht
Vor uns stand Kristina. Sie schien etwas um uns besorgt zu sein, da wir so blutleer und tonlos vor ihr standen.
Manuel und ich dachten in diesem Moment so etwas wie: „Wahrscheinlich sind unsere Mädels vor uns geflüchtet und nun kommt Kristina als Racheengel und macht uns zur Minna.“
Tatsächlich machte Kristina nun einen Schritt nach vorne und hob ihren rechten Arm. Manuel und ich erschraken und machten reflexartig aus lauter Angst vor einem Schlag einen Schritt zurück.
Aber als sie beim Überschreiten der Türschwelle „Hello“ jubelte wurde uns klar, dass sie uns lediglich in den Arm nehmen und begrüßen wollte.
Wir waren dann doch sehr erleichtert, dass wir an Stelle einer saftigen Abreibung nur eine polnische Begrüßung mit Küsschen rechts, Küsschen links und Küsschen rechts durchlebten.
Nachdem nun diese Stresssituation überwunden war und unser Verstand auch wieder unter Normalbedingungen arbeitete, musste unweigerlich die Frage kommen:
„Gdzie jest Natascha i Elena? - Wo ist Natascha und Elena?“ Ich stellte diese auf polnisch und war ein bisschen stolz, dass Kristina mich zu verstehen schien. Sie antwortete: „Ahh. Natascha i Elena?“ Es folgten einige weitere Sätze auf polnisch aus denen ich nur Bruchstücke wie “Budapest…Siofok…Balaton und Polska” verstand, Aber Manuel und mir war aus der Reihenfolge der Ortsbezeichnungen klar, dass es um die Weiterreise von Kristina und den Mädchen zurück nach Polen gehen musste.
Wir befürchteten schon das schlimmste, nämlich dass die beiden Mädchen schon auf dem Weg nach Polen waren oder bereits auf dem Bahnhof auf Kristina warteten. Unsere Anspannung stieg von Minute zu Minute an und steigerte sich so ins schier Unermessliche.
Kristina ging nun in Richtung Küche . Sie sagte: „Aah, kuchnia – aah, die Küche,“ und fügte einige anscheinend anerkennende Worte über die nett eingerichtete und im Moment aufgeräumte Küche hinzu.
So ging das weiter: „Aah, jadalnia – aah, das Esszimmer“, „aah pokoj mieszkalny – aah das Wohnzimmer,“ aah lazienka – aah das Bad,“ und dann ging es nach oben. Dort inspizierte sie die Schlafzimmer. Sie begann: „Aah sypialnia und zeigte fragend auf mich und Manuel um zu erfahren wessen Schlafzimmer das wohl war. Manuel zeigte mit seiner Hand auf uns beide und sagte: „our – unser Zimmer.“
Plötzlich hörten wir aus dem Erdgeschoss lautes Gepolter. Es klang als würde eine Räuberbande das Haus stürmen.
Kapitel 26 Die Ablehnung
Wir begaben uns auf die Empore und erkannten, dass Elena und Natascha wohl die Eingangstür aufgestoßen hatten und nun mit ihren Reisekoffern und lautem Getöse in die Wohnung gestürmt waren. Sie hatten ihre Koffer bereits abgestellt und begannen wild gestikulierend sich mit Kristina zu unterhalten. Man erkannte an dem vorwurfsvollen Ton, dass die beiden aus irgendeinem Grund wohl sauer waren auf Kristina.
Aber alles in allem waren uns diese Diskussionen im Moment völlig egal. Wir stürmten die Treppe hinab und umarmten die beiden erzürnten Energiebündel, die auch ihr Rededuell mit Kristina einen Moment lang unterbrachen. Es war nun vor allem Elena, die weiter auf Kristina einredete aber Kristina wusste sich mit dem gleichen Temperament zu wehren.
Es sollte sich nach und nach herausstellen, dass die beiden Mädchen am frühen Morgen mit ihren gepackten Koffern zu einer Bekannten in Siofok gegangen waren, da Kristina nie erlaubt hätte, dass sie bei uns übernachten.
Sie hatten bei Ankunft von Kristina und nach Absprache mit der verständnisvollen Bekannten vorgetäuscht, dass sie dort übernachtet hätten.
Kristina war aber argwöhnisch genug, dass sie dem Braten nicht traute und sich von der Bekannten unser Haus zeigen ließ.
Sie hatte also unser Liebesnest im wahrsten Sinne des Wortes „inspiziert“.
Da Elena und Natascha mit der Neugierde von Kristina gerechnet hatten, hatten Sie ihr Zimmer fein säuberlich aufgeräumt und keine Spuren für sie hinterlassen.
Trotzdem standen Kristina auch jetzt noch die Zweifel ins Gesicht geschrieben.
Als ich Natascha ins Gesicht schaute und wir gerade im Rücken von Kristina standen wischte sie sich mit dem Handrücken über die Stirn um zu zeigen: „Puh, das ist ja grade noch mal gutgegangen. Kristina hätte nicht erfahren dürfen, dass wir gemeinsam unter einem Dach geschlafen hatten.
Als Kristina nun etwas entspannter mit Elena plauderte, sagte Manuel zu mir: „Wie sollen wir denn mit ihr über eine Verlängerung des Aufenthalts unserer Mädchen sprechen, wenn sie uns nicht weiter traut als sie uns sieht?“ Ich antwortete: „Im Moment bleibt uns wohl nur mit allen Mitteln unser schlechtes Image des arroganten deutschen Sextouristen zu bekämpfen und einen auf „wohlerzogen“ bzw. „Hochglanz-Schwiegersohn“ zu machen. Vielleicht können wir damit Kristina ein bisschen einlullen und sie gibt die Küken frei.“
Ich stellte fest, dass das Macho-Gerede, das Manuel gelegentlich an den Tag legte, so langsam auf mich abfärbte.
Kristina schlug uns vor zum Mittagessen in ein nahegelegenes Lokal zu gehen. Manuel bearbeitete Elena auf dem Weg dorthin doch bitte auf Kristina einzuwirken, dass sie die Verlängerung ihres Aufenthalts doch bitte genehmigen wolle.
Kristina und die beiden Mädchen berichteten über ihre Erlebnisse der letzten Tage. Für uns als Zuhörer erschien diese Unterhaltung wie ein fröhliches Gegackere.
Es war für Manuel und mich völlig unverständlich, dass die Drei nicht endlich auf das eigentliche Thema zu sprechen kamen, nämlich das weitere Verbleiben in Ungarn. Offensichtlich schoben alle dieses Thema vor sich her.
Schließlich brach Elena den Bann: „Mamo, kiedy wyjezdzasz? My chcemy zostac tutaj. – Mama, wann fährst Du? Wir wollen hier bleiben.“
Während wir die Frage noch einigermaßen nachvollziehen konnten, war dies bei Kristina’s Antwort nicht mehr möglich. Sie klang jedoch sehr ablehnend.
Kristina legte während sie sprach beide Hände auf den Tisch, dann erhob sie gegen die Mädchen den Zeigefinger und schließlich gegen uns Jungs die Faust.
Das konnten wir nicht auf uns sitzen lassen und schworen einen Eid, dass wir nur die besten Absichten mit den Mädchen hätten und sie für uns nicht nur Spielzeug waren, sondern dass wir durchaus ernste Absichten mit ihnen hegten. Noch während wir sprachen erkannten wir, dass eine solche Erklärung bei Kristina wie eine Art Schutzbehauptung ankommen musste, da sie uns ja praktisch überhaupt noch nicht richtig kannte. Dennoch baten wir die Mädchen für uns zu übersetzen.
Nun waren es die Mädchen, die wie wild gestikulierend auf Kristina einredeten. Auch hier entzog sich der Inhalt ihrer Worte vollkommen unserem Verständnis. Es waren lediglich Worte heraus zu hören wie „mily - nett, zaufany - Vertrauen erregend, smieszny – lustig.“ Ich übersetzte für Manuel, worauf er ironisch fragte: „Meinen die uns?“
Nun erhob Kristina den Zeigefinger um die Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken. Anschließend zog sie während ihrer bedrohlichen Worte die Augenbrauen nach oben.
Es folgte nun eine Aufzählung und zwar zeigte sie mit dem Zeigefinger der rechten Hand nach und nach auf die einzelnen Finger der linken.
Hierbei zählte sie jeweils einen polnischen Frauennamen und dann wieder einen deutschen Männernamen auf etwa in der Art „Agnieszka Swoboda i Hans z Braunschweig, Helena Roblewska i Heinrich z Bochum, Lucina Sernacka i Bernhard z Essen. Anschließend sprach sie zu jedem der aufgezählten Pärchen einige Worte.
Wir sollten später von den Mädchen erfahren, dass Kristina wohl einige polnische Mädchen aufgezählt hatte, die auf deutsche Männer reingefallen waren, schwanger geworden waren und dann sitzen gelassen wurden.
Nach einem letzten Aufbäumen von Elena und Natascha schien Kristina ein Machtwort zu sprechen und kreuzte die Hände übereinander während sie sagte: „Nie, nie i jeszcze raz nie – nein, nein und nochmals nein,“ was ich mit meinen bescheidenen Polnisch-Kenntnissen verstand.
Damit glaubten wir den wesentlichen Inhalt des Gesprächs zu kennen und so wurde es für uns zur grausamen Gewissheit, dass die beiden Mädchen mit Kristina am kommenden Morgen vom Bahnhof in Siofok aus abreisen würden. Wir fühlten uns wie abserviert und in die Ecke gestellt.
Im Anschluss versuchte Kristina noch ein lockeres Gespräch mit uns in Gang zu bringen und stellte uns Fragen zu unserer Heimat und unseren Berufen.
Aber es fiel uns schwer einen auf „small-talk“ zu machen, nun da uns bewusst war, dass die baldige Trennung bevor stand. Viel lieber wären wir mit den beiden durchgebrannt und hätten sie mit nach Deutschland genommen. Aber alleine der Gedanke an den eisernen Vorhang und die drakonische Rechtsprechung in den sozialistischen Ländern ließ solche Gedanken im Keime ersticken.
Kristina’s letztes Wort jedenfalls schien damit gesprochen. Sie verabschiedete sich äußerst herzlich von den beiden Mädchen und von uns und ging zurück zu ihren Bekannten.
Es war nun vor allem Elena, die uns das weitere Vorgehen schilderte. Natascha quasselte ihr bei ihrem Versuch uns auf englisch zu berichten immer wieder auf polnisch dazwischen, was Elena auf eine harte Geduldsprobe stellte.
Kristina hatte den weiteren Ablauf so bestimmt, dass Elena und Natascha den Abend mit uns verbringen durften aber nur unter der bekannten Prämisse der sexuellen Enthaltsamkeit. Manuel kommentierte nur: „So langsam glaube ich das noch mit der strengen katholischen Erziehung.“
Am nächsten Morgen kurz nach 11.00 Uhr sollten wir Kristina bei den Bekannten abholen und sie und die beiden Mädchen zum Bahnhof bringen. Abfahrt des Zuges war wohl um 12.10 Uhr nach Budapest von wo es dann weiter gehen sollte nach Warschau.
So sehr wir auch versuchten an diesem Abend die Zeit festzuhalten, es wollte uns nicht gelingen. Die Stunden verflogen viel zu schnell.
Unsere Diskussion, die wir bei einer süffigen Flasche Rotwein führten, wechselte ständig zwischen naher und ferner Zukunft. Einmal mehr durchlebten wir ein Wechselbad der Gefühle. Noch waren uns die Mädchen so nahe und bald wären sie doch so fern.
Plötzlich platzte Elena auf englisch heraus: „I got it. We will escape! Ich hab’s. Wir werden fliehen!“ Natascha stimmte begeistert ein: „Tak, to zrobimy. Uciekamy. – Ja so machen wir es. Wir fliehen!“
Die beiden Mädchen erläuterten ihren Plan. Sie wollten einfach mit uns den Tag über abtauchen. Kristina müsste dann wohl oder übel den Zug nach Budapest nehmen um ihren reservierten Platz im Schnellzug nach Warschau wahrzunehmen und um rechtzeitig in Polen zu sein. Am Häuschen würden wir eine Nachricht hinterlassen, dass die beiden Mädchen am Samstag schön brav in Budapest in den Zug nach Warschau steigen und nachkommen würden.
Manuel war Feuer und Flamme für diese Idee: Ich selbst machte darauf aufmerksam, dass wir uns in einem sozialistischen Land und damit praktisch hinter dem eisernen Vorhang befanden. Wie weit würde man wohl kommen in einem Überwachungsstaat mit Bespitzelung und Geheimdiensten mit zwei polnischen Mädchen im Schlepptau ohne West-Visas? Ich sah uns beide schon dahinsiechen in einem spartanischen ungarischen Staatsgefängnis wo man Sittenstrolche wie uns besonders hart in die Mangel nimmt.
Aber bei einer zweiten Flasche Wein stieg auch meine kriminelle Energie deutlich an und meine drei Mitstreiter bearbeiteten mich so lange bis ich tatsächlich in die wagemutigen Pläne einstimmte.
Kapitel 27 Die waghalsige Flucht
Als wir am nächsten Morgen aufstanden und die Wirkung des Alkohols verflogen war, war es plötzlich Manuel, der ins Grübeln kam und bemerkte: „Meinst Du wirklich wir können das riskieren? Wir wissen doch überhaupt nicht wie Kristina reagieren wird, wenn die beiden nicht spätestens am Bahnhof auftauchen. Wahrscheinlich rennt sie sofort auf die nächste Polizeidienststelle und gibt unsere Personenbeschreibungen durch.
Schließlich sind wir hier nur geduldet weil wir Devisen ins Land bringen und jetzt wollen wir zwei Staatsangehörige eines sozialistischen Bruderlandes entführen. Die werden ihre Polizei, ihre Suchhunde und dann ihre Superspione mit der Lizenz zum Töten auf uns hetzen.“
Ich entgegnete: „Aha, da ist wohl ein Gehirn aus seinem Liebesrausch aufgewacht und hat angefangen zu arbeiten. Das waren übrigens meine Worte schon gestern Abend.“
Manuel reagierte leicht gereizt: „Nun hab’ Dich mal nicht so. Du hast dem Vorschlag ja schließlich auch begeistert zugestimmt.“
Elena und Natascha, die bereits vor uns aufgestanden waren und Brötchen für das Frühstück geholt hatten schienen von der Idee „durchzubrennen“ hochgradig begeistert zu sein. Man konnte direkt den Eindruck gewinnen, sie würden ein Stück Freiheit erleben wollen, das sie in Polen niemals gekannt hatten.
Sie hatten zwischenzeitlich in aller Eile das Frühstück gerichtet und Natascha bat uns: „Bitte kommen zu Fruhstuck!“ Es war generell festzustellen, dass beide Mädchen bei der Aussprache von deutschen Worten Probleme mit den Umlauten „ä, ö und ü“ hatten. Elena ergänzte: „We have to hurry up. – Wir müssen uns beeilen.”
Wir setzten uns zu ihnen an den Tisch. Manuel gab zu bedenken: „Are You sure, that we can hide from police? – Seid Ihr sicher, dass wir uns vor der Polizei verstecken können?”
Elena antwortete spontan: „Oh yes, I’m sure, because all policemen are crazy. – Oh ja, ich bin sicher weil alle Polizisten verrückt (dumm) sind.”
Das war in unseren Ohren kein besonders überzeugendes Argument. Unsere Vorstellung von der ungarischen Polizei ähnelte mehr dem perfekt organisierten russischen Geheimdienst KGB wie wir ihn aus den Spionagefilmen des Kalten Krieges kannten.
Das war ja letztendlich auch der Grund warum wir uns schon während unseres ganzen Ungarn-Urlaubs in der Öffentlichkeit lammfromm verhielten. Irgendwie fühlte man sich ständig beobachtet, sei es von möglichen Spitzeln in der Bevölkerung oder von irgendwelchen Polizisten in zivil.
Schließlich waren die kommunistischen Länder für uns mit einem Bild des Überwachungsstaates behaftet, das uns nicht nur in Filmen sondern auch in der Schule vermittelt worden war.
In der nun anstehenden Situation der Gesetzlosigkeit sollte sich bei uns die Angst vor der Überwachung noch drastisch steigern.
Unsere „Flucht“ sollte uns auf die Halbinsel Tihany führen. Dort wollten wir den Tag verbringen und dann sehen ob Kristina tatsächlich abgereist war in Richtung Budapest.
Auf der Fahrt fragte Manuel an Elena gerichtet: „What do You think, that Kristina is doing?“ Elena antwortete: „I really don’t know. Maybe she’s calling for police. - Ich weiß es wirklich nicht. Vielleicht ruft sie die Polizei.“
Manuel stellte zu mir gewand fest: „Das klingt ja nicht sehr ermutigend. Dabei hatten wir uns so bemüht einen guten Eindruck auf Kristina zu machen, damit sie uns zutraut die beiden Mädchen nach drei weiteren Tagen heil und rechtzeitig nach Budapest zu bringen.“
Ich erwiderte: „Egal wie. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Wir tauchen für heute ab und peilen dann heute Abend die Lage. Erst wenn die Luft rein ist gehen wir zurück in unser Häuschen.“
Auf der Fahrt hielten wir Ausschau nach Polizeiwagen und Uniformen.
Der Weg nach Tihany führte, wie bereits bei unserem ersten Ausflug mit der Clique, über die Autofähre.
Auf der Zufahrt auf das Fährschiff reihten wir uns in eine Schlange von wartenden Touristen ein. Kurz nachdem er den Motor abgestellt hatte flüsterte Manuel mir zu: „Verdammt wir sitzen in der Falle. Rechts vor uns steht ein Polizist. Schau nicht hin, damit wir kein Aufsehen erregen.“
Da immer mehr Fahrzeuge ankamen waren wir in der Zufahrt zur Fähre eingekeilt.
Die beiden Mädchen ließen sich nicht von unserer Nervosität anstecken und plapperten und kicherten ununterbrochen auf der Rückbank.
Ich fauchte nach hinten: „Prosze, spokoj, milicja. -Bitte Ruhe, Polizei,“ und deutete mit dem Kopf an aus welcher Richtung die Gefahr drohe.
Das Geplappere und Gekichere endete augenblicklich und es kehrte eine nachdenkliche Stille ein. Der „Polizist“ kam an unser Auto und klopfte an die Scheibe.
Als Manuel die Scheibe öffnete gab der Uniformierte eine Aufforderung von sich.
Da die ungarische wie die polnische eine slawische Sprache ist, konnten Elena und Natascha den Uniformierten zum Teil verstehen.
Elena sagte daher mit todernster Stimme: „On chce bilety.“ Sie konnte die Anspannung, die sich offensichtlich in unseren Mienen abspielte, nicht verstehen.
„Co on chce?“ fragte ich zurück, da sie wohl nicht gleich realisiert hatte, dass sie auf polnisch gesprochen hatte und wir nach wie vor Analphabeten in dieser Sprache waren mit einem Wortschatz von vielleicht 200 Worten.
Sie sagte auf englisch: „He wants the tickets.“ Erst jetzt fiel uns ein Stein vom Herzen.“ Er wollte die Fahrkarten sehen, die wir allerdings nicht hatten.
Befreit von der Last einer unmittelbar bevorstehenden Verhaftung, konnten Manuel und ich uns das Lachen nicht verkneifen. Das wiederum fand der uniformierte Kontrolleur nicht sehr lustig und bekam sogleich einen ziemlich ernsten und zornigen Gesichtsausdruck.
Er schimpfte einige Worte auf ungarisch die wohl heißen sollten: „Immer diese arroganten, degenerierten, nichtsnutzen Deutschen, die nicht einmal in der Lage sind rechtzeitig Fahrkarten für eine Fähre zu kaufen. Das einzige was die auf die Reihe bringen ist ein paar gut aussehende Mädchen aus dem Osten abzuschleppen und dann zu vernaschen.
Er konnte ja nicht ahnen, dass wir nicht einmal das geschafft hatten.
Nun erbarmte sich Natascha des erzürnten Kontrolleurs und stieg aus dem Wagen um mit ihm zu verhandeln. Und siehe da, er hatte gegen ein paar Forint extra doch zufällig vier Fahrkarten in seiner Jackentasche vorrätig.
Nachdem er abkassiert hatte machte er sich an das nächste Fahrzeug in der Schlange. Wir hörten nur noch wie er dort das gleiche verärgerte Wehklagen von sich gab um dann schließlich ebenfalls ein paar Schwarzkarten gegen ein Zusatzentgelt zu verkaufen. Diese Strategie schien ihm über einen Tag betrachtet ein ganz erhebliches Zubrot einzubringen.
Da Tihany einerseits ein herrliches Urlaubsdomizil, andererseits aber auch ein beliebtes Ausflugsziel für Touristen aus dem ganzen Einzugsgebiet des Balaton war herrschte dort bei unserer Ankunft schon reger Betrieb.
Wenigstens fühlten wir uns in der Menschenmenge relativ sicher und konnten die gemeinsame Zeit mit Elena und Natascha genießen.
Überhaupt entdeckten wir die Insel bei unserem zweiten Besuch vollkommen neu. Während wir bei unserem ersten Besuch mit unserer Clique ein routinemäßiges Programm mit Berichten von Rita aus dem Reiseführer abgespult hatten, war dies nun ein ganz anderes Erlebnis.
Trotz der zahlreichen Besucher sahen wir die Insel nun mit ganz anderen Augen. Beim näheren Hinschauen hatte sie sogar ein sehr romantisches Flair.
So gab es mehrere kleine Museen, die wir bei unserem ersten Aufenthalt schlicht übersehen hatten. Es gab aber auch viele verträumte Ecken und Nischen wo man die Zweisamkeit genießen konnte ohne das jeweils andere Pärchen aus den Augen zu verlieren.
Unser Mittagessen nahmen wir ein auf der Terrasse eines Restaurants das in Hanglage gebaut war und genossen den herrlichen Blick auf den Balaton.
Das dominierende Thema hierbei war natürlich Kristina und wie sie reagiert habe auf unsere „Flucht“. War sie tatsächlich abgereist? Hatte sie doch ein gewisses Vertrauen in uns entwickelt? Hatte sie die Polizei informiert?
Elena bemerkte hierzu lediglich: „She must return to Poland in time because she must work on Monday. – Sie muss rechtzeitig nach Polen zurückkehren weil sie am Montag zur Arbeit muss.“
Manuel fragte weiter: „Does she trust us? – Vertraut sie uns?” Elena entgegnete: „Kristina is afraid that something bad happens to us. The journey by train to Budapest was very frightening for us. – Kristina hat Angst, dass uns etwas schlimmes passiert. Die Zugfahrt nach Budapest war sehr furchterregend für uns.“
Sie erzählte weiter, dass sie auf der Hinfahrt nach Budapest ohne Kristina gereist waren. Zur Sicherheit hatte diese organisiert, dass die Mädchen mit dem Zugschaffner in einem Schlafabteil mit zwei Doppelstockbetten untergebracht waren. Es stellte sich jedoch heraus, dass das was als Schutz gedacht war zu einem Alptraum werden sollte.
Der Schaffner, der wohl schwerer Alkoholiker war, leerte am Abend vor dem Schlafengehen noch schnell eine Flasche Wodka. Anschließend fragte er die beiden Mädchen doch allen Ernstes ob sie sich nicht zu ihm ins Bett legen wollten.
Nachdem sie dankend abgelehnt hatten, verbrachten sie eine unruhige Nacht in den beiden Etagenbetten über dem Schaffner. Wenigstens war dieser nach dem übermäßigen Alkoholgenuss sehr schnell eingeschlafen und begann bald fürchterlich zu schnarchen.
Damit war unser Beschützerinstinkt mehr denn je geweckt und wir drückten unsere Angebeteten noch etwas näher an uns.
Am Nachmittag erkundeten wir noch weitere interessante Plätze und Sehenswürdigkeiten der Insel, die Manuel und ich ja noch von unserem ersten Tihany - Aufenthalt mit unserer Clique in Erinnerung hatten.
Kapitel 28 Begegnung mit der Staatsgewalt
Die Heimfahrt am Abend mit der Fähre über den Balaton und anschließend durch Siofok verlief problemlos.
Da wir jedoch nicht wussten, was uns in unserem Ferienhäuschen erwarten würde, parkten wir unser Auto drei Straßen weiter. Da es schon spät war und die Dämmerung hereingebrochen war, nahmen wir aus dem Auto eine Taschenlampe mit und legten den Rest des Weges zu Fuß zurück.
Dann schlichen wir auf das Grundstück um zu sehen ob vielleicht Kristina oder gar die Polizei dort Wache hielten.
Am Haus angelangt öffneten wir vorsichtig die Tür und schalteten die Taschenlampe ein um die Wohnung zu inspizieren.
Abschließend trafen wir uns im Wohnzimmer um die Lage zu besprechen. Manuel resümierte unsere Feststellungen: „Die Luft scheint rein zu sein.“
Die Szenerie beim Schein der Taschenlampe hatte etwas gespenstisches und daher ihren ganz besonderen Reiz. Es war gerade so als wären wir in ein vollkommen fremdes Haus eingebrochen, hätten dieses ausgeraubt und würden nun die Flucht besprechen. Wir kosteten diese ganz spezielle Situation mit unseren geliebten Mädchen minutenlang aus.
Schließlich ging Manuel nach oben in sein Schlafzimmer um von dort die Straße zu inspizieren.
Kurz danach kam er zurück auf die Empore geschossen und rief voller Aufregung: „Polizei. Milicja. Police.“ Sie kommen die Straße herunter gefahren. Die haben sicher Wind bekommen, dass wir hier sind.“ Wir rannten die Treppe hoch und stürzten mit Manuel zusammen an das Schlafzimmerfenster.
Tatsächlich hatte das Polizeifahrzeug etwa 30 Meter entfernt angehalten. Es stiegen vier Polizisten aus und nahmen ihre Pistole in den Anschlag. Sie näherten sich nun zügig unserer Hofeinfahrt wobei sie versuchten ständig eine Deckung hinter den geparkten Autos zu suchen.
Das Herz klopfte uns nun bis an den Hals. „Die haben ihre Waffen im Anschlag,“ faselte ich mit zitternder Stimme, „ich hab’s doch gleich gesagt. Mit Entführern machen die hier im Osten kurzen Prozess.“
Die beiden Mädchen, die bisher die Polizei nicht ganz so ernst genommen hatten wie wir, waren in Anbetracht der Waffen doch auch erschrocken und kauerten nun unter dem Fenstersims.
Manuel sagte zu ihnen: „You mustn’t be afraid. They want us. We are the hijackers. – Ihr müsst keine Angst haben. Sie wollen uns. Wir sind die Flugzeugentführer.“ Es war ihm wohl in der Panik kein besseres englisches Wort für Entführer eingefallen.
In Anspannung harrten wir an Ort und Stelle aus um abzuwarten was denn passieren würde.
Nach etwa fünf Minuten ließ es im Erdgeschoss einen fürchterlichen Schlag. Offensichtlich war die Eingangstür mit Urgewalt aufgestoßen worden und dann hinten an die Wand gekracht. Manuel und ich begaben uns nun in Richtung Empore, da es wohl vernünftiger sein würde sich erkennen zu geben als sich zu verstecken.
Wir baten die beiden Mädchen im Zimmer zu bleiben, da wir sie aus möglichen Schwierigkeiten heraushalten wollten.
Das Bild, das wir im Erdgeschoss erblickten war im ersten Moment eher erheiternd denn erschreckend. Drei der vier Polizisten lagen in der Wohnung mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Boden. Offensichtlich hatten sie im Hof Anlauf genommen um die Haustüre aufzubrechen. Aber diese war ja offen!!
So hatten sie es wohl im anschließenden freien Fall bis weit in das Wohnzimmer hinein geschafft und waren dort unsanft auf den Fußboden gekracht.
Auf Grund der nach wie vor bedrohlichen Lage war uns in diesem Moment nicht nach Lachen zu Mute, aber Elena, die hinter der Tr hervorlugte, konnte sich nicht verkneifen entgeistert zu flüstern: „All Policemen are crazy.“
Als die drei sich aufgerappelt hatten kam der vierte Polizist durch die Eingangstür. Es war wohl der Kommandant. Mit der Pistole in der Hand schüttelte er nur den Kopf über die Dusseligkeit seiner Leute.
Nun richteten alle vier Polizisten ihre Pistolen auf uns und der Kommandant rief ungarische Befehle.
Manuel flüsterte: „Sie wollen wohl, dass wir runterkommen.“ Wir hielten vorsichtshalber die Hände nach oben und schritten die Treppe hinab.
Der Kommandant der „Eliteeinheit“ rief nun unentwegt weitere Befehle wobei sich uns nicht erschloss ob diese an uns oder an seine Brigade gerichtet waren.
Die vier Polizisten wuselten nun wie aufgescheuchte Hühner um uns herum, drückten uns zu Boden, hielten unsere Arme hinter unseren Rücken zusammen und wir hörten nur noch wie die Handschellen klickten.
Kapitel 29 Das Verhör
Der Lichtstrahl der Schreibtischlampe war direkt auf uns gerichtet. Wir sollten wohl auf diese Weise geblendet werden, damit wir dem Kommandeur, der hinter dem Schreibtisch saß, nicht in die Augen sehen konnten.
Manuel und ich waren jeweils in einem klapprigen Lada auf die Polizeistation gefahren worden. Ich hatte die Ehre im Auto des Kommandeurs abtransportiert zu werden und saß auf der Rückbank neben einem der Polizisten.
Der Kommandeur saß vorne auf dem Beifahrersitz und ein weiterer der Polizisten saß am Steuer. Das Unglück des Fahrers bestand darin, dass er auf der ganzen Fahrt zur Polizeistation eine gepfefferte und ohrenbetäubende Standpauke seines Chefs anhören musste. Zwar war der Fahrgastbereich durch eine Glasscheibe vom Fahrerbereich getrennt, aber der Kommandeur war so laut, dass sein Gepoltere auf der Rückbank noch gut zu hören war.
Aus der Schimpftirade waren Wortfetzen heraus zu hören wie Idiotschi, Cholera, Katastrofa, naiwny und Chaos, die man auch als Deutscher versteht und wesentliche Rückschlüsse auf die Beurteilung seiner Leute und der Unfähigkeit, die sie beim zurückliegenden Einsatz an den Tag gelegt hatten, zuließen.
Außerdem hatte der Kommandeur seine Worte unterstützt mit aufgeregten Gesten, die denen in unserem Heimatland stark glichen, wie z.B. der Scheibenwischer, der klopfende Zeigefinger an der seitlichen Stirn oder die drehende Kurbel seitlich des Kopfes.
Allerdings war unter diesen Gesten auch eine, die ich noch nicht kannte und die mir sehr bedrohlich vorkam. Der Kommandeur klopfte sich nämlich mit der Kante seiner flachen rechten Hand seitlich an den Hals als wolle er sagen: „Ich schlage euch den Kopf ab.“
Aber was sollte dann erst mit uns passieren, wenn man schon einem tölpelhaftem Polizisten den Kopf abschlagen würde?
Das Herz rutschte mir in diesem Moment noch tiefer in die Hosentasche als es ohnehin schon drinsteckte.
Beim Aussteigen aus dem Polizeiauto musste der Fahrer seinen Frust abladen, indem er die Fahrertür mit einer solchen Wut hinter sich zuknallte, dass man befürchten musste, dass gleich das ganze Gefährt auseinanderfallen würde. Der zweite Polizist, der neben mir gesessen hatte, hatte den Wutanfall zwar nicht direkt abbekommen, fühlte sich aber ebenfalls getroffen und knuffte mich daher missmutig und ruppig aus dem Auto. Da ich immer noch die Handschellen hinter dem Rücken trug stolperte ich zuerst und verlor fast das Gleichgewicht, aber wenn ich ehrlich sein soll, war mir das die Vorstellung, die ich gerade hatte miterleben dürfen, in diesem Moment wert.
Da Manuel und ich von den Fahrzeugen direkt in den Verhörraum geführt worden waren hatten wir keine Möglichkeit gehabt uns miteinander zu verständigen.
Das Licht der Tischlampe war so grell, dass wir nur ahnen konnte, dass der Kommandeur uns direkt gegenüber saß.
Insgesamt gab es an dem Besprechungstisch, der in der Mitte des Raumes stand, acht uralte Holzstühle. Wir saßen wie zwei Schwerverbrecher an einer langen Seite des Tisches. Der Kommandant saß uns gegenüber. Zu unserer Linken hatte ein weiterer, etwas älterer Herr Platz genommen, der uns mit „Guten Tag“ begrüßt hatte, Platz genommen. Anscheinend handelte es sich bei ihm um den Dolmetscher. Die übrigen vier Polizisten wagten es nicht Platz zu nehmen, wohl um ihren Vorgesetzen nicht noch weiter auf die Palme zu treiben.
Der Raum war weiß gestrichen und war sehr spärlich eingerichtet. Die ganze Szenerie erinnerte stark an eine Verhörsituation wie man sie aus den einschlägigen Spionagefilmen des kalten Krieges kannte.
Der Kommandant begann mit seiner ersten Frage, die der Dolmetscher übersetzte: „Woher Sie kommen?“ Wir antworteten: „Aus Westdeutschland.“ Der Dolmetscher übersetzte diese und auch die weiteren Fragen und Antworten zu unserer Herkunft und zu unserem Urlaub in Ungarn. Wir verrieten lediglich nichts über die beiden Mädchen um sie möglichst aus der ganzen Sache herauszuhalten.
Schließlich kam die Frage: „Wo Sie wohnen?“ Manuel antwortete: „Was für eine blöde Frage. Genau in dem Ferienhäuschen, in welchem Sie uns aufgelesen haben.“
Der Dolmetscher schaute uns verblüfft an und kratzte sich am Hinterkopf. Es war ihm wohl bewusst, dass wenn dies der Wahrheit entspräche, die Festnahme eine besonders peinliche Note erhalten könnte. Obwohl er nicht wissen konnte, dass die Festnahme an sich schon tölpelhaft abgelaufen war, kannte er wohl den Kommandeur gut genug, um zu wissen, dass dieser relativ leicht aus der Fassung zu bringen war und druckste nun um die Übersetzung herum.
Der Kommandeur wurde schon langsam mürrisch und blaffte ihn an und forderte die Übersetzung unserer Antwort.
Schließlich musste dieser die Katze aus dem Sack lassen und übersetzte Manuels Antwort ins Ungarische.
Die Reaktion des Kommandeurs kam prompt und unüberhörbar. Seine Faust krachte wie aus dem Nichts auf den Tisch und er begann loszubrüllen. Die Tischlampe knickte durch die heftige Erschütterung nach unten so dass sie uns nicht mehr direkt in das Gesicht schien. Es wagte jedoch niemand im Raum die Lampe wieder aufzurichten um den tobsüchtigen Chef nicht weiter zu verärgern.
Um nicht selbst in die Schusslinie zu geraten begann der Dolmetscher eiligst zu übersetzen: „Aber Besitzerin, alte Frau, haben gesagt, dass in Ferienhaus habe gebrannt Taschenlampe wie von Einbrecher.“
Da die Tischlampe nun etwas nach unten abgekippt war konnte man die Konturen des Kommandeurs besser erkennen. Er hatte sich bedrohlich nach vorne gebeugt und in seinem Mund wanderte ein kleines rötliches Licht nervös von links nach rechts und wieder zurück. Es musste wohl eine Zigarette sein, die aber offensichtlich nicht zu seiner Beruhigung beitragen konnte.
Da ich dem cholerischen Kommandanten auf keinen Fall die Wahrheit über die Entführung unserer beiden Mädchen verraten konnte, die uns nur noch mehr ins Verderben gerissen hätte, versuchte ich es mit einer Notlüge: „Das mit der Taschenlampe war nur ein Spiel. Wir haben nur getestet, ob sie noch funktioniert.“
Manuel raunzte mir zu: „Sehr glaubhaft, ehrlich! Sag doch gleich wir wollten gerade auf dem Wohnzimmerteppich ein Lagerfeuer anzünden.“
Der Dolmetscher übersetzte nun meine Antwort in Richtung Kommandeur. Seine Reaktion war im wahrsten Sinne des Wortes niederschmetternd. Er schoss in die Höhe so dass sein Stuhl hinter ihm an die Wand flog und in tausend Teile zerbrach. Lauter als zuvor brüllte er uns an wobei wir nur das Wort „Kapitalistschi“ verstanden. Er stand nun vornüber gebeugt am Besprechungstisch und hatte sich bedrohlich vor uns aufgebaut.
Nun richtete sich der Tobsüchtige wieder an den Dolmetscher ohne sich wirklich zu beruhigen und dieser übersetzte: „Herr Kommandant fragen wo sind zwei Mädchen aus Polen? Und bitte Antwort gut überlegen, sonst sei die Teufel los.“
Manuel witzelte mit Galgenhumor: „Die Teufel ist doch schon los. Was soll da noch kommen?“
Ich versuchte es mit einer weiteren Notlüge: „Die beiden Mädchen sind bei Frau Kristina Nowakowska in Budapest. Das ist die Mutter des einen und die Tante des anderen Mädchens.“
Nach der Übersetzung riss der herzinfarktgefährdete Polizeichef beide Arme nach oben als wolle er andeuten, dass er uns beide am liebsten in der Luft zerreißen wolle und spukte seine Zigarette in einen am Tisch stehenden Papierkorb. Prompt fing das Papier Feuer und eine helle Flamme loderte aus dem Holzeimer.
Einer der Polizisten der gerade unterwürfig dabei war dem Kommandanten einen neuen Stuhl hinzustellen stürzte nun zu dem Papierkorb und versuchte diesen mit seiner Aktentasche abzudecken um die aufkommenden Flammen zu ersticken.
Der Kommandant ignorierte seinen eifrigen Untergebenen und war von der Gesamtsituation sichtlich überfordert.
Er ließ sich auf den Stuhl fallen und machte erneut die für uns noch fremde Geste, indem er sich mit der Handkante seitlich an den Hals klopfte.
Da die Polizei offensichtlich von der Existenz der beiden Mädchen wussten, deuteten wir die Geste als äußerst schlechtes Zeichen und eine Art Vorverurteilung. Wir mussten das Schlimmste befürchten.
Einer der Polizisten befragte den abgekämpften Kommandanten nach dem weiteren Vorgehen worauf er schwer atmend in Richtung Tür zeigte und einen Befehl gab, den wir nur zu gut verstanden: „Do Arreschtu!“
Kapitel 30 Im Knast
Wir wurden in eine Gefängniszelle geführt. Diese bot vier Schlafplätze auf zwei Doppelstockpritschen, die jeweils mit einer Matratze und einem Kopfkissen belegt waren.
Eine der Pritschen war bereits belegt. Der Gefangene lag dort gekrümmt und mit dem Rücken zu uns gewandt und schien zu schlafen.
Wir waren sehr gespannt was unser Zellennachbar wohl ausgefressen hatte und ob man uns mit einem richtigen Verbrecher zusammen gesperrt hatte.
Da wir aber nach dem langen Tag und dem anstrengenden Verhör auch sehr müde waren teilten wir uns eine Doppelstockpritsche und versuchten den Schläfer nicht zu stören.
Endlich konnte ich Matthias flüsternd meine größte Sorge mitteilen: „Hast du die komische Handbewegung des Kommandanten gesehen, als er sich mit seiner flachen Handseitlich an den Hals geklopft hat? Hast du eine Ahnung was das bedeutet?“ Manuel antwortete: „Nein ich habe keinen blassen Schimmer. Es sieht aber verdammt bedrohlich aus.“
Plötzlich brummte der Zellengenosse gegenüber, der offensichtlich doch nicht schlief: „Alkohol. Det bedeutet Alkohol und alles was damit zu tun hat. Sich vollaufen lassen, sich de Kanne geben, sich abfüllen, eenen druff machen, eben det volle Programm.“ Seine Stimme wurde nun etwas nachdenklich. „Wenn Ihr so wollt steht diese Geste für eines der größten Probleme des Sozialismus. Die Leute sind einjesperrt und ham keene Perspektiven. Deshalb jeben se sich die Kanne. Man könnte fast sachen. Der Alkoholismus is ne Volkskrankheit.“
Wir hielten es an der Zeit uns vorzustellen, woraufhin unser Zellennachbar sich umdrehte und sich ebenfalls vorstellte: „Ick bin Walter. Komme aus Ost-Berlin. Die haben mich wegen Fluchthilfe dranjekricht. Hab jede Woche zehn Volksjenossen nach drieben innen Westn jeschleust. Wat habt Ihr denn uffm Kerbholz?“
Wir berichteten ihm , dass wir mit zwei Polinnen im Alter von siebzehn und neunzehn Jahren durchgebrannt waren und dass wir zum Schluss unserer Flucht noch als Einbrecher in unsere eigene Wohnung festgenommen worden waren.
Er pfiff durch die Zähne: „Ach du grüne Neune. Da seid ihr ja richtisch große Fische. Entführung von Bürjern eines Klassenfreundes und dann noch minderjährisch. Dazu noch Missachtung und Beschädigung von Volkseichentum. Das alles zusammen würde in der DDR lebenlänglisch Zuchthaus bedeuten, Bautzen, jelbes Elend, Einzelzelle, Folter und allen Schikanen, auweia.“
Das war zu viel für uns. Ich fragte mit bebender Stimme: „Und hier in Ungarn? Was bedeutet das in Ungarn?“
Walter antwortete während er es sich wieder auf seiner Pritsche gemütlich machte um endlich einzuschlafen: „Hier in Ungarn ist das auch nicht viel besser. Da könnt ihr euch auf einiges jefasst machen. Lecht euch hin und schlaft ne Runde. Ihr werdet noch viel ertrachen müssen: Verhöre, ...Folter, ...Verhöre, ...Kaltduschen, ...Verhöre, ...Daumenschrauben, ...“ Nach diesen Worten wurde es still. Walter schien endlich einzuschlafen. Das Reden hatte ihn wohl zu sehr angestrengt.
In den folgenden Stunden war trotz Müdigkeit nicht an geregelten Schlaf zu denken. Zu groß war die Angst davor, was uns am nächsten Morgen erwarten würde.
Zuerst wurde Walter abgeholt. Es war gegen 8.00 Uhr. Er verabschiedete sich mit den Worten: „Ick wünsch euch wat“ und wurde von zwei Beamten in die Mitte genommen.
Völlig übernächtigt starrten wir ins Leere und malten uns aus, was als nächstes passieren könne.
Die Wärter erschienen erst wieder gegen 10.00 Uhr. Wir starrten uns an und Manuel sagte nur: „Mal gespannt wen sie zuerst mitnehmen.“
Aber die Wärter winkten uns beide auf den Gang hinaus und nahmen uns in die Mitte. Wir wurden in den bekannten Verhörraum geführt. Dort saß bereits der Kommandant am bekannten Platz und trommelte schon ungeduldig mit seinen Fingern auf den Tisch. Links von ihm saß der Dolmetscher vom Vorabend. Vor sich hatte der Kommandant einen Metallbecher mit dampfendem Kaffee stehen.
Er hatte rote Ränder unter den Augen und schien nicht ausgeschlafen zu sein. Damit schien klar zu sein, dass er am Vortag mit der Handkantengeste wohl angedeutet hatte, dass er selbst dringend eine gehörige Menge Wodka benötige um seine strapazierten Nerven wieder in den Griff zu bekommen.
Ziemlich unmotiviert und fast gelangweilt gab der Kommandant einige Befehle und als er auf einen dieser Befehle eine Gegenfrage erhielt schloss er die Augen und fasste sich mit beiden Händen an die Schläfen und schien sehr genervt zu sein.
Er musste einen fürchterlichen Kater haben, der von einer nicht minder fürchterlichen Migräne begleitet wurde.
Mit gepresster Stimme beantwortete er die Frage seines Untergebenen. Auch wenn wir den Inhalt der Worte nicht verstehen konnten war allein der Ton des Offiziers schon so bedrohlich, dass sich jede weitere Fragestellung verbot.
Aber der gleiche Polizist, der bereits die erste Frage gestellt hatte, schien sehr einfach gestrickt zu sein und hatte wohl die besondere Brisanz der Situation überhaupt nicht erkannt.
Er machte deshalb den gravierenden Fehler eine weitere Frage zu stellen. Die weiteren Polizisten schauten sich an als wollten sie sagen: „Wie blöd ist der denn. Hat der denn überhaupt nicht kapiert, dass unser brodelnder Chef kurz vor der Eruption steht?“
Die Reaktion des Kommandanten war wie erwartet kurz und sehr impulsiv. Er umschloss den glühend heißen Kaffeebecher mit seiner rechten Hand, was ihm höllische Schmerzen bereiten musste und warf ihn nach dem Polizisten, der schützend seine Hände vor das Gesicht hob. Auch er musste höllische Schmerzen haben, da der größte Teil des heißen Kaffees sich über seine Hände ergoss.
Im Anschluss an das kleine Intermezzo versuchte sich der Polizist nichts anmerken zu lassen. Er schien lediglich die Luft anzuhalten um den Schmerz zu unterdrücken verblieb aber ansonsten in Hab-Acht Stellung. Der Offizier hingegen fasste sich wieder an die beiden Schläfen, da seine Migräne wohl noch mehr schmerzte als seine verbrühte Wurfhand.
Endlich wandte er sich trotz dieser starken Beeinträchtigungen an uns und sprach einige Worte zu uns, die der Dolmetscher übersetzte:
„Kleine dicke Frau, Besitzerin von Tourismushaus, ist gekommen hat bestätigt, dass Haus vermietet ist an zwei junge Männer aus Deutschland. Sie warten draußen und muss identifizieren Sie.“ Endlich sahen wir einen Silberstreif am Horizont. Wenn uns die Vermieterin identifizieren würde, wären wir schon mal von einem Vorwurf befreit.
Einer der Polizisten ging hinaus und kam kurz darauf mit der freundlichen alten Frau wieder herein und führte sie an einen Stuhl.
Der Kommandant stellte ihr nun eine Frage wobei es wohl um unsere Identifikation als Mieter ihres Ferienhauses ging. Sie nickte eifrig und gab zusätzlich auf ungarisch Antwort. Der Dolmetscher übermittelte uns die Antwort: „Die Frau hat sie wieder erkannt als die Mieter und sagt es tue ihr leid, dass sie die Polizei gerufen habe. Sie hatte an einen Einbruch geglaubt, da sie die Taschenlampen im Haus gesehen habe.“ Wir atmeten tief durch und ich seufzte: „Bleibt nur noch die Entführung zweier Bürgerinnen des Klassenfreundes.“ Bevor ich weitersprechen konnte stieß mir Manuel mit seiner Schuhspitze ans Schienbein. Fast hätte ich vor Schmerz aufgeheult, konnte meine Reaktion aber auf ein kurzes Stöhnen reduzieren.
Der Dolmetscher fasste gleich nach: „Möchten Sie noch etwas sagen?“ Manuel ergriff sofort das Wort: „Nein, nein, das war’s.“
Der Kommandant hatte in seiner Katerstimmung genug gehört und winkte alle Anwesenden hinaus. Er wollte wohl nur noch seine Ruhe haben.
Manuel und ich durften zusammen mit unserer Vermieterin das Gefängnisgebäude verlassen. Während Sie uns auf dem Weg zu ihrem Häuschen führte redete sie die ganze Zeit auf uns ein. Sie wollte sich offensichtlich entschuldigen.
Obwohl wir die ganze Zeit versuchten sie zu beruhigen bedauerte sie die Festnahme wohl zutiefst.
Als wir um die nächste Häuserecke gebogen waren, kamen unsere beiden Mädchen auf uns zu und wir fielen uns in die Arme. Es stellte sich heraus, dass die Polizei nur bezüglich des vermeintlichen Einbruchs ermittelt hatte. Eine Entführung war zu keinem Zeitpunkt angezeigt worden und daher für die Polizei auch nicht relevant gewesen. Manuel frotzelte noch: „Und du Held hättest die Polizei fast noch auf die Spur mit einer möglichen Entführung gebracht.“ Ich brummte: „Sorry. Da bin ich wohl auf der Leitung gesessen.“
Kapitel 31 Trostlose Zukunft
Den übrigen Tag verbrachten wir in unserem Ferienhäuschen und leckten unsere Wunden. Nach der grausamen Nacht im Kerker waren wir zunächst noch zu aufgedreht um zu schlafen. Wir genossen die Zweisamkeit, kochten gemeinsam, aßen gemeinsam und konnten gar nicht genug voneinander bekommen. Während die kurzfristige Planung für den kommenden Abreisetag recht schnell erledigt war, brüteten wir immer wieder über der weiteren Zukunft.
Wir versuchten gegenseitig möglichst viel über die Heimat des jeweiligen Partners bzw. der Partnerin zu erfahren. Natascha und ich hatten es uns auf der Couch gemütlich gemacht. Mit Hilfe des „slownik – Wörterbuches“ versuchten wir unser jeweiligen Lebensgewohnheiten, Arbeitsplätze und die Besonderheiten von Deutschland und Polen zu beschreiben.
Auf diese Weise konnte ich erfahren, dass Natascha bei den Nowakowskis in einer sehr kleinen Wohnung mit ca. 60 Quadratmetern aber mit drei Zimmern lebte. Es handelte sich hierbei um eine Wohnung in einem von vielen mehrstöckigen Wohnblocks in einem Stadtteil von Bialystok.
Bialystok hatte ca. 240.000 Einwohner und lag im äußersten Osten Polens ca. 50 km von der Grenze zu Litauen.
Während Bialystok eine Trabantenstadt mit starker sozialistischer Prägung zu sein schien lagen direkt vor ihren Toren die verträumten Masuren.
Familie Nowakowski war die typische Großstadtfamilie während Natascha auf dem Land in einem kleinen Städtchen aufgewachsen war.
Der Name des Städtchens heißt Rajgrod, was so viel heißt wie Paradieshügel. Zum ersten Mal nahmen wir uns viel Zeit und Geduld um uns mit dem jeweils anderen Land zu beschäftigen.
Natascha erzählte mir vom langen Schlangestehen beim Einkaufen, von Lebensmittelgutscheinen, von kalten Wintern bis minus 35 Grad Celsius, von Autos wie Lada, Wolga oder Tarpan.
Auch in Polen gab es einen Run auf Westprodukte wie Jeans, Parfüme und Schmuck in sogenannten Pewex-Läden. Angeblich gab es dort einen Schwarzmarkt für Westmusik und Filme aus Hollywood, die jeweils auf Kassetten kopiert und dann auf dem Schwarzmarkt vertrieben wurden.
Natascha erzählte weiter, dass Polen ein typisches Auswanderungsland war. In jeder dritten Familie gebe es ein Familienmitglied, das nach USA oder Kanada ausgewandert sei. Es gebe aber auch viele Saisonarbeiter, die für drei Monate im Jahr in Westdeutschland oder Frankreich arbeiteten und dann für das restliche Jahr in ihrem Heimatland in Saus und Braus leben konnten.
Elena bemerkte schließlich: „Maybe You could visit us in Poland. – Vielleicht könntet Ihr uns ja in Polen besuchen.“ Manuel schaute mich an: „Was meinst Du, was ist eine solch halbherzige Einladung wert ohne das Einverständnis von Kristina.“
Ich antwortete mit einer Gegenfrage: „Du meinst nachdem Du wie ein wild gewordener Pavian über ihre Tochter hergefallen bist und wir am Tag darauf die beiden Mädels gekidnappt haben?“
Eigentlich wollten wir die beiden Mädchen drängen, dass sie uns in Deutschland besuchen sollten, aber das lehnten beide kategorisch ab. Sie schienen eine regelrechte Furcht, vielleicht auch eine Art Minderwertigkeitsgefühl gegenüber dem kapitalistischen Westen zu haben.
Am Abend wurde uns mehr und mehr bewusst, dass dies der letzte gemeinsame Abend war vor einer ungewissen Zukunft.
Kapitel 32 Die Abreise
Auf der Fahrt am nächsten Morgen zum Bahnhof waren wir alle sehr niedergeschlagen. Bei all unseren Überlegungen am Vorabend hatten wir keine Lösung gefunden wie es weitergehen sollte. Das einzige was zu bleiben schien war, dass wir uns schreiben würden. Aber eine reine Brieffreundschaft war uns allen zu wenig und es war uns auch bewusst, dass sie auf Dauer zum Scheitern verurteilt wäre.
Mit Kristina hatten wir es uns versaut. Wir hatten uns total eigensinnig für den schönen Augenblick entschieden und waren mit den Mädchen durchgebrannt anstatt an die fernere Zukunft zu denken und Kristina für uns zu gewinnen.
Als wir vor dem Bahnhofsgebäude in Siofok zum Stehen kamen rief Manuel: „Ich hab’s,“ anscheinend hatte er gerade angestrengt nachgedacht und offenbarte nun: „Wir fahren die beiden nach Budapest an den Bahnhof. So können wir noch einige Stunden länger zusammen sein....und können dann von dort nach Hause fahren.“ „Das ist genial,“ fügte ich hinzu, „warum sind wir nicht früher darauf gekommen?“ So hatten wir uns eine letzte Galgenfrist erkämpft vor dem endgültigen Abschied.
Als wir auf dem Bahnhof in Budapest ankamen war es im Auto mucksmäuschenstill. Als wir durch die Eingangstüren des Bahnhofsgebäudes trotteten waren es noch etwa 2 Stunden bis zur Abfahrt des Zuges nach Warschau.
Wir vergewisserten uns an der zentralen Anzeigetafel, dass die Abfahrtszeit des täglichen Zuges nach Warschau auch noch aktuell war und kauften mit den Mädchen dann die Tickets.
Nun suchten wir nach einem netten Lokal, in welchem wir die verbleibende Zeit vor dem großen Abschied miteinander verbringen konnten. Natascha und Elena schienen sich gut auszukennen und steuerten gezielt in eine Richtung. Schließlich standen wir vor einem Lokal mit dem Namen „Czardas“. Die Tür öffnete sich und vor uns stand .....Kristina.
Sie machte nun einen Schritt nach vorne und hob erneut wie schon drei Tage zuvor ihren rechten Arm. Manuel und ich erschraken erneut und machten reflexartig aus lauter Angst vor einem Schlag einen Schritt zurück. In diesem Moment schossen uns alle Sünden durch den Kopf, die sie uns seit unser letzten Begegnung anlasten würde, nämlich Kidnapping, sexueller Missbrauch, Verführung Minderjähriger, Raubüberfall, meineidliche Falschaussage und einiges mehr.
Aber auch dieses Mal rief sie fröhlich „Hello“ und fiel zunächst Manuel und dann mir um den Hals. Wir verstanden die Welt nicht mehr. Jetzt drängten sich Elena und Natascha nach vorne um Kristina nach bekannter polnischer Tradition zu begrüßen mit Küsschen rechts, Küsschen links, Küsschen rechts.
Manuel und ich standen da wie begossene Pudel und konnten nicht begreifen warum der große Donnerwetter ausblieb.
Aber es regte sich in uns ein leiser Verdacht. Und tatsächlich sollte sich nach und nach herausstellen, dass die drei ein abgekartetes Spiel mit uns gespielt hatten.
Kristina hatte sich von Anfang an die Option offen gehalten die Rückreise nach Polen erst am Samstag anzutreten. Also war sie zwei Tage zuvor zu ihren Bekannten nach Budapest zurückgefahren.
Die heiße Diskussion vor drei Tagen, die Kristina mit „Nie, nie i jeszcze raz nie – nein, nein und nochmals nein“ beendet hatte, ging nicht um eine Verlängerung des Aufenthalts am Balaton. Sie ging vielmehr um das miteinander Schlafen in einem Zimmer und die wohl hierbei unvermeidlichen „unkatholischen“ Folgen sexueller Natur. Deshalb hatte wohl Kristina auch die Negativbeispiele von Pärchen aufgezählt, bei denen Beziehungen in ähnlichen Konstellationen in die Brüche gegangen waren.
Damit war die ganze „Flucht“ zu einer Farce degradiert und hatte obendrein zu einer Polizeikontrolle geführt, die überflüssig und natürlich nicht von den Mädchen geplant war.
Kristina musste dann auch herzlich lachen, als sie diese Geschichte von den Mädchen erzählt bekam, vor allem an der Stelle, an der die Polizei so unrühmlich unser Häuschen gestürmt hatte. Genau wie Elena stellte sie fest: „All policemen are grazy!“
Beim gemeinsamen Abschiedsessen mussten wir dann im Nachhinein über so manche Szene, die nach dieser Auflösung groteske Züge bekam, schon wieder lachen.
Als die Zeit bis zur Abfahrt des Zuges immer knapper wurde räusperte sich Kristina plötzlich zum Zeichen, dass sie jetzt sprechen wolle. Zuerst richtete sie nochmals einige Worte an die Mädchen. Es ging wohl darum, dass sie die folgenden Worte übersetzen mögen.
Dann richtete sie sich an uns und verkündete beinahe fröhlich: „Zapraszamy was do Polski! – Wir laden euch ein nach Polen!“
Da war sie endlich! Die lang ersehnte Einladung! Das Licht am Ende des Tunnels! Für Manuel und mich war diese Einladung eine Art Befreiung. Es war als hätte Kristina uns die letzten Tage durch eine Probezeit geschickt, die wir offensichtlich bestanden hatten.
Wenn auch viele Details wie Visas, Grenzkontrollen, Sprachprobleme, Deutschenhass, Anreise und Unterbringung noch nicht geklärt waren, erschien nun ein Wiedersehen machbar. Wir durchlebten Momente voller Glücksgefühle und die Mädchen fielen uns in die Arme. Das Treffen sollte bereits über die folgenden Weihnachtsfeiertage stattfinden.
Für Natascha und mich hatte die Beziehung in dieser gemeinsamen Woche sehr innige Formen angenommen. Wir waren uns, zumindest im Rahmen der katholischen Moralvorstellungen, sehr nahe gekommen und waren uns schon sehr vertraut geworden. Elena und Manuel war es wohl ähnlich ergangen.
Der Abschied am Bahngleis wurde natürlich sehr schwer aber unter der neu gewonnenen Perspektive eines Treffens im Winter wurde er uns doch wesentlich erleichtert.
Auf dem Heimweg nach Deutschland philosophierten Manuel und ich noch viel über die süß-saueren Besonderheiten von Fernbeziehungen und Manuel prägte den bedeutungsschwangeren Satz, der uns auch in Zukunft noch lange begleiten sollte:
„Ohne Abschied kein Wiedersehen!“
Tag der Veröffentlichung: 14.08.2011
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