Schwarzer Adler saß auf einem Baustamm und wartete. Er spürte den Wind auf seiner von der Sonne gebräunten Haut, er roch den Duft der Gräser und er hörte das Rauschen eines nahen Baches. Vollkommen ruhig öffnete er seine Augen und blickte auf den mächtigen Wolf, der vor ihm Platz genommen hatte. Ganz ruhig saß er da, beinahe entspannt, und sein struppiges Haar wehte sacht.
„Du vertraust mir, nicht wahr?“, sprach Schwarzer Adler, ohne eine Antwort zu erwarten. Langsam stand er auf und näherte sich dem imposanten Tier.
Der Wolf bewegte sich nicht von der Stelle, sondern betrachtete ihn nur interessiert. Noch vor wenigen Tagen hatte er ihn anspringen und zerfleischen wollen und nur wegen der Fackel von ihm abgelassen und ihn knurrend umrundet. Der Mensch hatte dabei nur still dagestanden und seinerseits beobachtet, und so war die Furcht des Wolfes gewichen und er hatte sich wieder auf seine Streifzügen begeben. Dabei war ihm der Mensch durch den dichten Wald bis zu seiner Höhle gefolgt. Nie hatte er geschlafen, immer nur geschaut, wie sich der Wolf verhielt, und Stück für Stück war er ihm näher gekommen.
„Nun kommst du schon zu mir und wartest, was geschieht.“ Schwarzer Adler kniete sich neben den Wolf. „Wie viele Hasen hast du erlegt, wie viele Welpen großgezogen?“ Er besah sich die Wunden am Körper des Wolfes. „Und wie lange nun bist du aus deinem Rudel ausgeschlossen und kämpfst dich allein durch die Wildnis?“
Auf alle diese Fragen erwartete er keine Antwort, sie sollten nur sein Gewissen beruhigen. Ein Eingriff in die Natur wollte gut überlegt sein. Er war nicht wie die jungen Männer, die unerfahren die Bisons verfolgten und in Gruben scheuchten, und der Wolf war kein beliebiges Freiwild, sondern sein Totem.
„Der kluge Jäger wartet, bis die Beute zu ihm kommt“, erläuterte er dem Wolf, der ihn aus tiefschwarzen Augen anblickte. Dann schlang er seine muskulösen Arme um des Tieres Genick und brach es.
Mutter Erde zeigt ihre Macht im Großen und im Kleinen und Schwarzer Adler dankte ihr jeden Morgen und jeden Abend, Teil dieser Welt sein zu dürfen. Manches Mal jedoch war es unabdingbar, einen Teil von ihr zu zerstören, um sie am Laufen zu halten.
Mit dem Wolf über der Schulter betrat er das Dorf und übergab ihn den Frauen. Das Herz und das Fell waren ihm vorbehalten, der Rest wurde verwertet und aufgeteilt. Viel wichtiger jedoch war der Zustand des Schamanen, der seit Tagen auf dem Totenbett lag.
Besorgt betrat Schwarzer Adler dessen Zelt und sah ihn von einem guten Dutzend Menschen umgeben. Sie ließen ihn ohne Nachfrage durch und der Schamane erkannte ihn sofort, seine Augen hatten ihren feurigen Glanz nicht verloren. „Hast du es geschafft?“
„Ja“, antwortete Schwarzer Adler, „ich habe mein Totem erlegt und bin bereit.“
Der Alte lächelte müde. „Ich habe nichts anderes von meinem Nachfolger erwartet.“ Er richtete sich mühsam auf und ließ seinen Blick über die Anwesenden streifen. „Euch allen sei mein Segen gewiss, wir treffen uns im Weiten Land wieder. Nun geht und lasst mich letzte Worte an Schwarzen Adler richten.“
Die Männer und Frauen verließen mit geröteten Augen das Zelt. Zweiundzwanzig Sonnenzyklen lang war Große Krähe ihr Schamane gewesen und hatte sie durch schwere und durch erfreuliche Zeiten geführt. An diesem Tag noch würde diese Ära enden.
Zurück blieb Schwarzer Adler, der sorgsam den Eingang verschloss und sich zu ihm setzte: „Große Krähe, was habt Ihr mir zu sagen?“
Der Schamane ließ sich schwach auf sein Lager fallen. „Höre mir gut zu. Das Weite Land …“ Er unterbrach sich selbst und hustete Blut.
„Das Weite Land ist mir wohlbekannt“, versicherte Schwarzer Adler. „Schont Eure Kräfte.“
„Nein, du weißt gar nichts“, sprach der Schamane plötzlich sehr laut und aufgebracht, „und du hörst noch immer nicht zu!“ Er schloss zitternd die Augen und beruhigte sich wieder. „Das Weite Land, die Geisterwelt unserer Ahnen … existiert nicht.“
Entsetzt starrte Schwarzer Adler ihn an. Hatte er richtig gehört? „Es … existiert nicht?“
„Zumindest gibt es keinen Beleg“, korrigierte sich Große Krähe. „All die Sagen über das Weite Land, all die Visionen der Mutter Natur, jedes Totem … all dies entstammt dem Einfallsreichtum von Schamanen wir mir und bald auch dir.“
„Aber … ich verstehe nicht. Es ist alles eine Lüge?“
„Nein“, widersprach der Alte bestimmt. „Dies ist keine Lüge, dies ist Nutzen, der von Schamanen zu Schamanen weitergegeben wird. Das Weite Land ist nur Einbildung, aber es nimmt den Menschen die Angst vor dem Tod und erleichtert das Leben, und auch Mutter Natur ist eine Illusion, doch lehrt sie den Jungen, rücksichtsvoll und bewusst mit unserer Welt umzugehen. Selbst die Geisterwesen sind besserer Spuk, einzig dafür geschaffen, durch schwere Zeiten zu helfen und Hoffnung zu geben.“
Er betrachtete seinen Schüler, dem er all dies bis zu diesem Zeitpunkt verschwiegen hatte. „Hast du verstanden?“
Schwarzer Adler atmete tief durch. Sein Weltbild war innerhalb von Sekunden zerstört worden und einem neuen gewichen, das viel mehr Sinn ergab. Also nickte er ernst. Die Menschen brauchten Halt und Zuversicht und eine Führung, der man ohne Zweifel vertrauen konnte.
„Und eines noch“, sprach der scheidende Schamane. „Vergiss nicht die abendlichen Treffen mit Tabak und Tanz. Diese dienen keinesfalls der Kommunikation mit Geistern, sondern der mit echten Menschen aus Fleisch und Blut. Nur so bildet sich eine Gemeinschaft – und nur so gelangt man mit den Mädchen in Kontakt.“
Bei den letzten Worten legt sich ein Grinsen auf sein Gesicht, als er an seine Erlebnisse zurückdachte, und damit verstummte er für immer.
Mit gesenktem Kopf trat Schwarzer Adler aus dem Zelt hinaus unter die Sonne und ließ sich den gesäuberten, noch nassen Wolfspelz umhängen. Dann hob er seinen Blick und betrachtete reihum all die Menschen, denen der Schmerz ins Gesicht geschrieben stand.
„Trauert nicht um Große Krähe!“, ließ er sie wissen. „Freut euch für ihn, er reitet nun durch das Weite Land und wartet darauf, euch alle wiederzusehen.“ Mit voller Überzeugung setzte er ein Lächeln auf und breitete die Arme aus. „Lasst uns ein Fest veranstalten mit Musik und Tanz, sodass er uns dort drüben hört und zu Ehren der Mutter Erde.“
Texte: Covasol Libri
Bildmaterialien: Templermeister / pixelio.de
Tag der Veröffentlichung: 05.01.2013
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
den Nachfahren des Wolfes