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Das Flugzeug aus Rom setzte zur Landung auf dem Flughafen Nairobi an. Es hatte Fertignahrung, Grundnahrungsmittel und Medikamente an Bord, denn durch das Ausbleiben von nunmehr drei Regenzeiten in Folge war die diesjährige Ernte am Horn von Afrika ganz ausgefallen. Die große Dürre hatte dazu geführt, dass insgesamt etwa elf bis fünfzehn Millionen Menschen hungern mussten, und immer mehr von ihnen, insbesondere die Kinder und Alten, erlitten Schwächeanfälle oder starben an Unterernährung bzw. anderen Krankheiten, die die geschwächten, ausgemergelten Körper nicht mehr allein bekämpfen konnten.

Am Rande des Flugfeldes scharten sich einige Mitarbeiter der UNO um ihren Leiter, Vincent Cramer, bereit, die lebenswichtige Ladung umgehend in Empfang zu nehmen und so schnell wie möglich dorthin zu befördern, wo sie am dringendsten gebraucht wurde. „Jeder von euch fährt mit einem der beladenen Lastwagen bis zum jeweiligen Bestimmungsort mit und überwacht dort die Verteilung der Lebensmittel“, schärfte Vincent seinen Männern ein. „Ich sage es noch einmal: Achtet darauf, dass so gut es geht eine gerechte Verteilung stattfindet, also nicht nur die Honoratioren und die Starken in den Dörfern etwas abbekommen, sondern nach Möglichkeit alle Bewohner, besonders aber die Kinder, Alten und Kranken.“ „Du hast gut reden, Vincent. Du machst es dir hier in Nairobi schön gemütlich, aber was sollen wir tun, wenn wir unterwegs überfallen werden oder die hungrigen Menschen in den Dörfern einfach unsere Lastwagen stürmen?“, fragte ein junger, dunkelhaariger Mann, namens Lorenzo Amenta, der schon einige Transporte begleitet hatte und dabei offenbar ziemlich schlechte Erfahrungen gemacht hatte. „Natürlich haben wir uns auch darüber Gedanken gemacht“, antwortete Vincent. „Jeder Lastwagen wird von zwei Militärfahrzeugen begleitet und in jedem fahren außerdem zwei bewaffnete Soldaten mit. So, und jetzt fangt gefälligst an, das Flugzeug zu entladen, sonst stehen wir morgen früh immer noch hier, ohne irgendetwas geschafft zu haben.“

Schon bald nachdem sie das Flughafengelände wieder verlassen hatten, begannen die einzelnen Lastwagen in alle Richtungen des Landes auszuschwärmen, hauptsächlich aber in den Süden und Norden des Landes. Lorenzo fuhr in einem Konvoi mit, der die drei hoffnungslos überfüllten Flüchtlingslager in Dadaab im Nordosten Kenias zum Ziele hatte. Dort war die Lage besonders angespannt, da viele Flüchtlinge hier lebten, die sich vor dem Bürgerkrieg in Somalia über die Grenze nach Kenia in Sicherheit gebracht hatten. Die Fahrt verlief ohne gefährliche Zwischenfälle, doch je mehr sie sich dem ersten Lager näherten, desto häufiger mussten sie anhalten, um völlig entkräftete Flüchtlinge, die mit ihren Kindern am Straßenrand kauerten, aufzusammeln und notdürftig mit Wasser zu versorgen.

Im ersten Lager angekommen, wurde Lorenzo von dem dortigen Direktor und seiner jungen Assistentin freundlich begrüßt: „Gut, dass Sie kommen. Unsere Vorräte gehen nämlich langsam aber sicher zur Neige. Es kommen immer mehr Flüchtlinge, und wir wissen langsam nicht mehr wohin mit ihnen und wie wir sie ernähren sollen. Ach, fast hätte ich es vergessen.“ Er zeigte auf die junge Frau, die mit einer Liste neben ihm stand. „Das ist Amondi, meine Assistentin. Sie wird sich um das Abladen der Lastwagen und die Verteilung der Lebensmittel kümmern. Mich müssen Sie leider entschuldigen, da dringende Aufgaben auf mich warten.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, machte er auf dem Absatz kehrt und war auch schon in einem der Häuser verschwunden. Lorenzo war zuerst sehr skeptisch. Wie konnte solch ein zierliches Persönchen mit einer derart schwierigen Aufgabe fertig werden. Doch sehr schnell wurde er eines Besseren belehrt, denn dank Amondi gingen alle Arbeiten zügig und ohne Probleme vonstatten. Wie oft hatte er schon das genaue Gegenteil erlebt, wenn er mit einem Lastwagen in ein Dorf kam, wo häufig noch das Faustrecht regierte, was unweigerlich dazu führte, dass die Schwachen, Kranken, Kinder und Alten in der Regel leer ausgingen. Amondi aber hatte besonders zuverlässige und kräftige Hilfskräfte ausgewählt, die dafür sorgten, dass alle registrierten Lagerbewohner zu ihrem Recht kamen. Zufrieden konnte er schon bald weiterfahren, um auch die beiden anderen Lager zu beliefern.

Im Laufe der Zeit spielte es sich ein, dass Lorenzo alle Transporte in die Flüchtlingslager übernahm. So hatte er Gelegenheit, sich ein bisschen mit Amondi anzufreunden, die zu seinem Erstaunen nicht nur die Grundschule besucht, sondern auch die Oberstufe bis zur 12. Klasse absolviert hatte. „Ist eine solche Schulbildung denn für Mädchen in Kenia normal?“, fragte er sie verwundert. „Nein, ganz bestimmt nicht,“ lachte sie, „die ist für Mädchen und schon gar für ein Nomadenkind eher die Ausnahme, aber ich hatte das große Glück, von einer deutschen Kirchengemeinde auf ein Internat geschickt zu werden.“ „Nomadenkind? Heißt das etwa, dass du mit deinen Eltern und mit Vieherden durch das Land gezogen bist?“, fragte Lorenzo etwas verwirrt. „Ja, natürlich, nicht nur ich, sondern auch meine drei Geschwister. Du kannst dir nicht vorstellen, welche Schwierigkeiten ich die erste Zeit im Internat hatte, als ich plötzlich an ein und derselben Stelle bleiben musste. Aber in den Ferien durfte ich dann jedes Mal wieder mit meiner Familie mitziehen.“ „Und seid ihr jetzt hier sesshaft geworden?“, wollte er wissen. „Das nun nicht gerade“, antwortete sie und ein trauriger Schatten legte sich über ihre Augen. „Wegen der großen Dürre haben wir die meisten unserer Rinder verloren und damit auch unsere Lebensgrundlage. Also waren wir gezwungen, hierher zu kommen, um nicht die restlichen paar Tiere auch noch zu verlieren.

Als der Direktor hörte, dass ich lesen und schreiben kann, hat er mich sofort eingestellt, denn er war einfach nicht mehr in der Lage, die viele Arbeit allein zu bewältigen. Da habe ich wirklich großes Glück gehabt, denn so kann ich wenigstens meine ganze Familie einigermaßen versorgen.“ Lorenzo, dem es in seinem bisherigen Leben noch nie an etwas gemangelt hatte, fragte sich im Stillen, warum es in der Welt nur so ungerecht zuging. Warum haben die einen im Überfluss, während die anderen noch nicht einmal das Nötigste zum Überleben besitzen? Andrerseits war er dankbar, dass er Amondi hier getroffen hatte, wozu es unter anderen Umständen ja niemals gekommen wäre.

Es hatte sich im Laufe der Zeit eine gewisse Vertrautheit zwischen ihnen eingestellt, und beide konnten kaum die Zeit abwarten, bis das nächste Hilfsflugzeug in Nairobi landete. In ihrem schönsten Kleid wartete Amondi dann am Lagereingang auf die Lastwagen und war glücklich, wenn Lorenzo heraussprang und sie stürmisch umarmte und begrüßte. Umso schlimmer traf es ihn, als er eines Tages Amondi dort nicht wie gewohnt antraf. Zunächst suchte er sie ziellos im ganzen Lager. Schließlich wandte er sich verzweifelt an den Direktor. „Sie sehen mich selbst betroffen, junger Freund, denn ich habe meine beste Mitarbeiterin verloren!“, jammerte dieser vor sich hin. „Wie soll ich bloß in Zukunft die ganze Arbeit hier bewältigen?“ „Aber was ist denn passiert?“, wollte Lorenzo wissen. „Was soll schon passiert sein? Die Eltern wollten unbedingt weiterziehen, um sich mit ihrem verbliebenen Vieh auf die Suche nach Weideland zu begeben. Amondi wollte sie davon abhalten, aber ohne Erfolg. Sie sind dann einfach losgegangen, ohne sie zu informieren. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als hinterherzulaufen.“ „Welch eine Unvernunft!“, schrie Lorenzo, „Es hat doch noch nicht einmal geregnet, wo, glauben diese Leute, sollte das Weideland wohl über Nacht hergekommen sein?“ „Wem sagen Sie das, Lorenzo“, erwiderte der Direktor, „hier war wenigstens für sie gesorgt, wer weiß, welches Schicksal sie da draußen erwartet!“ Lorenzo ballte wütend seine Hände zu Fäusten. Er war nicht bereit, Amondi so ohne weiteres ziehen zu lassen und ihre noch so junge Freundschaft einer Entscheidung ihres Vaters zu opfern, die dümmer nicht hätte sein können. „Würden Sie mir wohl Ihren Jeep leihen, Direttore, dann könnte ich versuchen, sie einzuholen?“ „Natürlich, gern“, antwortete der Direktor hoffnungsvoll und suchte in seinen Taschen nach dem Schlüssel.

Lorenzo fuhr sofort los. Er entschied sich, dieselbe Strecke, die er gerade erst gekommen war, zurückzufahren, denn er erinnerte sich, irgendwo am Straßenrand Hirten gesehen zu haben, die ihr Vieh auf einem schmalen, vertrockneten ehemaligen Grünstreifen am Rande der Fahrbahn weiden ließen. Er fuhr langsam im zweiten Gang und ließ seinen Blick hin und herwandern. Die Sonne brannte unbarmherzig vom Himmel, und überall sah er nichts als aufgerissene, staubtrockene Erde, kein Halm, kein Strauch weit und breit. Doch nach einiger Zeit bemerkte er eine zusammengesunkene Gestalt, die am Straßenrand auf einem großen Stein hockte. Er hielt an und setzte sich zu ihr. Tröstend legte er seinen Arm um ihre Schultern. „Hör auf zu weinen, Amondi, und erzähl mir, was passiert ist“, sagte er zu ihr. „Ich konnte sie einfach nicht aufhalten“, schluchzte sie und die Tränen rannen ihre Wangen hinab. „Du hast getan, was du konntest“, versuchte er sie zu beruhigen, „schließlich kannst du sie ja nicht festbinden.“ „Aber ich hätte sie nicht alleine gehen lassen dürfen, denn ich bin doch ihre Tochter.“ „Nur weil du ihre Tochter bist, bist du noch lange nicht dazu verpflichtet, Selbstmord zu begehen, denn darauf wäre es letztendlich hinausgelaufen, wenn du mit ihnen gegangen wärest“, tröstete er sie. „Ich kann ohnehin nicht verstehen, warum sie wieder losgezogen sind. Sie waren doch hier doch einigermaßen versorgt.“ Amondi schaute ihn erstaunt an. So gern sie diesen jungen Europäer auch hatte, so musste sie doch erkennen, dass ihre Denkweisen zwei völlig verschiedenen Kulturen entstammten. Manchmal schien es ihr sogar, als redeten sie an einander vorbei. „Natürlich verstehst du das nicht, weil du kein Nomade bist. Es ist unser Stolz, der es uns verbietet, von den Almosen anderer zu leben. Solange wir unseren Lebensunterhalt selbst verdienen können, werden wir es tun, statt uns den vielen fremden Hilfsorganisationen, die unser Land heimsuchen, auszuliefern.“

„Aber die Hilfsorganisationen tun doch eine ganze Menge, um den hungernden Menschen in deinem Land zu helfen, oder etwa nicht?“ Lorenzo hatte das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen, schließlich gehörte er selbst ja auch einer solchen Organisation an. Was konnte daran verkehrt sein? Almondi hatte aufgehört zu weinen. Sie schnäuzte sich mit dem Taschentuch, das er ihr gegeben hatte, die Nase. „Entschuldige bitte, ich wollte dich nicht kränken“, sagte sie. Natürlich ist es richtig, dass ihr zunächst einmal das Überleben der hungernden Menschen sichert. „Aber das wäre vielleicht gar nicht notwendig, wenn man versuchen würde, das ständige Problem der Dürre hier in Ostafrika langfristig zu bekämpfen.“

„Und wie müsste eine langfristige Hilfe deiner Meinung nach aussehen?“ „Nun, vordringlich wäre der Ausbau von Wasserversorgungs- und Bewässerungssystemen für die Landwirtschaft. Und genauso wichtig wäre natürlich eine Ausbildung der Menschen, damit sie die Wasserbewirtschaftung selber in den Griff zu bekommen. Dann müssten auch in guten Zeiten Nahrungsmittelreserven angelegt werden, um einer Lebensmittelknappheit und dem Hunger in schlechten Zeiten vorzubeugen. Schon in der Bibel wird von sieben mageren und sieben fetten Jahren gesprochen, und es werden Vorräte für die schlechten Jahre angelegt. Amondi redete sich in Rage, denn dieses Thema lag ihr sehr am Herzen. Wie oft hatte sie mit ihren Schulkameraden darüber diskutiert und nach Lösungsmöglichkeiten gesucht. Ihre Stimme aber klang immer noch unendlich traurig. Lorenzo wusste, dass sie an ihre Eltern und Geschwister dachte, von denen sie annahm, dass sie sie nie wieder sehen würde.

Schon seit geraumer Zeit hatte er einen Punkt am Horizont wahrgenommen, der sich langsam auf sie zu bewegte, doch war die Entfernung viel zu groß, als dass er hätte erkennen können, um wen oder was es sich handelte. Plötzlich sah er, wie Amondi aufsprang und aufgeregt winkte. Sie schrie etwas in einer Sprache, die er nicht verstand, und ehe er sie zurückhalten konnte, lief sie auch schon davon, immer dem Punkt entgegen. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie wieder zurückkam, einen kleinen Jungen von etwa acht Jahren an ihrer Hand. „Das ist mein jüngster Bruder Jomo“, stellte sie das Kind stolz vor. Mein Vater hat ihn zurückgeschickt, weil er möchte, dass ich ihn zur Schule schicke, damit er genau wie ich etwas lernt und im Leben weiterkommt als der Rest der Familie.“

Als sie dann im Jeep ins Flüchtlingslager zurückfuhren, schloss Amondi ihre Augen und träumte vor sich hin. Sie sah die hagere Gestalt ihres Vaters vor sich, wie er eines Tages stolz mit etlichen zusätzlichen Rindern aus einem Dorf zurückgekehrt war. „Warum hast du bloß all die vielen Rinder gekauft, Vater?“, hatte sie ihn vorwurfsvoll gefragt. „Weil wir uns das leisten können, jetzt, wo wir genügend Wasser haben“, hatte er gut gelaunt geantwortet. Sie wusste, dass er stolz war, dass er mit den zusätzlichen Rindern nun eine höhere soziale Stellung einnahm. „Ja, aber das Wasser ist doch nicht dazu gedacht, zusätzliches Vieh zu tränken.“ Ihr Vater schaute sie ohne zu antworten verwundert an. Die Schule hatte seiner ältesten Tochter völlig den Kopf verdreht. Seitdem sie wieder mit ihnen zog, konnte er ihr nichts mehr recht machen. Ständig kritisierte sie seine Entscheidungen und machte ihn damit vor der ganzen Familie lächerlich. Es wurde höchste Zeit, einen Ehemann für sie zu suchen.

„Wozu haben die großen Hilfsorganisationen denn wohl diese Tiefbrunnen gebaut, wenn nicht zum Tränken des Viehs?“, fragte er sie. Und genauso wie er, dachten noch viele andere Hirten, bis sie durch den Einbruch der großen Katastrophe eines besseren belehrt wurden. Als die Dürre dann über sie hereinbrach, zogen die wenigen Brunnen natürlich auch noch weitere Menschen und Tiere an. Die Tiere fraßen alles verfügbare Grün in der Umgebung ab. Erosion war die natürliche Folge. Der Grundwasserspiegel hatte sich so extrem abgesenkt, dass die Brunnen und Bohrlöcher austrockneten und für die Versorgung ausfielen. So hatte die zweifellos gute Absicht der Hilfsorganisationen genau das Gegenteil bewirkt. Und warum? Weil man die Hirten nicht genügend über die Gefahren ihres Tuns aufgekärt hatte.

Amondi schaute liebevoll ihren kleinen Bruder an. Einzig und allein eine gute Ausbildung der Einheimischen würde darüber entscheiden, ob man in der Zukunft in der Lage sein würde, die Probleme Afrikas selbst zu lösen oder weiter am Tropf der Hilfsorganisationen hängen musste.

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Tag der Veröffentlichung: 09.08.2011

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