„Hast Du Deinen Schlüssel dabei Christel?“
Ich sah in die kalten Augen meiner Mutter.
„Natürlich“, presste ich durch meine Lippen und zog die Eingangstür laut knallend hinter mir zu. Weshalb fragt sie mich jedes Mal nach dem Schlüssel? Sie war doch immer zu Hause.
Den muffigen Geruch der Wohnung hinter mich lassend atmete ich tief durch. Mit meinen blonden, zum Pferdeschwanz gebundenen Haaren hüpfte ich von einer zur nächsten Treppenstufe aus dem dritten Stockwerk nach unten. Bei jedem Sprung wippte mein Pferdeschwanz locker hin und her. Ich zog die Hauseingangstür auf und stand auf einer verwaschenen, von vielen Benutzungen nach innen gewölbten Betonstufe, die direkt auf den Bürgersteig führte. Die Sonne blinzelte mir ins Gesicht. Ich fühlte mich frei und unbeschwert.
Mein Weg führte mich zu meinem geheimen Ort. Ich nannte ihn so, denn nur ich, so schien es mir kannte diesen Ort. Zwischen zwei sehr alten Häusern klaffte eine Lücke. Dieser Platz wurde als Müllhalde genutzt. Doch wenn man über die Bretter und den Unrat kletterte, erreichte man einen verwilderten Garten mit einer kleinen Wiese und vielen Äpfel, - und Birnbäumen. Ich stellte mir vor, wie der Garten und das dazugehörige Haus wohl ausgesehen hatten, bevor das Haus durch den Krieg zerstört wurde.
Ich ließ mich auf die Wiese fallen und blinzelte in den Sommerhimmel.
Brummende Geräusche malten Streifen in den Himmel. Ein Flugzeug bahnte sich seinen Weg durch die Wolken. Wohin mag dieser Flieger fliegen? Nach Indien, Amerika, Australien?
„Nimm mich mit“, seufzte ich. Winkend hob ich meine rechte Hand in den Himmel. „Guten Flug, ihr lieben Menschen“.
Es wurde kühl, ich lief nach Hause. Meine Mutter wartete bestimmt mit dem Abendbrot auf mich. Vom schnellen Laufen verschwitzt schloss ich die Eingangstür zu unserer Wohnung auf. Ich verzog mein Gesicht.
„Nicht schon wieder diesen stinkigen Steckrübeneintopf“, dachte ich. Ich mochte ihn nicht, ich hasste ihn. Nachdem ich Mutti zuliebe einen halben Teller gegessen hatte, ging ich in mein Zimmer. Es warteten Schularbeiten auf mich. Gegen 21 Uhr klappte ich mein Schulheft zu. „See You Later Alligator“, grinste ich in mich hinein.
Ich besuchte die 9. Klasse der Volksschule und ging gerne in die Schule. Meine Noten waren gut. Mein Klassenlehrer empfahl meiner Mutter, mich für die Mittelschule anzumelden. Ich hätte es mir so sehr gewünscht, aber ich durfte nicht. Uns fehlte das Geld für weitere Schuljahre.
Meine Mutti verdiente als Heimarbeiterin nicht viel. Es reichte gerade für uns beide. Mein Vater war in den letzten Kriegswochen ums Leben gekommen. Ich hätte ihn gerne kennengelernt. Auf unserer Vitrine im Wohnzimmer stand eine eingerahmte Fotografie von ihm. Er sah auf dem Bild fröhlich aus.
Ich wusste, dass ich ihn lieb gehabt hätte. Zwischen meiner Mutter und Tante Gerda war abgemacht, dass ich nach Beendigung der 9. Klasse in ihrer Bäckerei eine Lehre beginnen sollte. Ich wäre für mein Leben gerne Stewardess geworden, doch ohne höhere Schulbildung war dieser Traum für mich ausgeschlossen.
Am nächsten Morgen stand ich pünktlich um acht Uhr vom Stuhl auf, als unser Klassenlehrer den Raum betrat. Er betrat ihn nicht alleine. Ihm folgte mit gesenktem Haupt ein Mädchen.
„Begrüßt Eure neue Klassenkameradin Rita“, sprach bzw. brüllte Herr W. in den Klassenraum. Rita schaute nur kurz auf, um sofort wieder zum Boden zu blicken. Ihr kurzer Blick genügte mir, um in dunkelblaue Augen zu schauen. Der kurze, schwarze Pagenkopf war akkurat frisiert. Rita war im Gegensatz zu mir sehr zierlich und der blaue Faltenrock passte perfekt zu den dunklen Haaren und der weißen, frisch gestärkten Bluse.
Ich hoffte, dass Herr W. ihr den freien Platz neben mir zuweisen würde. Er tat es und ich bemerkte eine leichte Röte in mir hochkriechen. Schüchtern blickte sie mich an und lächelte. Nach Schulschluss sah ich, dass Rita von einer sehr elegant gekleideten Dame abgeholt wurde. Sie stiegen beide in einen knallroten Borgward Isabella. Ich beneidete Rita ein wenig. Es musste ein schönes Gefühl sein im Geschwindigkeitsrausch über die Landstraßen zu fahren. Der Freiheit und dem Himmel entgegen.
Ich seufzte. Ein Auto konnte sich meine Mutter nicht leisten.
Ich freute mich sehr auf den nächsten Schultag und beschloss vor der Schule auf Rita zu warten. Winkend lief sie auf mich zu und streckte mir ihre Hand entgegen.
„Ich bin Rita und wie heißt Du?“
„Christel“ war meine knappe Antwort und wir mussten beide lachen. Sie gefiel mir richtig gut und ihrer Mimik entnahm ich, dass sie mich wohl ebenfalls sympathisch fand.
„Hast Du Lust, mit mir nach der Schule etwas zu unternehmen?“ fragend blickte sie mich an.
„Gerne, sehr gerne, was denn?“, fragte ich sie. Rita tat geheimnisvoll. „Du wirst schon sehen“.
Ich konnte mich während des Unterrichts kaum konzentrieren und freute mich auf den Nachmittag. Endlich ertönte die schreckliche Tröte. Schulschluss. Es war geschafft! Frei sein. Stumm und gesittet verließen wir den Klassenraum. Herr W. stand am Pult und wir Mädchen machten beim Vorbeigehen vor ihm einen Knicks.
Auf dem Schulhof angekommen nahm Rita meine Hand und zog mich mit riesigen Schritten vom Schulhof weg.
„Kennst Du eine Wiese oder einen Platz, wo wir ungestört sein können?“ Sie lächelte verschmitzt und ich sah sie mit großen, fragenden Augen an. „Ich möchte mit einem Gerät üben und dabei nicht beobachtet werden.“
Dieses freche Grinsen. Ich hasste sie. Spontan dachte ich an meinen geheimen Ort. Mit ihr zusammen müsste es dort noch viel schöner sein. Ich nannte den Straßennamen und erklärte ihr, dass sie vor einem der beiden alten Häuser auf mich warten sollte.
Wir mussten beide zum Essen zu Hause sein und bevor ich die Hausarbeiten nicht erledigt hätte, durfte ich nachmittags nicht raus gehen. Wir verabredeten uns für sechzehn Uhr. Meiner Mutter erzählte ich beim Mittagessen, dass ich eine neue Schulfreundin hätte und bat um Ausgang. Ich durfte und Mutti, die manchmal doch ganz lieb sein konnte, erlaubte es mir.
„Komm nicht zu spät Kind“ Ihre Worte erreichten mich fast nicht mehr.
Ich lief die Straßen entlang und sah Rita vor den Brettern stehen. In ihren Händen trug sie einen nigelnagelneuen Hula- Hoop - Reifen. Schon von weitem leuchtete er signalrot. Als ich Rita erreichte, waren meine Wangen vom Laufen errötet.
Rita strich über meine linke Wange. „Schön, dass Du hier bist“.
Vorsichtig kletterten wir über den Schutthaufen und ich zeigte Rita stolz „meinen“ Garten. Sie war begeistert. Hüpfend und sich drehend rief sie wunderschön, welch ein wunderschöner Ort.
Meine Wangen waren fast so flammend rot wie der Hula- Hoop- Reifen. Sie ließ den Reifen über ihren Kopf gleiten und begann ihre Hüften schwingen zu lassen. Der Reifen landete im Gras. Ich lachte und Rita schaute mich vorwurfsvoll an. „Nun weißt Du, weshalb ich ganz alleine mit Dir sein wollte und uns niemand zuschauen sollte“.
Ich verstand und grinste sie an. So einen Reifen hatte ich mir zu meinem fünfzehnten Geburtstag im vergangenen Monat sehnlichst gewünscht. Ich bekam eine von Mutti geschneiderte Bluse und eine im Sonnenlicht bunt schillernde Perlmutthaarspange.
„Kind, wir haben doch kein Geld, es reicht für die Miete, Essen und Kohlen“.
Ich konnte diesen Satz nicht mehr hören.
„Jetzt Du!“ Rita schaute mich herausfordernd an.
„Ich kann das nicht“.
„Du kannst!“, klang es fast befehlsgleich in meinen Ohren.
Ok. Ich nahm den Reifen und stieg mit beiden Beinen hinein. Mit meinen Händen zog ich den Reifen über die Hüften und schaute in den Himmel.
„Tutti frutti, all rooty“ sang ich laut und ein Wunder geschah. Der Reifen schwang um meine Hüften und fiel nicht zu Boden. Ich drehte mich schneller und schneller um meine Achse. Mir wurde schwindelig. Als ich aufwachte, roch ich den einzigartig frischen Duft des Grases in meiner Nase. Große, dunkelblaue Augen blickten ganz nah in meine Augen. Ich war versucht, dieses so hübsche Gesicht an mich zu ziehen und ihre Lippen zu küssen.
"Christel?“, klang es besorgt.
„Alles ok.“ Ich richtete mich beschämt auf.
„Du sahst toll aus, ich wünschte, ich könnte mit dem Reifen so tanzen wie Du.“
Die Sonne verabschiedete sich und machte Platz für die Abenddämmerung. Es musste fast sieben sein. „Himmel, ich muss nach Hause“, entwich es mir. „Wir sehen uns in der Schule.“ Panikartig verließ ich den Garten.
Was war mit mir los? Ich kämpfte mit den Tränen.
Als ich die Wohnungstür aufschloss, schallte mir Freddy Quinn und beißender Zigarettenqualm entgegen. Ich lief ins Badezimmer und musste mich übergeben.
„Du bist doch nicht schwanger?“
Niemals in meinem Leben würde ich diesen verächtlichen, angewiderten Blick meiner Mutter vergessen. Ich schloss mich in meinem Zimmer ein, warf mich tränenüberströmt auf mein Bett und schlief irgendwann gnädigerweise ein.
An den nächsten Nachmittagen verabredeten Rita und ich uns in „unserem“ Garten und übten mit dem Hula - Hoop Reifen. Wir zählten die Sekunden, wer den Reifen länger um die Hüften schwingen konnte. Ich war fast immer die Siegerin. Nach unseren Übungen legten wir uns unter einen Apfelbaum ins Gras. Der Baum spendete uns Schatten vor der Sommersonne. Wir erzählten uns alles, was uns berührte, erfreute, Sorgen bereitete. Sie wurde meine allerbeste Freundin. „Die Zwillinge“, so wurden wir in der Schule genannt.
Der Herbst nahte. Wir brauchten einen neuen Treffpunkt, an dem wir ungestört sein konnten. Zu unserer Mietswohnung gehörte ein Kohlenkeller. Alle drei Monate wurden uns Briketts für den Ofen im Wohnzimmer und die Küche geliefert. Die Firma lud die Ware vor dem Haus ab und die Mieter mussten sie in den Keller tragen. Meine Mutter fürchtete sich vor dem Keller.
Auf meine Frage weshalb sie so viel Angst hätte, die Briketts in den Keller zu tragen, bekam ich flüchtige Antworten.
„Der Krieg“, war eine ihrer vagen Begründungen.
Ein freundlicher Nachbar aus dem vierten Stockwerk trug die auf der Straße liegenden Briketts für uns in den Verschlag im Keller. Ich holte bei Bedarf die Kohle-Briketts in unsere Wohnung.
Den Schlüssel für den Kellerraum trug ich an einer kleinen Silberkette um den Hals. Dieser Raum war sicher vor meiner Mutter. Sicher für uns. Rita fand den Keller spannend. Er roch nach Schwefel und irgendwie nach Verbotenem. Hinter dem Verschlag für das Brennholz befand sich ein winziger Raum. Hier trafen wir uns fast täglich. Wir erzählten uns Geschichten. Geschichten, in denen wir Prinzessinnen und Kobolde waren.
Rita wurde mir so vertraut. Sie war meine Schwester, die ich so gerne gehabt hätte. Wir verabredeten, dass ich meinen Schlüssel für den Keller unter einen Findling im Vorgarten legte.
Wer immer zuerst an „unserem“ Versteck eintraf, holte den Schlüssel hervor und wartete im Verschlag auf den anderen. Hier waren wir geheim und geschützt.
Wir machten unsere Hausaufgaben im Keller, tauschten ausgeschnittene Bilder von Stars, träumten von Elvis Presley und himmelten Romy Schneider an. Elvis Musik war göttlich. Ich wunderte mich, dass Rita niemals von einem Jungen aus unserer Klasse schwärmte. Mir entgingen doch nicht die bewundernden Blicke der Jungs. Hin und wieder neckte ich sie und nannte Namen von ihren möglichen Ehemännern. Dann wurde sie ernst und still.
„Quatsch, ich und heiraten? Niemals!“ Irgendwie klang es aus ihrem Mund entschlossen.
Der Wind peitschte erbarmungslos um die Häuserecken. An diesem Oktoberabend griff ich unter den Findling und suchte vergeblich den Schlüssel zum Kohlenkeller. Mein Gesicht erhellte sich. Rita war wohl schon unten im Keller.
Sie erwartete mich und etwas erschien mir an diesem Abend anders. Sie hatte die große Stumpen-Kerze entzündet, die sie ihren Eltern abgeschwatzt hatte. Ihr Gesicht leuchtete, ihre Augen strahlten. Sie war wunderschön. Vor Kälte zitternd hockte sie auf den Kissen, die wir im Laufe der letzten Monate heimlich in den Keller getragen hatten.
Ich spürte, dass dieser Abend etwas Besonderes in sich barg. Ich zog meine Strickjacke aus und legte sie Rita um die Schultern.
„Danke.“ Sie zog mich auf die Kissen hinunter. Ich zitterte und ließ mich neben sie fallen. Rita strich zärtlich über meinen rechten Arm. Ich spürte ein Kribbeln in meinem Körper und Gänsehaut breitete sich auf meinen Armen bis zum Nacken aus. Trotz der Kälte wurde mir warm. Sie streichelte mir übers Gesicht, meine Haare, meinen Mund, begleitet durch das Knistern der Kerzenglut. In mir brannte ein Feuer, es tat so weh.
„Christel.“
Ich öffnete meinen Mund und spürte ihre Lippen, ihre Zunge. Weich und warm fühlte sie sich an. Ich spürte Geborgenheit. Unendliche Geborgenheit und schloss meine Augen.
„Was macht ihr hier?“
Die Stimme klang schrill und hysterisch. Rita lief an meiner Mutter vorbei. Die Ohrfeigen spürte ich kaum. Ich krümmte mich auf den Kissen und jeder Schlag mit dem Schürhaken traf meine Seele.
Rita sah ich nach diesem Abend niemals mehr wieder. Sie zog mit ihren Eltern in eine Großstadt. Ihre Eltern ertrugen diese Schande nicht. Hinter vorgehaltenen Händen tuschelte man über mich und meine Mutter.
Ich hatte doch nur die Liebe entdeckt. Sie blieb unerfüllt.
Heute bin ich 70 Jahre alt. Meiner Frau habe ich von Rita erzählt.
Hin und wieder öffne ich das kleine Samtkästchen, nehme den Kohlenkeller-Schlüssel heraus und sehe in leuchtende, dunkelblaue Augen.
"Die Würde des Menschen ist unantastbar, egal wen wir lieben."
Texte: Ute Look
Tag der Veröffentlichung: 01.06.2014
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