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Impressum

 

© Thomas Hoffmann, publi4all, 2014 http://www.publi4all.de

 

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Die Wiedergabe auch auszugsweise ist mit Genehmigung von publi4all gestattet. Anfragen bitte per E-Mail. Respektieren Sie den kreativen Einsatz des Autors und aller Beteiligten und erwerben das eBook bitte käuflich.

 

Kontakt zum Autor: mailto:roy.ofinnigan@t-online.de

Vorwort

Dieses Buch ist eine Leseprobe aus meinem eBook "Krieg ums Internet"

Über Feedback und Anregungen würde ich mich sehr freuen

 

Das eBook erzählt drei Geschichten, die eines verbindet: sie handeln von der Zukunft. Einer möglichen Zukunft, die aus zwei Gründen etwas dystopisch geraten ist. Zum einen finde ich Utopien langweilig und zum anderen gehe ich - wie alle Optimisten - vorsichtshalber vom Schlimmsten aus. Dann kann es nur noch besser werden.

„Krieg ums Internet“ ist ein Auszug aus meinem Science-Fiction-Thriller, an dem ich seit fast zwei Jahren schreibe. Naturgemäß gibt es viele Hinweise auf Ereignisse des Romans, die offen bleiben müssen. Das ließ sich nicht vermeiden, denn mein Buch wird erst irgendwann 2015 erscheinen. Vorläufig trägt es den Arbeitstitel „Nanobots“.

 

Jede Technologie, die nur weit genug fortgeschritten ist, kann von Magie nicht mehr unterschieden werden. Das gilt für das Auto, das zum ersten Mal von Steinzeitmenschen erblickt wird, genauso, wie für das Smartphone, welches einem Römer vorgeführt wird.

Oder für eine Schnittstelle, die im Gehirn eines Menschen implantiert wird und ihn direkt mit dem Internet verbindet. Dort laufen von Menschen oder Programmen erschaffene virtuelle Welten, in denen Menschen sich bewegen und empfinden wie in der realen Welt. Doch deren Gesetze gelten dort nicht. Alles ist möglich. Lediglich die eigene Fantasie setzt noch Grenzen. Und die Rechenkapazität des Computers.

Sie glauben, das sei Science-Fiction? Vielleicht. Doch die Technologie, die in meinen Geschichten vorkommt, existiert bereits. Zumindest im Labor. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, wann sie realisiert wird. Wer mehr darüber erfahren möchte, kann sich gerne auf meinem Blog auführlich darüber informieren.

Ach, ich vergaß. Die Sache hat einen Haken. Das Internet ist nicht mehr frei. Die Regierungen, Behörden, Geheimdienste und Unternehmen haben es unter sich aufgeteilt, um die Menschen zu kontrollieren, zu normieren und deren Daten auszubeuten. Doch es regt sich Widerstand.

Und noch etwas. Meine Geschichte spielt sowohl in der realen als auch in der virtuellen Welt. Der Übergang ist manchmal fließend. Um das für meine Leser nachvollziehbar zu machen, verwende ich für meine Protagonisten normale Namen, wenn sie sich in der Realität befinden, und Hackerpseudonyme, wenn sie durch die virtuellen Welten kreuzen.

 

 

Der Klimawandel ist hausgemacht? Die Menschen sind selbst daran schuld? Von wegen! Während die einen sich noch darüber streiten ob sich das Klima überhaupt ändert und wenn ja, wie stark, gibt es einen lachenden Dritten. Mehr dazu in „Terbols Mission“!

 

„Nur der Tod macht frei“ ist die Geschichte eines Menschen, der in Zeiten der Totalüberwachung versucht, zu verschwinden. Nicht freiwillig, sondern getrieben von Behörden und Unternehmen, die unmenschliches von ihm verlangen. In letzter Verzweiflung sieht er nur noch einen Ausweg. Mit dieser Story habe ich den Schreibwettbewerb anlässlich des 30. Geburtstags der Computerzeitschrift c’t gewonnen.

Nur der Tod macht frei

“Töten sie mich!”

 

Die junge Frau vor mir löst ihren Blick von ihrem Schreibtisch und lächelt mich an. „Wie möchten sie denn sterben?“, fragt sie freundlich.

 

„Herzinfarkt. Im Bett. Zu Hause“, kommt meine Antwort. Kurz und knapp.

 

Sie macht ein paar Gesten und studiert die Datenvisualisierungen, die über ihrem Schreibtisch schweben. „Ich fürchte, das geht nicht. Ihnen fehlt die medizinische Indikation. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie einen Herzinfarkt bekommen, liegt unter zwanzig Prozent.“

 

„Dann eben Autounfall.“

 

Sie sieht mich mitleidig an. „Das geht schon lange nicht mehr. Der letzte tödliche Verkehrsunfall liegt mehr als acht Jahre zurück.“

 

„Dann irgendwas. Hauptsache tot.“

 

Schweigend zupft sie an ihren Grafiken herum. Ich ahne was sie gleich sagen wird. „Ich fürchte das wird nicht so einfach. Für eine plötzliche Krankheit sind sie zu jung und gesund. Für einen Unfall müssten sie wenigstens eine Extremsportart betreiben. Radfahren zählt nicht. Das ist viel zu sicher.“

 

„Wie wäre es mit einem Sturz aus dem fünften Stock beim Fensterputzen?“ schlage ich zaghaft vor.

 

Sie seufzt. „Hören Sie, Herr Watzinger. Es muss plausibel sein. Bei Ihnen putzt schon seit Jahren der Hausroboter. Das kriegen wir nie und nimmer durch.“

 

Ein paar Minuten später weiß ich, dass im Jahr durchschnittlich sieben Menschen von Haien getötet, aber hundertfünfzig von Kokosnüssen erschlagen werden. Weltweit enden über 120 000 Schlangenbisse tödlich, aber in Deutschland ist das zu unwahrscheinlich. Ich fange an zu verzweifeln. Nicht mal sterben kann man mehr. Kein Wunder, dass ich Depressionen habe. „Aber es muss doch eine Möglichkeit geben“, sage ich niedergeschlagen.

 

Sie strahlt mich an. „Die gibt es, Herr Watzinger. Bei uns sind sie genau richtig. Wir haben für alles eine Lösung. Vor drei Jahren hatten wir einen ähnlichen Fall. Wir haben dem Kunden geraten, mit Klettern zu beginnen. Während er die Kurse besuchte, haben wir eine Karabinerhakenfabrik in Burkina Faso gegründet. Nach zwei Jahren war er so weit, dass er zum ersten Mal in der wilden Natur an einer echten Felswand klettern durfte. Zufällig benutzte er dabei einen Karabinerhaken aus dieser Fabrik. Dort ist bei der Produktion ein Insekt in die Stahlschmelze gefallen. Er benutzte ausgerechnet den Karabinerhaken, in den der Käfer eingegossen war. Stellen sie sich vor! Dann hat er an der Wand den Halt verloren und ist gefallen. Der Karabiner, an dem das Sicherungsseil hing, ist unter der Belastung gebrochen und unser Kunde ist in den Tod gestürzt. Genial, oder?“

 

„Mag sein. Aber ich kann keine zwei Jahre warten.“

 

„Ich verstehe“, sagt sie einfühlsam. „Das mit dem Karabinerhaken können wir sowieso nicht wiederholen. Nach dem Unfall haben die Behörden sofort die Produktionsvorschriften geändert. Der Stahl für Karabinerhaken muss jetzt im Reinraum gegossen werden. Weltweit.“

 

Ihr Lächeln ist wieder da. „Für sie hätte ich etwas ganz besonderes. Sie verabreden sich mit einem Freund zu einer dreitätigen Fahrradtour. Am ersten Tag stürzen sie und holen sich eine Schürfwunde am Bein. Es sieht harmlos aus. Also fahren sie weiter. Nach ein paar Stunden wird daraus eine Blutvergiftung. Sie radeln bis zum nächsten Arzt. Jetzt ist Ihr Zustand schon kritisch. Deshalb gibt der Arzt Ihnen eine volle Ladung Antibiotika. Sie müssen über Nacht zur Beobachtung in eine Klinik, können aber am nächsten Tag weiterfahren. Abends treffen Sie andere Radler in der Kneipe. Sie dürfen keinen Alkohol trinken. Ihr Freund und der Wirt wissen das. Deshalb trinken sie alkoholfreies Bier. Die anderen stört das nicht. Später steigt die Stimmung und es wird auf Ex getrunken. Sie greifen aus Versehen zu normalem Bier. Ihnen wird übel und Sie müssen zur Toilette. Dem anderen, der ihr Alkoholfreies getrunken hat, wird davon auch schlecht. Er folgt ihnen. Die Toilette ist im Keller. Der andere ist hinter ihnen, stolpert, reißt Sie die Treppe runter und Sie brechen sich das Genick. Das hört sich doch vollkommen plausibel an, oder?“

 

„Hört sich kompliziert an. Haben Sie sich das ausgedacht?“

 

„Ja“, sagt sie stolz.

Ich frage mich, nach welchen Kriterien dieser Dienstleister seine Kundenberaterinnen aussucht. „Wann findet das statt?“

„Das geht relativ schnell. In sechs Monaten können sie schon sterben.“

„Sechs Monate sind ganz schön lang. Eigentlich hatte ich vor, das noch heute Abend über die Bühne zu bringen.“

„Heute noch?“, fragt sie mit großen Augen. „Völlig unmöglich. Wenn wir der Sache die höchste Priorität einräumen, schaffen wir es vielleicht in viereinhalb Monaten. Aber schneller geht‘s wirklich nicht.“

Achtzehn lange Wochen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das durchhalte. Ich denke an meine Frau und die Kinder. Das gibt mir neue Kraft. „Also gut. Was kostet das?“

„Sie haben wirklich Glück. Wir haben Aktionswochen. Wenn sie heute noch abschließen, bekommen sie dreißig Prozent Rabatt auf den Listenpreis. Das macht zweihundertsiebzigtausend Euro.“

Ich bin geschockt. Die Erkenntnis fährt wie ein Blitz durch meinen Körper. Mein Herz setzt für ein paar Schläge aus und alles dreht sich um mich. Mir wird schwindlig und ich muss mich setzten. „So viel habe ich nicht“, flüstere ich schwach. „Hätten sie nicht eine Million sagen können? Dann hätte ich vielleicht hier an Ort und Stelle einen Herzinfarkt bekommen.“

Die Frau dreht und schiebt irritiert an ihren Daten. „Nein. Sie müssen sich irren. Sie bekommen keinen Herzinfarkt. Selbst bei zehn Millionen nicht. Tut mir leid.“

„Soso. Es tut Ihnen leid.“ Das hilft mir auch nicht weiter. Haben sie nichts Günstigeres?“

Sie sieht mich an und schüttelt den Kopf. „Günstiger geht es leider nicht. Das ist sowieso schon ein Sonderpreis. Bedenken sie mal, was wir alles tun müssen. Wir müssen nicht nur den Unfall inszenieren, sondern auch die Datenbanken sämtlicher Überwachungskameras hacken. Dann müssen wir noch die Dashcams aller eventuell vorbeifahrenden Autos und die Augmented Reality-Datenbrillen aller Passanten und Beteiligten manipulieren. Ganz zu schweigen von den Drohnen, die ständig irgendwo in der Luft sind. Sie wollen bei der Sache ja nicht wirklich sterben. Es soll für die Behörden nur so aussehen, damit Ihre Frau die Lebensversicherung kassieren kann …

„Wie kommen sie denn darauf?“ frage ich verwundert.

„Das geht aus ihren Daten hervor. Und aus der Tatsache, dass sie hier sind. Daraus hat unser Algorithmus für die Verhaltensprognose eine Wahrscheinlichkeit von zweiundneunzig Prozent ermittelt. Keine Angst, das werden wir neutralisieren. Die Behörden werden davon nichts mitkriegen. Wo war ich? Ach ja. Sie brauchen natürlich noch eine neue Identität. Die müssen wir lückenlos, von Geburt an, mit Ereignissen und Einträgen in die Social Media bestücken.“

„Ich dachte bei Facebook und Google+ gibt’s genügend Timelines von Verstorbenen für sowas.“

„Ja, natürlich. Sonst könnten wir das gar nicht machen. Aber die gibt es auch nicht umsonst.“

Mittlerweile ist mir alles egal. Ich nehme meinen ganzen Mut für einen letzten Versuch zusammen. „Was kostet es, für sechs Stunden zu verschwinden?“

Die Frau wischt die Diagramme und Bilder weg. Dann zaubert sie mit ein paar Gesten andere in die Luft. „Zahlen sie mit Geldkarte?“

Ich nicke.

„Dreißigtausend Euro. Das beinhaltet eine einmalige Gebühr von zweiundzwanzigtausend für eine temporäre Identität.“

Langsam fängt sie an mich zu nerven. „Ich brauche keine temporäre Identität. Ich will nur für sechs Stunden verschwinden und meine Ruhe haben.“

Irritiert sieht sie mich an. „Ohne Identität kommen sie nirgendwo rein. Keine Tür öffnet sich. Kein Verkehrsmittel wird sie transportieren. Niemand wird sie beachten. Sie sind ein Geist. Unsichtbar.“

Endlich versteht sie mich. „Genau das will ich.“

Sie zögert einen Moment. Dann lenkt sie ein. „Das macht zehntausend Euro.“

Ich beginne, an meinen Rechenkünsten zu zweifeln. „Sollten es nicht achttausend sein?“

Sie schüttelt den Kopf. „Achttausend ist für die Dienstleistung. Dazu kommt noch die Verwaltungsgebühr.“

Ich gebe mich geschlagen. „Wann fängt das an?“

„Sobald sie unser Büro verlassen.“

Ich bezahle. Beim hinausgehen ruft sie mir noch was nach. „ Ach übrigens! Sie sind nie hier gewesen. Sämtliche Aufzeichnungen über Ihren Besuch bei uns wurden gelöscht. Sie haben die ganze Zeit auf der Parkbank gegenüber gesessen.“

Erst nach einer Weile merke ich, was es heißt, seine Ruhe zu haben. Keine hektisch animierte dreidimensionale Werbung springt mich an. Niemand labert mir aufdringlich die Ohren voll, was ich alles versäume und wie viel Geld ich sparen könne, wenn ich dies oder jenes kaufe.

Vor mir wird einer mit Waschmittelwerbung beharkt. Bei dem Namen des Produktes muss ich immer an eine Meerjungfrau denken. Die interaktive Animation bringt es auf genau zweiundsechzig unterschiedliche Szenarien. Mehr nicht. Ich kenne sie alle.

Früher bestanden hier die Fassaden hauptsächlich aus Schaufenstern. Man konnte hineinschauen oder vorbeigehen. Heute geht das nicht mehr. Jeder wird identifiziert und dann mit personalisierter Werbung zugedröhnt.

Ich nicht. Die Programme von „Personal Data Tuning“ sorgen dafür, dass ich nicht identifiziert werden kann. Die Animateure auf den Videowänden beachten mich nicht und die drahtlosen Dienste lassen mich ungestört durch ihre elektromagnetischen Felder schreiten. Der Aufwand dafür muss riesig sein. Alle sammeln und verarbeiteten Daten. Privatleute, die Wirtschaft, die Polizei, der Staat und die Geheimdienste.

Niemand kann lange anonym bleiben. Personen können nicht nur über ihr Gesicht identifiziert werden, sondern auch über ihren Gang und die Körperhaltung. Oder über die RFIDs in ihrer Kleidung. Ich hoffe, dass die Leute von „PDT“ ihr Handwerk verstehen. Ich brauche wenigstens ein paar Stunden Ruhe, damit ich die Sache erledigen kann.

Ich merke, was es heißt, ein Geist zu sein, als ich versuche, eine Kneipe zu betreten. Die Tür öffnet sich nicht. Ich gehe weiter. Alle Läden bleiben zu. Ins Spielkasino komme ich sowieso nicht rein. Selbst an der Pommesbude werde ich nicht bedient. Was ist das für eine Gesellschaft, in der man nicht mal eine Currywurst anonym kaufen kann? Der Gedanke gibt mir den Rest. Mein Entschluss steht fest. Plötzlich bin ich an der Brücke. Ich blicke nach unten. Es hat seit Monaten nicht geregnet. Das Wasser ist höchstens dreißig Zentimeter tief. Nach unten sind es mindestens zwanzig Meter. Das reicht.

 

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Krieg ums Internet

„Was willst du von mir?“ fauchte sie ihn an.

 

„Du schuldest mir noch etwas. Ich will alles.“

 

„Du kannst mich zu nichts zwingen. Ich kann jederzeit aussteigen“, sagte sie selbstbewusst.

 

Die schmalen Lippen in dem bleichen Gesicht öffneten sich zu einem Grinsen. Seine roten Augen schienen von innen heraus zu leuchten. „Ja, das haben schon viele gesagt. Versuch’s doch. Ich freue mich schon auf Dein Gesicht, wenn du feststellst, dass du es nicht kannst.“

 

Verunsichert ertastete sie mit der Zunge eine bestimmte Stelle an ihrem Gaumen und drückte. Nichts passierte.

 

Die hagere Gestalt in dem schwarzen Anzug sah aus wie ein Totengräber. Er legte den Kopf in den Nacken und lachte höhnisch. Dann wurde er ernst und betrachtete sie interessiert. „Und jetzt, was wirst du jetzt tun?“

 

Der Drache wand sich unter dem Netz. Aber die Fäden waren unzerreißbar. Starke Pflöcke hielten es am Boden fest. Sie versuchte den Totengräber mit ihrem Feuer zu verbrennen, aber es konnte ihm nichts anhaben.

 

Höhnisch grinsend beobachtete er ihre Anstrengungen. Schließlich gab sie auf. „Es ist ganz einfach. Du gibst mir alle Deine Passwörter und Berechtigungen. Dann lasse ich Dich frei.

„Die bekommst du niemals“, sagte sie bestimmt. „Was willst du tun? Mich foltern, wie im Mittelalter? Mich auf die Streckbank spannen und mit glühenden Eisen traktieren? Das wird nicht funktionieren. Hier ist nichts real.“

„Interessanter Gedanke. Wir könnten es ja mal ausprobieren. Du hast keine Ahnung, wie real das hier ist. Leider fehlt mir die Zeit dafür. Ich möchte Dir etwas zeigen.“

Der Totengräber vollführte eine schwungvolle Handbewegung. Vor ihren Augen öffnete sich ein Fenster in die Realität. Sie sah sich selbst in einem Glastank schwimmen. Daneben erkannte sie einen Androiden. Es war ihr eigener Hausroboter. Er war gerade dabei, ihren Körper mit Schläuchen und Kabeln an die Versorgungs- und Überwachungseinheit anzuschließen.

Die Frau erschrak über den Anblick. Jemand musste sie entführt haben, als sie in der VR mit dem Totengräber kämpfte, der sie jetzt gefangen hielt. So eine Versorgungseinheit konnte den Körper über Jahrzehnte am Leben halten, während man sich in der VR aufhielt. Etwas begann sich in ihr zu regen. Etwas, das sie bisher nicht gekannt hatte. Angst.

Dann veränderte sich der Blickwinkel. Sie sah einen weiteren Androiden, der ein Kind festhielt. Ihren Sohn. Verzweifelt stemmte sie sich mit aller Kraft gegen das Netz. Es hielt sie unerbittlich fest. Es zog sich sogar noch enger, so dass sie sich nun überhaupt nicht mehr bewegen konnte.

„Lass sofort meinen Sohn frei!“ brüllte sie. „Er hat nichts damit zu tun. Ich warne dich. Wenn du ihm auch nur ein Haar krümmst, werde ich dich vernichten!“

„So, wie du mich soeben vernichtet hast? Ich kann es kaum erwarten!“ höhnte der Totengräber. Er trat näher heran, bis er unmittelbar vor ihr stand, so dass er fast ihr gesamtes Gesichtsfeld ausfüllte. „Deinem Sohn wird nichts passieren, wenn du mir gibst, was ich will. Entscheide dich schnell. Ich habe nicht viel Zeit.“

Die Frau hinter dem Drachen-Avatar zögerte. Sie hatte schon einmal mit ihm zu tun gehabt. Würde er wirklich so weit gehen? Durfte sie ihm ihre Passwörter und Berechtigungen geben? Was würde danach passieren? Ihre rasenden Gedanken wurden durch einen Schmerzensschrei ihres Sohnes jäh unterbrochen.

Angst, Wut und Verzweiflung rasten durch ihren Körper und brachten ihn zum Zittern. Aber es gab nichts, was sie tun könnte. „Bitte, hör‘ auf!“ flehte sie. „Ich gebe Dir alles, was du willst. Hier“, sagte sie resignierend und ließ aus ihrem Maul eine grün schimmernde Drachenperle zu Boden fallen.

„Na also“, sagte der Totengräber triumphierend, „geht doch“, während er die Perle vom Boden hochhob und die goldenen Symbole studierte. Plötzlich zog er die Augenbrauen hoch. „Angelica, du enttäuscht mich. Die Berechtigung zum Bezug von Symbots fehlt noch. Ich glaube, du brauchst noch mal eine kleine Aufmunterung.“ Ohne den Blick von ihr abzuwenden rief er: „Marvin, Phase zwei…“

„Bitte nicht!“ schrie sie. „Hier hast du sie. Wozu brauchst du denn Symbots? du hast doch schon welche.“

„Man kann nie genug davon haben“, antwortete er abwesend. „Du glaubst ja gar nicht, was manche Menschen dafür tun, um an sie ranzukommen.“

„Du hast jetzt alles, was du wolltest. Sogar meine Nanobots. Lass Akumo frei!“

„Akumo? Ach ja, dein Sohn. Keine Sorge. Ihm geht es gut.“ Der Totengräber trat zur Seite und gab den Blick frei. Entsetzt sah Angelica, wie sich ihr Sohn in einen Schwarm Nanobots auflöste.

„Du Schwein, du hast mich reingelegt! du hast mit Nanobots eine Kopie von Akumo hergestellt. Aber … aber sie war so täuschend echt. Wie bist du an die Daten gekommen?“

„Ich fürchte, dafür habe ich keine Zeit. Ich muss dich jetzt verlassen. Vielen Dank für die Zugangscodes. Die sind wirklich nützlich. Ich wusste gar nicht, dass du so weit oben in der Hierarchie der Cyber Terror Defense stehst.“ Er wandte sich ab, um zu gehen. Dann hielt er inne und drehte sich um.

„Da fällt mir ein: ich muss dich um einen weiteren Gefallen bitten. Dein Drachenavatar verfügt über wirklich bemerkenswerte Fähigkeiten. Du hast sicher nichts dagegen, wenn ich ihn mir eine Weile ausborge?“ Dabei berührte er einige Symbole auf der Drachenperle. Dann zeichnete er mit den Händen ein paar Gesten in die Luft.

Mit einem Fingerschnippen verschwand das Netz. Der Totengräber schwang sich auf den Drachen und flog davon. Gefolgt von dem klagenden Schrei einer Falkin, eingesperrt in einem goldenen Käfig.

 

***

Hinter Sam war der Teufel her, und das spornte ihn an, zu rennen, wie er noch nie gerannt war. Natürlich war es nicht der Höllenfürst persönlich. Was ihn verfolgte, war weder gut noch böse. Es war Spitzentechnologie, gesteuert vom Satan selbst. Oder zumindest seinem Lieblingsschüler. Dessen war sich der Verfolgte sicher.

Wie dem auch sei, Sam wurde von einer unheilvollen, alles Licht verschlingenden Wolke aus Nanobots gejagt. Das Beste, was die Ingenieure Mitte des 21. Jahrhunderts auf dem Gebiet der Robotik zu bieten hatten. Sein Gegner hätte sie in jede beliebige Form und Farbe modulieren können. Zum Beispiel in die vier apokalyptischen Reiter. Auch eine freundliche rosa Wolke hätte es sein können.

Sam jedenfalls hätte das getan. Vielleicht fehlte seinem Feind einfach die Fantasie dazu. Oder er fand ihn des Aufwands nicht wert. Beides war schlecht für den Flüchtenden. Es bedeutete, er wurde von einem fantasielosen Psychopathen gejagt. Wie und worüber soll man mit so jemandem verhandeln? Man konnte nur rennen und versuchen, so weit wie möglich von ihm weg zu kommen.

Sam war sich nicht sicher, ob es nur um Leben oder Tod ging oder gar um Schlimmeres. Die Ereignisse der letzten Tage berechtigten ihn, Letzteres anzunehmen. Auf jeden Fall war sein Unterbewusstsein dieser Meinung, denn es veranlasste die Nebenniere, große Mengen an Adrenalin auszuschütten. Und die brauchte er dringend, denn zum einen war er noch erschöpft und zum anderen hatte er jede Menge schweres Gepäck bei sich. Nur mit Hilfe des Adrenalins konnte er dieses Höllentempo und die außergewöhnliche Belastung durchhalten.

“Schneller!“ rief er seinen Freunden zu. Das hätte er sich sparen können. Sie gaben bereits alles. Seit die Nanobots ihr Fahrzeug beschädigt hatten, waren sie gezwungen, ihr Ziel zu Fuß zu erreichen. Angetrieben von den winzigen Robotern kamen sie schneller voran, als sie es sich mit dem schweren Gepäck erträumt hätten.

Jeder von ihnen hatte einen vollgepackten Rucksack und zwei Taschen bei sich. Sams Rucksack hüpfte bei jedem Schritt auf und ab und die Taschen schlenkerten so wild umher, dass er eigentlich mehr taumelte als lief. Er verfluchte sie. Jeden Moment fürchtete er, eine würde ihn so aus dem Gleichgewicht bringen, dass er unweigerlich hinfallen musste. Seinen Gefährten ging es ähnlich. Nur Urs schien keine Probleme zu haben. Der Hüne war schon fast an der Tür des Bunkers angekommen, während Sam noch nicht mal die Hälfte geschafft hatte.

Der Bunker war ihr Ziel. Er bedeutete Sicherheit vor den Nanobots. Noch hielt der Schutzschild aus ihren eigenen Nanobots. Aber es war nur eine Frage der Zeit. Ihr Gegner hatte eine mehrfache Übermacht mitgebracht. Normalerweise hätten sie ihre Nanobots eingesetzt, um das Gepäck zu tragen. Aber nun brauchten sie alle zu ihrem Schutz.

Während sie rannten, waren sie dem wütenden Summen von Milliarden von Nanobots ausgesetzt. Es klang wie Hornissen, die jemand bis zum Äußersten gereizt hatte. Mittlerweile waren es so viele, dass sie buchstäblich die Sonne verdunkelten. Ein faszinierender Anblick, wie Sam nebenbei bemerkte, aber er hatte jetzt nicht die Zeit, sich länger damit zu beschäftigen. Er war umgeben von einer Wolke, die alles Licht und Leben zu verschlingen drohte. Wie gerne hätte Sam sein Gepäck fallen gelassen und wäre einfach weitergerannt. Aber das ging nicht. Darin war wertvolle Ausrüstung, die sie gleich brauchen würden. Wenn sie es in den Bunker schafften.

Um die Tür aufzubekommen, mussten sie sich erst noch identifizieren. Eigentlich eine Kleinigkeit für Sam. Wenn er sich in Ruhe konzentrieren konnte. Doch ständig wurde er durch sein Gepäck und die ungewohnte Anstrengung abgelenkt. Sam versuchte, alles auszublenden und sich nur auf die Kontrolle der kleinen Nanobot-Wolke an der Tür des Bunkers zu konzentrieren.

Er fokussierte sich auf ein Gesicht, das er sich zuvor gemerkt hatte. Um die Tür zu entriegeln, musste er mithilfe der Nanobots ein möglichst realistisches Abbild aus seinem Gedächtnis erzeugen. Nur wenige konnten das. Sam war davon überzeugt, dass er auf diesem Gebiet der Beste war. Vermutlich stimmte das auch. Normalerweise brauchte er dafür nur ein paar Sekunden. Aber das galt unter normalen Umständen. Diesmal waren die Umstände alles andere als normal und Sam wurde ständig aus seiner Konzentration gerissen.

Mittlerweile war Urs an der Tür angekommen, hatte dort seine Taschen abgestellt und rannte Sam wieder entgegen, um mit dem Gepäck zu helfen. Doch anstatt ihm zu helfen, lief er einfach vorbei. Urs lief noch weiter nach hinten zu Aya, die weit zurückgefallen war, und nahm ihr die Taschen ab. Doch Sam fand, er brauche die Hilfe mindestens genauso. Also ließ er seine einfach fallen, schrie dem verdutzten Urs zu, er solle sich gefälligst auch um seine Taschen kümmern und rannte, ohne sich noch mal umzudrehen, weiter. Kopfschüttelnd blieb Urs bei Sams Gepäck stehen, klemmte es sich unter die Arme, nahm Ayas Taschen wieder auf und rannte los, als ob sie mit nichts als Federn gefüllt wären.

Endlich. Die kleine blaugraue Wolke vor dem Identitätsscanner begann Form und Farbe anzunehmen. Langsam bildete sich ein Gesicht heraus, das einer lebenden Person täuschend ähnlich sah. Von dem Kopf war nur die Vorderseite zu sehen. Wie eine Maske schwebte das Kopfteil vor dem Scanner. Sam hoffte inständig, dass die Vorderseite reichen würde. Und tatsächlich, es funktionierte. Der Scanner bestätigte die Identität und wünschte Dr. Petermann einen angenehmen Tag. Ein leises Klicken ertönte, und die Tür begann geräuschlos aufzuschwingen.

Der Spalt war gerade weit genug für Urs, als er beim Eingang zum zweiten Mal ankam. Ohne anzuhalten stürmte er mit den Taschen von Sam und Aya durch die Öffnung. Kurz darauf war der Rest des Teams durch. Während Sam bereits das Schließen der Tür einleitete, sprintete Urs noch einmal nach draußen, um seine eigenen Taschen zu holen. Sams Nanobots bildeten nun einen Schild, der den kleiner werdenden Türspalt abdeckte. Das Brummen der angreifenden Nanobots hallte von den Wänden des Bunkers wider und war unerträglich laut. Eine ohrenzerreißende Mahnung, wer vor dem Bunker auf sie warten würde. Ihre einzige Chance bestand darin, diesen Angriff abzuwehren. Ansonsten waren sie dort für immer gefangen.

Sam konzentrierte sich. Im letzten Moment, bevor die Tür ins Schloss fiel, formte er mit seinen Nanobots einen Trichter. In der Annahme, den Schild durchbrochen zu haben, drängten sich die Angreifer sofort hinein. Für einen Moment schien es, als ob sie ihn zerreißen würden. Es war riskant, so nahe an die Grenze zu gehen, aber Sam wollte möglichst viele dieser Nanobots einfangen. Dank seines Geschicks hielt der Trichter dem Druck stand. Mit einem das Schicksal besiegelnden „Klank“ fiel die Tür ins Schloss und trennte die Freunde von der Außenwelt ab. Schnell verschloss Sam die Falle. Die gefangenen Nanobots waren von ihrer Energieversorgung abgeschottet. Wohltuende Stille breitete sich aus. Sam sorgte mit seinen Nanobots dafür, dass es so blieb. Er verhinderte, dass die feindlichen Nanobots sich an der Energieversorgung innerhalb des Bunkers bedienen konnten.

Die Flüchtenden hatten es geschafft, unbeschadet in den Bunker hineinzukommen. Der erste Teil ihres Plans war schwieriger gewesen, als erwartet. Sam hoffte, dass sie den zweiten Teil nicht genauso unterschätzt hatten. Sie standen in dem weißen Gang, der hinter der Tür begann. Ihre schweren Atemzüge hallten von den Wänden wider. Der Korridor wurde von einer selbstleuchtenden Decke erhellt. Sam war schweißgebadet und seine langen schwarzen Haare hingen ihm wirr ins Gesicht. Trotz des Lederbandes. Der Sprint und die Steuerung der Nanobots hatten ihn die letzten Reserven gekostet.

Seine Wunden schmerzten wieder. Die Verletzungen von vorgestern waren dank modernster Medizintechnik verheilt, aber sie waren doch so schwer gewesen, dass es noch ein paar Tage dauern würde, bis er wieder voll hergestellt war. Außerdem hatte er viel Blut verloren. Sam nahm sich vor, in Zukunft sorgfältiger zu planen. Das hier war kein Spiel in einer virtuellen Realität, aus dem man notfalls jederzeit unbeschadet aussteigen konnte.

Vilca brauchte nichts zu sagen. Er konnte ihre Sorge um ihn von ihren smaragdgrünen Augen ablesen. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie schwer er sich auf sie stützte.

Während sich sein Puls widerwillig beruhigte, betrachtete Sam seine Freunde. Die Ereignisse des letzten Tages standen allen ins Gesicht geschrieben. Mehrmals waren sie einer Katastrophe nur mit knapper Not und abenteuerlichen Stunts entkommen.

Aya stützte sich mit einer Hand an die Wand. Sie warf Sam aus ihren mandelförmigen Augen einen abgehetzten Blick zu. Ihr langes schwarzes Haar hatte sie zu einem Zopf geflochten, der ihr schwer wie Blei über die Schulter baumelte.

Paul war zu Boden gesunken und lehnte sich mit dem Oberkörper gegen eine seiner Taschen. Er fuhr sich mit den Händen durchs wirre Haar.

Urs stand ruhig da und musterte das Team. Der Spurt zum Bunker hatte an ihm nicht die geringsten Spuren hinterlassen. In seiner schwarzen Lederjacke und den Jeans sah er irgendwie aus wie Arnold Schwarzenegger. Sam fand es seltsam, dass ihm das noch nie aufgefallen war. Klar, für seine Ausflüge in die Virtuelle Realität, benutzte er den Terminator als Vorbild für seinen Avatar. Doch war Sam die Ähnlichkeit von Urs als Mensch mit Arnold Schwarzenegger immer entgangen. Vielleicht lag es auch nur an dem Licht und der veränderten Wahrnehmung nach ihrem Wettlauf um Leben und Tod.

„Oh Mann, war das knapp!“ keuchte Paul. „Diese Art von Sport ist nichts für mich. Darauf hätte ich gerne verzichtet. Ich war fest davon überzeugt, dass wir unsere Verfolger abgeschüttelt hätten.“

„Ach was!“ antwortete Urs selbstbewusst. „Stell dich nicht so an. Ich hätte nie gedacht, dass das wahre Leben so viel Action und Spannung bieten kann.“

Aya hob den Kopf und blickte irritiert auf Urs. „Mann, bei dir tickt‘s wohl nicht richtig. Wir wären um ein Haar ums Leben gekommen. Mehrmals sogar. Und nicht zu vergessen, dass du mich heute vom Dach eines zwölfstöckigen Hochhauses geworfen hast. Wenn uns jetzt die Nanobots erwischt hätten, gäbe es keinen Reload, wie bei unseren Cybergames! Game over, forever, hätte es dann geheißen, für Deine Kiloherz-getaktete 4-Bit-Brainware.“

„Reg dich nicht so auf!“ entgegnete ihr Urs bestens gelaunt. „So ein kleiner Spurt tut dem Körper gut und jetzt sind wir hier in Sicherheit. Und überhaupt, was heißt hier „vom Dach geworfen?“ Immerhin bin ich mit dir zusammen gesprungen. Zugegeben, für Sam war das ein bisschen viel nach seinen Verletzungen, aber von dir und Paul hätte ich etwas mehr Fitness erwartet“.

Aya war nicht zum Scherzen aufgelegt. Obwohl sie zierlich gebaut und über einen Kopf kleiner als Urs war, warf sie ihm einen Blick zu, der selbst glühende Lava zum Erstarren gebracht hätte. Urs wusste genau, wie weit er bei seiner Freundin gehen konnte, und sagte deshalb nichts weiter.

„Wie geht es dir?“ fragte Vilca ihren Freund besorgt.

„Ging schon mal besser. Ich glaube, ich habe mich überschätzt. Wenn mir Urs nicht mit den Taschen geholfen hätte, wäre ich vermutlich zusammengebrochen. Der Angriff vor zwei Tagen hat mehr Kraft gekostet, als ich dachte.“

„Ja, ich weiß“, beeilte er sich, nachdem er Vilcas vorwurfsvollen Blick sah. „Ich werde mich schonen und auf dich hören. Du hast mir schließlich das Leben gerettet.“

„Und ob du auf mich hören wirst! Ich werde dich nicht mehr aus den Augen lassen. Aber dein Leben verdankst du weniger mir, als der neuen Nanobot-basierten Mikrochirurgie.“

Die Wirkung des Adrenalins begann nachzulassen und sein Gehirn hörte auf, die unmissverständlichen Botschaften des Körpers zu ignorieren. Für einen Moment erwog Sam, die Schmerzen mit seinen Symbots zu unterdrücken, aber das hätte sein Reaktions-und Denkvermögen beeinträchtigt. Und für das, was vor ihnen lag, brauchte er einen klaren Verstand. Als Sohn eines Indianers kannte er noch andere Methoden, Schmerzen zu verdrängen. Sein Vater hatte sie ihn gelehrt .Er ging in Gedanken das Ritual durch, hatte aber nur mäßigen Erfolg.

Vilca spürte, dass er ein paar Minuten Pause brauchte. „ Setz dich. Dann geht es dir gleich besser.“

„Wir müssen weiter.“

„Setz dich!“ insistierte sie. „Wir sind hier in Sicherheit. So viel Zeit muss sein.“

„Sam, hör auf deine Freundin. Sie meint es nur gut mit dir“, sagte Aya, während sie Vilca einen dankbaren Blick für die verlängerte Pause zuwarf. „Ich war richtig geschockt von den Aufnahmen, die Vilca mir von dem Überfall gepostet hatte. Das sah wirklich schlimm aus. Ich befürchtete schon das Schlimmste.“

„Um ehrlich zu sein, mir ging es ähnlich. Anfangs war ich mir sicher, dass der Angreifer mich nur kampfunfähig machen wollte, aber je länger das dauerte, umso mehr Zweifel kamen mir.“

Aya nickte. “Ich verstehe immer noch nicht, wie er die Sicherheitsvorkehrungen in eurer Wohnung außer Kraft setzen konnte. Ausgerechnet deine.“

„Ähhh ja, das ist peinlich“, gab Sam zu. „Es ärgert mich, dass ich nicht an so etwas gedacht habe. Aber ein Angriff mit Nanobots bietet ganz neue Möglichkeiten, Schutzvorrichtungen zu umgehen. Man kann mit ihnen Funksignale abschirmen, in kleinste Ritzen eindringen, Kabelverbindungen durchtrennen oder anzapfen und vieles mehr. Damit lässt sich praktisch jede Sicherheitseinrichtung außer Kraft setzen. Nur ein hermetisch abgeschlossener Raum, so wie dieser Bunker hier, ist sicher gegen solche Angriffe. Oder eigene Nanobots zur Verteidigung. Wie dem auch sei. Auf so eine Attacke war ich nicht vorbereitet. Trotzdem habe ich den Angreifer besiegt. Obwohl er mehr Nanobots hatte als ich.“

„So, besiegt nennst du das. Du wärst verblutet, wenn Vilca nicht vorzeitig heimgekommen wäre.“

Sam fand, dass der Begriff „vorzeitig“ auch anders interpretiert werden konnte. Immerhin hatte seine Freundin die ganze Nacht Party gefeiert. Aus seiner Sicht war sie reichlich spät gekommen.

Ein schabendes Geräusch von draußen ließ sie zusammenfahren. Offensichtlich hatten die Nanobots begonnen, die Tür zu bearbeiten. Das erinnerte ihn daran, dass kostbare Zeit verstrich. Der Bunker war als sicheres Versteck für längere Zeit geplant. Noch bot er ihnen Sicherheit, aber sie waren entdeckt worden, bevor sie ihn erreichten.

Die tödliche Bedrohung würde nicht von alleine verschwinden. Im Gegenteil. Sie unternahm gerade alles, um hereinzukommen. Deshalb waren sie gezwungen, das Problem zu lösen.

„Wir sind nicht zum Vergnügen hier, sondern haben eine Aufgabe zu erfüllen. Trotz der Angriffe während der Fahrt hat Urs es geschafft, uns heil hierher zu bringen. Jetzt müssen wir unseren Plan umsetzen, bevor uns die Zeit davonläuft. Wir nehmen schnellstens den Bunker in Betrieb und bauen unser Equipment im Zentralraum auf. Dann legen wir sofort los.“

Sam stand auf und wollte nach seinen Taschen greifen, aber Vilca hielt ihn zurück. „Das übernimmt Urs gerne für dich“, sagte sie bestimmt.

Sam nickte seinem Freund dankbar zu. „Der Aufzug ist da hinten.“

Auf dem Weg dachte Sam über ihre Situation nach. Er versuchte abzuschätzen, wie lange die Nanobots brauchen würden, bis sie die Ragnocerit-Panzerung durchbrachen. Sie bestand aus einer Mischung aus Spinnenseide und Keramik. Einem außergewöhnlich widerstandsfähigen und zähen Werkstoff. Aber bei den Trillionen von Nanobots war es nur eine Frage der Zeit, bis sie durchbrechen würden. Sam schätzte, dass ihnen nicht mehr als drei, höchstens dreieinhalb Stunden blieben, um die Kontrolle über die angreifenden Nanobots zu erlangen. Das war die einzige Möglichkeit, den Angriff abzuwehren.

Sie hatten praktisch keine Chance, das Passwort zu knacken. Trotzdem waren sie fest entschlossen. Der Code bestand aus sechs Symbolen, aber jedes davon hatte eine Auflösung von 25 mal 25 Pixeln von denen jedes einzelne acht Farben annehmen konnte. Für jedes Symbol gab es zehn Milliarden Billionen Kombinationen. Das war eine Eins mit zweiundzwanzig Nullen! Mit ihren Taschen voller massiv parallel rechnender Prozessor-Einheiten hatten sie genügend Rechenleistung dabei, um theoretisch alle Kombinationen in knapp vierzig Minuten durchzuspielen. "Brute Force" nannte man dieses Vorgehen. Das Problem war, dass nach jeder falschen Eingabe die nächste Passworteingabe erst nach zwei Sekunden möglich war.

Die Aufzugtür glitt leise auf und riss Sam aus seinen Gedanken. Sie waren jetzt tief unter der Erde. Vor ihnen lag ein Gang, von dem Türen zu verschiedenen Räumen mit Versorgungseinrichtungen sowie Wohn- und Schlafräumen führten. Insgesamt war der Bunker für fünfzig Personen ausgelegt. Es war ein typischer Atombunker, wie sie in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts gebaut wurden.

Nacheinander verließen sie die Kabine. Der Hauptraum lag am Ende des Ganges.

Sofort nach dem Betreten machte sich das Team an die Arbeit und begann, das Equipment aufzubauen. Währenddessen beschäftigte sich Sam mit einem altmodischen Steuerpult. Wenige Sekunden später ertönte ein sanftes Summen und es wurde hell. Wie üblich kam die Beleuchtung des Raumes nicht von der Decke sondern von LED-Feldern an den Wänden. Durch barocke Rundbogenfenster sah man einen weißen Sandstrand mit sanfter Brandung und Kokospalmen. Auch zwanzig Meter unter der Erde war diese Illusion von der Wirklichkeit nicht zu unterscheiden.

 

„Ich bin gespannt, ob du das Passwort wie geplant knacken kannst“, sagte Paul, während er und die Anderen ein Rack nach dem anderen mit Rechnermodulen aus ihren Taschen holten und auf dem Boden aufstellten.

„Es wird klappen!“ sagte Vilca selbstbewusst, ohne mit dem Verkabeln der Racks innezuhalten.

„Und was ist, wenn es nicht klappt?“ fragte Aya besorgt.

Die Blondine hielt inne und ließ sich Zeit mit der Antwort. Hatten sie das nicht schon diskutiert? „Es ist im Prinzip ganz einfach“, sagte sie geduldig. „Es dauert zwar sehr lange, alle Passwortkombinationen nacheinander durchzuprobieren. Aber niemand hindert uns daran, alle auf einmal zu probieren. Die Nanobots haben alle dasselbe Passwort. Wenn wir genügend Nanobots gefangen hätten, könnten wir das Passwort sogar in einer Abfrage herausfinden.“

„Aber dafür müssen wir sie isolieren. Das heißt, jeden einzelnen in einen Drahtkäfig packen. Das ist eine Menge Arbeit. Selbst mit Hilfe der Nanobots können wir nicht so viele Käfige herstellen.“

„Das brauchen wir auch nicht“, erwiderte Paul, während er die Energieversorgung für ihre Nanobots aus seiner Tasche nahm und an eine Steckdose anschloss. „Wir bauen so viele von diesen Faradayschen Käfigen wie möglich, und bestücken sie mit einem der gefangenen Nanobots. Dann können wir an jedem ein anderes Passwort ausprobieren. Wir wiederholen das einfach so lange, bis wir das richtige gefunden haben.“

„Genau“, fügte Sam hinzu. „Allerdings müssen wir sorgfältig arbeiten. Das Gitter für die Faradayschen Käfige darf nicht zu grobmaschig sein, sonst funktioniert die Funkabschirmung nicht.“

„Keine Sorge, das kriegen wir schon hin“, sagte Urs zuversichtlich.

 

Kurze Zeit später war alles aufgebaut. Wild durcheinander, aber Sam störte das nicht. Ihm kam es nur auf die Funktion an. Nachdem alles in Ordnung schien, nickte er zufrieden. „Los geht’s! Loggt euch ein und folgt mir in die Virtuelle Realität.“

Routiniert aktivierte Sam die symbiotischen Nanobots, die sein Gehirn direkt mit der VR verbanden. Er spürte das gewohnte leichte Ziehen an seinem Bewusstsein. Dann verschwamm die Realität und wurde durch die virtuelle Welt ersetzt. In diesem Fall war es der nüchterne weiße Raum, den er bevorzugt als Ausgangsbasis für die Gestaltung seiner VR benutzte.

Für seinen Avatar hatte er einen griechischen Gott als Vorbild genommen. Muskelbepackt, nackter Oberkörper, lockiges Haar, markantes Kinn. Wie immer musste er daran denken, welche Macht er in der virtuellen Welt hatte. Die Möglichkeiten, die man dort hatte, waren nur durch die eigene Fantasie begrenzt. Und natürlich durch die Rechenleistung und den Speicherplatz, die man zur Verfügung hatte. Gespannt wartete er darauf, welchen Avatar seine Freundin diesmal als ihren Personenrepräsentanten wählen würde.

Als Phire in der VR auftauchte, trug sie einen mit Gold bestickten grünen Mantel im chinesischen Stil, mit Stehkragen und tiefem Ausschnitt. Ihre Locken hatte sie im Nacken mit einer saphirbesetzten Haarspange zusammengebunden.

Sam nahm sich einen Moment Zeit, den Anblick seiner Freundin zu genießen. Die meisten Menschen nutzten die VR, um ihre Wunschvorstellungen zu realisieren. Vilca machte davon selten Gebrauch.

Fast gleichzeitig erschienen nun Aya und Paul. Die junge Chinesin trug ein Designerkleid, dessen Wirkung sie mit Lichtbögen verstärkte. Im Moment kreisten sie langsam und eng an ihren Körper geschmiegt um ihre virtuelle Präsenz. Sam wusste, dass die Lichteffekte mehr als nur optisches Beiwerk waren. Sie waren Teil ihrer Verteidigung und Aya wusste meisterhaft mit ihnen umzugehen.

Paul zeigte sich als Wikinger in voller Rüstung und bis an die Zähne bewaffnet. In der VR war es üblich, anstelle des eigenen Namens ein Pseudonym zu verwenden. Die eingeblendeten Statusinformation zeigten für Aya den Decknamen Autoxa und für Paul Zero.

Als letzter erschien Urs. Sein Avatar sah genauso aus wie Arnold Schwarzenegger in Terminator 1. Und genau unter diesem Namen kannten ihn alle in der VR.

„H-Hm“, machte sich der Wikinger Zero bemerkbar. „Wenn der Griechische Gott dann endlich fertig ist, seine Göttin anzuhimmeln, würden wir alle es begrüßen, wenn er endlich mit dem Schöpfungsakt beginnt. Wir haben heute noch einiges vor und Zeit ist kostbar.“

Für diese Bemerkung erntete der Wikinger einen finsteren Blick von Phire und CycloneB, was ihn aber nicht im Geringsten beeindruckte. „Na mach schon!“ sagte er ungeduldig. „Oder soll ich das für dich übernehmen?“

„Wer bist du, Mensch, die unermessliche Weisheit eines Gottes in Frage zu stellen?“, rief CycloneB mit ehrfurchtgebietender Stimme. „Die Schöpfung ist ein Akt, der einzig und allein Göttern zusteht. Wenn sie entscheiden, etwas zu tun, ist es immer der richtige Augenblick. Nicht zu früh und nicht zu spät. Ungeduld ist eine Eigenschaft sterblicher Menschen“, fügte er theatralisch hinzu. „Wer ist hier sterblich?“ gab Zero mit gleicher Stimme zurück. Plötzlich hielt er einen Kriegshammer in der Hand und reckte ihn in die Höhe. „Ich bin Thor, der Gott des Donners und des Krieges!“ rief er und ließ Blitze von Mjölnir auf den Boden regnen. Wo sie einschlugen, hinterließen sie ein Stück Felsgestein.

Das konnte Sam alias CycloneB nicht auf sich sitzen lassen. Er konzentrierte sich und langsam nahm der Raum um sie herum Formen und Farbe an. Dabei wob er die Blitze von Zeros Hammer geschickt in die werdende Landschaft ein. Nachdem er die Szenerie generiert hatte, standen sie alle auf einer grünen Wiese mit blühenden Blumen. Etwas weiter weg standen ein paar Obstbäume in voller Blütenpracht. Neben ihnen schlängelte sich mit leisem Geplätscher ein Bach. CycloneB konnte sich den Spaß nicht verkneifen und ließ einen Schwarm Bienen auf Zero los, der immer noch mit hoch erhobenem Hammer da stand. Die Blütenbestäuber kreisten laut summend um seinen Kopf. Erst als Zero sie mit Blitzen traktierte, ließen sie von ihm ab, um sich sogleich auf die Wiesenblumen zu stürzen.

Nur die riesige Wolke Nanobots, die CycloneB als ein Stück harte Realität in die VR eingeblendet hatte, passte nicht in die friedliche Frühlingsszenerie. Schwarze Nanobots schimmerten durch ein Netz aus weißen, die sie gefangen hielten. Aus der Ferne vermischten sich die Farben zu einem bedrohlichen Grau.

„Wollen wir hoffen, dass die Abschirmung dicht hält!“ bemerkte Autoxa besorgt, nachdem sie die Wolke genauer inspiziert hatte. „Das ist irgendwie unheimlich. Wie ein Tiger, den man am Schwanz gepackt hat und nicht mehr loslassen kann. Wenn die Dinger da drin wieder an Energie kommen, werden sie uns sofort angreifen. Und das sind dreimal mehr als unsere.“

„Weit würden sie aber nicht kommen“, wandte Arnold unbekümmert ein. „Wir brauchen nur die Energieversorgung abzuschalten. Dann ist Ruhe.“

„Arnold hat Recht“, bemerkte CycloneB. „Es besteht kein Grund zur Sorge. Also los, treiben wir unsere Nanobots an und lassen sie die Faradayschen Käfige bauen.“

Nach ein paar Gesten erschienen wie von Geisterhand große Spulen mit Kupferdraht, die sie ebenso wie die Rechner in ihren Taschen in den Bunker geschleppt hatten. Während sie mit der Arbeit begannen, gesellte sich Phire zu CycloneB. „Danke für die Frühlingslandschaft. Ich weiß, dass das angesichts der Rechenleistung, die wir gleich brauchen werden, Luxus ist. Aber nach dem, was uns heute schon alles widerfahren ist, tut diese friedliche und harmonische Umgebung richtig gut. Es beruhigt die Nerven.“

„Es freut mich, deine Stimmung getroffen zu haben. Ich hatte schon überlegt, eine Unterwasserlandschaft, den Weltraum oder eine langweilige Büro-Szenerie aus dem frühen 21. Jahrhundert zu verwenden.“

„Oder einen Kindergarten oder Schlachthof, du Kindskopf“, entgegnete Phire mit einem Lächeln. „Ich kenne deine Fantasie. In den virtuellen Welten ist sie ja unerschöpflich.“

„Also, ich hatte da ja ganz was anderes im Sinn!“ mischte sich Zero ein.

„Ja, ich weiß, Zero. Manchmal bist du ziemlich einfach zu durchschauen. Du wolltest die Walhall erschaffen und wir sollten auf Holzbänken sitzen und mit den nordischen Göttern zechen.“

„Das gilt nicht. Gib zu, du hast in meinen Gedanken gelesen!“ entgegnete Zero empört.

„Schön wär’s“, sagte CycloneB. „Aber leider ist das selbst mir noch nicht gelungen. Die Symbots liefern zwar die Schnittstelle zwischen der Brainware und einem Computer. Aber deshalb kann ich noch lange nicht deine Gedanken lesen. Es sei denn, du hättest sie irgendwo im Computerspeicher und öffentlich zugänglich abgelegt.“

Zero überlegte einen Moment. Offensichtlich überprüfte er seinen Computerspeicher. „Nein, das habe ich nicht. Also sag schon, wie hast du das gemacht?“

„Wie CycloneB schon sagte“, mischte sich Autoxa ein. „Du bist manchmal leicht zu durchschauen. Und jetzt ist genug geredet. Bitte konzentriert euch auf die Arbeit. Unser Plan, die Angreifer aus der VR heraus lahmzulegen, verschafft uns zwar eine Menge Zeit, aber trotzdem müssen wir uns ranhalten.“

Autoxas Ermahnung verfehlte ihre Wirkung nicht. Schnell entfaltete sich hektische Betriebsamkeit. Nanobots schwirrten umher und verflochten in atemberaubender Geschwindigkeit Kupferdrähte. Innerhalb weniger Minuten war jeder der feindlichen Nanobots in einem Faradayschen Käfig eingeschlossen. Das unförmige Gespinst aus rotem Kupferdraht nahm fast die Hälfte des Wohnraums im Bunker ein. CycloneB startete ein Programm, mit dem er das überprüfte. Gleichzeitig kontrollierte er, ob sie alle an eine separate Energieversorgung angeschlossen waren.

„Jetzt wird’s spannend!“ sagte CycloneB. „Wir können mit dem Passwortknacken beginnen.“

„Moment!“ bremste Autoxa die Euphorie. Hat dein Bunker überhaupt genügend Energie für das, was wir hier tun?“

„Na klar!“ grinste CycloneB zufrieden mit sich selbst. „Ich habe eine ultramoderne Brennstoffzelle einbauen lassen. Das Beste vom Besten. Die liefert Energie im Überfluss. Das reicht für die nächsten fünfzig Jahre, wenn’s sein muss.“ Ohne Zeit für einen weiteren Einwand zuzulassen, aktivierte CycloneB für den Bruchteil einer Sekunde die Energieversorgung der Nanobots und sendete die Passwörter. Jeder blickte erwartungsvoll auf die Statusanzeige, die er mitten im Raum platziert hatte.

„Noch mal!“ kommandierte CycloneB, nachdem die automatische Auswertung keinen Treffer berichtete.

So ging es weiter, bis plötzlich ein Alarm ausgelöst wurde. Rechner schalteten sich ab, die VR brach zusammen und von irgendwoher kam ein schrilles Heulen. „Das muss die Brennstoffzelle sein!“ schrie Sam. Er hatte sich als Erster von dem Schock erholt, so unsanft aus dem Cyberspace geschleudert worden zu sein. So schnell er konnte, stürmte der Besitzer des Bunkers aus dem Raum, um zu retten, was noch zu retten war.

 

***

 

Man sah es dem Bauwerk nicht an, aber es war mehr als eine Festung. Von außen wirkte es mit seiner Stahl und Glasfassade wie ein gewöhnliches Bürogebäude. Doch der Eindruck täuschte. Nichts lag ihm ferner, als ein einfaches Bürogebäude zu sein.

Das Objekt war hermetisch abgeriegelt. Nichts konnte hinein oder hinaus ohne die Sicherheitsvorkehrungen zu passieren.

Angeblich waren es die strengsten der Welt. Die hagere Gestalt im schwarzen Anzug fühlte sich aufgefordert, diese Aussage auf die Probe zu stellen. Es hatte jahrelanger Vorbereitung bedurft, um diesen Versuch zu wagen.

Der Gegner, den er damit herausforderte, war einer der mächtigsten Geheimdienste der Welt. Über welche Mittel und Möglichkeiten er verfügte, hatte ColdFlasher am eigenen Leib erfahren. Nur mit knapper Not war er damals entkommen. Diesmal war er besser vorbereitet, und seine Intuition sagte ihm, dass er heute als Sieger vom Platz gehen würde.

Die Technologie war auf seiner Seite. In Form eines einfachen Metallknopfes an einem Jackett passierte sie die Sicherheitsvorkehrungen. Für die Sensoren handelte es sich um ein normales Stück Metall. Der Träger des Kleidungsstücks hatte keine Ahnung von dem Trojanischen Pferd, das er in das angeblich sicherste Gebäude der Welt trug.

Innen angekommen, löste sich der Knopf auf und verschwand. Während der unfreiwillige Wegbereiter der Apokalypse auf den abhörsicheren Besprechungsraum zuging, trieb feinster Nanostaub durch die Luft. Unsichtbar für Kameras und das menschliche Auge analysierte er die elektromagnetischen Felder in seiner Umgebung. Streng der Logik folgend, dass die Rechner den höchsten Stromverbrauch und damit das stärkste elektromagnetische Feld erzeugen würden, bewegte er sich auf dessen Quelle zu.

Im Rechenzentrum angekommen, verwandelten sich der Nanostaub in das Ende eines Netzwerkkabels und steckte sich ein. Kurz darauf installierte sich ein Programm und der Virus breitete sich aus, wie das tödliche Gift einer Seewespe. Schnell und bösartig.

 

***

 

„Und dafür haben sie uns alle hier zusammenkommen lassen?“ fragte der Chef der Cyber Terror Defense provozierend.

Die junge Frau hielt dem scharfen Blick aus dem wettergegerbten Gesicht ihres Vorgesetzten stand. „Die Analyse der Ereignisse in Afrika ist eindeutig. Jemand bringt dort systematisch Netzknoten unter seine Kontrolle.“

„Mandy“, sagte der ältere Herr neben ihr herablassend, „welche Analyse meinen sie? Sie sind doch nicht etwa so anmaßend zu glauben, dass sie mit ihren paar Jahren Berufserfahrung bereits über Algorithmen verfügen, die sich mit solchen messen können, in denen jahrzehntelange Erfahrung steckt? Meine Analyse zeigt jedenfalls, dass mit den Netzknoten in Afrika alles bestens in Ordnung ist.“

Mandy Miller griff mit beiden Händen nach dem dreidimensionalen Gebilde, das vor ihr in der Luft schwebte, und drehte es hin und her. Da es sich um eine in Echtzeit aktualisierte Repräsentation des Internetverkehrs in Afrika handelte, veränderte das Diagramm ständig seine Form und schien wie lebendig zu pulsieren.

Mandy zog eine Augenbraue hoch und lächelte triumphierend. „Finden sie es nicht auch bemerkenswert, George, wie reibungslos der Internetverkehr plötzlich in Afrika abläuft? Noch nie gab es so wenig Störungen.“

Der ältere Analyst würdigte das Diagramm keines Blickes. „Was für einen Unsinn reden sie da? Jemand, der am Internet dort rumfummelt, wird wohl kaum dafür sorgen, dass es besser läuft.“

„Es sei denn, er bereitet einen großen Coup vor und braucht zuverlässige Datenverbindungen“, konterte die junge Frau selbstbewusst. Sie war es gewohnt, ein freundliches Gesicht und Geduld mit Kollegen wie George zu zeigen. Innerlich kochte sie. Mit Idioten wie George diskutieren zu müssen hielt sie für Zeitverschwendung. Auch ohne seine Personalakte zu hacken wusste Mandy, dass ihr IQ mindestens sechzig Punkte über seinem lag. Hilfesuchend warf sie ihrem Chef einen Blick zu. Wieso haben sie mich eingestellt, um mich mit so einem Dummkopf zusammenarbeiten zu lassen, fragten ihre Augen.

Walter ignorierte den Blick der jungen Analystin. „Es tut mir leid, Mandy, aber George hat recht. Sämtliche Analyseprogramme sind zu demselben Ergebnis gekommen. Es gibt keine Anzeichen ungewöhnlicher Aktivitäten. Alles läuft reibungslos. Da ist nichts, dem wir nachgehen könnten. Was sollen wir denn ihrer Meinung nach noch tun?“

„Wie wäre es, einen Menschen hinzuschicken, der mal nach dem Rechten sieht?“

George lachte schallend. „Junge Dame, sie müssen noch viel lernen. Unsere Algorithmen sind den Menschen haushoch überlegen. Was soll ein einzelner Mensch schon finden, das Dutzende von Überwachungskameras, Roboter und Spezialprogrammen nicht entdecken konnten?“

„Manchmal muss man Dinge mit seinen eigenen Sinnen wahrnehmen. Nicht über eine Kamera, Mikrofone und Sensoren. Die übertragen nur Daten. Und die können manipuliert sein.“

George wurde schlagartig ernst. Streng blickte er Mandy an. „Unsere Daten sind nicht manipuliert. Merken sie sich das.“ Mit diesen Worten stand er auf und griff wütend nach seinem Jackett. „Walter, ich muss mir diesen Unsinn nicht mehr länger anhören. Ich habe Wichtigeres zu tun.“

Mandy beobachtete, wie er sein Jackett zuknöpfte. „Fehlt da nicht ein Knopf, George?“ fragte sie.

„Muss wohl abgefallen sein“, kommentierte er, ohne sich weiter Gedanken darüber zu machen.

Walter stutzte. „Tatsächlich, George. Du bist doch sonst so ordentlich. Dein alter Haushaltsroboter lässt wohl etwas nach. Wie kannst du…

In diesem Moment ging der Alarm los.

 

***

 

„Wo hast du denn das Museumsstück her?“ fragte Aya entsetzt, als sie den Dieselgenerator sah. „Du hast doch nicht ernsthaft vor, mit dieser Antiquität Strom zu erzeugen? Noch so eine Katastrophe wie soeben und wir sind erledigt!“ sagte sie mit einem Anflug von Hysterie.

„Tja, tut mir leid, aber diese Antiquität aus den Siebzigern des letzten Jahrhunderts ist alles, was wir haben“, erwiderte Sam. „Du solltest ihr gegenüber eine freundlichere Einstellung einnehmen. Ich brauche dich wohl nicht daran zu erinnern, dass unser Zukunft davon abhängt, ob wir sie in Gang kriegen.“

„Hast du schon mal einen Dieselgenerator in Betrieb genommen?“ fragte Urs.

„Nein, aber ich bin sicher, dass ich in der Bunker-Cloud eine Anleitung finde.“

„Na, was ist?“ fragte Vilca, nachdem Sam nach einer halben Minute noch immer nichts gefunden hatte.

„Tja, sieht so aus als ob es das nicht gibt. Zumindest nichts, was zu diesem Modell passt.“

„Und was machen wir jetzt?“ fragte Aya und wartete vergeblich auf eine Antwort. Stattdessen stand Vilca auf und inspizierte den Generator. Sie ließ sich Zeit und studierte die Anzeigen, Knöpfe und Hebel, die zur Steuerung dienten. Plötzlich bückte sie sich, öffnete eine Klappe und zog ein Handbuch hervor.

„Was ist das denn?“ staunte Urs. „Noch mehr Antiquitäten?“

„Man nennt es Handbuch“, erklärte Vilca. „Hier steht alles drin, was wir wissen müssen.“

„Auf Papier?“ fragte Paul ungläubig.

Achtzehn Minuten später begann der Dieselmotor zu tuckern. Kurz darauf fing der Generator an, Strom zu produzieren.

„Samuel Niyol Lee, du hast mehr Glück als Verstand!“ wurde der Sohn eines Kriegers vom Stamm der Navajo von der vermutlich hübschesten Blondine der Welt getadelt.

„Was hast du dir denn da für einen Schrott andrehen lassen? Den Besten vom Besten, der bei der erstbesten Gelegenheit durchbrennt?“ kritisierte sie weiter.

„Vilca, du bist ungerecht. Ich verstehe das nicht. Ich hatte eine Firma beauftragt, den Bunker zu modernisieren. Entweder die haben mich betrogen, oder die Brennstoffzelle hatte von Anfang an einen Defekt.“

„Wie?“ fragte sie verwundert. „Du hast keinen Probelauf gemacht? Wie leichtsinnig du bei manchen Sachen doch bist. Schließlich schafft man sich so einen Bunker an, um ihm im Notfall sein Leben anzuvertrauen. Überhaupt wird es Zeit, dass du anfängst, dir über die Folgen deiner Handlungen Gedanken zu machen. Die Ereignisse der letzten Tage kommen nicht von ungefähr.“

„Wie meinst du das?“ fragte Sam.

„Deine Symbot-Erfindung scheint außer Kontrolle zu geraten. Die Sache mit den Nanobots ebenso. Du steckst bis über beide Ohren da drin und hast mich und deine Freunde mit hineingezogen. Falls du es nicht gemerkt hast, ich hänge an meinem Leben - aber noch mehr an deinem“, fügte sie sanft hinzu. „Du hast Verantwortung für uns beide. Pass auf das Herz auf, das ich dir geschenkt habe. Ich habe nur das eine und ich könnte es nicht ertragen, dich zu verlieren.“

Vilca hatte sich bei ihrem letzten Satz vorgebeugt und ihre Lippen waren nur noch Zentimeter voneinander entfernt, als sie rüde unterbrochen wurden. „Hoffentlich hält Dein Museumsstück, was es verspricht und steht die Belastung durch. Unsere Rechner brauchen eine Menge Strom, und das Ding war seit Jahrzehnten nicht mehr in Betrieb. Ein Wunder, dass es überhaupt läuft“, sagte Aya.

„Hör auf, dir Sorgen zu machen. Es wird reichen!“ antwortete Sam patzig, für den die Unterbrechung nicht ungünstiger hätte kommen können. Noch dazu, weil er sowieso nichts tun konnte. Entweder der Generator hielt das aus oder nicht. Wieso konnte Aya nicht aufhören, ihn damit zu nerven?

„Und was, wenn es nicht reicht?“ fragte diese hartnäckig. „Alleine für die Rechner brauchen wir fünfzehn Kilowatt. Die Energie für die Nanobots noch nicht mal eingerechnet.“

„Sam, Aya hat Recht“, mischte sich Paul ein. „Wir dürfen den Generator nicht überlasten.“

„Endlich jemand, der mir zustimmt“, triumphierte die Chinesin. „Ich war von Anfang an dagegen, uns überhastet von einem Hochhaus hinab ins Ungewisse zu stürzen. Wir hätten das alles viel besser planen müssen.“

„Liebend gerne, Aya, aber dafür war keine Zeit“, entgegnete Sam genervt. „Hast du schon vergessen, dass wir geflohen sind, als sie gerade dabei waren, unser Penthouse in Stücke zu schießen? Nicht mal die Polizei konnte uns beschützen.“

Aya musste zugeben, dass er recht hatte. Nachdenklich sah sie ihm zu, wie er den Transmitter für das rotierende Magnetfeld überprüfte, der die Nanobots drahtlos mit Energie versorgte. „Trotzdem, Sam. Woher willst du wissen, wie lange wir den Generator mit welcher Leistung belasten können?“

Sam musterte sie einen Moment lang. Verunsicherung und Sorge waren ihr buchstäblich ins Gesicht geschrieben. Widerwillig musste er sich eingestehen, dass er vielleicht zu sorglos mit der Situation umging. Hatte Vilca nicht soeben etwas Ähnliches gesagt? Vielleicht konnte er noch mehr tun. „Gut, wir werden dein Lieblings-Museumsstück mit Messgeräten und Sensoren ausstatten, damit wir die Energieumwandlung entsprechend kontrollieren können. Am besten, du überwachst die Generator-Steuerung.“

Aya sah ihn zweifelnd an, aber er bemerkte, wie ihre Skepsis schließlich zu Entschlossenheit wurde. Sie nickte ihm kurz zu und machte sich zusammen mit den anderen an die Arbeit.

 

„Die Werte des Generators sind alle im grünen Bereich“, stellte Autoxa zufrieden fest, nachdem sie wieder in die VR eingetaucht waren.

„Super“, freute sich Arnold. „Wir sind wieder im Spiel. Jetzt zeigen wir es diesen Nanobots und wer auch immer dahinter steckt.“

Doch die Freude währte denkbar kurz. Ein lauter Gongschlag ließ sie zusammenfahren, der von einem leisen schabenden Geräusch gefolgt wurde. Alle blickten sich erschrocken an.

„Was ist denn jetzt schon wieder los?“ rief Zero. „Kann man denn hier nicht mal ein paar Sekunden in Ruhe arbeiten?“

„Ich fürchte, wir haben nur noch fünfzehn Minuten Zeit, bis die Nanobots sich durch die Bunkertür durchgearbeitet haben“, sagte CycloneB, während er einen Blick auf den virtuellen Monitor warf. Er zeigte das Bild der Überwachungskamera vom Bunkereingang. „Jetzt wird die Zeit knapp. Wir müssen uns beeilen.“

Das brauchte er nicht zweimal zu sagen. Angespornt durch die Geräusche von oben machten sie sich daran, weitere Passwörter auszuprobieren. Nachdem sie etwa zehn Minuten fieberhaft gearbeitet hatten, rief plötzlich CycloneB aufgeregt „Wir haben‘s! Ein Engel, ein Kleeblatt, eine Trompete, ein Kreuz, ein Halbmond und ein Palmblatt. Wer denkt sich denn sowas aus?“ fragte er verwundert. „Wäre interessant, mal ein Psychoanalyseprogramm darüber laufen zu lassen.“

„Wen interessiert das schon“, sagte Arnold. „Da draußen vor der Tür warten ganz andere Probleme. Die sollte mal jemand psychoanalysieren.“

CycloneB nickte abwesend und übernahm mit Hilfe des gefundenen Passworts die Kontrolle über die eroberten Nanobots. „Okay, es bleibt keine Zeit, eine andere Position zu beziehen. Wir müssen den Angriff von hier aus abwehren. Sobald wir anfangen, die angreifenden Nanobots umzuprogrammieren, riskieren wir, dass unser Gegner das merkt. Dann wird er das Passwort ändern und unser Vorteil ist weg. Zu dumm, dass wir so gut wie gar nichts über ihn wissen. Nicht mal seinen Namen.“

„Wenigstens hast du schon mal gegen ihn gekämpft“, sagte Zero.

Bei dieser Bemerkung musste Sam wieder an den Kampf denken. Er wusste sehr wohl, wer ihn angegriffen hatte. Aber die wahre Identität seines Gegners konnte er Phire nicht einfach so offenbaren. Dazu brauchte er mehr Zeit und die hatte er noch nicht gehabt. „Ja. Ich konnte in letzter Sekunde die lokale Energieversorgung der Nanobots deaktivieren. Das hat seine und meine lahmgelegt. Zum Glück hat er danach aufgegeben. Der Kerl ist gut. Er reagiert unheimlich schnell und kennt alle Tricks. Immerhin sind wir diesmal zu fünft. Wir werden seine Nanobots erst umprogrammieren, wenn sie tief im Bunker sind. Dann dauert es länger, bis er es merkt, und wir erwischen mehr von ihnen.“

Kurz darauf brach der feindliche Schwarm Mikromaschinen mit einem triumphierenden Surren durch die Bunkertür. Tief unten war davon allerdings nicht viel zu hören. Sofort breiteten sich die Nanobots im Eingangsbereich aus und machten sich auf die Suche nach ihrer Beute. CycloneB wartete bis zum letzten Moment, bevor er das Passwort sendete, die Kontrolle über die Nanobots übernahm und den Angriff abbrach. Natürlich strömten von außen weiterhin Nanobots herein, die aber alle umgepolt wurden, bis die Neuankömmlinge schließlich nicht mehr auf das Passwort reagierten.

Daraufhin errichteten sie sofort eine Barriere mit ihren eigenen Nanobots. Mittlerweile hatte CycloneB den Eingangsbereich des Bunkers in ihre VR eingebunden. So konnten sie alles miterleben, was da oben vor sich ging, so, als wären sie persönlich vor Ort. Das Loch, das die Nanobots aus der meterdicken Stahltür herausgebrochen hatten, klaffte wie eine hässliche Wunde in der Bunkertür. Ihre eigenen Nanobots bildeten einen Schild, der es abdeckte.

Plötzlich wurde der Angriff eingestellt und sie erhielten eine Beitrittsanfrage zu ihrer VR über den Gastzugang. „Aha!“ ätzte Arnold, „da will wohl jemand mit uns reden. Sollen wir ihn rein lassen?“

„Warum nicht?“ antwortete CycloneB. „Über den Gastzugang ist es sicher. Mal sehen, wer das ist. Vielleicht ist es ja unser Angreifer und er hat eingesehen, dass er gegen uns keine Chance hat und will jetzt verhandeln.“

Sehr überzeugend klang das allerdings nicht, fand Phire. Angesichts der schwarzen Wolke da draußen waren die Trümpfe wohl eher zu ihren Ungunsten verteilt.

 

 

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Tebols Mission

Terbol war äußerst zufrieden mit der Entwicklung. Er genehmigte sich einen Schluck Pangagarblas und lehnte sich zurück. Er wusste, was jetzt kommen würde, und er hatte vor, jede einzelne Sekunde der Show zu genießen. Gut gelaunt betrachtete er die riesige weiße Wolke mit dem schwarzen Loch in der Mitte, wie sie sich langsam rotierend der Küste näherte. Aus dem Weltall sah das faszinierend und harmlos aus. Aber er brauchte die Daten nicht zu studieren, um sich vorstellen zu können, wie das Meer unter dieser Wolke brodelte. Bei einem Wirbelsturm dieser Größe waren Wellenhöhen bis zu 16 Metern keine Seltenheit.

Wehe dem Schiff, das in diesem Sturm gefangen war und den Wellen trotzen musste. Wellen, die von bis zu 175 km/h schnellen Winden aufgepeitscht wurden. Terbol hatte es persönlich noch nicht erlebt, aber er glaubte sich vorstellen zu können, was es hieß, auf so einem schlingernden, stampfenden und rollenden Schiff durchgeschüttelt zu werden. Am schlimmsten musste es sein, unter diesen Bedingungen auf das offene Deck hinauszugehen, um überschüttet von eiskalten Brechern Ladung oder losgerissene Teile der Ausrüstung zu sichern, bevor sie Schäden am Schiff anrichten konnten.

Er gönnte sich einen weiteren Schluck von seinem exquisiten Getränk.

Langsam begann der Pangagarblas zu wirken. Terbol spürte, wie sich eine wohlige Wärme in seinem Körper ausbreitete und er genoss seine wachsende Euphorie.

Die Menschen hatten diesem Sturm den harmlos klingenden Namen „Sandy“ gegeben. Wie dumm sie doch waren. Die meisten von ihnen hielten ihn für einen Jahrhundertsturm. Sie dachten, es sei nichts weiter als ein Ereignis mit einer statistischen Wahrscheinlichkeit, die so gering war, dass es nur alle einhundert Jahre eintreten würde. Und jetzt traf es sie halt. Das war Pech für sie, aber der Sturm würde vorübergehen. Nach dem Sturm würden sie alle Schäden reparieren und es würde weitergehen wie immer.

Nichts wussten sie, gar nichts. Nichts verstanden sie, überhaupt nichts.

Terbol war das nur recht. Es war gut so, und ein wenig war er auch stolz darauf. Er hatte nämlich persönlich dafür gesorgt, dass das so war. Es war seine Idee gewesen. Eine seiner vielen guten Ideen vor seiner Ankunft hier vor 246 Jahren.

Er ließ sich von der Welle der Euphorie treiben, die der Pangagarblas bei ihm ausgelöst hatte. Er brauchte nichts weiter für sein Glück. Andere hätten sich in diesem Moment vielleicht die Gesellschaft eines Mädchens oder eines Jünglings gewünscht. Aber ihm bedeutete das nichts. Zu beobachten, wie der Wirbelsturm auf die Ostküste der Vereinigten Staaten zu kroch, war ihm Erregung und Befriedigung genug.

Er betrachtete die riesige weiße Wolkenscheibe. Wie unschuldig sie von oben wirkte. Sie Sandy zu nennen war treffend und konsequent. 3000 Kilometer reinstes jungfräuliches Weiß. Und doch führte sie die gewaltige Kraft mit sich, die alles zerstörte, das den Fehler machte, sich ihr in den Weg zu stellen. Rücksichtlos, brutal und ohne die geringsten Emotionen würde sie aus Immobilien äußerst bewegliche Objekte machen. Sie würde auf einer Küstenlänge von 1000 Kilometern zwischen den Staaten North Carolina und Maine die Infrastruktur zerstören, Menschen und Tiere töten, Häuser verschwinden lassen, Autos durch die Luft wirbeln, ganze Landstriche unter Wasser setzen und noch vieles mehr, wofür Wirbelstürme für gewöhnlich verantwortlich gemacht werden.

Terbol war stolz auf Sandy. Für ihn war sie fast wie eine Tochter. Sein Geschöpf. Er hatte mehr als ein Leben damit verbracht, solche Stürme zu erschaffen. Er war der unangefochtene Meister der Stürme.

Ein wenig bedauerte er in diesem Moment sogar, dass die Menschen dort unten auf der Erde das nicht wussten. Dass sie ihn nicht kannten. Aber er brauchte ihre Bewunderung nicht. Es hätte ihm gereicht, wenn sie ihn gefürchtet hätten. Terbol, Gott der Stürme. Das klang doch nicht schlecht, fand er.

Sie ahnten nicht, wer für den Sturm verantwortlich war.

Dieser Sturm war Teil eines Planes. Eines Planes, vor Abertausenden von Jahren geschmiedet, lange bevor er geboren worden war. Terbol hatte keine Ahnung, wie oft dieser Plan schon umgesetzt worden war. Er selbst wusste von Hunderten von Fällen. Aber es war unmöglich zu sagen, wie viele es insgesamt waren. Aber das spielte in diesem Moment keine Rolle. Jetzt zählte nur sein Projekt. Und das war gerade in der Endphase angekommen. Nach Sandy würden noch viele weitere Stürme folgen. Immer häufiger, immer stärker, immer mehr, immer katastrophaler.

Noch gab es eine Möglichkeit, den Prozess zu stoppen. Aber Terbol würde alles tun, um das zu verhindern. Nur noch ein paar Jahre. Dann hätten sie es geschafft. Dann würde der Prozess unumkehrbar sein und niemand würde ihn dann noch aufhalten können.

Niemand. Nicht einmal Terbol selbst, wenn er es gewollt hätte. Aber das würde er niemals wollen. Warum auch? Auf diesen Moment hatten er und die Besatzung der Xorcha schließlich über 2500 Jahre gewartet.

Er nahm einen weiteren Schluck Pangagarblas. Das Getränk begann, sich auf sein Bewusstsein auszuwirken, und seine Erinnerungen flammten wieder auf. Er erinnerte sich an den Tag vor genau 2503 Jahren auf Antrab, als alles begann. Seine Erinnerung war dermaßen präsent und detailliert, dass er alles so durchlebte, als würde es gerade in diesem Moment zum ersten Mal geschehen.

Irgendwann hatte er aufgehört zu zählen, wie oft er die Erinnerung an diesem Punkt abgebrochen hatte. Aber dieses Mal ließ er sie zu. Er wusste nicht genau warum, aber aus irgendeinem Grund erschien es ihm richtig. Terbol entspannte sich und ließ seiner Erinnerung ihren Lauf.

***

 „Hörst du das?“ fragte Terbol seine Begleiter. Cesteso und Balandia sahen ihn verwundert an.

„Was hast du denn gehört?“, fragte Cesteso.

„Ich höre es immer noch. Da ist ein tiefes Brummen. Ihr solltet euch mal die Ohren ausputzen lassen, wenn ihr das nicht hört“, sagte Terbol von oben herab. Dafür erntete er einen vorwurfsvollen Blick von Balandia. Den ignorierte Terbol und kletterte hoch.

Die Beiden folgten ihm, konnten aber mit seinem Tempo nicht mithalten. Terbol war einer der geschicktesten Kletterer ihres Stammes. Er hörte erst auf zu klettern, als er ganz oben angekommen war. Während er sich mit einer Hand an dem dünnen Wipfel festhielt, spähte er in alle Richtungen. Dabei bog sich sein Halt bedenklich durch. Er machte den Eindruck, jeden Moment unter der Spannung zu brechen, aber Terbol schien es nicht zu bemerken.

„Terbol, pass auf! Der Wipfel bricht gleich!“ warnte ihn Balandia. Doch er hörte nicht auf sie.

„Dort“, rief er und zeigte über die Baumwipfel hinweg in Richtung der Berge, die weit hinten am Horizont steil in die Höhe ragten. Dann ließ er sich fallen, breitete seine Flügel aus und glitt zwischen den Bäumen dahin. Schließlich landete er auf einem niederen Ast und kletterte blitzschnell hoch. Oben angekommen warf er einen Blick zurück.

„Warte doch auf uns!“ schrie Balandia, aber Terbol lachte nur. „Nicht so lahm! Beeilt euch!“ Dann flog er los, noch bevor seine Freunde den Baum erreicht hatten. „Dein Bruder ist mal wieder unmöglich“, sagte Balandia zu Cesteso, während sie hochkletterten. „Ich werde euren Eltern davon berichten. So ein Verhalten entspricht nicht den Regeln unseres Stammes.“

Cesteso zuckte mit den Schultern. „Tu, was du nicht lassen kannst“, sagte er. „Es wird nichts nützen. Egal was man sagt, Terbol macht immer, was er will.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, ließ er sich fallen und folgte seinem Bruder. Dessen unverkennbares Gefieder am Kopf und auf dem Rücken machte es leicht, ihm auch auf größere Distanz zu folgen.

Mittlerweile hatte Terbol mehrere Flugstrecken Vorsprung. Wieder landete er auf einem Ast und wollte gerade hochklettern, als er mitten in der Bewegung innehielt. Über ihm saß ein Horot, fletschte die Zähne und stieß dabei einen hohen Zischlaut aus. Der Ton war so schrill, dass Terbol die Ohren schmerzten. Er spürte die Gefahr. Gegen einen ausgewachsenen Horot hatten selbst die besten Krieger der Parstakoi kaum eine Chance. Darum ging keiner von ihnen alleine in den Wald.

Unwillkürlich stellten sich Terbols Nackenfedern auf. Der Horot war bereit zum Angriff. Es war zu spät, um nach dem Messer zu greifen. Das Raubtier würde sich auf ihn stürzen, noch bevor er sein Messer ziehen konnte. Zur Flucht war es auch zu spät. Es würde ihm hinterher springen obwohl es nicht fliegen konnte. Einmal auf ihre Beute fixiert, nahmen die Horots keine Rücksicht auf die Höhe. Selbst wenn sie zusammen mit ihrem Fang in den Tod stürzen würden.

Terbol blieb nur eine Möglichkeit. Und die baumelte direkt vor seiner Nase. Blitzschnell ergriff er den Schwanz des katzenartigen Raubtiers und zog daran mit aller Kraft. Es gelang ihm, den Horot zu überraschen und ihn von seinem Ast zu ziehen, bevor er seine Krallen in Terbols Rücken schlagen konnte. Nur wenige Millimeter schnitten die rasiermesserscharfen Krallen über seinen Federn durch die Luft. Dann hing der Horot kopfüber nach unten an seinem Schwanz, den Terbol noch immer festhielt. Wild fauchend peitschte er mit seinen Pranken durch die Luft Schließlich ließ Terbol los und sah zu, wie der Horot nach unten fiel und auf dem Waldboden aufschlug.

Geschickt federte das Tier den Sturz auf dem weichen Waldboden ab. Es dauerte nur einen Moment, bis der Jäger sich von dem Fall erholt hatte. Dann lief er zu dem Baumstamm zurück und begann schnell hochzuklettern. Doch er war nicht schnell genug!

Als Terbol am Gipfel ankam, lagen immer noch einige Meter zwischen ihm und seinem Verfolger. Terbol segelte davon und der Horot sprang hinterher. Es bedurfte nur eines kleine Ausweichmanövers und das Ende des Raubtiers war besiegelt. „Guten Flug, du blöder Bettvorleger!“ schickte Terbol ihm einen Abschiedsgruß hinterher.

An seinem Ziel angekommen, wartete Terbol auf seine Freundin und seinen Bruder. „Du dämlicher Idiot!“ schimpfte Balandia schon von weitem. „Ich habe gesehen, wie dich der Horot beinahe erwischt hätte. Ich werde es dem ganzen Stamm erzählen, wie leichtsinnig du dich in Gefahr gebracht hast.“

„Beruhige dich, es ist doch gar nichts passiert. Nur ein besoffener Volltrottel lässt sich von einem Horot im Flug erwischen.“

Balandia funkelte ihn wütend an. „Du hast ja keine Ahnung, wie viel Glück du gehabt hast. Sei froh, dass der Horot von unten kam. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn du ihm beim Hochklettern begegnet wärst.“

Terbol grinste. „Federchen, du enttäuscht mich. Mittlerweile solltest du wissen, dass so ein bisschen Horot kein Problem für mich ist“, sagte er großspurig. „Keiner ist so schnell wie …“

Terbols Selbstlob wurde jäh durch ein lautes „KRAWUMM“ unterbrochen. Alle blickten gespannt dorthin, von wo der Lärm kam. Erst jetzt fiel ihnen die Lichtung auf. Es war offensichtlich, dass sie künstlich war und noch nicht lange bestand. Am Rande lagen gefällte Bäume herum. Auf der Lichtung arbeiteten riesige Maschinen und trieben Löcher in den Boden.

„W… was treiben die da?“ rief Balandia entsetzt. „Sie vergreifen sich an der Natur. Terbol, das dürfen die nicht. Das ist streng verboten.“

„Sieht mir aus wie Rohstoffräuber“, sagte Terbol. „Los, kommt. Wir müssen ihnen Einhalt gebieten, bevor noch größerer Schaden entsteht.“

„Wir?“ fragte Balandia verwundert. „Wir können gegen Rohstoffräuber gar nichts ausrichten. Sieh nur, was die für Maschinen haben. Bestimmt sind sie bewaffnet. Das ist Sache der Waldhüter. Ich werde sie rufen.“

„Sieht mir nicht nach Rohstoffräubern aus“, sagte Cesteso nachdenklich. Doch niemand hörte ihn. Balandia war mit ihrem UniCom beschäftigt. Terbol blickte angestrengt in eine andere Richtung. „Da drüben ist ein Schwarm Varixe.“

„Was sollen wir denn mit denen?“ fragte Cesteso verwundert. „Lass sie besser in Ruhe. Wenn die mal aufgeschreckt sind, kann alles Mögliche passieren.“

„Genau“, erwiderte Terbol.

Cesteso brauchte einen Moment, bis er verstand. „Du bist verrückt. Lass das mal lieber sein, Bruder. Varixe kann man nicht lenken. Das ist noch nie jemandem gelungen.“

„So ein Mist!“ schimpfte Balandia. „Die Nachricht geht nicht raus. Das kommt bestimmt von den Maschinen. Die stören den Funkverkehr.“

„Also doch Rohstoffräuber“, stellte Cesteso nachdenklich fest.

Balandia kannte Terbol schon lange. In seinen Augen lag mal wieder dieses besondere Funkeln. Dieser Blick war der Vorbote einer Katastrophe. Immer. Zumindest fast immer. Schon als sie ihn kennenlernte, war das so gewesen. Da hatte er den gleichen Ausdruck gehabt. Als sie ihn das erste Mal sah, hatte sie den Fehler gemacht, in seine violetten Augen mit den goldenen Flecken zu sehen. Sofort hatte sie sich in ihn verliebt, obwohl ihre Charaktere gegensätzlicher nicht sein könnten. Und Terbol gab ihr regelmäßig einen Grund, sich daran zu erinnern. Schon oft hatte sie Schluss machen wollen, aber dieser Blick hatte es immer wieder vereitelt.

„Balandia, was ist mit dir?“ rief Cesteso. „Los, komm schon. Wir müssen verhindern, dass Terbol etwas Dummes anstellt.“

Cestesos Stimme holte sie zurück in die Gegenwart. „Terbol, warte!“ rief sie ihm hinterher. „Ich habe die Waldhüter informiert. Sie werden in einer halben Stunde hier sein.“ Doch Terbol war schon zu weit voraus, um sie noch zu hören. Balandia seufzte. Vermutlich hätte er das mit den Waldhütern sowieso nicht geglaubt. Wieder einmal musste sie ihm hinterher hetzen. Seufzend breitete sie ihre Schwingen aus und stürzte sich in die Tiefe.

Ach, könnte sie doch nur richtig fliegen, dachte sie. Dann würde sie Terbol spielend einholen können. Das wäre mal etwas Anderes. Balandia stellte sich vor, wie Terbol sie neidisch bewunderte, wenn sie ihn flügelschlagend in der Luft überholte und elegant wie eine Elfenprinzessin vor ihm auf dem Ast landete.

Leider hatten die Parstakoi schon vor dreihundertfünfzigtausend Jahren das Fliegen verlernt. Balandia wusste von ihrem Lehrer, dass ihre Vorfahren einen größeren Körper brauchten, um das wachsende Gehirn mit Energie zu versorgen. Irgendwann waren sie dann zu schwer geworden, um sich vom Boden aus in die Luft erheben zu können. Von nun an mussten sie auf Bäume oder Klippen hochklettern, um sich von dort dann im Gleitflug in die Tiefe zu stürzen.

Vorsichtig schob Terbol die Blätter zur Seite und warf einen Blick auf die Varixe. Die Herde war noch da und weidete sich friedlich an den Blättern der Storabäume. Das war ihre Lieblingsnahrung. Terbol musterte die riesigen Vögel. Schließlich entdeckte er den Anführer. Er war ein gutes Stück größer als alle anderen. Um ihn herum war eine Gruppe Weibchen versammelt. Für Terbol gab es keinen Zweifel.

Ohne den Blick von dem Varix abzuwenden, nahm Terbol das Seil zur Hand, das er immer bei sich trug, und knüpfte ein Zaumzeug. Auf die Entfernung war es nicht so einfach, die Größe abzuschätzen. Deshalb verließ er sich mehr auf sein Gefühl, als auf seinen Verstand.

Dann begann der schwierige Teil. Er musste zu einem Baum, der nahe genug an dem Anführer war, so dass Terbol sich von oben auf den Varix stürzen konnte, bevor dieser ihn bemerkte. Wenn der Varix erst einmal mit Fluchtgeschwindigkeit flog, hatte Terbol keine Chance mehr, ihn einzuholen.

Terbol schätzte seine Chance, unbemerkt zu dem Baum hinüberzufliegen, gegen Null. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als hinunterzuklettern und zu Fuß zu gehen. Das war gefährlich. Am Waldboden lauerten alle möglichen Gefahren für Parstakoi. Deshalb betraten sie ihn äußerst selten.

Terbol hatte keine Angst davor. Er war schon oft dort unten gewesen. Alleine. Heimlich. Nie hatte jemand davon erfahren. Er würde dafür sorgen, dass es sein Geheimnis blieb. Er kletterte hinunter.

Auf den letzten Metern vermied er jedes Geräusch. Etwa zehn Meter über dem Boden studierte er seine Umgebung. Nichts regte sich. Nichts war zu hören. Nachdem sich seine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, seilte er sich langsam an einer Liane herab.

Wie immer durchfuhr ihn ein seltsames Kribbeln, als seine Füße den Boden berührten. Der Waldboden war eine Mischung aus trockenem Laub, Nadeln, Moos, Ästen und Früchten in allen möglichen Reifestadien, die von oben heruntergefallen waren. Dazwischen krochen Ameisen und Käfer umher. Von den meisten kannte er nicht einmal die Namen. Der süßliche Duft von Verwesung lag in der Luft.

In dem Dämmerlicht konnte man leicht die Orientierung verlieren. Kein Sonnenstrahl drang bis zum Waldboden vor. Selbst polarisiertes Licht fehlte, das die Parstakoi zur Orientierung bei bewölktem Himmel verwendeten. Terbol brauchte das nicht. Er war einer der wenigen seines Volkes, der über einen funktionierenden Magnetsinn verfügte. Bei den meisten war er so verkümmert, dass er nicht mehr zu gebrauchen war. Nicht bei ihm.

Terbol konzentrierte sich. Das Dämmerlicht half ihm dabei. Dann sah er den Schimmer in einer Farbe, für die es keinen Namen gab. Nachdem er wusste, wo Norden war, galt es, keine Zeit mehr zu verlieren. Es war hier unten nicht ratsam, zu lange an einer Stelle stehen zu bleiben. Sorgfältig darauf bedacht, nur auf das weiche Moos zu treten, stakste er los.

Nach etwa zehn Minuten hatte er sein Ziel erreicht. Terbol nahm sich einen Moment die Zeit, den Storabaum zu bewundern. Noch nie hatte er einen so gewaltigen Stamm gesehen. Seiner Schätzung nach hätte es mindestens fünfzehn Parstakoi gebraucht, um ihn mit ausgebreiteten Schwingen zu umfassen.

Ein Knacken hinter ihm schreckte ihn auf. Blitzschnell griff er nach der nächstbesten Liane und zog sich daran hoch. Erst als er zwanzig Meter über dem Boden war blickte er nach unten. Nichts war zu sehen. Oder war da ein Schatten, der sich hin- und her bewegte?

Terbol kletterte schnell weiter. Zweihundert Meter weiter oben hielt er inne. Hier oben war der Storabaum so dünn, dass ihm das Laub keinen weiteren Sichtschutz mehr bot. Der Anführer der Varixe äste jetzt an Blättern in höheren Regionen, war aber immer noch etwa fünfzig Meter unter ihm. Und in Reichweite.

Terbols Herz begann zu klopfen. Adrenalin schoss in seine Adern und das Jagdfieber packte ihn. Der Moment war günstig und es gab keinen Grund zu zögern. Noch während er sprang, stieß einer der Varixe einen durchdringenden Warnschrei aus.

Zu spät. Terbol landete auf dem Rücken des Anführers, noch bevor dieser reagieren konnte. Während er sich mit seinem linken Flügelarm an den Hals des Varixes klammerte, machte Terbol sich mit der anderen daran, das vorbereitete Zaumzeug zu befestigen.

Der Varix versuchte alles abzuschütteln. Terbol ließ sich nicht beirren. Die wilden Flugmanöver verwirrten den Schwarm. Aufgeregt flatterten sie umher, aber solange ihr Anführer keine Richtung vorgab, wussten die anderen Varixe nicht, wohin sie fliegen sollten.

Endlich hatte Terbol sein improvisiertes Zaumzeug festgemacht. Die Enden benutzte er gleichzeitig als Zügel und um sich festzuhalten. Der Varix ließ sich nur unwillig steuern. Aber er folgte in etwa der Richtung, die Terbol durch Drehen seines Kopfes mit den Zügeln vorgab.

Der junge Parstakoi genoss das Gefühl, auf dem riesigen Varix zu reiten. Er hatte eine Flügelspannweite von über zwanzig Metern. Noch nie war Terbol so schnell geflogen. Sie rasten ganz knapp über den Baumwipfeln durch die Luft. Fast glaubte er zu spüren, wie sie ihn an den Fußsohlen kitzelten. Der Wind brauste in seinen Ohren, tausendfach verstärkt durch den Flügelschlag des Schwarms. Für einen Moment glaubte er, Stimmen zu hören, aber er hatte keine Zeit, um nach den Rufern Ausschau zu halten.

Terbol riss mit aller Kraft an den Zügeln und zog den Kopf des Varix hoch. Dieser folgte und begann zu steigen. Schnell gewannen sie an Höhe. Als die Lichtung mit den Rohstoffräubern in Sicht kam drückte er mit dem Fuß den Kopf nach unten. Der Anführer ging wie befohlen in einen Sturzflug über. Die Herde folgte.

Alles verlief nach Plan. Terbol war berauscht von Euphorie und jubelte laut. Plötzlich tauchten vor ihm drei Gleiter der Waldhüter auf. Terbol schaffte es gerade so, ihnen auszuweichen, aber der Schwarm rammte die Gleiter einfach vom Himmel.

Sein Varix stürzte in die Lichtung. Jetzt war der Moment gekommen, abzuspringen. Er schlug heftig mit den Flügeln, um Höhe zu gewinnen. Unter ihm rammte der Anführer mit seiner gepanzerten Schädelplatte eine der Maschinen.

Es gab ein lautes „Klonk“, das wie der Schlag auf einen schlecht abgestimmten Gong klang. Unmittelbar darauf wurde es zu einem ohrenbetäubenden Trommelwirbel, als der Schwarm dem Beispiel seines Anführers folgte.

Sekunden später war alles vorbei. Die Varixe hatten den Zusammenstoß mit den Metallmonstern größtenteils unbeschadet überstanden und sich fluchtartig aus dem Staub gemacht. Nicht so die Maschinen. Was immer die Rohstoffräuber mitgebracht hatten, war jetzt Schrott. Dazwischen lagen, kaum zu erkennen, die zertrümmerten Gleiter der Waldhüter.

Terbol nützte die Thermik aus und kreiste im Gleitflug über dem Trümmerfeld und war außerordentlich zufrieden mit sich. Nur die abgestürzten Gleiter der Waldhüter störten etwas sein Hochgefühl. Aber das würde sich schon finden. Schließlich hatte er ihren Job gemacht und den Rohstoffräubern das Handwerk gelegt. Er freute sich schon auf die öffentliche Belobigung.

Eine Person zwängte sich aus einem verbeulten Gleiter, blickte zu ihm hoch und winkte ihn herunter. Elegant landete Terbol neben ihm. Er kannte den Waldhüter. Es war Zerton Federschwinge. Was für ein Glück er doch hatte, dass einer der angesehensten Waldhüter Augenzeuge seiner Heldentat war.

„Ah, Terbol Nachtschweif. Jetzt wundert mich nichts mehr“, begrüßte ihn Zerton. „Ich habe ja schon viel erlebt, aber das Vergnügen, von einem Schwarm Varixe vom Himmel gerammt zu werden, ist selbst für mich neu.“

Terbol blickte in das wettergegerbte Gesicht seines Gegenübers. Etwas in seiner Miene warnte ihn, vorsichtig zu sein. „Meister Federschwinge, es tut mir leid wegen eurem Gleiter. Ihr seid so plötzlich vor mir aufgetaucht, dass ich den Schwarm Varixe nicht mehr vorbeilenken konnte.“

Zerton stellte seine Kopffedern auf. Ein Zeichen großen Erstaunens bei einem Parstakoi. „Varixe lenken? Was für einen Unsinn redest du da. Ich habe noch nie gehört, dass jemand einen Varix je geritten hat. Ganz zu schweigen davon einen ganzen Schwarm zu lenken.“

„Dann bin ich wohl der Erste, der das geschafft hat!“ entgegnete Terbol mit vor Stolz geschwellter Brust.

Der Waldhüter musterte ihn eindringlich. „Mir scheint, du bist tatsächlich von dem überzeugt, was du sagst. Ganz offensichtlich sind deine Versuche, die Varixe zu steuern, gründlich schief gegangen.“

„Oh nein, großer Meister. Ganz im Gegenteil. Die Varixe sind genau dahin geflogen, wohin ich sie haben wollte.“

 

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Impressum

Tag der Veröffentlichung: 13.04.2014

Alle Rechte vorbehalten

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