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Die Würde des Menschen

 

 

Die Würde des Menschen ist unantastbar (Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz)

 

 

 

Vorwort

 

 

 

 

Hartz IV, Plattenbau, alleinerziehende Mutter. Ein halbwüchsiger Sohn, der droht, in die Illegalität abzurutschen. Eine Tochter, die sich herumtreibt.

Sie steckt voller Klischees, diese Geschichte. Aber so werden sie uns vorgeführt, jeden Tag, auf fast jedem Programm. Die Verlierer unserer Gesellschaft.

Menschen, auf die wir herabblicken können, weil sie nicht einmal in der Lage sind, ihr eigenes

Leben in den Griff zu bekommen.

Niemand würde sich nach unserer Vergangenheit trauen, dieses Wort in den Mund zu nehmen. Aber wir haben zugelassen, dass Hartz IV zu seinem Synonym wird - Untermensch.

Ich habe viel diskutiert mit Leuten, die sich diese Sendungen ansehen und nur Unverstand geerntet. Man müsste all das doch nicht zu ernst nehmen. Außerdem, sie, die dort gezeigt werden, wären doch selbst schuld daran, wenn man sie vorführen würde. Wenn man sich lustig über sie macht.

Jeder wüsste doch, worauf er sich einlassen wird, wenn er bereit ist, bei so etwas mitzumachen.

 

Aber ist jemand, der aus Dummheit oder Naivität in die Falle tappt und zum Opfer wird, deshalb weniger Opfer?

Haben wir wirklich das Recht, uns über Menschen lustig zu machen, denen es schon ohne unseren Spott schlecht genug geht?

Ist es naive Dummheit, wenn sich Menschen vor die Kamera stellen, die nicht dem Schönheitsideal entsprechen, um einen Partner zu finden?

Oder ist es verzweifelte Hoffnung. Sehnsucht danach, von einem anderen Menschen geliebt zu

werden?

 

Warum belustigen wir uns daran, wenn Behinderte vorgeführt werden?

Warum musste es erst der deutsche Kinderschutzbund sein, der einer Sendung wie „Die super

Nanny“ einhalt gebot. Warum waren es nicht wir, die uns empörten?

Warum lassen wir es zu, das Hartz IV zu einem Synonym für Untermensch geworden ist?

 

Diese Geschichte ist frei erfunden, meine Wut aber, die ist echt.

Geschrieben habe ich sie voll Zorn, aber auch voll Hoffnung. Hoffnung darauf, dass er uns

vielleicht irgend wann einmal wieder etwas bedeuten könnte, der erste Artikel des Grundgesetzes: Die Würde des Menschen ist unantastbar.

 

 

Die Ähnlichkeit mit tatsächlich existierenden Sendern ist beabsichtigt, weil unvermeidbar (frei nach Heinrich Böll)

 

 

Sie hatte es doch versucht. Ganz ehrlich versucht. Aber irgendwann war ihr alles über den Kopf

gewachsen. Hatte sie es einfach nicht mehr geschafft.

Damals, als er abgehauen war, dieser Kerl, auf den sie sich niemals hätte einlassen sollen.

Sie allein gelassen hatte, mit ihren beiden Kindern, Jana und David. Damals hatte sie wirklich

geglaubt, sie würde es schaffen. Allein schaffen.

Die Kinder waren noch klein. Alles schien so einfach.

Ihr Job, die Kinder, der Haushalt. Kindergarten, später die Schule. Damals hatte es funktioniert. Leicht war es nie gewesen, nicht für sie und auch nicht für ihre beiden Kinder. Und trotzdem, es ging. Irgendwie ging es immer.

Dann verlor sie ihren Job. Schließlich Hartz IV.

Der Umzug in den Plattenbau. Endstation!

Jana und David wurden älter. Älter und schwieriger.

Aber nicht nur ihre Kinder wurden schwieriger, das ganze Leben wurde komplizierter.

Geld fehlte an allen Ecken und Enden. Und hier, der Plattenbau? Kein Ort, an dem man seine

Kinder aufwachsen sehen möchte. Trist und grau.

Draußen vor dem Haus, Asphalt. Fahrradständer, an denen schon lange niemand mehr sein Fahrrad abzustellen sich getraute. Zu leicht würde es gestohlen werden.

Ein Spielplatz, der diesen Namen nicht einmal verdient hatte, als die Spielgeräte noch benutzbar waren. Der heute nur noch aus einer, vor sich hin rostenden Rutsche und einer Schaukel ohne Seile bestand. Nicht einmal der Sand auf diesem kinderfeindlichem Ort taugte dazu, dass Kinder mit ihm spielten. Voll mit Hundekot und zersprungenen Bierflaschen.

Und die Menschen hier?

Das Viertel, in dem sie wohnten, war grau. Grau und farblos.

Die Menschen hatten sich ihm angepasst. Auch sie, grau und farblos.

Hier herrschte keine Freude. Vielen in diesem Plattenbau ging es ähnlich wie ihnen. Bekam doch einmal einer eine zweite Chance, einen Job, und damit die Gelegenheit in ein besseres Leben zu wechseln, dann machte er, dass er fortkam. Niemand blieb freiwillig hier.

Kein Ort für Kinder. Und doch mussten sie hier leben.

Auch sie hatte sich mit der Zeit angepasst, war grau und freudlos geworden.

Wie lange war es her, dass sie sich das letzte Mal geschminkt hatte?

Wie viel Zeit war vergangen, seit das letzte Mal jemand Interesse an ihr gezeigt hatte?

Wie lange war es her, dass sie eingeladen wurde. Ins Theater, zum Essen, oder nur so, zu einem Abend bei Freunden?

Freunde, ja, früher einmal hatte sie welche gehabt. Aber mit den Jahren wurden diese weniger, bis auch der letzte verschwand. Sie wusste, es war auch ihre Schuld, keine Freunde mehr zu haben.

Immer hatte sie sich geschämt dafür, kein Geld zu haben. Dafür, hier leben zu müssen. In dieser verhassten Siedlung. Geschämt dafür, keine mehr von ihnen zu sein, nicht mehr Schritt halten zu können.

Sie hatte begonnen, sich gehen zu lassen. Erst aus Sparsamkeit, dann, weil es ihr egal wurde. Wen interessierte es schon, wie sie aussah, wie sie herumlief?

Auch die Wohnung wurde mit der Zeit von ihr vernachlässigt. Als sie und die Kinder hierherzogen, waren viele der Dinge, die sie mitbrachten, noch neu gewesen. Aber alles Neue wurde

unvermeidlich älter. Bekam Risse und abgestoßene Kanten, vieles ging im Laufe der Zeit kaputt. Niemals war genug Geld da, das alte und zerstörte zu ersetzen. Am Anfang kämpfte sie noch gegen diesen Verfall an. Aber was sie auch tat, aufhalten ließ er sich nicht. Irgendwann gab sie auf und es wurde ihr egal.

Und ihre Kinder?

David, heute fünfzehn. Jana, gerade sechzehn geworden.

Sie wurde nicht mehr mit ihnen fertig. Schon lang war es her, seitdem sie zuletzt miteinander

gelacht hatten. Schon viel zu lange her, seitdem sie das letzte Mal etwas miteinander unternommen hatten. Sie lebten aneinander vorbei. Sie stritten sich sehr viel mehr, als das sie miteinander redeten.

David, schon zweimal hatte die Polizei ihn nach Hause gebracht. Das erste Mal Ladendiebstahl. Beim zweiten Mal hatten sie ihn mit Drogen erwischt.

Beide Male war er mit einem blauen Auge davon gekommen. Soziale Arbeitsstunden, ein paar

Sitzungen bei der Drogenberatung. Hatte er daraus etwas gelernt? Sie wusste es nicht. Wusste nicht, was er so tat, wenn er mit seinen Freunden loszog. Ihr blieb nur die Angst, wenn er nicht da war und es an der Wohnungstür klingelte. Angst, dass er wieder etwas angestellt hatte. Angst davor, dass es diesmal noch etwas Schlimmeres sein würde. Wenn er zu Hause war, gab es Streit, und doch war sie froh, wenn er da war. Die Angst um ihn wurde dann geringer.

Und Jana? Auch von ihr wusste sie schon lange nicht mehr, was sie tat, mit wem sie ihre Zeit

verbrachte. Mit sechzehn trieb auch sie sich herum, kam erst spät nach Hause, oder blieb gleich ganze Nächte über fort.

Auch um Jana hatte sie Angst. Angst, dass sie denselben Fehler machen würde wie sie selbst. Sie war erst zwei Jahre älter gewesen als Jana heute, als sie mit ihr schwanger wurde.

Sie liebte ihre Kinder doch, wollte, dass es ihnen gut ginge. Aber sie waren ihr im Laufe der Zeit entglitten.

Das Jugendamt schaltete sich irgendwann ein, geholfen hatte es nichts. Nur vorwurfsvolle Blicke, die sie ansahen.

Frauen die kamen, Ratschläge erteilten und nach einer halben Stunde wieder fort waren. Sie allein ließen, mit dem Gefühl, alles falsch gemacht zu haben, versagt zu haben. Die nicht wussten wie

alleine sie sich fühlte, wenn sie gingen und sie hier zurückließen.

Sie wusste, dass sie kein Vorbild für ihre Kinder war. Sie sah ja selbst, wie weit sie es gebracht

hatte. Konnte in ihrem Spiegelbild erkennen, wie alt und verbraucht sie in den Jahren geworden war.

Es machte keinen Spaß mehr, dieses Leben, welches schon lange aufgehört hatte, lebenswert zu sein.

Am liebsten hätte sie Schluss gemacht, mit allem. Mit dieser Siedlung, mit dieser Wohnung. Mit ihrem Leben. Aber selbst dazu fehlte ihr zum einen die Energie und schlussendlich auch der Mut.

Die meiste Zeit verbrachte sie in ihrer kleinen Wohnung. Wo hätte sie auch hingehen sollen? Sie saß vor dem Fernseher und schaute sich stumpfsinnige Sendungen an, die ihr vorgaukelten, wie schön das Leben sein könnte. Es für sie aber wohl niemals mehr werden würde.

 

Und dort im Fernseher sah sie es. Man könnte, man würde, ihr und den Kindern helfen. Eine kleine Nachricht würde reichen. Eine kurze E-Mail und man würde sie und die Kinder hier herausholen.

Alles könnte sich ändern. Ein neuer Job, eine neue Wohnung. Irgendwo, wo nicht jede Fröhlichkeit erstarb, wo nicht jedes Lachen erstickt wurde. Es keinen Streit mehr mit den Kindern gab. Nicht mehr das „Jeder – für – sich“, sondern nur das „Wir – gemeinsam“ zählte. Nur ein wenig Mut, sich nur einmal aufraffen, und das Leben würde sich zum Besseren ändern.

 

Lange dachte sie nach. Was würden Jana und David dazu sagen? Was, wenn alles nur gelogen wäre, was sie dort im Fernseher versprochen hatten? Was, wenn auch diese Hoffnung platzte?

Aber was, wenn es ihre letzte Chance war, alldem hier zu entfliehen?

Schließlich fasste sie den Entschluss, es zu versuchen. Ein kurzer Fragebogen im Internet. Ein paar Daten. Ihr Herz klopfte laut, als sie die Entertaste drückte.

Und dann ging alles sehr schnell. Viel zu schnell für sie. Es blieb keine Zeit noch einmal darüber nachzudenken, ob sie das Richtige getan hatte. Ein kurzer Anruf, ein paar Fragen, die gestellt

wurden, eine nette Stimme am Telefon.

Nur zwei Tage später klingelte es an der Haustür. Eine junge Frau lächelte ihr entgegen, als sie die Tür öffnete. Vom Sender käme sie. Wenige Formalitäten müssten noch erledigt werden, ein Vertrag wäre noch zu unterschreiben.

Sie bekam Angst und Zweifel stiegen in ihr auf. Doch die junge Frau beruhigte sie, legte ihr

mitfühlend die Hände auf die ihren, als sie gemeinsam am Küchentisch saßen. Hörte sich all das an, was sie schon lange niemandem mehr erzählt hatte. Strich ihr über die Haare, als sie zu weinen

begann.

Es war so lange her, dass jemand Anteil an ihrem schäbigen, kleinen Leben nahm.

Ja, sie hatte bestimmt das richtige getan, bekräftigte die junge Frau ihren Entschluss, sich an den Sender zu wenden. Man würde ihr und den Kindern helfen können, ganz sicher. Alles würde anders werden. Besser.

Zweitausendfünfhundert Euro wurden ihr versprochen. Zweitausendfünfhundert Euro, ein kleines Vermögen. Vielleicht würde es reichen, mit ihren Kinder wegzufahren. Ein kleiner Urlaub.

Vielleicht ans Meer?

In Gedanken sah sie sich und die Kinder einen Strand entlanggehen. Sah, wie sie sich gemeinsam mit ihnen nach angespülten Muscheln bückte. Sah die Fröhlichkeit in den Gesichtern ihrer Kinder, hörte ihr lachen. Mit einer kleinen Vorahnung von Glück unterschrieb sie den Vertrag.

 

Jana und David? Ja, es gab Streit, als sie endlich den Mut aufbrachte, ihnen davon zu erzählen.

Böse Worte wurden ihr von den Kindern an den Kopf geworfen. Es tat weh, aber sie setzte sich durch. Auch das Geld lockte. Es wäre dann ja auch ihr Geld. David verlangte ein Paar

Fußballschuhe, Jana wollte Shoppen gehen. Sie musste es ihnen versprechen. Von ihrer

gemeinsamen Reise wollten beide nichts wissen.

 

Es war noch früh am Morgen, als sie kamen. Kabel wurden verlegt, Scheinwerfer aufgestellt. Vor dem Plattenbau standen zwei Wohnwagen. Es waren viele, zu viele Menschen für ihre kleine

Wohnung.

Auch die junge Frau, die sie erst vor wenigen Tagen besucht hatte, war wieder da. Ihr Lächeln brachte sie auch wieder mit, doch diesmal war es künstlich und aufgesetzt.

Irgendwer stellte sich als Psychologe vor. Sie kannte ihn, hatte ihn schon im Fernsehen gesehen.

 

Sie und die Kinder bekamen Anweisungen, bekamen Zettel in die Hand, sollten Texte lernen. Man zerstreute ihre Zweifel, dass alles doch so unecht wäre. Man erzählte ihr etwas über Dramaturgie. Der Zuschauer sollte schließlich teilhaben und mitfühlen mit ihr und den Kindern. Auch der

Psychologe redete mit ihr, Jana und David. Nur kurz, während die Kameras surrten und alles

genauestens festhielten. Ihr Leben in Nahaufnahme, ihr Schicksal in der Totalen.

Irgendwann wurde Essen besorgt, für das gesamte Drehteam. Die Reste dann drapiert auf Küchen und Wohnzimmertisch. Leere Pizzaschachteln, angebissene Reste, Flaschen und Gläser. Einiges

landete auf der Couch. Die Kameras liefen mit, ununterbrochen.

Im Bad wurden Handtücher, Waschlappen, Shampooflaschen, leere und volle Behältnisse achtlos im Raum verteilt. Neben dem WC landete ein Badetuch, ekelhafte, braune Flecken waren an ihm zu sehen. Die Kameras liefen weiter, nichts blieb ihnen verborgen, alles wurde festgehalten.

Jana begann zu weinen, auch in ihrem Zimmer hatte man alles durcheinandergebracht. Eines ihrer Lieblingsposter lag zerrissen auf dem Fußboden.

Sie hörte, wie sich David mit der jungen Frau stritt, die vor wenigen Tagen noch so nett zu ihr

gewesen war. Die Aufnahmeleiterin. David wollte niemanden in sein Zimmer lassen, weigerte sich, die Tür für die Kameras zu öffnen.

Sie trat dazwischen. Mit ihr konnten sie machen was sie wollten, aber ihre Kinder sollten sie in

Ruhe lassen. Sie schrie, verlangte, dass alle die Wohnung verließen, wollte diese Leute und das Chaos, welches sie verbreiteten, nicht länger ertragen.

Die Aufnahmeleiterin hielt ihr ein Stück Papier unter die Nase. Den Vertrag, den sie unterschrieben hatte. Ein Finger deutete auf eine Zeile. Fünfzigtausend Euro Konventionalstrafe würde sie

bezahlen müssen, wenn sie die Dreharbeiten weiter behindern würde.

Fünfzigtausend Euro, ihr wurde schwindelig. Fünfzigtausend Euro, eine unvorstellbar hohe Summe. Niemals würde sie diese bezahlen können.

 

Sie wollte doch nur alles richtig machen, wollte nur ein wenig glücklich sein, und jetzt dieser

Albtraum.

Sie spielten mit, sie und die Kinder. Wollten alles schnell hinter sich lassen, um es vergessen zu können.

Sie spielten die Begrüßungsszene mit dem Psychologen. Setzten sich mit ihm zusammen an den Wohnzimmertisch, wo noch immer all die Abfälle lagen. Sprachen den Text, den man ihnen auf kleinen Stücken aus Papier zugeschoben hatte. Lachten sogar, wenn Lachen gewünscht wurde. Nur das weinen musste ihnen niemand Befehlen, das kam von alleine.

 

Irgendwann waren sie endlich verschwunden. Wie betäubt begann sie die Wohnung aufzuräumen. Jana und David waren in ihren Zimmern verschwunden. Kein Wort hatten sie miteinander

gewechselt, seit dem das Fernsehteam die Wohnung verlassen hatte.

Immer hatte sie Angst gehabt, vor dem nächsten Zank mit ihnen, doch jetzt wünschte sie sich, dass sie wenigstens miteinander streiten könnten. Alles war besser als dieses Schweigen.

 

Das Geld, die zweitausendfünfhundert Euro, hatte sie bekommen, aber nur kurze Zeit behalten

dürfen. Hartz IV, sie hätte es eigentlich wissen müssen. Das Geld wurde eingezogen, angerechnet an die finanzielle Zuwendung, welche sie erhielt. Der Traum vom Meer zerplatzte.

 

Die Wochen vergingen. Fast hatten sie gehofft, man hätte sie vergessen beim Fernsehsender. Oder die Aufnahmen seien missglückt.

Doch dann, zwei Tage vor der Ausstrahlung, sah sie sich selbst. Sie saß dort in der Küche, Tränen im Gesicht, dann ein Schnitt. David, wie er erzürnt jemanden anschrie. Ein kurzer Werbetrailer für ihre vermeintliche Geschichte, der sie erschrecken ließ.

Dann der Abend, als die Sendung ausgestrahlt wurde. Zu dritt saßen sie auf der Couch. Es war schon ewig her, dass sie gemeinsam vor dem Fernseher gesessen hatten. Sie schwiegen in banger Erwartung. Alle drei wussten, dieser Abend würde nicht fröhlich werden. Die Sendung begann, eine Stimme aus dem Off erzählte etwas über sie, die Mutter, die mit ihren beiden halbwüchsigen Kindern in einer Plattenbauwohnung lebte. Erzählte etwas über Hartz IV und ihre Unfähigkeit, ihre Kinder in geregelten Verhältnissen groß werden zu lassen. Dann der Psychologe, wie sie ihm die Tür öffnete, sein Lächeln bei der Begrüßung, ein Händedruck. Kameraschwenks durch die

Wohnung. Die Essensreste auf Wohnzimmer und Küchentisch. Eine Stimme, die davon berichtete, dass David sich mit seinen fünfzehn Jahren schon mit einem Bein im Gefängnis befand. Wie zur Bekräftigung wurde er gezeigt, wie er dort stand, vor seiner Zimmertür, zornig und mit rotem Kopf, irgendwen anbrüllte. Vermeintlich seine Schwester Jana, denn auf sie konzentrierte sich die Kamera als nächstes. Auf ihr Gesicht, an dem Tränen die Wangen entlangliefen. Auch Jana war nicht die Tochter, die sich eine Mutter wünschte, trieb sich herum. Erst sechzehn blieb sie oft die ganze Nacht fort, vermeintliche Männergeschichten?

Wieder Schwenks durch die Wohnung. In der Spüle das schmutzige Geschirr, auch auf der Couch Essensreste. Dann der Psychologe, gemeinsam saßen sie um den Küchentisch herum. Noch immer lächelte er, wirkte verständnisvoll, fast freundschaftlich. Ihr Gesicht in Großaufnahme, wie sie

versuchte, mit ihren Händen ihr Gesicht zu bedecken. Man hörte sie weinen. Schuld? Scham?

Das Badezimmer. Unordentlich lag hier alles verstreut herum. Neben der Toilette das Badetuch mit den braunen Flecken, man überließ es den Zuschauern zu erahnen, wozu dieses benutzt worden war.

Dann wieder sie, wie sie stockend von ihrem Abstieg erzählte. Von dem falschen Mann, auf den sie hereingefallen war. Von den Kindern, ihrer Arbeitslosigkeit und wie sie unter Tränen sagte: "Ich wollte doch nur alles richtig machen."

 

Lange noch blieben sie sitzen, lange noch, nachdem die Sendung vorbei war. Niemand sprach ein Wort. Das, was dort gezeigt worden war, das waren nicht sie. War nicht ihr wirkliches Leben.

Die darauf folgenden Wochen traute sich kaum einer von ihnen mehr vor die Tür. David und Jana weigerten sich, in die Schule zu gehen. Zu schlimm waren die Hänseleien in der ersten Zeit nach der Ausstrahlung.

Wenn sie doch einmal raus musste, schaute sie erst vorsichtig durch den Türspion, ob das

Treppenhaus auch leer wäre. Zu oft war sie in letzter Zeit auf offene Ablehnung gestoßen. An ihrer Wohnungstür konnte man immer noch deutlich das Wort "Looser" erkennen. Irgendwer hatte es dort mit roter Farbe hingesprüht. Vergeblich hatte sie versucht, die Farbe zu entfernen, hatte es nur geschafft, aus dem Rot ein Rosa zu machen.

Wenn Leute ihr auf der Straße oder im Supermarkt begegneten, hörte sie das Tuscheln hinter ihrem Rücken. Spürte die gehässigen Blicke auf sich ruhen.

Das Telefon hatten sie schon lange ausgeschaltet. Zu oft waren sie zusammengezuckt, wenn es

klingelte. War es schon wieder irgendwer, der sie mit scharfer Stimme beschimpfte? Zu oft hatte sie sich anhören müssen, welch eine Versagerin, welch eine schlechte Mutter, welch eine Schlampe sie wäre.

 

Die Zeit verging. Die Menschen vergaßen. Das Telefon wurde wieder eingestöpselt. Die

Wohnungstür neu gestrichen. Die Kinder gingen wieder zur Schule.

Aber das Schweigen blieb. Das Schweigen zwischen ihr, Jana und David. Sie fühlte die Schuld, die sie auf sich geladen hatte. Wusste, dass sie irgendetwas zerbrochen hatte. In ihnen allen dreien.

Sie wollte doch nur alles richtig machen, wollte nur ein wenig Glück. Doch jetzt wusste sie nicht einmal, ob sie irgendwann einmal ihren Kindern wieder in Augen würde schauen können.

 

 

Impressum

Texte: Ralf von der Brelie
Bildmaterialien: Ralf von der Brelie
Lektorat: Ursula Kollasch
Tag der Veröffentlichung: 03.08.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für all diejenigen, welche durch Dummheit oder Naivität in die Falle getappt sind und zu Opfern wurden.

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