Jorund wälzte sich unruhig auf seinem Strohlager. Morgen würde darüber entschieden werden, für welche Art des Zeitfangens er besonderes Talent zeigte.
Würde er die Vergangenheit fangen, würde man ihn als Richter durch die Länder des Reiches schicken, wo er Verbrechen aufklären, die Schuldigen finden und bestrafen und die zu Unrecht Verdächtigten entlassen würde. Würde er die Gegenwart fangen, würde er am Hof eines Fürsten oder sogar des Königs dienen, indem er gute Neuigkeiten im Frieden und Truppenbewegungen im Krieg weitergab. Doch wenn er die Zukunft fangen würde… Nun ja, wer die Zukunft fing lebte in den Gewölben unter der Zitadelle und wurde streng bewacht, auf dass niemand das Wissen um die Zukunft missbrauchen konnte.
»Jorund, bist du noch wach?« zischte eine bekannte Stimme neben ihm.
»Natürlich bin ich noch wach, oder glaubst du ich könnte in der Nacht vor der wahrscheinlich wichtigsten Entscheidung meines Lebens schlafen?«, gab er ebenso leise zurück. Die Novizen teilten sich allesamt eine Kammer, in Jorunds schliefen fünfundzwanzig Jungen zwischen Fünfzehn und Achtzehn Sommern. Die Stimme neben ihm gehörte Keldon, seinem besten Freund in der Zitadelle.
»Welche Arbeit würdest du am liebsten verrichten?«
»Wir können uns nicht aussuchen, wofür wir ein Talent haben Keldon, das weißt du so gut wie ich und jeder andere hier.«
»Schon gut ich habe nur gefragt,« wehrte der andere Junge ab. »Ich würde am liebsten die Vergangenheit fangen, dann könnte ich den einfachen Leuten helfen und Unschuldige vor einer Verurteilung retten.«
»Vergiss aber nicht, dass du dann auch die Schuldigen verurteilen musst. Du bist eine gute Seele, ich weiß nicht ob du das auf Dauer durchstehen würdest.« Sein Freund war auf einem einfachen Bauernhof aufgewachsen und hatte sich stets gegen Unrecht und Grausamkeit aufgelehnt, was ihm nicht selten Prügel und den einen oder anderen Kerkeraufenthalt eingebracht hatte. »Hoffe das du die Gegenwart fängst und den Menschen mit Klatsch und Tratsch helfen kannst, das ist zwar wenig Hilfe, dafür musst du dein Gewissen aber nicht mit Toten belasten. Aber wenn ich so darüber nachdenke möchte ich auch die Gegenwart fangen, dann könnte ich bitten, nach Altgard an den Hof meines künftigen Schwagers geschickt zu werden. Dann könnte ich endlich wieder meine Schwester sehen.«
»Stimmt dich und deine Zwillingsschwester konnte nichts trennen hast du erzählt. Wie sieht sie eigentlich aus?«
»Stell dir einfach Jorund in Kleid und mit Brüsten vor!« tönte es aus dem Dunkel hervor. Mehrfaches Gekicher und leises Gelächter deuteten auf noch mehr heimliche Lauscher hin.
Leise flüsterte Jorund den Zauber und ein kopfgroßer Schneeball machte sich auf den Weg in die Richtung aus der die Stimme des Spötters zuvor kam. Mehrfache Schreie und Flüche sagten ihm, dass er mehr als bloß einen Novizen getroffen hatte.
Obwohl die Zeitfänger Magier waren, fehlte ihnen doch die Begabung für elementare oder andere Arten der Magie, weshalb niemand eine Auseinandersetzung mit dem schwach in diesen Dingen begabten Jorund wollte. Zufrieden schloss er die Augen und dachte an seine Schwester Lissandra. Sie war vor knapp einem Jahr an den Hof des Fürsten der Stadt Altgard geschickt, da sie in wenigen Monaten mit dessen Sohn verheiratet werden würde. Als seine Eltern auch für ihn eine gute Partie gefunden hatten schnürte er aus Wut und Trotz sein Bündel, verließ den Sitz seiner Familie und schloss sich kurz darauf einem Zeitfänger an, der ihn mit sich zur Zitadelle Hoher Turm nahm, wo er nun als Novize lebte.
»Der Novize Jorund möge nun vortreten!« Laut schallte die Stimme des Erzmeisters durch die Große Halle. Weise und mächtig ragte er auf dem Podest in der Mitte des gigantischen Saals auf. Die Novizen Standen in einer ungeordneten Schar vor dem Podest, wurden jeder nach dem anderen aufgerufen und mussten auf dem Podest unter den Wachsamen Augen des Erzmeisters die Zeit einfangen. Danach wurden sie in drei Gruppen aufgeteilt, je nachdem welche Zeit sie gefangen hatten. Der Meister des Zukunft stand noch immer alleine, obwohl schon zwei Drittel der Novizen ihr können bewiesen hatten. Die Meisten drängten sich um den Meister der Vergangenheit.
Zitternd machte er sich auf den Weg, die smaragdfarbenen Augen zuckten nervös umher, der braune Wollumhang erschien ihm viel zu heiß und zu eng und das dichte rabenschwarze Haar fiel im ständig in sein schmales Gesicht als er seinen schier endlosen Marsch durch die Halle beendet hatte.
»Nun denn, Junge. Zeige uns was du fangen kannst.«
Konzentriert schloss Jorund die Augen, dachte kurz an Lissandra um sich Mut zu machen und begann mit dem Ritual. Sein linker Arm zog einen großen senkrechten Kreis, in welchem er das Bild für die Anwesenden sichtbar machen würde, während seine rechte Hand sich zum Kreis hin bewegte, als würde er Wasser damit schöpfen. Dazu sang er die Litanei herunter, die alle Novizen in den vergangenen Monaten in- und auswendig gelernt hatten. Langsam begannen seine Hände zu kribbeln, fühlten sich eisig an, als sie die Zeit selbst auf ihrer elementarsten Ebene berührten und in dem magischen Kreis sammelten.
Und in dem Moment, in dem er die Beschwörungsformel endete, zeigte sich die gefangene Zeit als Bild in einem Kreis: Sein Freund Keldon sprach in der blauen Robe der Zeitfänger und mit harter Miene das Todesurteil über einen gefangenen Bauern aus.
Erschrocken sprang der Junge zurück. Er hatte die Zukunft gefangen. Er würde nun auf Ewig in den Gewölben der Zitadelle weggesperrt werden und seine Schwester nie wieder sehen.
»Wie ich sehe haben wir einen Zukunftsfänger hier. Meister Haldar, währet Ihr so freundlich und bringt Euren Neuzugang in die Gewölbe?«
Der Meister der Zukunft trat vor und verbeugte sich höflich. »Wie Ihr wünscht, Erzmeister. Komm mit Jorund.«
Den Tränen nahe blieb ihm nichts anderes übrig, als zu gehorchen. Mit hängendem Kopf und Schultern machte er sich mit dem Meister auf den Weg zur Gewölbetür, einer unscheinbaren Holztür am anderen Ende der Großen Halle, hinter der sich eine schmale, von Fackeln spärlich erleuchtete Wendeltreppe in die Tiefen wand.
»Hast du ein Mädchen oder jemand anderes da draußen, Junge?«, fragte der Meister vertraulich, nachdem sie einige Zeit schweigend hinabgestiegen waren.
»Naja, eigentlich bloß meine Zwillingsschwester und meinen Freund Keldon, der dessen Zukunft ich gesehen habe, Meister.«
»Bitte nenn mich hier unten nur Haldar. Wir sind ein kleines Grüppchen und behandeln uns wie Brüder. Es ist schwer jemanden als höher gestellt anzusehen, wenn man sieht, wie er in zwei Wochen unter den Folgen von verdorbener Neunaugenpastete den Abort blockiert oder andere Peinlichkeiten erlebt«, erwiderte er lachend. »Soso eine Zwillingsschwester. Deshalb bist du so erschrocken. Du denkst wohl wir ketten dich in der Dunkelheit an und geben dir nur einmal am Tag Wasser und Brot?« Diesmal konnte Haldar erst mit seinem Gelächter aufhören, als sie eine weitere unscheinbare Holztür am Ende der Wendeltreppe erreicht hatten. Das Grinsen immer noch in seinem Gesicht öffnete er die Tür und ließ Jorund als ersten hindurchtreten.
Dem jungen Zukunftsfänger stockte der Atem, als er sich plötzlich in einer lichtdurchfluteten Halle befand. Zwischen den großen Säulen aus weißem Marmor, die die Wände der Halle bildeten, schien die Sonne warm hindurch, Möwen kreischten und das Meer rauschte keine Viertelmeile entfernt, obwohl sich die Zitadelle Hoher Turm im Herzen des Reiches befand, von wo aus man einen Monat zu den eisigen Meeren des Nordens. Die Luft roch salzig und war so warm, dass er in den wenigen Minuten die er nun sprachlos mit offenem Mund dastand schon zu schwitzen begonnen hatte.
Sein Meister zog sich gerade die dicke Wollrobe aus, unter der er eine Robe in dem selben Blau trug, jedoch war diese aus Stoff gewoben, der dünn wie ein Haar war und grinste ihm schelmisch entgegen. »Mach den Mund zu bevor die Möwen darin nisten, Junge« neckte er ihn. »Wie du vielleicht bemerkt hast befinden wir uns nicht mehr unter der Zitadelle, ja noch nicht einmal in der Nähe. Wir sind auf einer Insel im Süden, zwei Wochen von der südlichsten Grenze des Reiches, wenn ein Vogel fliegt. Du dürftest mitbekommen haben, dass die Zukunftsfänger nicht eingesperrt werden, sondern einfach nicht mehr in den kalten, feuchten Norden wollen.
Bevor wir dich neu einkleiden und dir dein Haus zeigen, erkläre ich dir erst einmal die Regeln und Pflichten eines Zukunftsfängers.«
Eifrig nickte Jorund. Diese Wendung gefiel ihm sehr gut, fast so gut, dass er die Sehnsucht nach seiner Schwester vergaß.
»Es wurde dir sicher schon hundertfach von den anderen Meistern erklärt, dass die Zukunftsfänger niemandem die Zukunft mitteilen dürfen, da dies sonst weitreichende Folgen haben könnte. Darum wirst du auch ein Schweigegelübde ablegen und niemals mit jemandem über deinen Fang reden, der nicht zu den sechzehn Brüdern hier auf der Insel gehört.
Nun kommen wir zum großen Problem, welches unsereins quält.«
»Zu was sind wir gut, wenn wir kein Wort über unser Talent verlieren dürfen?«
»Kluges Bürschchen. Siehst du die drei Türen hinter uns? Durch die Holztür in der Mitte gelangst du in das Treppenhaus unter der Großen Halle, die weiß gestrichene Tür führt zum Taubenschlag damit du Briefe an deine Verwandten und Freunde schicken kannst, solange du nicht dein Schweigen damit brichst. Die schwarz gestrichene Tür jedoch führt in die Halle der Meuchler, nur der Meister, in unserem Falle ich, darf sie betreten und dem Großmeister der Assassinen einen Namen und einen Ort auf einem Stück Papier bringen. Und hier brechen wir unseren Schwur. Wir haben uns aus der Zukunft Zauber zum erzeugen von Portalen gestohlen um sie für uns zu verwenden, und nun benutzen wir unsere Gabe dazu, Tyrannen und andere gefährliche Personen auszuschalten, bevor sie Schaden anrichten. Daher treffen wir uns jeden Tag zum gemeinsamen Mittag- und Abendmahl. Wer ein mögliches Ziel findet, teilt es mit und jeder andere wird bis zur nächsten Mahlzeit versuchen, weitere Zukunftsvisionen über die Person einzufangen. Danach wird verglichen und wenn wir uns sicher sein können, schreibe ich den Namen und den Ort auf und schicke einen der Meuchler los. Es ist eine schmutzige Berufung, aber wir helfen den Menschen damit besser als es so manch anderer tut.«
Die Miene des Jungen hatte sich mehr und mehr verhärtet, zu schnell hatte sich die anfängliche Freude in Zweifel und Angst verwandelt. Ein hilfloses Lächeln stahl sich auf sein Gesicht, als er daran dachte, dass er seinem besten Freund gewünscht hatte, nicht das Todesurteil über einen Menschen zu vollstrecken. Nun stellte sich ironischerweise heraus, dass ER der er gar nicht daran gedacht hatte, nichts anderes als Todesurteile verhängen würde.
»Ich verstehe deine Trauer und Verzweiflung, keinem von uns ging es anders als wir das erste Mal von unserer Bestimmung erfuhren. Aber vertraue mir«, Haldar legte dem Jungen vertraulich die Hand auf die Schulter und blickte ihm voll Mitgefühl aus blauen Augen entgegen, »wenn du das erste Mal eine Vision von der Grausamkeit, mit der einige dieser Menschen diese Welt schänden werden, gesehen hast, wird dir die Entscheidung nicht mehr schwer fallen und auch der Zweifel wird verfliegen.
Aber jetzt komm mit, du bist ja schon ein halber Wasserfall in deinen Kleidern, wir besorgen dir etwas Leichteres und dann bringe ich dich in deine Unterkunft.« Das Lächeln war auf sein Gesicht zurückgekehrt, als ob es nie verschwunden wäre.
Sein neues Heim raubte Jorund den Atem.
Das Haus war eine von siebzehn identischen Gebäuden, die nebeneinander an der Grenze zum Sand des Strandes standen, ein jedes größer als die Novizenhalle, in der er das letzte Jahr gelebt hatte. Die Böden und Wände bestanden aus weißem Marmor, das Dach war mit roten Ziegeln bedeckt. Im inneren befanden sich zwei Räume, eine große Halle mit einem Becken voll klarem Wasser, in dem er sich das Salz des Meeres von der Haut waschen konnte, mehreren Bänken und einem großen Tisch. Das andere Zimmer war einem gigantischen Himmelbett gewidmet, in dem ohne weiteres sieben Personen Platz gefunden hätten, was einige der Zukunftsfänger Haldars Worten nach schon des Öfteren ausgenutzt hätten. Dienstmägde gab es zwar genug für dieses Gerücht, jedoch konnte der junge Zeitfänger nicht sagen, ob sein Meister dies ernst meinte oder ihn mit seinen Worten bloß auf den Arm nehmen wollte.
Beim Abendmahl traf Jorund zum ersten Mal auf die anderen Zukunftsfänger. Die Mahlzeiten wurden jeden Tag im Haus eines anderen Bruders eingenommen, und als einziger Neuzugang war Jorund für diese Ehre ausgewählt worden.
Die Dienerschaft, die die Zitadelle für die Zukunftsfänger auserwählt hatte, tischte ein Festmahl für dreimal so viele Gäste auf. Von Forellen über Rehfleisch und Gänseleberpastete waren alle Spezialitäten des Reiches vertreten, doch auch Köstlichkeiten aus den kulinarischen Schätzen der Insel wie Meeresfrüchte, tropisches Obst und seltsamste Fische wurden ihnen serviert. Dazu tropische Weine, Met und Bier, um alles hinunter zu spülen. Die Stimmung wurde von Stunde zu Stunde ausgelassener und im freundschaftlichen Plaudern wurde der neue Bruder in die Kunst des Zukunftsfangens eingewiesen. Ein dicker freundlicher Kerl den alle auf Grund seines Wanstes, der groß und mächtig wie ein Bierfass war, bloß Fassbinder nannten erklärte ihm, dass man die präzisesten Fänge machte, indem man sich genau auf die Art des Fangs konzentrierte und an nichts Anderes dachte, bis das Bild erschien. Haldar demonstrierte die praktische Anwendung, indem er ihnen ein Bild von Fassbinder zeigte, der am Ende des Abends den überflüssigen Wein in Jorunds Wasserbecken erbrechen würde, was der Betreffende als Anlass nahm, eine ganze Kanne Wein in einem Zug zu leeren. Selbst der Gastgeber, dessen Spitzname Zwilling lautete, lachte und scherzte mit den Anderen, als wären sie schon seit Jahren die besten Freunde.
Als der Abend voranschritt verabschiedete sich Einer nach dem Anderen. Fassbinder kippte vornüber und erbrach sich hingebungsvoll in das Becken wie vorausgesagt, jedoch fanden es die restlichen Anwesenden und Jorund eher erheiternd denn ekelhaft.
Nachdem sich Haldar als letzter verabschiedet hatte, begab sich der neue Zukunftsfänger in sein Schlafgemach, wo er endlich schlafen wollte. Der Tag war lang und aufregend gewesen, hatte viel Schreckliches, jedoch genausoviel Schönes mit sich gebracht.
Mit geschlossenen Augen lag er in seinem Bett, der Schlaf wollte ihn jedoch nicht überkommen. Fassbinders Worte spukten durch seinen Kopf und wollten ihm keine Ruhe gönnen, also beschloss er, den Trick zu versuchen und diesmal für sich selbst in die Zukunft zu sehen.
Lissandra lächelte, doch die Tränen ihrer smaragdgrünen Augen waren keine Tränen der Freude. Der glücklichste Tag ihres Lebens war ohne ihren Bruder nicht halb so aufregend und erfreulich wie sie es sich gewünscht hatte. Er konnte die Zukunft zeigen, daher durfte er Hoher Turm nicht verlassen und sie musste das Volk und die Festung kennenlernen, da sie ab morgen die Fürstin von Altgard sein würde. Eine Fürstin musste ihre Ländereien, Dörfer und Untertanen kennen, und so hatte sie die vergangenen zwei Jahre mit ihrem Angetrauten Manus die Würdenträger bei Hofe, die Landpächter und die Ländereien kennenzulernen.
Abgesehen von den Briefen, die sie sich bei jeder Gelegenheit schickten, hatten die Geschwister, die einst unzertrennlich waren, keinen Kontakt zueinander gehabt. Und heute, am Tag ihrer Hochzeit, schritt sie allein zum Altar, ohne in die Stolzen Augen ihres Bruders blicken zu können. So suchte sie Trost beim Anblick ihres baldigen Ehemannes, der ihr in den letzten zwei Jahren beinahe so sehr ans Herz gewachsen war wie Jorund.
Durch das offene Tor des Tempels schritt sie auf ihn zu, gewandet in ein rotes Kleid mit schwarzem Mieder, als Vorbild das Wappen von Altgard, ein schwarzer Greif auf rotem Grund, die schwarzen Haare hochgesteckt und voll freudiger Erwartungen.
Bis die Schreie begannen.
In der Abenddämmerung hatte sich eine Vorhut der gigantischen Barbarenarmee in die Stadt geschlichen, welche das Plündern und Brandschatzen nicht bis zum Eintreffen der Hauptstreitmacht abwarten wollte. Einzeln mischten sie sich unter die Reisenden, welche die Hochzeit beobachten wollten, eroberten das Stadttor schnell und leise und zogen danach marodierend durch die Stadt, bis sie den Tempel erreichten.
Die Garde des Fürsten konnte in ihrer Ehrenrüstung, die nicht für den Kampf gemacht war, keinen nennenswerten Widerstand leisten und die Stadtwache hatte sich aufgrund der Menschenmengen zu stark verteilt und kam zu langsam vorwärts, um gegen die Wilden anzukommen.
Als er die Wurfaxt fliegen sah musste sich Jorund abwenden.
Diese Zukunft war zu grausam. Er wollte nicht, dass ihm das Wichtigste auf der Welt auf solch brutale Art genommen wurde.
Das Pflichtbewusstsein in ihm sagte ihm, er durfte es nicht, er musste den Schwur einhalten und sich soweit es ging aus der Zeit heraushalten. Haldar und die anderen hatten ihn davor gewarnt, er musste bis zum Mittagmahl warten und es ihnen dann vortragen.
Doch dazu mischte sich noch eine andere Stimme. Erst leise und flüsternd, dann nach und nach immer lauter bis sie das Pflichtbewusstsein wie ein Orkan übertönte. »RETTE SIE!« schrie sie. »Warne sie vor den Wilden!«
Die Stimme hatte Recht. Er hatte die Gabe, seine geliebte Schwester vor dem Tod zu retten, und er würde es auch tun! Er schnappte sich Feder und Tinte und schrieb ihr einen Brief, wie er es den ganzen Tag über vorgehabt hatte, jedoch fügte er am Ende die düstere Vision von ihrer Hochzeit hinzu und beschwor sie, Manus dazu zu drängen, etwas gegen die Barbaren zu unternehmen, wenn es so weit war.
Gerade wollte er die Säulenhalle betreten, als ihm ein Schatten darin auffiel. mit einem leisen Satz brachte er sich hinter eine der Säulen und hoffte, dass er nicht bemerkt wurde. Es war Vollmond und keine Wolke bedeckte den Himmel, sodass es beinahe taghell war. Vorsichtig spähte er aus dem Schatten seines Verstecks und erstarrte. Der Erzmeister stand mitten in der Halle und schien auf jemanden zu warten.
Der Junge fluchte still in sich hinein. Wenn der alte Fänger seinen Brief lesen wollte, würde er die Warnung für seine Schwester sehen und dann wäre Lissandra verloren. Warten konnte er nicht, da er nicht wusste, wie lange es dauerte, den Fürsten zu überzeugen und danach das Heer zu sammeln. Er könnte eine schwache Illusion heraufbeschwören, jedoch bezweifelte er das ein Erzmeister so dumm war, um darauf hereinzufallen.
So saß er nun in seinem Versteck und wartete auf eine günstige Gelegenheit. Diese stellte sich auch nach einer knappen halben Stunde ein. Voll von Ungeduld begann der alte Mann auf und ab zu marschieren und als er Jorund den Rücken kehrte witterte dieser seine Chance. Er schnappte sich einen Stein vom Boden neben sich und schlich sich jedes weitere Mal mit klopfendem Herzen von einem Säulenschatten zum nächsten, bis er im letzten angelangt war. Dann warf er den Stein zurück zur ersten Säule, hinter der sein Versteckspiel begonnen hatte.
»Wer ist da?«, rief der Erzmeister. »Komm heraus, wer du auch bist. Von mir hast du nicht das geringste zu befürchten.« Langsam ging er auf die Stelle zu, wo der Stein den Boden getroffen hatte.
Und dann rannte der Zeitfänger, rannte so schnell er konnte auf die im Mondlicht strahlend helle weiße Tür zum Taubenschlag, schlüpfte hinein und riss sie hinter sich wieder zu.
Er befand sich am Boden einer schmalen Wendeltreppe, ein exaktes Gegenstück zu der Treppe, die zur Großen Halle führte. Anstatt wie vom Teufel besessen hinaufzuhasten, blieb er kurz stehen und ratterte eine Zauberformel herunter, so schnell, dass er sich mehrmals beinahe versprochen hätte, am Ende jedoch bildete sich eine dicke Eisschicht über der Tür.
Dies war eine der mächtigsten Formeln, die er beherrschte und sie hatte ihn viel Kraft gekostet, dennoch zwang er sich, beim hinaufsteigen immer zwei Stufen auf einmal zu nehmen, da er nicht sagen konnte, wie lange der Zauber eine magische Tür versiegeln konnte.
Nach einer Ewigkeit, wie ihm schien, erreichte er das Ende der Treppe, eine Falltür aus Holz an der Decke. Gerade machte er sich an dem verrosteten Riegel zu schaffen, als ein leises Krachen die Treppe empor hallte, gefolgt von einem wütenden Ruf: »Jorund! Bleib stehen!«
Panik ergriff ihn. Hatte der Alte ihn gesehen und erkannt? Es war eine gute Idee von ihm gewesen, die Tür zu vereisen.
Endlich bewegte sich der Riegel und unter einem Regen von Stroh und Taubenmist stieg er durch die Falltür in den Taubenschlag. Oben angekommen griff er in den nächsten Käfig um sich eine Taube herauszufischen. Allerdings hatte sein plötzliches Auftauchen die Vögel erschreckt und sie flatterten wild umher.
Nachdem er endlich eine erwischt hatte, nahm er sich Zeit, den Brief sorgfältig an dem Vogel zu befestigen, denn wenn der Brief verloren ginge, wäre alles umsonst gewesen.
Der Kopf des Erzmeisters schoss durch die Falltür in dem Moment, als der Vogel auf die Fensterbank gehüpft war. Ein Frostzauber jagte auf Die Taube zu, den Jorund allerdings abwehrte, indem er seine Hand an die Fensterbank frieren lies. davon aufgescheucht hüpfte der Vogel von der Turmspitze, breitete seine Schwingen aus und machte sich auf die Reise.
Erleichtert atmete der Junge auf. Es war egal was mit ihm geschah, solange seine Schwester am Leben war, seine andere Hälfte.
Große faltige Hände packten ihn von hinten und rissen ihn herum, wobei sich sein festgefrorener Arm schmerzhaft verdrehte und das wütende Gesicht des Erzmeisters war keinen Finger breit von dem seinen entfernt. »Hast du dummer, unsagbar dummer Junge eigentlich eine Ahnung, was du gerade getan hast?«
»Ich habe meiner Schwester das Leben gerettet, und das Reich auch!«, erwiderte er trotzig.
»Es war bloß ein Viertel und das auch nur für zwanzig Jahre«, murmelte der alte in seinen Bart. » Du hast deine Schwester gerettet aber weißt du wen noch?«, fuhr er wieder laut fort. »Ihren Sohn! Ihren Sohn der in zwanzig Jahren der mächtigste Nekromant aller Zeiten sein wird und dann das gesamte Reich mit seinen untoten Horden vernichten wird!«
»Warum werdet Ihr dann nicht in einigen Jahren die Meuchelmörder auf ihn hetzen?« schrie der Junge laut. »So wie ihr es mit den anderen Kindern tatet?«
»Sieh mir in die Augen Junge«
Jorund tat was der Alte wollte. Der Erzmeister heute Mittag hatte braune Augen, dieser hier nicht. Die Augen dieses Erzmeisters waren smaragdgrün.
»Sag mir wie ich das Kind meiner geliebten Schwester umbringen lassen kann?«, fragte er schwermütig mit Tränen in den Augen. »Und nun habe ich mich auch noch mit dem Wissen verdammt, dass ich mich niemals selbst aufhalten kann.«
Tag der Veröffentlichung: 18.07.2012
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