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Cäsar und die Gegenwart

War Cäsar ein Kriegsverbrecher?

Ist Tony Blair ein Kriegsverbrecher?

Kürzlich konnte man in den Zeitungen lesen, dem ehemaligen britischen Premierminister Tony Blair sei von der Queen im Zuge der „New Year Honours“ die höchste Ehre des Königreiches verliehen worden: The Most Noble Order of the Garter“, der älteste britische Ritterorden, gegründet 1348 von König Edward III., und dürfe sich jetzt Sir Tony nennen. Inzwischen habe bereits über eine Million britischer Bürger eine Petition unterzeichnet, die die Aberkennung dieser Ehrung fordern. Sir Tony sei für sie nichts als ein Kriegsverbrecher. Er sei mitverantwortlich für den Tod von 150.000 Menschen, weil er Großbritannien an der Seite von George W. Bush erst in den Krieg in Afghanistan und dann in den im Irak geführt habe.

Dem Feldherrn Cäsar verlieh der Senat von Rom nach seinem Sieg über die Gallier die hohe Siegerehrung eines Triumphzuges. Doch heute gilt er vielen als Kriegsverbrecher, und zwar aus demselben Grund wie Tony Blair: Er ist verantwortlich für den Tod Tausender Menschen. Denn er hat einen Krieg gegen die Gallier vom Zaun gebrochen. Und die Kriegführung war in der Antike nicht unbedingt humaner als in der Gegenwart.

Diesen „Gallischen Krieg“ kennen alle Lateinschüler (und -innen) bestens. Cäsar beschreibt ihn nämlich selbst genau und ausführlich, ungeschminkt, in schlichter, klarer, einprägsamer Sprache. Der Titel lautet: Commentarii de bello Gallico. Darin zeigt er sich als meisterhafter Stilist, der es versteht, Militärisches auch dem Nichtfachmann verständlich zu machen und seine in Wirklichkeit oft selbstherrlichen Maßnahmen als durch das Verhalten der Gallier, Germanen und Britannier bedingt darzustellen. Sogar Cicero lobt die Commentarii über den grünen Klee: Sie verdienen das höchste Lob. Sie sind schlicht, korrekt und anmutig, allen Redeschmucks wie eines Kleides entblößt (Suetonius, Biographie Cäsars, Kapitel 56). Übrigens enthält das Buch die ältesten zusammenhängenden Nachrichten über die Germanen und die Britannier.

Aus derselben Biographie erfahren wir, nebenbei bemerkt, dass Cäsar nicht nur ein großer Stratege, ein toller Autor und ein genialer Staatsmann war, sondern auch ein berüchtigter Frauenheld. Beim Gallischen Triumph in Rom, seinem ersten und glänzendsten Triumphzug (Sueton, Kapitel 37), sangen die Soldaten laut Sueton folgendes Verspaar (Kapitel 51; ich übersetze wörtlich):

Städter, passt auf eure Frauen auf! Den glatzköpfigen Ladykiller (moechum calvom) bringen wir her!

Gold hast du in Gallien vervögelt (effutuisti). Hier hast du es dir gepumpt.

(Bei Triumphzügen war es üblich, dass die Soldaten in Spottliedern die menschlichen Schwächen ihres Feldherrn aufs Korn nahmen.)

Weiter lesen wir bei Sueton (Kapitel 52): Er liebte sogar Königinnen ..., aber am meisten Kleopatra. Doch diese Geschichte ist ja allgemein bekannt.

Was die Bezeichnung glatzköpfiger Ladykiller betrifft, heißt es in Kapitel 45: Er litt sehr unter einer entstellenden Glatze. Diese war oft die Zielscheibe der Witze seiner Widersacher. Daher hatte er sich angewöhnt, seine spärlichen Haare vom Hinterkopf über den Scheitel nach vorn zu kämmen.

Fragt man nach den weitreichendsten historischen Folgen dieses Krieges, so ist das zunächst einmal die Eroberung Galliens. Die Römer nannten einen solchen Vorgang übrigens nicht Eroberung, sondern Befriedung: pacatio. Ihre Provinzen waren nicht erobert worden. Sie waren „befriedet“ worden. Ist diese Bezeichnung zynisch? Ja, sicher. Allerdings nur auf den ersten Blick. Beim zweiten Blick erkennt man, dass die römische Eroberung etwa den Galliern wirklich einen Frieden brachten, den sie bisher nicht kannten. Das vorrömische Gallien war ja kein einheitlicher Staat so wie heute Frankreich, sondern in viele Stämme (Cäsar nennt sie gentes, wörtlich „Völker“) zersplittert, die sich offenbar pausenlos bekriegten (so wie zum Beispiel auch die griechischen Stadtstaaten, bevor sie von den Römern „befriedet“ wurden).

Und was brachte der „Römische Friede“, die pax Romana, den Galliern? Antwort: Keine Versklavung, keine Unterdrückung ihrer Sitten, ihrer Sprache, ihrer Religion (mit einer Ausnahme: die Menschenopfer wurden verboten). Aber dafür die römische Zivilisation. Nun entstanden im ganzen Land Städte, die diesen Namen verdienten, und das berühmte römische Straßennetz erstreckte sich nun auch über ganz Gallien. Die reichen Großgrundbesitzer wurden (endlich) besteuert, gleichzeitig wurde die Entwicklung einer Mittelschicht aus Händlern, Geschäftsleuten und Handwerkern gefördert. Die Folge davon war die rasante Romanisierung zuerst in den Städten und danach auch der übrigen Bevölkerung, sodass sich etwa ein Jahrhundert später Gallier bereits in den römischen Senat wählen lassen konnten. Und was man heute kaum für möglich halten würde, vor allem, wenn man an das Schicksal der Südtiroler in der Zwischenkriegszeit denkt: Ohne dass der geringste Zwang ausgeübt worden wäre, übernahmen die Gallier zur Gänze die lateinische Sprache und vergaßen ihre altangestammte keltische. So verwandelten sich die Gallier innerhalb weniger Generationen in Römer (in Frankreich nennt man sie: Gallorömer, Galloromains). Mehr noch: Gallien wurde zu einer der kulturell und zivilisatorisch blühendsten Provinzen der Römischen Reiches. In der Spätantike war Gallien kulturell sogar bedeutender als Italien selbst. Diese Hochblüte blieb nach dem Zerfall des Reiches bestehen, sodass Frankreich seither stets ein Zentrum europäischer Kunst und Kultur war.

Mit anderen Worten: Wir verdanken Cäsar, d. h. die Menschheit verdankt Cäsar die Existenz der französischen Sprache, die sich bekanntlich aus dem Lateinischen entwickelt hat. Und das Bretonische, eine heute noch in der Bretagne gesprochene keltische Sprache, ist da kein Widerspruch. Denn wie der Name schon sagt, bedeutet Bretagne, englisch Brittany, nichts anderes als „Britannien“. Es geht auf die Einwanderung von keltischen Britanniern zurück, die im frühen Mittelalter vor den Angeln und Sachsen übers Meer geflüchtet sind. Dass das Land heute nicht mehr Gallien, sondern Frankreich heißt, geht ebenfalls auf die Völkerwanderung zurück. Damals eroberten die Franken den Norden Galliens und brachten ihre germanische Sprache mit. Und die Lateinisch sprechende Bevölkerung wurde assimiliert und übernahm die Sprache der Eroberer? Weit gefehlt! Es war genau umgekehrt: Die siegreichen Franken übernahmen im Nu die Sprache, Sitten und Religion der kulturell weit höher stehenden Besiegten und vergaßen ihre eigene. (Gleiches geschah zum Beispiel auf der Iberischen Halbinsel nach der Eroberung durch die Westgoten.)

Im Übrigen verdankt die Menschheit Cäsar auch sonst gar manches. Zu nennen wäre da vor allem der gregorianische Kalender, der lediglich eine Adaption des von Gaius Iulius Caesar – so sein vollständiger Name – eingeführten und nach ihm benannten julianischen Kalenders ist. Wir nehmen auch in einem fort, besonders im Sommer, seinen Namen in den Mund. Denn sofort nach seiner Ermordung an den Iden des März (44 v. Chr.) wurde auf Antrag des Konsuls Marcus Antonius Cäsars Geburtsmonat Quintilis (er wurde am 13. 7. 100 v. Chr. geboren) in Iulius umbenannt. (Analog dazu wurde der Monat Sextilis, in dem Kaiser Augustus starb, ihm zu Ehren in Augustus umbenannt.)

Nicht mehr so häufig wie noch in Zeiten der Monarchie erwähnen wir seinen dritten Namen Caesar, freilich in leicht modifizierter Schreibung, nämlich: Kaiser. Bekanntlich sprachen die Römer das C immer wie K aus. Dass sie kein K kannten, stimmt allerdings nicht. Es ist sogar ziemlich häufig. Regelmäßig mit K geschrieben wurden Karthago und Kalendae (so hieß jeweils der Erste des Monats). Und AE wurde eben bis in die Kaiserzeit hinein ausgesprochen wie geschrieben, also A-E. Und darum transkribierte man den Namen Caesar im Griechischen als Kaisar.

Nun war natürlich Caesar kein Kaiser, auch kein König. Er war also nur scheinbar der erste in der Reihe der Cäsaren. Das war erst sein Adoptivsohn Gaius Octavius; so sein Geburtsname. Seit der Adoption durch Cäsar (die erst nach dessen Tod durch sein Testament bekannt wurde) hieß er Gaius Iulius Caesar Octavianus und ab 27 v. Chr. Imperator Caesar Augustus (Augustus bedeutet „Hochwürden, Majestät“; den Titel Imperator hatte der Senat Augustus als erblichen Vornamen verliehen). Und so hießen von nun an alle seine Nachfolger mit Beinamen, und dabei wurden diese mit der Zeit naturgemäß zu Titeln. Imperator lebt in den romanischen Sprachen sowie im Englischen als Kaisertitel weiter, in den germanischen außer Englisch Caesar in der klassischen Aussprache (ebenso im Polnischen und Finnischen), und in den meisten slawischen Sprachen, die ja erst später quasi „dran waren“, Caesar in der mittelalterlichen Aussprache als Zar, Cisař (tschechisch), Cisár (slowakisch) oder Cesar (slowenisch); ähnlich im Ungarischen: Császár. (Eine vergleichbare Karriere machte der Name Karls des Großen in den Slawischen Sprachen und im Ungarischen als Königstitel.)

Jetzt wird man vielleicht fragen: Wieso tanzt Englisch mit dem Wort für Kaiser aus der Reihe der germanischen Sprachen? Nun, um die Wahrheit zu sagen, auch hierbei ist Cäsar und sein bellum Gallicum zumindest mitverantwortlich, mit anderen Worten: das Faktum, dass die Gallier seit Cäsar die lateinische Sprache übernehmen, die im Laufe des Mittelalters zum Französischen mutiert. Aber im 9. und 10. Jahrhundert erobern und besiedeln Wikinger, auch Nordmannen oder Normannen genannt, die nach ihnen benannte Normandie – und übernehmen prompt Sitten, Sprache und Religion der angestammten romanischen (in Frankreich sagt man: galloromanischen) Bevölkerung, d. h. sie vergessen ihre germanische Sprache und übernehmen das gerade zum Französischen mutierende Latein; man nennt es heute Altfranzösisch, und den in der Normandie gesprochenen altfranzösischen Dialekt nennt man Normannisch, französisch Normand.

Und dann kommt das berühmte Epochenjahr 1066: Der normannische Herzog Wilhelm der Eroberer erobert England und lässt sich zum englischen König krönen. Danach ist England zwei Jahrhunderte lang zweisprachig: Normannisch und Altenglisch, auch genannt Angelsächsisch, koexistieren nebeneinander. Und dann passiert etwas Einmaliges, noch nie Dagewesenes: Die beiden Sprachen verschmelzen zu einer Mischsprache (mixed language), halb germanisch, halb romanisch. Und so wurde aus dem französischen, aus imperator entstandenen empereur englisch emperor.

Viel zu wenig wird beachtet, dass Cäsars Name auch im Namen einer ganzen Reihe von Städten weiterlebt, die nach ihm oder nach Caesar Augustus in Caesarea, griechisch Kaisáreia, umbenannt wurden. Ich erinnere nur an Kesárja in Israel, dessen Name auf das römische Caesarea Maritima zurückgeht, weiters an Kayseri in der Türkei, an Cherchell (Scherschell) in Algerien. Eine Neugründung in Hispanien zur Zeit von Caesar Augustus erhielt zu dessen Ehren den Namen Colonia Caesaraugusta. Die Mauren verkürzten ihn zu Sarakusta. Heute heißt die Stadt Saragossa, spanisch Zaragoza.

Während Cäsar in Alexandria bei Kleopatra weilte, besuchte er unter anderem das Grab Alexanders des Großen, den er überaus bewunderte. Mit ihm und auch mit Karl dem Großen hat er etwas gemeinsam: Ihre Namen lebten über die Jahrhunderte bis heute weiter als beliebte Personennamen. In Cäsars Fall gilt das sowohl für sein cognomen Caesar wie vor allem für sein nomen gentile Iulius.

Ob Sir Tony in 2000 Jahren auch noch so bekannt sein wird?

Siehe auch

 

 

 

 

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Impressum

Texte: Karl Plepelits
Cover: Cäsar, Portrait, entstanden bald nach seinem Tod. Von Autor unbekannt - Roma Musei Vaticani (Museo Pio Clementino), Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=48002060
Tag der Veröffentlichung: 15.01.2022

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