Eine einzige gemeinsame Nacht gewährte, wie allgemein bekannt, das Schicksal den Liebenden von Verona. Doch die eheliche Vereinigung verwehrte es ihnen. Und da trotzten sie ihm, dem erbarmungslosen Schicksal, um wenigstens im Tod vereint zu sein.
Unserem spanischen Liebespaar vergönnt es nicht einmal eine einzige gemeinsame Nacht. Trotzdem suchen sie nicht die Vereinigung im Tod, wohl wissend, dass das Weiterleben ohne den anderen in der Realität weit mehr Tragik in sich birgt als ein schneller Tod. (Aber es enthält zugleich ein Fünkchen Hoffnung, irgendwann in ferner Zukunft könnte das Schicksal doch Erbarmen zeigen.)
Juni 1960. Hurra, die Matura hatte ich bestanden, war somit für „reif“ erklärt worden und erhielt ein tolles Maturageschenk: ein wunderschönes Drei-Gang-Rad. Spontan beschloss ich, nach Spanien zu radeln und endlich meine liebe spanische Familie in Forcall zu besuchen, die mich zehn Jahre zuvor, als ich noch ein gefährlich unterernährtes „Butterkind“ war, aufgepäppelt hatte. Sie bestand aus Papá, Mamá und der süßen, kleinen Carmen. Und als ich fast ein Jahr später zu den eigenen Eltern nach Wien zurückkehren musste, da flossen die Tränen, vor allem bei bei Carmen und bei mir. Papás Kommentar dazu lautete: „He, ihr tut ja so, als wärt ihr Romeo und Julia.“
Hatte er die Gabe, in die Zukunft blicken zu können?
Nun, inzwischen waren wir keine kleinen Kinder mehr. Aber unsere kindliche Liebe war noch keineswegs erloschen. Nein, auch Carmens Liebe nicht. Überwältigend war unsere Wiedersehensfreude bei meiner Ankunft in Forcall, und überwältigend war meine Freude, waren meine Glücksgefühle beim ersten heimlichen Kuss am Abend nach meiner Ankunft. Ich lag bereits im Bett und war gerade dabei, ins Traumland zu übersiedeln. Da öffnete sich leise die Zimmertür. Herein huschte eine dunkle Gestalt, setzte sich schweigend auf die Bettkante, legte mir einen Finger auf die Lippen, küsste mich, flüsterte (mit Carmens Stimme) „Buenas noches, Georg“ und huschte wieder aus dem Zimmer, ehe ich mich noch von meiner glückseligen Überraschung erholt hatte.
Von da an wagte ich es, Carmens Vorbild nachzueifern und ihr meinerseits durch versteckte Zärtlichkeiten meine stetig wachsende Zuneigung zu bezeigen. Und anstatt sich dagegen zur Wehr zu setzen, wie es angeblich ihre Pflicht gewesen wäre, schien sie sich darüber zu freuen, erwiderte sie sogar.
„Wieso deine Pflicht?“, sagte ich und schüttelte verwundert den Kopf.
„Weil wir das in der Schule so gelernt haben. Bei den Nonnen. Angenommen, wir würden uns in der Öffentlichkeit umarmen, und dabei sieht uns ein Polizist. Der nimmt uns gleich wegen sittenwidrigen Verhaltens mit aufs Revier. Und dann ... Frage nicht. Du weißt nicht, wie brutal es da zugeht. Danach schmachten wir zwei oder drei Tage im Kittchen.“
„Jetzt hör auf. Und was lernen die Schülerinnen in einer staatlichen Schule?“
„Das ist es ja. Es gibt in Spanien ausschließlich kirchliche Schulen. Und da lernt man vor allem zweierlei: erstens die Liebe zu Gott, sprich, zur katholischen Kirche, und zweitens die Liebe zum Vaterland, sprich, zum Caudillo („Führer“), sprich, Franco. Leider denken meine Eltern genauso. Übrigens, für mich haben sie schon einen Ehekandidaten ausfindig gemacht. Und darum dürfen sie auf keinen Fall was merken, dass wir ... Du weißt schon.“
Erschrocken starrte ich sie an wie eine göttliche Erscheinung, die mir ewige Höllenqual androht. Oder die Qual, mein weiteres Leben fern von Carmen fristen zu müssen.
Sie lachte herzlich über mein entsetztes Gesicht. „Ja, ja, stell dir vor. Der Sohn eines Geschäftspartners in Valencia. Aber keine Angst. Den werde ich bestimmt nicht heiraten. Weißt du, so ein typisches Muttersöhnchen. Und ein Macho, wie‘s im Buche steht. Aber reich. Und schön.“
„Na, hoffentlich. Weil, ich bin ja so verliebt in dich. Ich bin ganz verrückt vor Liebe. Ich gesteh’s.“
Carmen schwieg, errötete und lächelte mich vielsagend an.
Ja, wir waren nicht bloß verliebt ineinander. Uns verband eine innige, eine starke, eine unvergängliche Liebe. Und für uns stand außer Frage, dass wir zu gegebener Zeit heiraten werden. Dass wir somit schon quasi verlobt sind. Nur, uns zu umarmen oder gar zu küssen, das trauten wir uns weiterhin, wenn überhaupt, nur heimlich. Unserem Glück tat das keinen Abbruch.
Doch kam der Tag – noch immer hatten wir es nicht gewagt, den Eltern unser Geheimnis zu verraten – der Tag, an dem die Katastrophe über uns hereinbrach. Anlass war eine Familienfiesta, übrigens ausgerechnet zu meinen Ehren. Eingeladen war die gesamte weitverstreute Verwandtschaft, zudem Francisco, der designierte Schwiegersohn, mit Eltern. Im Garten wurde ein langer Tisch aufgestellt, und um den herum versammelte sich die Gästeschar und ließ sich stundenlang mit allerlei Köstlichkeiten fester und flüssiger Natur verwöhnen. An diesem Tag blieb sicher niemand nüchtern. Ich auch nicht.
Auf die Ehre dieser Fiesta hätte ich liebend gern verzichtet. Es erwies sich als unmöglich, mit Carmen auch nur ein privates Wort zu wechseln, geschweige denn irgendwann „sittenwidriges Verhalten“ an den Tag zu legen. Mein einziger Trost war Carmens Anblick und waren die sehnsuchtsvollen Blicke, die sie mir zuwarf.
Aber dann, es war inzwischen finster geworden, und die ersten Gäste begannen sich zu verabschieden, da war Carmen plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Verblüfft und sogar ein wenig beunruhigt, gab ich vor, dorthin zu müssen, wo angeblich auch der Kaiser oder von mir aus der Caudillo zu Fuß hingeht, und machte mich unauffällig auf die Suche. Im Klo war sie nicht. Im Bad auch nicht. Auch nicht in der Küche. Dort traf ich nur Mamá, Inés, die Haushälterin, und mehrere Nachbarinnen bei emsiger Arbeit. Fündig wurde ich erst im oberen Stockwerk. Dort hörte ich zu meinem Entsetzen Carmen kreischen, wenn auch stark gedämpft. Es klang mehr wie ein Röcheln, ganz so, als läge sie in den letzten Zügen. Wo kam es her? Ha, aus ihrem Schlafzimmer.
Voll böser Vorahnungen stieß ich die Tür auf, und was bekam ich zu sehen? Francisco, das reiche und schöne Muttersöhnchen, kniete, zum Teil entkleidet, über der schon fast vollständig entkleideten Carmen auf ihrem Bett, hielt ihr mit der einen Hand den Mund zu, versuchte ihr mit der anderen die restlichen Kleidungsstücke vom Leib zu reißen und ließ sich durch mich nicht stören. Wahrscheinlich hatte er im Eifer des Gefechts mein Eindringen gar nicht wahrgenommen. „Eindringen“ wollte er ja anscheinend selbst. Ich wollte schon schreien: Hör sofort auf mit diesem Scheiß! Aber in meinem Schock hatte ich mein ganzes Spanisch vergessen.
Statt ihn anzuschreien, ließ ich meine Fäuste sprechen. Und die erwiesen sich als weitaus wirkungsvoller, als es Worte je gewesen wären. Er ließ von Carmen ab, wandte mir ein weinerliches Gesicht zu und starrte mich mit offenem Mund an. Ich riss ihn mit solcher Heftigkeit von Carmen und vom Bett herab, dass er auf dem Fußboden landete und einen Schmerzensschrei ausstieß. Ihn aus dem Zimmer zu befördern gelang mir freilich nicht mehr. Denn im nächsten Augenblick hing Carmen schluchzend an meinem Hals, und ich war so erschüttert, dass ich sie meinerseits umarmte und durch hilfloses Streicheln zu trösten suchte.
Wie lang wir so verharrten, könnte ich nicht sagen. Ich hatte jedes Zeitgefühl verloren, nicht nur durch meine unbeschreibliche Erschütterung, sondern vor allem durch die intensive Berührung ihrer nackten Haut, die in mir höchst verwirrende Gefühle hervorrief. Aus diesem Zustand der Verwirrung und Verzauberung erwachte ich erst, als plötzlich hinter uns Mamás Stimme zu hören war. Und die klang alles andere als freudig.
Erschrocken fuhren wir auseinander, ich sprang auf, als hätte mich ein Skorpion gestochen – aber: zu spät. Mamá war zwar schon wieder verstummt, starrte uns aber an wie zwei Gespenster und schien nicht weniger erschrocken zu sein. Dann machte sie wortlos kehrt und war im nächsten Augenblick verschwunden.
Betroffen blickte ich Carmen an. „Glaubst du, ist das schlimm?“
Sie zog ein schmerzliches Gesicht, nickte, zuckte mit der Schulter und begann sich anzukleiden, blieb dann aber schweigend sitzen und starrte mit trübsinniger Miene ins Narrenkastl (wie meine Mutter zu sagen pflegte). Schließlich raffte sie sich seufzend auf, nahm mich bei der Hand und marschierte mit mir in den Garten zurück. Unsere Verstellung war ja mittlerweile sinnlos geworden. Und wie empfingen uns die Feiernden? Ich staunte: mit donnerndem Applaus. Trotzdem trennte ich mich zur Sicherheit sofort von Carmen und begab mich an meinen Platz, gespannt, was als Nächstes passieren wird. Ob der Applaus auch mir galt? Ich bezweifelte es – zu Recht, wie sich rasch herausstellen sollte.
Papá erhob sich, winkte Carmen zu sich. Und nun erst fiel mir auf, dass neben ihm jetzt auf einmal Francisco saß. Der erhob sich nämlich ebenfalls und blickte Carmen, dümmlich grinsend, entgegen, als wäre sie Fortuna und hätte vor, ihr Füllhorn über ihn auszugießen. Papá gebot Schweigen und verkündete mit feierlichen Worten Schauerliches, Grauenhaftes, Entsetzliches: Carmens und Franciscos baldige Verlobung. Ich aber erlitt einen schweren Schock und glaubte mich in einem Alptraum zu befinden. Wieder brandete Applaus auf. Papá legte einen Arm um Carmens Schulter, einen um Franciscos Schulter, veranlasste beide, sich einander zuzuwenden, und forderte sie auf, sich zu küssen. Francisco ließ sich das nicht zweimal sagen. In Carmens Miene las ich blanke Verzweiflung.
Hierauf verkündete Papá das Ende der Fiesta, und Mamá nahm Carmen bei der Hand und führte sie ins Haus zurück. Während ich voller Verzweiflung noch krampfhaft überlegte, was ich tun sollte, kam Papá mit steinerner Miene auf mich zu, sprach mich mit tonloser Stimme an und versetzte mir einen zweiten, noch schlimmeren Schock: Ich sei ab sofort Persona non grata. Ich möge morgen früh abzischen und mich nie wieder blicken lassen, auch nicht wieder schreiben. Und ehe ich mich noch von meiner Bestürzung erholt hatte und sagen konnte, was zu sagen war, nämlich dass Carmen schon längst mit mir verlobt sei, hatte er sich auch schon abgewandt und rauschte hoch erhobenen Hauptes ab – ohne ein Wort des Grußes oder auch nur des Bedauerns.
An jene Nacht erinnere ich mich nur mit Schaudern. Vor Schmerz glaubte ich zu vergehen. Vor Sehnsucht fand ich keinen Schlaf und wurde ständig von der Versuchung gequält, mich in Carmens Zimmer zu schleichen und sie zu entführen, wohl wissend, dass diese Gedanken völlig unsinnig waren. Aber ich nahm mir vor, am Morgen gemeinsam mit ihr vor Papá und Mamá hinzutreten und ihnen ohne Umschweife unsere Verlobung mitzuteilen.
Nur, der Morgen kam, und ich hatte keine Chance, mit Papá und Mamá zu sprechen, geschweige denn Carmen zu sehen. Inés überreichte mir ein Fresspaket und sagte mit bedauernder Miene, ich müsse mein Rad besteigen und Forcall unverzüglich verlassen. Für Papá sei ich gestorben, Mamá wolle mit mir nicht sprechen, und Carmen dürfe ich nicht sehen. In dieser Nacht schlafe Mamá bei ihr und wache über ihre „Unschuld“.
Als ob die ausgerechnet durch mich gefährdet wäre, dachte ich erbittert und wollte schon damit beginnen, wer in Wirklichkeit über Carmens Unschuld gewacht habe, und dass eben dies der Grund sei, warum ich jetzt in Ungnade gefallen sei, ließ es aber dann sein. Am Ende würde ich Carmen damit nur schaden.
Nun endlich kamen mir die Tränen, die ich so lang zurückgedrängt hatte, und ich erzählte Inés all das, was ich eigentlich Papá und Mamá erzählen wollte. Und sie hörte zwar geduldig zu und zeigte sich mitfühlend und verständnisvoll, versicherte mir aber, mein Vorhaben sei aussichtslos; Carmens Vermählung mit Francisco sei beschlossene Sache. Und sie redete mir so lange zu, bis ich die Flinte ins Korn warf. Ich schluckte meine Empörung hinunter, stopfte mit Todesverachtung das von Inés für mich bereitete Frühstück in mich hinein, bat sie, Carmen meine Grüße auszurichten, packte meine Sachen, bestieg mein Fahrrad und verließ, hemmungslos heulend und von unbeschreiblichen Gefühlen aufgewühlt, diese ungastliche Stätte.
Viele Jahre ist das jetzt her. Spanien ist längst keine faschistische, konservativ-katholische Diktatur mehr. Aber Carmen habe ich nie wiedergesehen, nie wieder von ihr gehört, nur geträumt von ihr, dies dafür ständig. Geschrieben habe ich ihr ungeachtet des Verbotes immer wieder, aber niemals eine Antwort erhalten. Wahrscheinlich hat man ihr meine Briefe vorenthalten, sie ihr nicht nachgesandt, nachdem das reiche und schöne Muttersöhnchen sie nach Valencia verschleppt hatte. Und sicher stand sie von Stund an unter strenger Bewachung, zuerst vonseiten ihrer Eltern, dann vonseiten ihres Herrn und Gebieters. Wie hatte sie ihn genannt? Einen Macho. Und Machos sind bekanntlich krankhaft eifersüchtig. Angeblich ist Eifersucht eine Nationaleigenschaft der Spanier. Eine französische Redewendung lautet: Eifersüchtig wie ein Spanier. Aber das ist natürlich ein Klischee, eine böse Verallgemeinerung.
Und immer hoffte ich auf ein Wort der Versöhnung aus Forcall.
Meine Hoffnung war vergeblich.
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"Humorvoll und Informativ. Mir gefällt dein Stil, auch bei den anderen 'Geschichtsbüchern' wirklich gut." (Niklas)
Als Butterkind in Spanien
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Wiedersehen mit Carmen
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Wiederbegegnung in Madrid
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Texte: Karl Plepelits
Cover: Frank Bernard Dicksee (1853-1928) – http://www.alchimea.it/images/dicksee-romeo_and_juliet.jpg, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=6649000
Tag der Veröffentlichung: 31.07.2021
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