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Titelbild

 

Karlskirche, Wien. Kuppelfresco von Johann Michael Rottmayr (1714) : Allegorie des Glaubens - Ein Engel verbrennt die häretischen Schriften Martin Luthers.

Bücherverbrennung auf Ägyptisch

 

Lord Iain Wishart

25. Januar 1819

 

Im Schweiße deines Angesichtes sollst du dein Brot essen, bis du zurückkehrest zum Ackerboden; denn von ihm wurdest du genommen. Denn Staub bist du, und zu Staub sollst du wieder werden.

Also sprach Gott zu Adam, als er ihn und Eva aus dem Paradies verbannte.

An dieses Wort musste ich in den vergangenen sieben Tagen ständig denken, während ich in rastloser Arbeit, Wort für Wort, die vorangehenden Blätter vollgeschrieben habe. Und so kann ich mich nun rühmen, ein feindliches Schicksal besiegt zu haben, ehe ein unschätzbares Denkmal zu Staub oder vielmehr zu Asche wird – und ehe ich selbst zu Staub werde. Denn ich fühle von Tag zu Tag stärker, dass mein schwacher Körper bereits jetzt, lange vor der Zeit, im Begriffe ist, wieder zu Staub zu werden.

Auf der Suche nach Genesung verließ ich meine unwirtliche schottische Heimat, kam nach Ägypten und verfiel hier vollkommen dem Zauber des Landes und seiner gewaltigen Zeugen einer großen Vergangenheit, nicht ahnend, dass es mir ausgerechnet hier, in Ägypten, bestimmt sein sollte, ein Literaturdenkmal in griechischer Sprache vor dem drohenden Untergang zu retten.

Ich durchstreifte den zweifellos herrlichsten Teil dieses so herrlichen Landes, eine ausgedehnte Oase, einen wahren Garten Eden von unsagbarer Anmut und Fruchtbarkeit und überdies, wie man mir versichert, besonders mildem, heilkräftigem Klima, und durchforschte es nach dem einst weltberühmten Labyrinth, von dem Herodot und zahlreiche andere antike Autoren so enthusiastisch berichten und welches damals kein Reisender zu besuchen versäumte, während es heute niemand zu kennen scheint. Aber es kann doch nicht einfach spurlos verschwunden sein! „Über alle Beschreibung groß“ nennt es Herodot und fährt fort: „Würde man nämlich die von den Griechen errichteten Mauern und ihre Gesamtleistung an Bauwerken zusammenrechnen, so würde es sich herausstellen, dass geringere Arbeit und geringere Kosten dahinterstecken als bei diesem Labyrinth. Und doch ist der Tempel in Ephesos absolut erwähnenswert und ebenso der in Samos. Es waren ja schon die Pyramiden über alle Beschreibung groß, und jede einzelne von ihnen wiegt viele und große Bauwerke der Griechen auf. Doch das Labyrinth übertrifft sogar noch die Pyramiden.“

Während ich jedoch von diesem über die Maßen großen Baudenkmal bis jetzt noch keine Spur gefunden habe, entdeckte ich vor einer Woche ein noch völlig unbekanntes Literaturdenkmal. Und das kam so. Mein Standquartier ist zur Zeit eine Karawanserei in der sogenannten Stadt der Krokodile, in deren Umgebung laut Herodot besagtes Labyrinth liegt; heute nennt man sie in arabischer Sprache Medinet el-Fayum. Da die Abende und Nächte jetzt, im Winter, auch hier in Ägypten zumeist empfindlich kalt sind, entzünden die Händler, die in der Karawanserei abgestiegen sind, in ihrem Innenhof des Abends regelmäßig ein großes Feuer. Um dieses herumhockend und sich an ihm wärmend, palavern sie dann stundenlang, ehe sie sich zur Nachtruhe zurückziehen. Und dabei wurde ich auf eine sonderbare Zeremonie aufmerksam: In mehr oder weniger regelmäßigen Abständen erhob sich einer aus ihrem Kreis, schritt in eine dunkle Ecke des Hofes, entnahm einem großen Behälter etwas, was in dem spärlichen Licht wie ein rundes Holzscheit aussah, und warf es mit feierlicher Geste ins Feuer, das daraufhin unter lustigem Prasseln aufflackerte. Zugleich war es richtig erheiternd zu beobachten, wie alle begierig den Rauch einsogen und sich an seinem aromatischen Duft ergötzten.

Da begann ich mich zu fragen, welche Bewandtnis es wohl mit diesem Holz hatte. War es überhaupt Holz? Ich erhob mich meinerseits und schlich mich in jene dunkle Ecke, um dem Geheimnis des Duftes auf die Spur zu kommen. Im nächsten Moment erlebte ich den vielleicht größten Schock meines Lebens. Was ich nämlich, wenn auch zweifelnd, für Holzscheiter gehalten hatte, das waren in Wirklichkeit Papyrusrollen! Zwar dachte ich im ersten Moment, es handle sich um irgendwelche Stoffrollen, besah mir dann aber eine von ihnen im Licht des Feuers und erkannte zu meinem maßlosen Entsetzen, dass ich eine unzweifelhaft echte antike Papyrusrolle in meinen Händen hielt. Und sie war über und über mit griechischer Schrift beschrieben, so wie sie im klassischen Altertum gebräuchlich war.

Ich stieß einen lauten Schrei aus, einen Schrei des Entsetzens und zugleich der Empörung über diese ruchlose Vernichtung kostbarster, unersetzlicher Kulturgüter. Ich rief meinem Dolmetscher zu, er möge den Männern das Verbrennen dieser Papyrusrollen auf der Stelle verbieten. Das tat er auch, worauf sich unter ihnen ein ungeheurer Tumult erhob. Seltsamerweise richtete sich dieser gegen ihn, nicht gegen mich. Währenddessen schleppte ich den großen Korb mit den Papyrusrollen heran und nahm mit zitternden Fingern und klopfendem Herzen eine nach der anderen heraus, warf im flackernden Licht des Feuers einen raschen, prüfenden Blick auf sie – sie enthielten alle ohne Ausnahme einen griechischen Text – und legte sie in Reih und Glied auf den Boden, fest entschlossen, sie alle vor dem Feuer zu retten, und zugleich in der verzweifelten Hoffnung, eine unbeschriebene Rolle zu finden, die ich ihnen gewissermaßen als Sündenbock in den Rachen werfen könnte.

Plötzlich wurde es mit einem Schlag ruhig. Verwundert blickte ich auf und erkannte vor mir die ehrfurchtgebietende Gestalt des Ukeel, des Direktors der Karawanserei. Und nun hielt er mir einen Vortrag – auf Arabisch, versteht sich. Danach bückte er sich, ergriff den Korb und leerte seinen gesamten restlichen Inhalt auf den Boden. Und dabei funkelten mich seine Augen an, dass ich es beinahe mit der Angst zu tun bekam.

Aber nur beinahe. Es entging mir nicht, dass sich unter den Papyrusrollen, die aus dem Korb purzelten, ein Codex befand, ein gebundenes Buch mit Ledereinband. Da vergaß ich all meine Angst und Ehrfurcht vor dem Ukeel, ich vergaß überhaupt meine ganze Umgebung und die Situation, in der ich mich befand, und stürzte mich auf den Codex. Ich riss ihn an mich, schlug ihn im Schein der Flammen auf und entdeckte, dass ich auf einen noch vollkommen unbekannten Text gestoßen war.

Erst jetzt begann ich wieder meine Umgebung wahrzunehmen und hörte meinen Dolmetscher schreien. Er schrie auf Englisch und bemühte sich anscheinend verzweifelt, mir irgendetwas mitzuteilen. Und so war es auch: Ich solle keinen Aufruhr verursachen. Ich solle mich benehmen und Ruhe geben. Ich dürfe den anderen Gästen nicht die Freude verderben. Da legte ich los und versuchte ihm und über ihn den anderen zu erklären, wie verwerflich ihre Handlungsweise sei und welchen unerhörten Wert diese Schriftrollen für die Wissenschaft und für die ganze Menschheit hätten und dass sie sofort aufhören müssten, sie in Flammen aufgehen zu lassen.

Mein Dolmetscher übersetzte das den anderen. Daraufhin brach ein erneuter Tumult los. Wieder gelang es dem Ukeel, Ruhe zu gebieten. Und nun folgte ein erregter Dialog zwischen ihm und mir. Und was war der Erfolg? Er erklärte klipp und klar, ich möge mitsamt dem Buch, das ich in meinen Händen halte, schleunigst in mein Zimmer verschwinden und es durchlesen, falls ich danach ein derart dringendes Bedürfnis habe. Aber spätestens morgen Abend müsse ich es ihm zurückgeben. Das sei er seinen Gästen schuldig.

Während ich ihn noch verblüfft und verwirrt anstarrte und nicht wusste, was ich darauf sagen sollte, wandte er mir den Rücken zu, bückte sich und begann die auf dem Boden liegenden Papyrusrollen, eine nach der anderen, ungerührt in die Flammen zu werfen. Gleichzeitig brummte er irgendetwas in seinen Bart, und das klang reichlich unfreundlich, um nicht zu sagen, feindselig. Aber mein Dolmetscher weigerte sich mit einem Mal zu dolmetschen.

Ehe ich noch dazu kam, ihn deshalb zu rügen oder, was vielleicht noch sinnvoller gewesen wäre, mich auf den Barbaren zu stürzen und ihn mit Brachialgewalt zu hindern, sein Vernichtungswerk fortzusetzen, geschah etwas noch Bestürzenderes. Wie auf Kommando sprangen die anderen auf und unterstützten ihn darin. Wie Wahnsinnige hoben sie eine Papyrusrolle nach der anderen auf und schleuderten sie unter Triumphgeheul ins Feuer. Und innerhalb kürzester Zeit waren auf diese Weise sämtliche Rollen von den Flammen verzehrt. Und das waren sicherlich nicht weniger als vierzig, eher noch mehr.

Fassungslos und wie gelähmt hatte ich diesem dämonischen Treiben zugesehen. Als sie sich dann an dem nun besonders intensiven Duft des Rauches berauschten, nicht, ohne mir triumphierende Blicke zuzuwerfen, hielt ich es nicht mehr aus. Ich stürzte davon und eilte in mein Zimmer und gab mich dort als Erstes den allerbittersten Tränen hin. Dann erinnerte ich mich an den Codex, den ich immer noch in meinen Händen hielt und für den mir gnädigerweise 24 Stunden Aufschub gewährt worden war. Ich trocknete meine Tränen und untersuchte ihn genauer. Seine Blätter bestanden ebenfalls aus Papyrus. Er konnte also nicht oder nicht wesentlich jünger sein als die inzwischen barbarisch vernichteten Papyrusrollen. Und ihm drohte also dasselbe Schicksal. Schon morgen Abend sollte er genauso dem Feuer überantwortet werden. Und ich konnte es nicht verhindern. Ich konnte überhaupt nichts dagegen tun.

Konnte ich wirklich nichts dagegen tun? Konnte ich ihn nicht auf irgendeine Weise retten? Konnte ich ihn nicht zum Beispiel heimlich hinausschmuggeln? Konnte ich nicht mit ihm fliehen?

Nein. Wie ich es auch drehte und wendete, in meinem Innersten wusste ich genau, dass dies ausgeschlossen war, nicht zuletzt wegen meiner schwachen Gesundheit. Da fiel mein Blick durch Zufall auf meine Sammlung ägyptischer Antiquitäten, und ich begann im Geist mit ihnen zu sprechen: Würde man euch ins Feuer werfen oder sonst wie vernichten, von euch würde nichts, absolut nichts übrigbleiben. Dieses Buch hingegen ... Hat ein Buch nicht eine gewissermaßen doppelte Existenz? Eine stoffliche und eine geistige? Darum ist es ja möglich, ein Buch zu verschlingen, ohne dass ihm ein Leid geschieht. Ich brauche also nur den Inhalt des Buches auf einen anderen Stoff, einen anderen Schreibstoff zu übertragen ...

Und ohne meine Gedanken zu Ende zu denken, nahm ich mein Zeichenpapier, Feder und Tinte und begann, ohne eine Sekunde zu verlieren, den Text des antiken Buches abzuschreiben. Ich erkannte sehr bald, dass ich es in einem Tag unmöglich schaffen würde. Mit vieler Mühe gelang es mir, oder vielmehr, meinem Dolmetscher gelang es mit vieler Mühe, immer wieder Aufschub gewährt zu bekommen, bis ich den gesamten Text abgeschrieben hätte.

Nun ist das große Werk vollbracht. Und obwohl mir das Buch in diesen sieben langen Tagen und Nächten zu einem wahren Freund geworden ist und ich genau weiß, dass heute sein letztes Stündlein geschlagen hat, erfüllt mich ungeheure Befriedigung. Denn zugleich weiß ich, dass es mir gelungen ist, seinen Geist, seinen Inhalt, seinen Text vor dem drohenden Untergang zu retten. Eine große Aufgabe bleibt mir jetzt noch: auf schnellstem Wege in meine Heimat zurückzukehren, solange ich dazu noch in der Lage bin, und den von mir zuerst entdeckten und dann geretteten Text zu publizieren. Dann erst werde ich bereit sein, wenn es schon sein muss, auf die Insel der Seligen zu reisen, in jenes unentdeckte Land, von dessen Grenze, wie unser englische Homer sagt, kein Reisender zurückkehrt.

 

Lord Iain Wishart

Medinet-el-Fayum

25. Januar 1819

 

 

Nachwort

 

Im Jahre 1778 entdeckten einige Einheimische nahe Gizeh ungefähr 50 antike Papyrusrollen und boten sie einem europäischen Kaufmann an. Dieser kaufte ihnen aber nur eine einzige Rolle ab. Alle anderen verbrannten die Finder und ergötzten sich, wie es heißt, an dem dabei entstehenden aromatischen Rauch. Der gerettete Papyrus kam in den Besitz des gelehrten Kardinals Borgia. Dieser übergab sie dem dänischen Gelehrten Nikolaus Schow zur Entzifferung, der sie im Jahr darauf als die erste kursiv geschriebene Papyrusurkunde edierte. Sie stammt aus der mittelägyptischen Provinz el-Fayum und enthält keinen literarischen Text, sondern ein Verzeichnis von Personen, die für Kanal- und Dammarbeiten eingeteilt worden waren, aus dem Jahre 191 n. Chr. Erst als ab 1815 immer mehr Reisende Ägypten aufsuchten, gelangten mit der Zeit Papyri sonder Zahl nach Europa. Dies war die Geburtsstunde der Papyrologie.

Siehe auch

 

 

 

 

https://www.bookrix.de/_ebook-karl-plepelits-was-sie-schon-immer-ueber-aegypten-wissen-wollten/ 

 

"Dieses Buch ist eine außerordentlich interessante Lektüre ... sehr spannend ... wirklich gut zu lesen und eine absolute Empfehlung ,,," (garlin)

 

 

 

 

https://www.bookrix.de/_ebook-karl-plepelits-was-sie-schon-immer-ueber-griechenland-wissen-wollten/

 

"Sehr spannend und informativ, gefällt mir als Griechenlandfan sehr gut" (Tina)

Impressum

Texte: Karl Plepelits
Cover: Von Wolfgang Sauber - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=10492089
Tag der Veröffentlichung: 08.06.2021

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