Er erwachte aus tiefer Ohnmacht, riss erschrocken die Augen auf, wusste nicht, wo er sich befindet, wusste nicht, warum er nicht mehr vergnüglich auf der Küstenstraße dahinradelt, sondern, von Schmerzen geplagt, auf einem Bett liegt, wusste nicht, warum drei Leute mit besorgter Miene auf ihn herabglotzen und, natürlich auf Französisch, miteinander palavern: eine ältere Dame, eine außergewöhnlich hübsche junge Frau und ein alter Dickwanst. Und dann kam eine weitere junge Dame in heller Aufregung ins Zimmer hereingestürzt und starrte den Fremden auf dem Bett mit großen Augen an wie einen Besucher aus fernen Galaxien.
Nach mehreren vergeblichen Versuchen des Dickwanstes, mit ihm Kontakt aufzunehmen, verzog er sich, gefolgt von der älteren Dame, aus dem Zimmer. Die zuletzt Angekomme beugte sich über den Patienten und sprach die geflügelten Worte: „Do you speak English?“
Das funktionierte. „Mhm.“
„Sind Sie Engländer?“
„M-m. Österreicher.“
„Aha. Und wo wohnen Sie?“
„In Cagnes-sur-Mer“ (einer nahegelegenen Stadt). „Bei Verwandten.“
„Aha. Die müssen wir sofort verständigen. Wissen Sie zufällig ihre Telefonnummer?“
„Sie haben kein Telefon.“
(Wir befinden uns im Jahre 1958.)
„Ach so. Da muss jemand hinfahren. Wissen Sie die Adresse auswendig? Und wie lautet ihr Name?“
Beides teilte er der Dame mit, worauf sie sich nach der anderen Dame – sie nannte sie Mireille – umwandte und diese fortschickte. Während sie die Blessuren des Fremden fachmännisch versorgte (und ihm dabei zusätzliche Schmerzen zufügte), erklärte sie ihm, dass man ihm einen Krankenhausaufenthalt ersparen wolle.
„Sie werden bald geheilt sein. Geheilt und wieder so schön wie zuvor.“
So schön wie zuvor?, dachte er verblüfft. Das ist doch ein Witz.
„Darf ich Sie nach ihrem Namen fragen?“, fuhr sie fort.
„Ach so, ja, klar. Ich heiße Johann Pischinger. Als Belohnung für die bestandene Matura haben mich meine französischen Verwandten eingeladen, die Sommerferien bei ihnen an der Côte d’Azur zu verbringen. Und auf einer Radtour rund um das Cap d‘Antibes – ja, da hat mich ein Auto umgestoßen. Und statt in den Himmel oder ins Paradies bin ich jetzt in dieses Haus gekommen.“
Die Dame lachte leise. „Und das wird Ihnen Glück bringen. Hier sind Sie im Paradies. Übrigens, ich heiße Colette wie die berühmte Schriftstellerin, die erst vor wenigen Jahren gestorben ist und als erste Frau in Frankreich ein Staatsbegräbnis erhalten hat. Nur, bei ihr ist das der Familienname, nicht der Vorname wie sonst meistens, so auch bei mir. Mein voller Name lautet Madame Colette Quintana i Rei.“
Am nächsten Morgen hatten Johanns Schmerzen spürbar nachgelassen. Und da fragte er Madame kurzerhand nach ihrem Verhältnis zum alten Dickwanst. (Natürlich sagte er nicht „alter Dickwanst“, sondern „alter Herr“.) Sie zögerte mit der Antwort, lächelte ihn süß an, um ihn dann mit ihrer Antwort zu überraschen. Denn siehe da, der alte Herr war ihr Ehemann. Monsieur Carles Quintana i Rei.
„Wissen Sie, er ist Spanier. Er war ein hohes Tier in der Politik, machte sich aber unbeliebt und musste aus Spanien fliehen, um dem Gefängnis, der Folter und der Hinrichtung zu entgehen. Er hatte sich nämlich erlaubt, Francos Politik zu kritisieren. Und das hat kein Gewaltherrscher gern. Außerdem ist er, wie man an seinem Namen Carles leicht erkennen kann, gar kein richtiger Spanier, sondern Katalane. Deshalb ist er immer für die Rechte der Katalanen eingetreten. Die dürfen nämlich seit Franco nicht einmal mehr ihre eigene katalanische Sprache sprechen, stellen Sie sich vor.“
Nun verriet sie ihm auch, warum ihr Ehemann Wert darauf legt, dass Johann nicht in ein Krankenhaus eingeliefert wird. Carles habe nämlich den Unfall verursacht, noch dazu in alles andere als nüchternem Zustand. Obendrein befinde er sich als politischer Flüchtling in einer besonders heiklen Situation.
Mit der Zeit fiel Johann auf, dass die diversen Behandlungen, die Colette an seinem lädierten Körper vornahm, sich stets äußerst liebevoll, um nicht zu sagen, zärtlich anfühlten, auch wenn sie mit zusätzlichen Schmerzen verbunden waren. Dabei überraschte sie ihn mehr als einmal mit der gemurmelten Bemerkung, er habe einen so schönen, oder: einen so wohlgeformten Körper, oder: den Körper einer griechischen Jünglingsstatue, und es mache Freude, seine Gliedmaßen anzuschauen und zu berühren.
Bei den ersten derartigen Komplimenten wurde Johann einfach nur rot. Aber dann, es war am sechsten Tag seines unfreiwilligen Aufenthalts in diesem angeblichen Paradies, ermannte er sich und begann auch Colette Komplimente zu ihrem Aussehen, ihrer Schönheit, ihrer Figur zu machen, und zwar mit dem Zusatz, das sei bei weitem berechtigter, als wenn sie seinen Körper lobe.
Und was geschah? Johann glaubte zu träumen: Schelmisch lächelnd, legte sie ihre Hand auf Johanns Nachthemd, mit dem sie ihn bekleidet hatte, und strich sanft über seine Brust, über seinen Bauch und über seine Körpermitte, die augenblicklich auf bestürzende Weise reagierte. Danach küsste sie ihn überraschend intim. Gleichzeitig schob sie das Nachthemd weit genug hinauf und begann seinen rapid erigierten Schwanz auf unnachahmliche Weise zu liebkosen, während sie diesen mit begehrlichen Augen betrachtete, und schließlich sogar zu küssen. Als Johann vor Wollust leise zu stöhnen begann, hob sie ihr eigenes Kleid in die Höhe (und bot ihm damit einen atemberaubenden Anblick), stieg aufs Bett, schwang sich (behutsam, um ihm keine unnötigen Schmerzen zuzufügen) über seine Beine, griff nach seinem Schwanz und verbarg diesen in ihrer heißen, überraschend feuchten Möse. Und hatte zuletzt sichtlich zu tun, um ihre Lustschreie zu unterdrücken. Danach küsste sie ihn mit hemmungsloser Leidenschaft (aber noch immer behutsam) und flüsterte ihm ins Ohr: „Johann, o Johann, ich liebe dich.“ Und dann noch einmal: „Ich liebe dich so. Ich habe mich auf den ersten Blick unsterblich in dich verliebt.“
„Und dein Mann?“, flüsterte Johann zurück, sobald er sich von seiner Verzückung und seiner Verwirrung erholt hatte.
Als Antwort winkte sie ab und sagte nur: „Ach was.“
Einige Tage später war Johann, abgesehen von diversen Narben, mehr oder weniger genesen, nur eben noch rekonvaleszent. Aber ans Bett war er nicht mehr gefesselt, außer wenn ihn Colette mit ihren weichen Armen und Schenkeln „fesselte“. Und nun erkannte er, dass Colette nicht zu viel versprochen hatte. Die Villa – sie schmückte sich, wie es sich für feudale Villen offenbar geziemt, mit einem schönen Namen. Am Eingang prangte ein großes Messingschild mit der Inschrift „Villa Bini Pau“. Das ist laut Colette katalanisch und bedeutet, wie sie von ihrem Mann wusste, „Haus Frieden“.
Also, die Villa Bini Pau mitsamt dem sie umgebenden Garten entpuppte sich als wahres Paradies und besaß natürlich einen großen Swimmingpool. Aber diesem zog Johann und zog übrigens auch Colette das Meer und den so nahen kleinen, einsamen, von schroffen Felswänden begrenzten Sandstrand bei weitem vor. Und „ihr alter Carles“ begleitete sie, erstens, weil er es liebte, weit hinaus zu schwimmen, und zweitens, weil er Wert darauf legte, dass Johann mit ihm schwamm. Ihm war nämlich nicht entgangen, dass Johann Stielaugen bekam, wenn er seine Eheliebste mit ihrer atemberaubenden Figur im Bikini sehen konnte. Colette besaß nämlich bereits diese revolutionäre Badebekleidung. „Was Brigitte Bardot kann, kann ich auch.“ Und ihr alter Carles war sichtlich stolz auf seine junge, schöne Frau. Stolz und eifersüchtig. Eine französische Redensart lautet: Eifersüchtig wie ein Spanier. Jedenfalls wollte Carles die beiden nicht allein am Strand zurücklassen. Er konnte ja nicht ahnen, dass Johann Colettes Körper mittlerweile besser kannte als seinen eigenen. Sogar ohne Bikini.
Ja, aber allmählich wurde es für Johann definitiv Zeit, Colette und ihr Paradies zu verlassen und zu Onkel und Tante zurückzukehren.
„Ich will dich aber nicht so schnell hergeben, mein geliebter Johann. Was soll ich nur ... Ach, ich weiß nicht ...“
Also sprach Colette im stillen Kämmerlein mit allen Anzeichen der Verzweiflung, brach in Tränen aus und drückte ihn so fest an sich, als wolle sie ihn nie wieder loslassen. Und er konnte ihr nur hilflos die Tränen von Augen und Wangen küssen.
Plötzlich richtete sie sich auf und sagte mit wild entschlossener Stimme: „Weißt du was? Bleib einfach bei mir. Jetzt ist mir alles egal. Ich will dich heiraten.“
„Heiraten? Aber du bist doch schon verheiratet.“
„Verdammt, ja. Was machen wir denn da?“
Auf diese Frage wusste Johann auch keine Antwort. Er wusste nur: Wenn sie sich von ihrem Carles scheiden lässt, müsste sie all diesem Luxus hier adieu sagen.
Aber in der Nacht bestürmten Gedankenblitze aus allen Richtungen seinen Kopf, Inspirationen aus himmlischen Sphären, Inspirationen aus unterirdischen Regionen. Und da wusste Johann plötzlich die richtige Antwort.
Der nächste Tag brachte herrliches Badewetter. Nur der Wind war stärker als sonst, und die Wellen waren entsprechend hoch. Und wieder forderte Carles Johann auf, mit ihm so weit hinaus zu schwimmen, wie sie Lust hätten. Colette blieb zurück. Selbst so weit hinaus zu schwimmen traute sie sich nicht zu.
Also sprangen Carles und hinter ihm Johann ins Wasser und begannen hinauszuschwimmen. Johann aber wusste: Jetzt ist’s so weit. Jetzt heißt es handeln, will ich meine Geliebte und mich selber glücklich machen.
Er zögerte lange. So lange zögerte er, bis Carles Anstalten machte, umzukehren, und ihm im Zuge seiner Kehrtwendung zufällig ganz nahe kam. Da handelte Johann entschlossen und schnell. Er streckte eine Hand nach Carles’ Hinterkopf aus und drückte diesen erbarmungslos unter Wasser. Natürlich versuchte Carles krampfhaft, die feindliche Hand abzuschütteln und den Feind selbst mit Händen und Füßen abzuwehren – aber vergeblich. Die Abwehrversuche erlahmten, und langsam, aber unwiderruflich versank er in der Tiefe.
Während Johann diese Aktion durchführte, blieb er innerlich vollkommen ruhig. Aber danach, als er sich ihrer Folgen so richtig bewusst wurde, begann sein Herz vor Aufregung derart heftig zu rasen, dass es aus dem Rhythmus zu kommen drohte. Und beim Zurückschwimmen schluckte er ungewöhnlich viel von dem salzigen Wasser, zumal als ihn die Frage zu quälen begann, was er Colette erzählen sollte. Sollte er die Wahrheit sagen? Oder sollte er sagen, ihr Carles sei von selber untergegangen?
„Na, Gott sei Dank“, rief Colette aus, als er zu ihr zurückkehrte. „Ich habe mir schon richtige Sorgen gemacht. Wo warst du denn so lange? Und du bist ja ganz bleich im Gesicht. Und der Carles ist noch immer nicht zu sehen.“
„Ja, eben“, murmelte Johann. „Darum bin ich ja so lange ausgeblieben. Er ist mir davongeschwommen, und ich bin ihm nicht nachgekommen.“
„Ja, er ist ein ausgezeichneter Schwimmer. Na, er wird sicher bald wieder auftauchen.“
Colette ahnte nicht, wie zweideutig ihre letzte Bemerkung war. Denn ihr Carles tauchte nicht wieder auf, schon gar nicht aus der Meerestiefe, und sie konnte warten, bis sie schwarz wurde. Doch ehe sie schwarz werden konnte, eilte man zurück ins Haus und alarmierte Gendarmerie und Wasserrettung. Es wurde eine große Suchaktion gestartet, soweit man den Meeresboden mit langen Stangen sondieren konnte. Zuletzt wurden Froschmänner ins tiefe Wasser ausgesandt. Doch auch diese kehrten unverrichteter Dinge zurück.
Etwa eine Woche später wurde bekannt, in einer Entfernung von etlichen Kilometern sei eine männliche Wasserleiche, entsetzlich verstümmelt, an die Klippen der Steilküste gespült worden. Und es waren nur einige Fragmente der Badehose, an denen Colette ihren Ehemann identifizieren konnte. Bei dieser Prozedur wurde sie fast ohnmächtig. So grauenhaft war der Anblick, so grauenhaft der Verwesungsgeruch. Nicht viel besser erging es Johann. Ihm hatte die Gendarmerie diese schwere Prüfung auferlegt, nachdem er zu Protokoll gegeben hatte, er sei an jenem Tag, an dem Monsieur Quintana i Rei verschwand, mit ihm gemeinsam hinausgeschwommen, ihm aber nicht nachgekommen und habe ihn bei dem hohen Wellengang bald aus den Augen verloren.
Die Trauer im Hause Quintana i Rei war groß, auch unter dem Personal. Auffallend heftig trauerte Mireille, Colettes Hausdame. Colettes und Johanns Trauer war keineswegs nur vorgetäuscht, wie man vielleicht glauben könnte. Aber zugleich waren sie, es muss gesagt werden, glücklich und erleichtert. Denn nun hinderte sie nichts und niemand mehr, den heiligen Bund der Ehe einzugehen. Und besonders glücklich waren sie über den Umstand, dass Colette jetzt Bini Pau und überhaupt Carles‘ riesiges Vermögen erbte.
„Und sobald wir Mann und Frau sind“, so orakelte Colette, „wirst du glücklicher Teilhaber meines Vermögens sein. Und du wirst nie wieder einen Finger krumm machen müssen, um einen Hungerlohn zu verdienen. Geld wirst du immer genug haben. Mehr als genug.“
„Das ist sehr schön zu hören“, erwiderte Johann. „Aber glaube nicht, dass dies der Grund ist, warum ich dich heiraten will. Nein, heiraten will ich dich, weil ich dich liebe. Und weil du mich liebst.“
Und weil du eine unheimlich gute Partie bist. Aber das sagte er sich nur in Gedanken.
„Nur, wann soll denn die Hochzeit stattfinden?“, fuhr er fort. „Ich nehme an, jetzt gleich eher nicht, oder?“
„Ja, leider. Frühestens in dreihundert Tagen. Diese Frist schreibt der Code Civil vor. Außerdem ... Ich meine, wenn wir jetzt gleich heiraten, könnte das so aussehen, als ob wir dem Tod meines Ehegatten irgendwie nachgeholfen hätten.“
Johann errötete. „Du hast recht. Und ob ich dein Geliebter heiße oder dein Ehemann, macht doch für Liebende keinen Unterschied.“
Colette küsste ihn zärtlich. „Ganz meine Meinung. Die Frage ist nur, ob es gut ist, wenn du jetzt weiterhin in diesem Haus wohnst. Da könnte doch einer auf die Idee kommen, dass es irgendwie mit Carles‘ Tod ... Vielleicht solltest du für eine gewisse Zeit wieder zu deinen Verwandten zurückkehren. Du musst ihnen ja sowieso noch ihr Fahrrad zurückbringen. Zumindest einen Monat ... Denk daran, für die Öffentlichkeit bin ich jetzt trauernde Witwe.“
„Also ist es dir recht, wenn ich heute in einem Monat wieder bei dir hier aufkreuze?“
„Ja, bitte. Heute in einem Monat. Ich werde mir den Tag dick im Kalender anstreichen.“
Selten war ein Monat so langsam vergangen wie dieser. Aber schließlich ging auch er zu Ende, und die Liebenden waren wieder vereint. Unbeschreiblich Colettes Jubel, als sie Johann empfing. Unbeschreiblich das Glück der beiden, als sie lustvoll ihre Liebe erneuerten. Nun war die Zeit der vorgetäuschten Trauer vorbei. Nun begann die Zeit des gemeinsamen Liebesglücks.
Aber leider gab es da einen Umstand, der es trübte. Dieser Umstand hatte einen Namen: Mireille.
Über Mireille hatte Colette schon früher einmal den Verdacht geäußert, dass sie mit Carles ein sexuelles Verhältnis unterhalte. Beweise habe sie nicht. Aber als Mireille nach dessen Tod so auffallend heftig trauerte, fühlte sich Colette in ihrem Verdacht bestätigt. Trotzdem hielt sie sich mit Vorwürfen noch immer zurück. Denn nun war es schließlich auch schon egal. Nur, inzwischen gab es einen neuen und ungleich jüngeren und attraktiveren Hausherrn. Und da hielt es Colette für angebracht, von nun an auf Mireilles Dienste zu verzichten. Man weiß ja, wie die Männer sind. Und bei aller Verliebtheit ist schließlich auch Johann nur ein Mann. Weiß man, ob er der Schönheit Mireilles auf die Dauer widerstehen kann? Ihre Schönheit war ja höchstwahrscheinlich auch der Grund, warum Carles sie als Hausdame engagiert hatte. Weil er nur ausgesucht schöne Frauen um sich zu haben wünschte.
Colette teilte Mireille also ihre Kündigung per Jahresende mit, übrigens, ohne ein Wort über ihren Verdacht zu verlieren. Mireille nahm die Kündigung gefasst und ohne erkennbare Erregung auf. Aber nun begann sie Johann tatsächlich schöne Augen zu machen, stellte freilich zu ihrem Leidwesen fest, dass er darauf kaum reagierte.
Eines schönen Tages lud sie ihn ein, mit ihr einen kleinen Spaziergang zu machen; im Übrigen habe sie etwas Wichtiges mit ihm als dem neuen Hausherrn zu besprechen. Nun, welcher Mann könnte einer solchen Einladung einer begehrenswerten Frau widerstehen? Ein Spaziergang zu zweit ist schließlich kein Akt der Untreue.
Mireille lotste Johann auf den Wanderweg, der entlang der pittoresken, felsen- und buchtenreichen Küste rund um die Halbinsel des Cap d’Antibes führt. Zunächst flirtete sie heftig mit ihm – und er mit ihr; wie denn auch nicht? Trotzdem wurde ihm langsam unbehaglich zumute. Denn während ihm Mireille unverblümt den Kopf zu verdrehen suchte, hatte er keineswegs die Absicht, sich mit ihr einzulassen und damit Colette untreu zu werden. Am Ende würde ihn Colette dann verstoßen. Und das würde ihm nicht nur das Herz brechen. Auch eine so gute Partie würde er nie mehr finden. Und Mireille war, soviel er wusste, ebenso mittellos wie er selber.
Also: Themenwechsel. Wollte sie nicht etwas Wichtiges mit ihm besprechen?
Ja, klar. Das neue Thema lautete: Kündigung. Madame habe ihr gekündigt. Ob er davon wisse. Und ob er mit ihrer Kündigung einverstanden sei.
„Hm ... Ehrlich gesagt, will ich der Madame Quintana i Rei da nicht ins Handwerk pfuschen“, erwiderte Johann verblüfft, ja verstört.
„Schade. Aber vielleicht doch? Weil ... Sonst müsste ich nämlich zur Polizei gehen.“
Johann erschrak. „Wieso müssten Sie zur Polizei ...“
„Damit sie den Tod des Monsieur Quintana i Rei genauer untersucht.“
„Hat sie doch schon.“
„Nicht genau genug.“
„So? Wie soll ich das verstehen?“
„Ich habe meine Aussage noch nicht machen können.“
„Welche Aussage denn?“
„Was ich am Tag vor dem tragischen Ableben von Monsieur vor Madames Tür zufällig gehört habe. Ich wollte gerade zu ihr, um sie irgendwas zu fragen, und war schon an der Tür zu ihrem Salon. Da höre ich sie bitterlich schluchzen und halte erschrocken inne. Dann sagt Madame laut und deutlich: Jetzt ist mir alles egal. Ich will dich heiraten. Und Sie sagen darauf: Aber du bist doch schon verheiratet. Richtig? Oder täuscht mich meine Erinnerung?“
Aber Johann blieb stumm. Ihm schwante Schauerliches.
„Nein“, fuhr sie fort, „sie täuscht mich bestimmt nicht. Und am nächsten Tag war Monsieur tot. Jetzt kann Madame Sie heiraten.“
Johann schwieg weiterhin, tat, als hätte er nichts gehört, blickte in die Ferne, bewunderte die herrliche Landschaft. Doch zugleich ging ihm ein Mühlrad, nein, eine Turbine im Kopf herum. An einem besonders hübschen Aussichtspunkt am Rand einer hohen Felswand blieb er stehen und starrte nachdenklich hinab in den Abgrund, in die heute wieder tosende See.
Mireille trat neben ihn und flüsterte ihm ins Ohr: „O du mein Geliebter, du sagst gar nichts? Gefalle ich dir nicht?“
Mit ernster Miene wandte er sich nach ihr um, murmelte: „Na freilich gefällst du mir“, blickte aufmerksam nach allen Richtungen, blickte der ihn verführerisch anlächelnden Mireille wieder ins Gesicht, legte ihr einen Arm um die Schulter, wie um sie zärtlich an sich zu drücken und sie zu küssen. Küsste sie aber nicht, sondern versetzte ihr einen plötzlichen Schubs, stieß sie in die Tiefe, hörte einen Schrei, gedämpft, entsetzt, grauenvoll, dann einen Aufprall und noch einen Aufprall, begleitet von Schmerzensschreien. Dann platschte etwas ins Wasser. Und danach – Totenstille, abgesehen vom Donnern der Brandung und dem Schreien der über der Wasserfläche kreisenden Möwen. Ringsum bot die Côte d’Azur ihre prachtvolle, friedliche Landschaft dar. Keine Polizeisirene, keine Freunde und Helfer mit Handschellen, kein Augenzeuge außer den schreienden Möwen.
„Schade“, murmelte Johann zu sich selber. „Hättest mir wirklich gefallen. Aber so ...“
Vorsichtig beugte er sich über den Abgrund und starrte voller Bedauern und zugleich voller Entsetzen über seine Tat hinunter und entdeckte zwei Blutflecken auf der Felswand und darunter Mireilles zerschmetterten Körper, der von der Brandung wieder und wieder gegen die Felsen geschleudert und offensichtlich immer grässlicher zerschmettert wurde.
Und dann überfiel Johann unversehens die große Panik. Er kann doch jetzt nicht einfach seiner Wege gehen und so tun, als wüsste er von nichts. Er würde sich verdächtig oder zumindest wegen unterlassener Hilfeleistung strafbar machen. Er muss schleunigst zu ihr da hinunter. Nur, wie? Hinunterklettern? Ausgeschlossen. Nein, er muss in größter Eile den nächsten Strand aufsuchen und dann ... Nun, alles Weitere muss der Augenschein erweisen. Schlimmstenfalls schwimmen. Und hoffen, dass die Brandung nicht auch ihn gegen die Felsen schleudert.
Der zum nächsten Strand hinunter führende Treppenweg war zum Glück nicht weit. Auf den Felsen, die den kleinen Sandstrand begrenzen, versuchte er in Richtung Absturzstelle zu balancieren oder zu klettern, musste aber bald einsehen, dass es viel zu gefährlich war. Vorsichtig kletterte er hinunter, bis er die Strandlinie erreichte, und warf sich mit seiner gesamten Kleidung ins Wasser, um es mit Schwimmen zu probieren. Aber auch dies erwies sich rasch als unmöglich. Wie befürchtet, drohte ihn die Brandung gegen die Felsen zu schleudern, noch bevor er so weit hinausgeschwommen wäre, dass diese Gefahr gebannt war. Obendrein behinderte ihn die Kleidung stärker als erwartet. Also: vorsichtig zurück an Land, vorsichtig zurück zum Sandstrand, wieder hinauf zum Wanderweg. Aber jetzt behinderte ihn die nasse Kleidung noch stärker, vor allem auch die mit Wasser vollgesogenen Schuhe. Er zog sie sich aus. Und jetzt? Was tun? Von der Villa Bini Pau war er schon viel zu weit entfernt. Also dann, zur nächsten Villa hetzen und dort die Bewohner bitten, rasch die Wasserrettung anzurufen.
So geschah es. Danach stieg er neuerlich zum Strand hinunter. Es vergingen keine zwanzig Minuten, bis das Boot mit den Rettern mehrere Meter vor dem Strand hielt. Johann watete hinaus, schwang sich ins Boot und dirigierte den Steuermann, so gut er konnte, an die Unglücksstelle. Nur, wo war Mireille – oder das, was von ihr übriggeblieben war? Es bedurfte einer mühsamen Suche, bis man sie in tiefem Wasser sichtete. Sofort tauchten zwei Männer in Tauchanzügen zu ihr hinunter, bargen sie und hievten sie mit Hilfe ihrer Kollegen ins Boot. Ihr Anblick war, gerade im Gegensatz zu ihrer von Johann so bewunderten früheren Schönheit, so grauenhaft, dass ihm speiübel wurde. Der Arzt im Rettungsboot konnte nur noch ihren Tod feststellen.
Und dann war da noch ein Gendarm im Boot, der von Johann genauere Auskünfte über den Hergang des Unglücks begehrte. Leider war er des Englischen unkundig, sodass die anderen mit vereinten Kräften dolmetschen mussten. Johann versuchte ihm zu erklären, dass er mit der Verunglückten einen Spaziergang über die Küstenpromenade machen wollte, dass sie an dem Aussichtspunkt oberhalb dieser Felswand stehen blieb und offenbar in eine derartige Begeisterung geriet, dass sie einen Fehltritt tat. Oder vielleicht wurde ihr beim Blick in die Tiefe auch auf einmal schwindlig, wer weiß. Und er zeigte sich aufs Höchste entrüstet, als der Flic die Frage aufwarf, ob er sie, absichtlich oder auch unabsichtlich, gestoßen haben könnte. Der Zustand seiner Kleidung beweise doch zur Genüge, dass er alles versucht habe, um sie zu retten.
Eine weitere Frage des Gendarmen, die ihn nicht nur empörte, sondern im Stillen belustigte, lautete: Ob die Verunglückte vielleicht schwanger gewesen sein könnte? Darauf konnte Johann nur mit der Schulter zucken und die Hände heben, um anzudeuten, dass er keine Ahnung habe. Ob das nicht seine Freundin gewesen sei? Diese Frage konnte er mit gutem Gewissen verneinen.
Hier mischte sich der Arzt in das Verhör ein und erklärte, sehr wahrscheinlich werde man eine Obduktion der Leiche vornehmen müssen.
Und damit war Johann entlassen. Vor dem Strand, wo man ihn aufgenommen hatte, ließ man ihn wieder ins Wasser springen. Das Boot mit den sterblichen Überresten Mireilles drehte ab und verschwand aus seinem Gesichtskreis. Zögernd machte er sich auf den Heimweg und quälte sich mit der Frage, was er Colette erzählen solle. Frei nach Goethe: Wie hab ich’s mit der Wahrheit? Wird mich meine Liebste nicht verstoßen, wenn ich bei der Wahrheit bleibe?
Colette selbst wusste über Johanns Spaziergang mit Mireille selbstverständlich Bescheid und hielt aus Sorge bereits nach den beiden Ausschau, weil inzwischen Stunden vergangen waren. Sie fiel aus allen Wolken, als sie ihn in diesem beklagenswerten Zustand und noch dazu allein daherkommen sah. Und steckte ihn unverzüglich in die Badewanne, um einer Erkältung vorzubeugen.
Und? Wie hatte es Johann mit der Wahrheit? Antwort: Er erzählte Colette sinngemäß dasselbe, was er dem Flic erzählt hatte, nur bedeutend ausführlicher, betonte zunächst, dass ihm Mireille schöne Augen gemacht habe.
„Und dann“, schloss er, „am Rand einer hohen Felswand, da blieb sie stehen, nannte mich mein Geliebter. Und ob sie mir nicht gefällt. Und wurde dabei anscheinend so erregt, dass sie einen Fehltritt tat und abstürzte.“
„Ganz von selber?“, flüsterte Colette, nachdem sie ihn eine gefühlte Ewigkeit prüfend angeblickt hatte. Und das klang einigermaßen zweifelnd.
Johann errötete, zögerte, schwankte, was er darauf antworten sollte. Er zögerte so lange, bis sie sich die Antwort selber gab: „Also nein. Richtig?“
Nun wurde er schlagartig bleich. „Warum quälst du mich so?“
„Aber mein Schatz, ich quäle dich doch nicht. Nur, nachdem schon Carles so prompt ertrunken ist ... Und jetzt stürzt Mireille prompt ab. Und beide Male warst du ... Oder waren das zwei wunderbare, vom Himmel gesandte Zufälle?“
„Wunderbar? Vom Himmel gesandt?“
„Ja, etwa nicht? Was glaubst du, hätte sie gemacht, wenn sie nicht ... wenn nicht das passiert wäre, was du mir soeben erzählt hast? Ich will’s dir sagen: Sie hätte uns ihr Leben lang erpresst. Also, falls du wirklich bei beiden Todesfällen die Hand im Spiel gehabt hast, so bin ich dir nicht nur zu ewiger Liebe, sondern auch zu ewiger Dankbarkeit verpflichtet.“
„Du verstößt mich gar nicht?“
„Im Gegenteil, ich bewundere dich sogar. O mein Johann, ich liebe dich.“
Und das bewies sie ihm unverzüglich durch die Tat.
Noch war Johanns Glück nicht zu hundert Prozent gesichert. Eine schwere Prüfung stand ihm noch bevor.
Es waren erst wenige Tage seit Mireilles Absturz vergangen, da stand die Gendarmerie vor der Tür und nahm ihn mit ins Commissariat. Zwei verdächtige Todesfälle so kurz hintereinander, und beide Male sei er irgendwie daran beteiligt gewesen – das sei doch doppelt verdächtig. Da die Sprachschwierigkeiten unüberwindbar erschienen, behielt man Johann so lange im Knast, bis man einen Dolmetscher für Deutsch aufgetrieben hatte, nämlich zwei Nächte. Aber es war trotzdem ein Segen. Denn nun konnte sich Johann so erfolgreich verteidigen, dass er schließlich als unschuldig wieder freigelassen und von den Flics eigenhändig in die Villa Bini Pau zurückgebracht wurde.
Damit war also auch die letzte Prüfung glücklich überstanden. Unverzüglich bewies Colette ihre Erleichterung, ihre Dankbarkeit, ihre Bewunderung und vor allem ihre Liebe durch die Tat. Nun schien Johanns Liebesglück für alle Ewigkeit gesichert. Na, und obendrein hatte er eine unheimlich gute Partie gemacht. Und das schon in so jungen Jahren.
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Geboren 1940 in Wien, wuchs Karl Plepelits in Melk an der Donau auf, besuchte das Gymnasium im berühmten Benediktinerstift Melk, studierte Klassische Philologie, Alte Geschichte und Anglistik in Wien und Innsbruck, plagte Schüler mit Latein, Griechisch und Englisch, vertrat die Österreichische Akademie der Wissenschaften als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Thesaurus linguae Latinae in München, leitete Reisende in alle Welt (oder auch in die Irre), veröffentlichte zahlreiche wissenschaftliche Artikel auf dem Gebiet der Latinistik, Gräzistik und Byzantinistik, übersetzte griechische Romane der Antike und des Mittelalters (erschienen im Hiersemann Verlag, Stuttgart). Und angeregt durch einige von ihnen, die unglaublich spannend und ergreifend sind, widmet er sich seit Jahrzehnten auch dem aktiven Literaturschaffen.
Texte: Karl Plepelits
Cover: Cap d’Antibes, Sentier littoral: By Gilbert Bochenek - Own work, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=24854903
Tag der Veröffentlichung: 26.01.2021
Alle Rechte vorbehalten