... schrie plötzlich einer der Passagiere. „Zu den Waffen! Wehrt euch! Weckt die Besatzung!“
Er stürzte sich auf den Steuermann und rüttelte ihn wach. Andere taten es ihm nach und rüttelten, aufgeregt schreiend, die stockbetrunkenen Matrosen wach. Unsere drei Damen schrien zwar nicht, waren aber käsebleich geworden, und Claudia hatte sich zitternd an meinen Hals gehängt.
Wir, das waren: Erstens mein griechischer Freund Demetrios. Zweitens Iris, seine „geistliche“ Ehefrau; sie gehört nämlich dieser neuen jüdischen Sekte der sogenannten Christen an. Drittens deren Sklavin Sosó. Viertens Claudia, meine Geliebte. Und fünftens ich, Stephanus, römischer Bürger aus Noricum, den die Schicksalsgötter zusammen mit Claudia nach Ephesos, der prächtigen Hauptstadt der Provinz Asien, verschlagen haben. Hier konnten wir nicht nur unsere Griechischkenntnisse aufpolieren. Vor allem freundeten wir uns mit Demetrios und Iris an und ermutigten sie, heimlich zu heiraten. Iris war nämlich schon mit einem anderen verlobt. Doch den verabscheute sie. Sie liebte Demetrios, zumal auch er zu den Christen zählte. Ein Abgesandter ihres Gottes, ein Jude namens Johannes, der in Ephesos lebt, traute sie und riet ihnen, aus Ephesos zu fliehen, verpflichtete sie jedoch zu meiner Verblüffung, enthaltsam zu bleiben. Sie überredeten mich und Claudia, sie und Sosó in unsere Heimat mitzunehmen. Also schlichen wir, Iris, Sosó, Claudia und ich, uns eines Morgens noch vor Tagesanbruch aus dem Haus, rannten zum Hafen, trafen uns unterwegs mit Demetrios und kamen gerade zurecht, als man bei einem Schiff daranging, die Landungsbrücke einzuziehen.
Während wir noch erleichtert nach Atem rangen, baute sich einer vor uns auf und erklärte, er begrüße uns herzlich an Bord der Eintracht und erlaube sich, von uns das Fahrgeld zu kassieren.
„Wie viel?“, fragte Sosó und griff unter ihre Tunika, um den Geldbeutel mit der Reisekasse zu zücken.
„15 Drachmen pro Person.“
„Also 75 Drachmen insgesamt“, sagte sie, schnürte den Geldbeutel auf, entnahm ihm drei kleine Goldmünzen und überreichte sie ihm.
Hierauf fragte ich, wohin die Fahrt denn eigentlich gehe.
Antwort: Nach Alexandria.
Diese Information hatte ungefähr die gleiche Wirkung, wie wenn ein Blitz des Göttervaters unmittelbar vor uns eingeschlagen hätte. Vor allem Demetrios geriet außer Rand und Band. „Halt, aussteigen“, brüllte er, stürzte auf die Landungsbrücke zu, erkannte, dass sie längst eingezogen war und das Schiff sich bereits vom Ufer entfernt hatte, und konnte sich lange nicht beruhigen. Unsere drei Damen hingegen blieben auffallend ruhig. Offenbar machte es ihnen gar nichts aus, zur Abwechslung rasch einmal Ägypten zu besuchen.
Inzwischen zog die Eintracht, gefolgt von ihrem Beiboot, unbarmherzig ihre Bahn. Die Segel waren ständig prall gefüllt. Ein steifer Nordwind wehte tagaus, tagein genau vom Heck her. Kaum waren wir an Rhodos vorbei, wurde er noch steifer. Das hatte einerseits zur Folge, dass die Zahl der Seekranken an Bord enorm anstieg, andererseits, dass der Steuermann den Kurs änderte. Normalerweise, sagte er, hätte er den bisherigen Kurs in etwa beibehalten und damit Alexandria direkt angesteuert. Jetzt aber habe er zur Sicherheit einen östlichen Kurs eingeschlagen und bleibe vorerst in der Nähe der Südküste Asiens. Von dieser aus werde er sich dann in Richtung Zypern halten.
Nach einiger Zeit ließen wir die Küste hinter uns, die Berge versanken im Meer, das Schiff schoss aufs offene Meer hinaus. Tags darauf kam für eine Weile Zypern in Sicht, und während des Abendessens erklärte der Steuermann, sichtlich begeistert, falls der Wind in dieser Stärke anhalte, habe er trotz des Umwegs gute Aussichten, einen neuen Geschwindigkeitsrekord für die Strecke Ephesos-Alexandria aufzustellen. Der bisherige Rekord betrage seines Wissens fünf Tage, und wir seien jetzt erst den dritten Tag unterwegs und schon an Zypern vorbei.
Der Mann freute sich zu früh. Der Wind begann bald nachzulassen, und unsere Seekranken atmeten auf. Aber auch sie freuten sich zu früh. Als wir am nächsten Morgen aufwachten, war von einem Seegang kaum noch etwas zu spüren, und die Segel hingen schlaff von der Rah herunter. Der Steuermann war schwer enttäuscht, denn der erträumte neue Rekord war ihm jetzt natürlich durch die Lappen gegangen. Er schien aber auch der Einzige zu sein, der enttäuscht war. Für den Rest der Mannschaft war diese neue Situation gleichbedeutend mit Freizeit. Sie nutzten die Zeit, um zu bechern, was das Zeug hielt.
Tags darauf schlief der Wind noch immer, die Besatzung becherte weiter, und nun tat sogar der Steuermann mit. Am Nachmittag lagen alle als Weinleichen auf dem Deck herum. Zugleich tauchte am östlichen Horizont ein Schiff auf und kam trotz der Windstille rasch näher. Vorn, genau auf der Wasseroberfläche, besaß es einen lustigen Schnabel, und dahinter waren zwei große Augen aufgemalt, sodass man glauben konnte, ein Meeresungeheuer kommt auf uns zu. Angetrieben wurde es von zahlreichen langen Rudern auf beiden Seiten. Als es etwa auf unserer Höhe war, bog es plötzlich ab und begann uns zu umkreisen.
In diesem Moment schrie ein Passagier: „Piraten! Piraten! Zu den Waffen! Wehrt euch! Weckt die Besatzung!“, stürzte sich auf den Steuermann und rüttelte ihn wach. Andere taten es ihm nach und rüttelten, aufgeregt schreiend, die stockbetrunkenen Matrosen wach. Unsere drei Damen schrien zwar nicht, waren aber käsebleich geworden, und Claudia hatte sich zitternd an meinen Hals gehängt.
Steuermann und Matrosen waren schlagartig denkbar nüchtern und rannten umher wie aufgescheuchte Hühner. Die einen versuchten hastig die wenigen Hilfsruder, über die unser Segelschiff verfügte, zu montieren, andere stürzten sich mit dem Schrei „Waffen“ unter Deck und kamen danach, Küchenmesser schwenkend, wieder zurück, und wieder andere taten nichts als die Fäuste ballen und den Piraten drohen. Diese näherten sich unserer Eintracht so weit, dass sich die Bordwände fast berührten, und hinderten dadurch unsere Möchtegernruderer, ihr Vorhaben auszuführen. Zugleich schrien sie wüste Beschimpfungen herüber, offenbar um die Unsrigen einzuschüchtern.
Die Bordwand des anderen Schiffes war zwar viel niedriger als die der Eintracht. Das hinderte aber zu unserem Entsetzen einen besonders Beherzten unter den Piraten nicht daran, sich auf unser Deck heraufzuschwingen und mit einem Schwert auf einige von der Besatzung, die sich ihm in den Weg stellten, einzuhauen, dass das Blut in alle Richtungen spritzte. Und als die übrigen Piraten, einer nach dem anderen, nachfolgten, besannen sich unsere großartigen Helden eines Besseren, warfen sich zu Boden, winselten um Gnade, versprachen hoch und heilig, alles zu tun, was man von ihnen verlange. Da trat einer der Piraten, offensichtlich ihr Anführer, vor und stellte seine Bedingungen: Die Überlebenden dürfen ins Beiboot steigen und sich retten, wohin sie wollen. Aber sie dürfen das Schiff nur mit einer Tunika verlassen. Mit sonst nichts. Jedem Zuwiderhandelnden droht der augenblickliche Tod. Diese Bedingungen gelten nur für die Besatzung. Die Passagiere bleiben an Bord, ihnen geschieht nichts, sind aber ab sofort die Gefangenen der Piraten.
Kein Aufschrei. Nichts. Unsere tapfere Mannschaft springt auf und stiebt davon in Richtung Heck, um dort über die Strickleiter ins Beiboot zu klettern. Und das war das Letzte, was wir von ihnen gesehen haben. Vermutlich haben sie, ohne eine Sekunde zu verlieren, das Tau, welches das Beiboot mit dem Mutterschiff verband, wie die Nabelschnur nach einer Entbindung gekappt, die Ruder in die Hand genommen und das Weite gesucht, heilfroh, wenigstens mit dem nackten Leben davongekommen zu sein.
Um uns Passagiere kümmerten sich die Piraten vorerst nicht, sondern gingen zielstrebig ihren diversen Aufgaben nach. Sie warfen ruck, zuck die Leichen über Bord, und einer kam mit einem Eimer voll Wasser und einem Putzlappen angerückt, um die Spuren des Kampfes so gut wie möglich zu beseitigen. Sie manövrierten ihr eigenes Schiff vor den Bug der Eintracht und vertäuten die beiden Fahrzeuge miteinander, setzten sich an die Ruder und fuhren mit uns im Schlepptau los, und zwar, wie Demetrios gleich registrierte, in östlicher Richtung, also nicht in Richtung Alexandria. Kaum hatte er diese Beobachtung uns und damit auch den restlichen Passagieren mitgeteilt – alle drängten sich nämlich dicht aneinander, um Trost in der Gemeinschaft zu finden –, entspann sich trotz des lähmenden Entsetzens eine lebhafte Diskussion über die Frage, wer die Piraten seien, wohin die Fahrt jetzt gehe und was man mit uns vorhabe. Die meisten zeigten sich aufs Höchste verwundert, dass es heutzutage, im Zeitalter des römischen Friedens, wo die Flotte der Römer für Ruhe und Ordnung sorge, überhaupt Piraten gebe. Einer wollte jedoch gehört haben, dass seit dem jüdischen Aufstand in Palästina der Hass vieler Juden gegen alles Römische so groß sei, dass sie nicht davor zurückschrecken, den Römern bei jeder sich bietenden Gelegenheit Schaden zuzufügen.
„Dann geht also unsere Fahrt nach Palästina?“, sagte ein anderer.
„Möglich, aber nicht sehr wahrscheinlich. Wo doch Palästina und seine Küste jetzt angeblich immer so scharf überwacht wird. Wahrscheinlicher ist es, dass sie uns in ein Nachbarland Palästinas bringen. Das ist für die jüdischen Piraten weniger gefährlich.“
„Und was soll dort mit uns geschehen?“, fragte wieder ein anderer. Aber in diesem Moment tauchte der mutmaßliche Anführer der Piraten, gefolgt von zwei finster blickenden Gestalten, vor uns auf, kam mit hochrotem Kopf auf uns zu und begann uns mit wütender Stimme anzubrüllen. Man habe im Frachtraum keine wertvollen Waren entdecken können. Sollte sich herausstellen, dass das alles ist und wir wirklich keine Wertgegenstände mit uns führen, werde er ein Lösegeld für unsere Freilassung verlangen, und wer das nicht innerhalb einer bestimmten Frist zahlen könne, den werde er in die Sklaverei verkaufen.
Lähmendes Entsetzen. Heulen und Zähneknirschen.
Bei Einbruch der Dunkelheit stellten die Piraten das Rudern ein, warfen die Anker aus und gingen offensichtlich zum gemütlichen Teil des Tages über. Zuerst plünderten sie die Küchenvorräte der Eintracht und bereiteten sich davon einen Festschmaus, von dem sie uns freundlicherweise einen durchaus nicht kümmerlichen Anteil vorsetzten. Nur zu trinken gab es nichts außer Wasser. Dafür konnte man die Piraten bald grölen hören, ein Beweis dafür, dass sie bei sich selber nicht ganz so strenge Maßstäbe ansetzten.
Als ihr Grölen schon ziemlich fortgeschritten war, kamen sie in den Raum, wo wir Gefangenen, ich will nicht sagen, zusammengepfercht waren, denn das wäre unzutreffend, aber doch alle gemeinsam auf dem Boden lagen, hereingetorkelt und erklärten, hämisch grinsend, die Frauen seien herzlich eingeladen, an ihrem Trinkgelage teilzunehmen. Bei denen hielt sich die Begeisterung allerdings in Grenzen, sodass die Piraten mit mehr oder weniger sanfter Gewalt nachhelfen mussten und neuerlich Heulen und Zähneknirschen laut wurde. Keine wurde verschont, auch nicht unsere drei.
Am nächsten Morgen kamen die Frauen zurück, und jede hatte dasselbe zu berichten: Sie sei von den Piraten betrunken gemacht und mehrfach vergewaltigt worden. Meine liebe Claudia war niedergeschlagen genug. Den ganzen Tag hing sie weinend an meinem Hals und ließ sich von mir trösten. Iris aber war vollkommen untröstlich. Sie erweckte den Eindruck, als wäre sie mehr tot als lebendig, und tat den ganzen Tag nichts als schluchzen und beten. Verständlich, wenn man bedenkt, dass sie sich verpflichtet hatte, nicht einmal mit ihrem angetrauten Ehemann die Werke des Amor zu betreiben.
Zum Glück hatten die Piraten am nächsten Abend entweder keine Lust, oder ihre Kraft war aufgebraucht, oder sie litten noch unter den Nachwirkungen der Besäufnis. Desgleichen in der dritten Nacht. Aber da waren sie vollauf mit dem Steuern beschäftigt, denn es wütete ein Unwetter. Übrigens hatten sie gleich bei den ersten Anzeichen des Sturms die Vertäuung gelöst, sodass jedes Schiff wieder auf sich allein gestellt war. Und obwohl das Wetter am nächsten Morgen wieder relativ ruhig war, beließen sie es dabei, ja das eigene Schiff der Piraten blieb immer weiter zurück, wahrscheinlich, weil es nur ein Segel hatte und dieses bedeutend kleiner war als die gesamte Segelfläche der Eintracht. Aber das war sicher nicht der einzige Grund. Nach dem nächtlichen Gewitter war nämlich der Himmel besonders klar und die Sicht besonders gut, und im Laufe des Nachmittags kamen vor uns Berggipfel in Sicht. Vermutlich wollten es die Piraten hier in Landnähe vermeiden, mit ihrem merkwürdigen Gespann Verdacht zu erregen.
Es wurde allerdings stockdunkle Nacht, ehe wir landeten. Wo wir landeten, davon hatten wir Gefangenen auch nicht die geringste Ahnung. Gesagt wurde es uns nicht, und zu sehen war nichts. Wir wussten nur, dass wir uns in keinem Hafen befanden. Das Schiff legte nämlich nicht an, sondern ankerte mitten im Meer, und wir mussten über das Fallreep hinunterklettern und in ein Boot steigen und wurden so an Land gebracht.
Hier wurden wir in ein nahe gelegenes Gebäude eskortiert, in dem wir großzügig bewirtet wurden. Schlafen mussten wir auf Decken, die auf dem Boden ausgebreitet waren, und das empfanden wir auch deshalb als unangenehm, weil sich der Boden auffallend kalt anfühlte. Auch die Luft war ziemlich frisch. Am nächsten Morgen klärte sich dieses Rätsel auf überraschende Weise auf: Wir befanden uns in einer großen Höhle, und das Gebäude, in das man uns geführt hatte, war dem Höhleneingang vorgebaut. Ein perfektes Versteck also.
Am nächsten Morgen wurden wir in einen Hof hinausgeführt, und dort erwartete uns schon einer, den wir noch nie gesehen hatten und der an der Art und Weise, wie er mit den anderen, auch mit dem Anführer der Piraten, redete, und an dem Respekt, den ihm die anderen entgegenbrachten, leicht als Oberanführer zu erkennen war. Und der hielt uns nun eine kleine Ansprache (auf Griechisch). Er hieß uns in Phönizien willkommen und zog im gleichen Atemzug fürchterlich über die Römer her, die den Völkern ihre Freiheit nähmen, für die Juden der Inbegriff alles Bösen seien, Jerusalem zerstört hätten, und so weiter. Etwas abrupt kündigte er schließlich an, jeden freizulassen, für den innerhalb dreier Monate fünf Talente Lösegeld bezahlt würden. (Fünf Talente: das sind 30.000 Drachmen, eine für uns unvorstellbar hohe Summe.) Wer dazu nicht in der Lage sei, den müsse er allerdings, so leid es ihm tue, auf den Sklavenmarkt bringen.
Daraufhin ging eine Welle des Entsetzens und der Bestürzung durch die Reihen, und einer begann in seiner Lederumhängetasche zu kramen und holte aus ihr etwas hervor, was ich nach einigem Augenverrenken als goldenen Ring mit rötlich schimmerndem Stein erkannte. Er überreichte ihn dem Oberanführer und fragte, ob dieses wertvolle Schmuckstück anstelle eines Lösegeldes akzeptiert werde. Der betrachtete es von allen Seiten und erklärte schließlich, ja, es werde akzeptiert, er sei frei. Man werde ihn in der kommenden Nacht in die nahegelegene Stadt Tyros bringen, und dort könne er sich dann nach Belieben ein Schiff suchen, das ihn in seine Vaterstadt bringen werde.
Daraufhin rückten auch noch andere mit Schmuckstücken an, hatten aber mit einer einzigen Ausnahme alle Pech damit. Und wir? Nun, wir besaßen überhaupt kein Schmuckstück und auch sonst keinerlei Wertgegenstände und natürlich nicht annähernd so viel Geld.
Drei Tage und drei Nächte waren wir hier gefangen und wurden immer wieder großzügig bewirtet, um nicht zu sagen, gemästet, überdies von einem Arzt untersucht und von anderen ausführlich nach Namen, Herkunft, Alter, Kenntnissen, Fähigkeiten befragt. Mitten in der dritten Nacht wurden wir geweckt, bekamen ein opulentes Frühstück vorgesetzt und wurden aufgefordert, uns für den Abmarsch bereit zu machen. Wir machten uns bereit, und als es gerade zu dämmern anfing, marschierten wir los, eskortiert von zahlreichen Bewachern. Bald bogen wir in eine gepflasterte Straße ein, die in herrlicher südlicher Landschaft mehr oder weniger direkt am Meeresstrand entlang führte.
Nach schätzungsweise einstündiger Wanderung, hinter den Bergen im Osten ging gerade die Sonne auf, erreichten wir eine kleine Stadt; unsere Bewacher nannten sie Sarapta und erklärten uns mit sichtlichem Stolz, hier seien sie zu Hause. Sie führten uns auf einen großen Platz, der trotz der frühen Morgenstunde schon ungewöhnlich belebt war. Verkaufsstände wurden aufgestellt, und auf diesen wurden die verschiedenartigsten Waren ausgebreitet. Hier war offensichtlich ein Markt im Entstehen.
Unsere Bewacher machten vor einem am Rand des Platzes aufgestellten hohen Podium halt und entnahmen einer mitgebrachten Tasche kleine, dünne Holztafeln. Auf denen standen, mit Tinte geschrieben, unsere Namen, unsere Herkunft, unser Alter und außerdem die Bemerkung, dass wir vollkommen gesund seien. Durch ein Loch war jeweils eine Schnur gefädelt, und mit deren Hilfe hängten sie uns diese Tafeln wie eine Halskette um den Hals. Anschließend hießen sie uns aufs Podium steigen und begannen sich dann abwechselnd die Seele aus dem Leib zu schreien, indem sie uns anpriesen wie Marktweiber ihre Kürbisse. Unterdessen trudelten nämlich schon die ersten Marktbesucher ein, und bald war der ganze große Platz gesteckt voll mit Menschen, und die kamen näher und gafften uns an und gingen wieder.
Welche Gefühle wir dabei hatten? Ich zumindest hatte gar keine, abgesehen von einer gewissen sachlichen Neugier, wie es denn nun weitergehen solle. Aber ich war weder verzweifelt noch besonders deprimiert noch übermäßig nervös. Ich fühlte mich nur irgendwie versteinert oder entpersönlicht, wie man so schön sagt.
Es begann schon heiß zu werden, da lösten sich zwei aus der Menge der Gaffer, stiegen herauf und blieben mit gleichgültiger Miene vor Claudia, Iris und Sosó stehen. Sofort stürzte sich einer unserer Bewacher auf die beiden und überschlug sich förmlich vor Eifer. Freilich stellte sich bald heraus, dass sie gar nicht an allen dreien interessiert waren, sondern nur an Claudia und Iris. Sie fragten nach dem Preis, und der Verkäufer sagte: „Jede ist fünf Talente wert.“
Und was nun folgte, war eine Feilscherei der allerübelsten Sorte. Die Käufer versuchten zu beweisen, dass sie bei weitem nicht so viel wert seien, und der Verkäufer versuchte umgekehrt zu beweisen, dass sie in Wirklichkeit noch viel mehr wert seien und dass fünf Talente ohnedies ein äußerst moderater Preis für diese Prachtexemplare von Jungfrauen sei. Zu diesem Zweck mussten sie wie beim Zahnarzt den Mund weit aufreißen, damit die Männer ihre Zähne begutachten konnten, und sich zudem überall abtasten lassen. Und dann wurden sie sogar ausgezogen und splitternackt den Augen der Käufer und der ganzen gaffenden Menge dargeboten, und der Verkäufer rühmte ihre Schönheit, und die Käufer versuchten Mängel zu entdecken beziehungsweise offensichtliche Mängel hervorzuheben. So wurde zum Beispiel an Iris bemängelt, dass sie etwas zu mager sei und einen unterentwickelten Busen habe. Dafür strich der Verkäufer wieder die charakterlichen und geistigen Fähigkeiten von Claudia und Iris heraus und betonte, wie gebildet und kultiviert die beiden seien. Schließlich einigte man sich auf je zweieinhalb Talente, und diese unerquickliche Prozedur war zu Ende.
Unterdessen war ein anderer unserer Bewacher davongesaust und mit zwei weiteren Männern wieder zurückgekommen. Das waren, wie ich ihren Gesprächen entnahm, der Marktbeamte und dessen Gehilfe. Der Beamte fertigte für jedes „dieser Prachtexemplare von Jungfrauen“, die zu diesem Zweck erneut splitternackt ausgezogen wurden, eine ausführliche Urkunde mit genauer Beschreibung aller ihrer körperlichen Merkmale an und überreichte sie schließlich einem der Käufer. Gleichzeitig bezahlte der Verkäufer dem Beamten eine sogenannte Verkaufssteuer.
Aber das Furchtbarste kam erst dann. Sobald nämlich diese Formalitäten erledigt waren und die Käufer den Kaufpreis in klingender Münze hingeknallt hatten, reichten sie Claudia, meiner heißgeliebten Claudia, und der süßen Iris des Demetrios die Hand und führten sie fort. Führten sie einfach fort. Demetrios und ich hatten nicht einmal Gelegenheit, sie zum Abschied zu umarmen. Das war hart, und ich dachte, es zerreißt mir das Herz. Und weil der Schmerz so extrem war, flossen auch überhaupt keine Tränen, weder bei Demetrios und mir noch bei Claudia und Iris.
Fort, weg, auf und davon, auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Und wir standen da und waren gelähmt und fanden nicht einmal Tränen, die uns doch wenigstens innerlich eine gewisse Erleichterung gebracht hätten. Die gute Sosó, die noch mitsamt allem Gepäck neben uns stand, hatte es da bedeutend leichter. Sie brach in ein so fürchterliches Geheul aus, dass unsere Bewacher direkt Kopf standen, um sie ja zu beruhigen, und erregte damit unter den Gaffern ein ungeheures Aufsehen. Ja, viele begannen sogar mitzuheulen, darunter gestandene Mannsbilder, und eine Zeitlang war der ganze Marktplatz von einem richtiggehenden Heulkonzert erfüllt. Lachen ist ansteckend, sagt man. Aber Weinen ist es, wie man sieht, auch.
Die Sonne stand schon hoch und brannte erbarmungslos auf uns hernieder, als das nächste entscheidende Ereignis eintrat. Ein Mann und eine Frau kamen näher und schauten interessiert zu uns herauf. Angefeuert durch die Anpreisungen vonseiten der Verkäufer, stiegen sie aufs Podium, beäugten uns und erklärten, Demetrios und mich kaufen zu wollen. Und nun folgte die gleiche langwierige Prozedur wie schon vorher bei Claudia und Iris mit den gleichen entwürdigenden Begleitumständen. Sämtliche Körperteile wurden einer genauen Prüfung unterzogen. Dann das Ganze noch einmal von vorn in Anwesenheit des Marktbeamten, der abermals für jeden eine Urkunde mit genauer Personenbeschreibung ausstellte. Und sobald der Kaufpreis bezahlt war – der ursprünglich genannte Preis war vier Talente pro Person, aber nach langem und wiederum äußerst unerquicklichem Feilschen hatte man sich auf zwei Talente für Demetrios und zwei Talente für mich geeinigt –, nahm mich der Mann ganz freundlich bei der Hand, und die Frau nahm Demetrios ebenso freundlich bei der Hand, und wir konnten der Sosó gerade noch zunicken, und so führten sie uns vom Podium herunter und über den Markt und durch die Gassen bis zum Stadttor. Vor diesem befand sich ein großer, staubiger Platz, auf dem unzählige Ochsen-, Pferde- und Eselgespanne auf ihre Eigentümer warteten. Zu einem solchen mit einem farbenfroh bemalten Wagen führten sie uns, hießen uns einsteigen und setzten sich selbst auf die Bank uns gegenüber. Mit einem Ruck fuhr der Wagen los. Wohin? Wir wussten es nicht. Wir wussten nicht, wohin die Reise ging, wir wussten nicht, was uns am Zielort erwartete, wir wussten nicht, wer die Leute uns gegenüber waren, wir wussten nicht, wie es weitergehen sollte, wir wussten nicht, ob wir jemals wieder Freie sein würden. Wir wussten nur eins: Wir waren jetzt unwiderruflich Sklaven.
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"Eine faszinierende, gut geschriebene Geschichte!" (Michaela)
"Klare Leseempfehlung. Wo bekommt man ein so großes Füllhorn an solidem Wissen über ein solch umfängliches Thema für weniger als man bereit ist, für ein Glas Wein, z.B. auf der Terrasse einer Tapas-Bar, auszugeben?" (Franck Sezelli)
"Humorvoll und Informativ. Mir gefällt dein Stil, auch bei den anderen 'Geschichtsbüchern' wirklich gut." (Niklas)
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"Schöner persönlicher Reisebericht, untermalt von Fotos, die ihn noch lebendiger machen" (Goldie Geshaar)
"Informatives Reisetagebuch mit schönen Bildern" (Leonard Eden)
"Hui, sehr anregend geschrieben. Man bekommt Reisefieber. Und mit wirklich guten Informationen gespickt, die ohne langweilige zu werden, immer wieder wunderbar in die Reisebeschreibung eingefügt sind." (Anne Grasse)
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Geboren 1940 in Wien, wuchs Karl Plepelits in Melk an der Donau auf, besuchte das Gymnasium im berühmten Benediktinerstift Melk, studierte Klassische Philologie, Alte Geschichte und Anglistik in Wien und Innsbruck, plagte Schüler mit Latein, Griechisch und Englisch, vertrat die Österreichische Akademie der Wissenschaften als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Thesaurus linguae Latinae in München, leitete Reisende in alle Welt (oder auch in die Irre), veröffentlichte zahlreiche wissenschaftliche Artikel auf dem Gebiet der Latinistik, Gräzistik und Byzantinistik, übersetzte griechische Romane der Antike und des Mittelalters (erschienen im Hiersemann Verlag, Stuttgart). Und angeregt durch einige von ihnen, die unglaublich spannend und ergreifend sind, widmet er sich seit Jahrzehnten auch dem aktiven Literaturschaffen.
Texte: Karl Plepelits
Cover: Screenshot vom Trailer für den Film Cleopatra (1963). Gemeinfrei, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=459694
Tag der Veröffentlichung: 16.03.2020
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