In einem altägyptischen Grab nahe Luxor wurde kürzlich ein seltener Fund gemacht: ein nicht, wie zu erwarten, griechisch oder koptisch, sondern lateinisch beschriebener Papyrus aus dem fünften Jahrhundert nach Christus – leider, wie so oft, nur fragmentarisch erhalten. Der für uns anonyme Verfasser war allem Anschein nach ein Eremit in der ägyptischen Wüste. Und der von ihm verfasste Text war, wie die folgende Übersetzung zeigt, offenbar so etwas wie eine Lebensbeichte etwa in der Art der „Confessiones“ („Bekenntnisse“) des Kirchenvaters Augustinus. Der Ort der Handlung dieses Fragments sind allem Anschein nach die Mendip Hills im Südwesten Englands mit der berühmten Cheddar Gorge, einem der größten Naturwunder Britanniens.
... und obwohl ein Sklavenkind, durfte ich ihre reich bestückte Bibliothek nach Herzenslust benutzen. Von dieser Erlaubnis machte ich eifrig Gebrauch und las – dir, o Herr, will ich’s gestehen – keineswegs nur die Heilige Schrift oder die erbaulichen Berichte von den unsterblichen Siegen der heiligen Märtyrer. Noch viel lieber las ich die Bücher der Heiden, obwohl diese, wie jeder weiß, alle vom Satan inspiriert sind. Mein Lieblingsbuch aber war die Odyssee, das aufregendste Abenteuerbuch seit Homer.
So schien es also, als wäre mir eine glückliche Jugend vergönnt – glücklich freilich nur in den Augen der Heiden. Denn dir, o Herr, und deinen heiligen Geboten wurde meine unsterbliche Seele immer mehr entfremdet und geriet, wie das Folgende beweisen soll, immer stärker unter den unheilvollen Einfluss des Satans.
Da sandtest du über meine britannische Heimat aus heiterem Himmel eine schlimme Plage, schlimmer noch als jede der zehn ägyptischen Plagen – zweifellos zur Strafe für die schrecklichen Sünden der Menschen und für ihre ständigen Beleidigungen deines heiligen Namens.
Wilde und barbarische Volksstämme landeten an unseren Küsten und begannen alle Städte, alle Dörfer, alle ländlichen Villen erbarmungslos niederzubrennen und alle ihre Bewohner, soweit sie nicht rechtzeitig geflohen waren, wie Ratten totzuschlagen, wie Würmer zu zertreten, wie Hirsche aufzuspießen oder von den Hunden zerfleischen zu lassen. Nur junge und besonders schöne Frauen, so hörte man, ließen sie am Leben, um sie fortan als Sklavinnen und Bettgenossinnen zu missbrauchen. Tag für Tag zogen lange Flüchtlingszüge an der ländlichen Villa meines Herrn und meiner Herrin vorbei. Die Unglücklichen bettelten um etwas Brot und Wasser und manchmal auch um Unterkunft für eine Nacht. Am nächsten Morgen zogen sie dann weiter, nicht ohne unsere Herzen durch ihre schaurigen Berichte von unaussprechlichen Gräueltaten mit Angst und Schrecken erfüllt zu haben.
Und ließen sich mein Herr und meine Herrin dadurch beeindrucken? Aber nicht im Geringsten. Von unserem Grund und Boden wird uns niemand vertreiben, erklärten sie im Brustton der Überzeugung. Wir werden uns schon zu wehren wissen.
Na, und wussten sie sich zu wehren, als die Barbarenhorden schließlich bei uns auftauchten?
Ja, uns Kinder wussten sie zu retten, indem sie uns auftrugen, uns in einer hoch in einer Felswand gelegenen Höhle zu verstecken. Sich selbst aber wussten sie nicht zu retten. Denn als wir drei Tage später vorsichtig Nachschau hielten, fanden wir an Stelle der schönen Villa nur noch rauchende Ruinen vor, und rings umher lagen die grauenhaft verstümmelten Leichen meiner Eltern und der übrigen Erwachsenen. So entsetzlich war der Anblick, dass keiner von uns Tränen vergießen konnte. Mit versteinerten Gesichtern und versteinerten Herzen wankten wir in unser Versteck zurück und fühlten uns viele Tage lang mehr tot als lebendig.
Fünf Kinder waren wir insgesamt: zwei Freie und drei Unfreie. Die zwei Freien waren der zehnjährige Justus und die zwölfjährige Flora. Die drei Sklavenkinder waren mein Brüderchen Faustus, sechs Jahre alt, meine Schwester Valentina, dreizehn Jahre alt, und als Ältester ich, vierzehn Jahre alt.
Was damals in unserer rettenden Höhle geschah, genauer, was ich damals in ihr tat, das hat mich mit so brennender Scham und so bitterer Reue erfüllt, dass ich schon seit vielen Jahren versuche, diese schwere Schuld durch ein einsames Leben in der Wüste Ägyptens, durch Gebet, durch Fasten und durch jegliche Art von Kasteiung zu büßen und in Christus endlich meinen Seelenfrieden zu finden. Bisher jedoch vergeblich. Diese Bekenntnisse sollen dazu beitragen, den Weg zu ihm zu ebnen. Zugleich zeigen die Geschehnisse in der Höhle, dass Kinder, auf sich allein gestellt, nur allzu leicht Opfer des Bösen werden und sich in wilde Tiere verwandeln.
Wir fünf Kinder waren also nun auf uns allein gestellt. Obwohl Sklave, war ich als Ältester naturgemäß der Dominus, der Boss. Und was bedeutet das? Das bedeutet, dass die anderen mir aufs Wort gehorchen mussten. Und taten sie das nicht – oh, dann ging es ihnen schlecht. Justus etwa dachte, als Freier und „junger Herr“ (so nannte er sich selber) könne er mir nicht nur widersprechen, sondern sogar befehlen oder irgendetwas verbieten. Und was war die Folge? Ich prügelte ihn grün und blau, zerrte ihn zuletzt zum Höhlenausgang und stieß ihn die Felswand hinunter, an deren Fuß er, grässlich verstümmelt, für immer liegen blieb. Und warum das alles? Weil er mir hatte befehlen wollen, meine Hände von Valentinas und Floras Körper fernzuhalten. Ich hingegen – dir, o Herr, sei’s geklagt – glaubte als Dominus das Recht zu haben, die beiden Mädchen in derselben Weise zu gebrauchen, wie Herren ihre Sklavinnen gebrauchen, um an ihnen ihre vom Satan gesandte Wollust zu befriedigen.
Jetzt waren wir also nur noch vier. Und das hatte sogar einen unbestreitbaren Vorteil. Es erleichterte uns beträchtlich das Überleben. Denn unser Hauptproblem lautete: Wie treiben wir genügend Nahrung auf? Justus, dieses verwöhnte und feiste Muttersöhnchen, hatte nämlich stets mehr als alle anderen zusammen verschlungen.
Wovon ernährten wir uns überhaupt? Es war nämlich erst April, und da hat die Natur in Britannien noch nicht viel an Nahrung anzubieten. Und soviel wir wussten, waren mittlerweile alle, die uns eventuell mit Nahrung hätten aushelfen können, entweder vertrieben oder tot. Und sämtliche Nahrungsmittel in den Ruinen unserer Villa sowie in den umliegenden, ebenfalls zerstörten Gebäuden waren entweder verbrannt oder geplündert.
Doch zum Glück, falls man da überhaupt von Glück reden konnte, hatten sich einige der Barbaren am Ausgang der Schlucht niedergelassen und eine kleine, unglaublich primitive Siedlung errichtet. Wir konnten sie vom Eingang unserer Höhle aus deutlich sehen. Alle diese Höhlen öffnen sich nämlich auf die schroffen Felswände einer tiefen Schlucht, und an deren Ende lag die erwähnte Siedlung der Barbaren. So primitiv war sie, dass mehrere nahe dem Boden der Schlucht gelegene Höhlen als Vorratslager und Ställe für das geraubte Vieh verwendet wurden. Und in ihnen taten wir uns des Nachts, sooft es möglich war, heimlich an Milch, Butter, Käse, Fleisch und dergleichen gütlich.
Dass dies auf die Dauer nicht unbemerkt bleiben konnte, bedachten wir nicht. Eines Nachts hatten wir uns erneut in eine der als Vorratslager dienenden Höhlen geschlichen, ein lustiges Feuer entfacht und uns den Bauch vollgeschlagen.
Kaum war der quälende Hunger gestillt, hatte mich mit aller Macht die satanische Wollust übermannt. Und so war ich eben dabei, diese an meiner Schwester Valentina zu befriedigen, da begannen Flora und Faustus unverhofft zu kreischen, als wäre ihnen der Leibhaftige erschienen. Gleichzeitig erhob sich vom Höhleneingang her ein grauenhaftes Gebrüll in irgendeiner barbarischen Sprache. Verstört blickte ich auf, wandte mich um. Hinter uns stand ein grimmig blickender Riese. Er war nur mit einem Fell bekleidet, sah aus wie der Satan höchstpersönlich und brüllte wie ein Stier, der sich von einem Rudel Wölfe umzingelt sieht. Bestimmt erkannte er sofort, dass wir Römer waren.
Nur, beim Brüllen allein ließ er es nicht bewenden. Mit einem gewaltigen Felsblock verschloss er zunächst den Höhleneingang und begann hierauf mit einem langen, dicken Stock wie ein Wahnsinniger nach uns zu schlagen. Und sein Gebrüll, verstärkt durch unser eigenes Geheul, widerhallte schaurig von den Höhlenwänden. Schließlich erwischte er den kleinen Faustus mit seinem Stock so schwer am Kopf, dass dieser zu Boden stürzte und benommen oder bewusstlos liegen blieb. Da packte ihn der Unmensch und zerschmetterte seinen Kopf wie den eines jungen Hundes an der Höhlenwand. Danach bemächtigte er sich meiner noch immer halbnackten Schwester – sie war ebenso wie Flora und ich vor Entsetzen wie gelähmt –, riss sich seine eigenen Kleider vom Leib und stürzte sich wie ein wildes Tier auf sie.
Während er nun, schwer keuchend, vor meinen Augen auf der vor Entsetzen oder Schmerzen grässlich wimmernden Valentina lag und sie brutal missbrauchte, überlegte ich fieberhaft, wie wir uns vor dem uns allen drohenden Schicksal retten könnten. Da musste ich auf einmal an Odysseus denken, wie er sich und seine überlebenden Kameraden aus der Höhle des Kyklopen Polyphemus gerettet hat.
Mein Blick fiel auf den Stock des Barbaren, den er achtlos hatte fallen lassen. An diesen schlich ich mich heran, ergriff ihn, hielt ihn nach Odysseus’ Vorbild ein Weilchen in das Feuer und bohrte schließlich das inzwischen glühende Ende dem Barbaren in den Rücken, sodass er vor Schmerz aufbrüllte und augenblicklich von Valentina herabrollte. Dadurch aber gab er seinen ungeschützten Körper erst recht meinen Hieben preis.
Sobald er für immer verstummt war und sich nicht mehr rührte, wurde die brennende Frage akut: Was nun? Der Felsblock, den er vor den Höhleneingang ...
An dieser Stelle endet das Fragment.
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"Eine tolle Idee, Leben und Kultur der Römer in einer humorvoll erzählten Geschichte zu vermitteln." (Clavijus)
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Texte: Karl Plepelits
Cover: makamuki0, Pixabay, CC0 Creative Commons
Tag der Veröffentlichung: 10.04.2018
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