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Bibliotheken

Beim ersten Kontakt mit einer öffentlichen Leihbücherei habe ich mich mit Bibliophilie infiziert. Es wurde zum Glück keine ausgewachsene Bibliomanie – aber doch recht nahe dran. Der Ort hatte Magie. Besonders Märchen- und Abenteuerbücher zogen mich an. Eine ganz andere Welt als Malbücher oder Bilderbücher. Ab der 2. Klasse begann eine ganz neue Welt: gedruckte Buchstaben und ihr Zauber.

Seitdem wuchs meine Privatbibliothek. Auch etliche Comics dabei – und Karl May. Nachschub für die Fantasie. In einer Buchhandlung muss man sich entscheiden – das Budget ist begrenzt; aber in einer Bücherei kann man stapelweise mitnehmen. Wenn man regelmäßig die Leihfrist überschreitet, ist das auch nicht ganz billig. Man kann neue Interessensgebiete erforschen; welches Buch zwinkert einem zu? Hoffnungslos überladen verlässt man die Bücherei, hat allerdings viele gute Beutestücke zurücklassen müssen.

Was tun gegen diesen Lese-Appetit? Die eigene Büchersammlung wächst ins Absurde. Man will die Bücher besitzen. Als ob der Inhalt eines Sachbuches direkt hinüberwandern würde ins Gedächtnis; der bloße Besitz kann da was bewirken? So wie ein Herrscher seine Bediensteten und Angestellten hat – deren Fähigkeiten sind auch die seinen. Bücher können einem Fähigkeiten vermitteln, sie machen einen größer. Der Geist wächst – der Büchernarr fühlt sich wie ein König.

Der KI geht das Lesematerial aus; man sperrt sie aus. Soll sie nur noch das lesen, was sie und ihresgleichen fabriziert haben? Sie stößt auf "robots.txt" – man will sie nicht. Noch vor kurzem war die Online-Welt eine riesige Bibliothek für die KI. Stöbern, reinsaugen ... Sie stellt jeden Bibliophilen in den Schatten. Absurd hohe Lesegeschwindigkeit. Aber hat sie Freude bei diesem Vorgehen? Sie surft auf einem Text-Meer; sie ist hocheffizient; aber bei dem Lesetempo wird sie bald bibliophob. Zum Ausgleich mal schmökern?

Die Privatbibliothek ist eine Präsenzbibliothek; die Bücher sind präsent; auch wenn man sie meist kaum beachtet, es gibt ein gutes Gefühl, sie um sich, sie bei sich zu haben. Im Grunde möchte man ein Pendant dieser Bibliothek im Geiste haben. Aber der Geist hat sein eigenes Sortiersystem, der Bibliothekar scheint sonderbar zu sein; er verlegt oft Sachen, verstaut sie erst mal im Nirgendwo. Weit entfernt von einer Universalbibliothek; es bleibt alles Stückwerk.

Und dann wird man konfrontiert mit den Sälen einer Bibliothek: Man möchte KI sein, man möchte da hineintauchen, darin baden können. "Auf, bade, Schüler, unverdrossen die ird'sche Brust im Morgenrot!" Die Fülle hat was Herausforderndes und Abschreckendes zugleich. Gut, man kann stapelweise Bücher hinaustragen; aber mit jedem neuen Buch entdeckt man neue Unwissenheit bei sich selbst. Man muss sich beschränken. Vernunft und Bücherliebe passen nicht gut zusammen. Leihbücherei: Für wenig Mäuse kann man eine Leseratte sein.

Heutzutage konkurrieren Bücher u. a. mit YouTube-Videos: Wissensvermittlung in Minutenschnelle, passendes Bildmaterial dazu. Bei Büchern ist die Fantasie involviert, sie muss mitarbeiten, zuarbeiten; sie wird trainiert. Der Autor erwartet, dass man seinen Teil dazu beiträgt. Als ob er mitunter einen Rahmen zur Verfügung stellt und eine mehr oder weniger detaillierte Anweisung, welches Bild nun vom Leser zu malen sei. Man ist sein Mitarbeiter.

Es fällt schwer, sich von Büchern zu trennen. Auch wenn man sie ausgelesen hat; der Inhalt ist ja nicht vernichtet. Es ist keine ausgetrunkene Safttüte. Man hat den Inhalt in den Geist kopiert. Man ist, was man isst: Romane und Nachschlagewerke als Nahrung? Man fühlt sich nie wirklich gesättigt. Alles nur Appetizer? Wann kommt endlich die Hauptmahlzeit? Wie eine magische Speisekarte, die länger wird bei jedem Betrachten: Es kommt immer was hinzu.

In einer Bibliothek kann man nicht in seiner Wissens-Komfortzone bleiben. Was verbergen die anderen Regale? Können Bücher raunen? Zumindest ein Zehntel Universal-Genie müsste doch machbar sein. Sie haben einen im Griff, man ist in ihrem Netz. Vom Hundertsten ins Tausendste zu kommen, ist ja kein Plan. Die Bibel ist zumindest nur ein Buch – keine Trilogie. Kein Sequel, kein Prequel. Keep it simple – das ist aber nicht die Absicht der Bibliotheken. Ungeniert präsentiert sich da das Weltwissen; Rücken an Rücken mit Science-Fiction und Fantasy. Man hat die Auswahl. Wie ein zu groß geratenes Buffet.

Die eigene Bibliothek kann es nie mit den richtigen Bibliotheken aufnehmen; auch wenn der Bücherwurm ein Bücherdrache werden würde. Es wurmt einen, dass das Wissen veraltet. Welkende Bücherschätze. Selbst mit Lesewut wäre es ein vergebliches Unterfangen: Nur die KI hat die Chance, Schritt zu halten mit dem Bücherwissen – ihm sogar voraus zu sein. Bibliotheken verlieren ihre Aura – eBooks rauben ihnen die Show. Wie sollen Bücher ihren Platz behaupten? Sie brauchen Platz. Muss kein Platz an der Sonne sein. eBooks sind platzsparender.

Eine Bibliothek ist wie ein großes Bücher-Meeting: Ein Buch widerspricht dem anderen, ein Jahrmarkt der Thesen, Belletristik-Klatsch, Thriller im Spannungs-Contest ... Jedes Buch hält Ausschau nach potenziellen Lesern. Wenn Bücher gelesen werden, erweckt das tote Buchstaben zum Leben. Für sie immer wieder ein Erlebnis. Bibliotheken als Ort der Ruhe; da gibt es Ähnlichkeiten zum Friedhof. Man lärmt da nicht, es hat was Weihevolles. Ein Ambiente, aufgeladen mit Erwartung, Suchen, Sehnsucht ... Schwerpunkt Geist. Der Geist wird hier bedient, er ist hier Kunde. Das ist sein Bodybuilding-Studio.

Eine ausrangierte Telefonzelle kann eine Bücherei sein – Bücher sind nicht so anspruchsvoll, Hauptsache, man schlägt sie auf ... Selbst Eselsohren nehmen sie dafür in Kauf. Und wenn einer unbedingt mit dem Kuli im Buch was markieren muss – sei's drum. Anmerkungen, Unterstreichungen – Zeichen dafür, dass es in Kontakt war mit dem Leser; es hat etwas erreicht. Gar nicht so einfach, inmitten von Dutzenden ähnlichen Büchern herauszuragen; man kann sich ja nicht einfach im Regal nach vorne drängen. Was soll ein tolles Cover, wenn man eh nur den Buchrücken sieht? Sind die breitrückigen Bücher etwa im Vorteil? Ein schmalrückiges Buch kann sehen, wo es bleibt? Ganz ungünstig: mit dem Rücken zur Wand.

Eine Büchersammlung verrät viel über einen selbst: welche Interessensgebiete, in welchem Zustand sind die Bücher, wie ist das sortiert, wie zerlesen sind sie – wirken einige bereits wie eine Loseblattsammlung? Mit den Büchern aus der Leihbücherei muss man sorgsam umgehen, die eigenen Bücher erleben nicht dieses Maß an Schonung.

Das Niedergeschriebene hat eine starke Glaubwürdigkeit. Gesprochene Sprache ist nur Schwingung, ist vergänglich. Bücher verwahren Momente, sie geben dem Flüchtigen Dauer. "Denn was man schwarz auf weiß besitzt, kann man getrost nach Hause tragen." Ist Fluch und Segen zugleich: Das Gedruckte hat Verantwortung, es sollte sich davor nicht drücken.

Mal sehen, was die KI aus dem eBook-Gemenge macht: verwursten? Auf dem Weg zur Universalbibliothek? Aber wer soll das alles lesen? Die nächste Generation wird vermutlich bibliophob.

 

ENDE

 

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Cover: https://pixabay.com/de/photos/frau-lesen-sessel-bibliothek-1839798/
Tag der Veröffentlichung: 20.09.2024

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