NEW YORK SPARKLE
NEW YORK GLADIATORS 2
MRS KRISTAL
1
Dan
Acht Jahre zuvor, Queens, New York
Ich sehe zu meinem Bruder Jordan rüber und seufze lautstark, als wir das abgefuckte Wohnhaus in Queens betreten. Ich sage ihm seit Jahren, dass er sich von diesem Gesindel fernhalten soll, und seit Jahren kommt er immer wieder zu ihnen zurück. Ich weiß nicht, an welchem Punkt in seinem Leben Jordan beschlossen hat, dass Junkies, Dealer und Nutten seine besten Freunde werden. Dabei ist er so verdammt schlau, studiert Jura und wird in die Kanzlei unserer Eltern einsteigen. Die wilden Jahre müssen endgültig hinter ihm liegen.
»Ich verstehe nicht, dass du immer wieder auf diese Partys zurückkommst«, nörgle ich und rümpfe im selben Moment die Nase, als die erste zugedröhnte junge Frau auf mich zustürzt. Ich kann sie gerade noch abfangen und wieder gerade hinstellen, bevor sie sich aufs Maul legt.
»Ich bin beruflich hier«, erwidert Jordan, und ich stöhne gequält auf. »Mach dich locker.«
»Ich will doch nur, dass du keinen Ärger bekommst«, beharre ich und lege ihm meine Hand auf die Schulter. »Auch wenn du … beruflich hier bist.« Verdutzt sehe ich ihn an, und er nickt.
Jordan und ich sind von Grund auf unterschiedlich, obwohl uns nur fünf Minuten trennen. Wir sind eineiige Zwillinge und als diese von unseren Eltern auch liebevoll aufgezogen worden. Bis ungefähr zur Middle School klappte das auch sehr gut, aber mit dem Wechsel zur Highschool veränderte Jordan sich. Er trieb sich immer mehr in Queens rum, statt zu Hause in Manhattan, und darüber hinaus widersetzte er sich allem, was unsere Eltern sagten. Bis heute weiß ich nicht, ob und welche Drogen er ausprobiert hat. Er sagt, er habe nur mal Gras geraucht, aber ich weiß nicht, ob ich ihm glauben kann.
In der Highschool habe ich angefangen, Football zu spielen, und es stellte sich schnell heraus, dass ich ein großes Talent habe. Schnell riss sich der Coach um mich, und mit den Jahren wurden die Scouts der Universitäten und Colleges im ganzen Land auf mich aufmerksam. Jordan interessierte sich nicht für Sport, das tut er bis heute nicht. Er war zu meinem Erstaunen oft in der Bibliothek der Schule zu finden und verkündete unseren Eltern vor Abschluss der Highschool, als für mich bereits feststand, dass ich Profifootballer werden will, dass er in ihre Fußstapfen treten möchte. Man kann sich den Jubelschrei unserer Mom ungefähr vorstellen, als sie erfahren hat, dass ihr ›Sorgenkind‹, wie sie Jordan gern nannte, Anwalt werden will.
Unser Dad und ich haben das nicht so ernst genommen. Jordan ist noch nie an etwas drangeblieben. Die meisten Dinge interessierten ihn nur für wenige Wochen oder Monate. Ein Studium, das erst zwei Jahre in der Zukunft beginnen würde, war für uns sehr unglaubwürdig. Aber Jordan hat uns eines Besseren belehrt. Er schloss zunächst seinen Bachelor in Wirtschaft mit Bestnoten ab. Danach besuchte er eine Law School und arbeitet nun in der Kanzlei unserer Eltern mit, die er wohl in den nächsten Jahren übernehmen wird.
Ich schaue zu ihm und schmunzle. Während ich um die einhundert bis einhundertzehn Kilo Muskelmasse mit mir rumschleppe, ist mein Bruder der personifizierte Büroschönling, für den jede Sekretärin die Beine breitmacht. Seine braunen Haare sind elegant mit Gel zurückfrisiert, und das schicke weiße Hemd, das er trägt, will so gar nicht an diesen Ort passen. Dazu noch seine beige Cargo-Hose und braune Oxfords. Mit meinem schwarzen Shirt und der lässigen Jeans mit Sneakers könnte man meinen, dass ich der Zwilling bin, der sich in der New Yorker Unterwelt auskennt, und nicht er. Umso verwunderlicher finde ich es, dass es ihn immer wieder hierherzieht. Es gibt keinen Grund, seine Zeit weiterhin in diesem Viertel zu verbringen. Natürlich hat Queens auch schöne Ecken, aber die muss man suchen.
»Komm schon.« Ich schiebe die Hände in die Taschen meiner Jeans. »Was willst du hier?«
»Alles zu seiner Zeit.« Jordan lässt mich weiterhin im Ungewissen, und ich verdrehe genervt die Augen. »Hier.« Er reicht mir das Getränk.
»Danke.« Und weil ich dem Ganzen nicht traue, schnuppere ich daran. Als mein Bruder das sieht, verdreht er unweigerlich die Augen. »Was?«, frage ich. »Ich weiß doch nicht, was die Leute hier in die Getränke mischen.«
»Du spinnst, Dan«, meint er. »Das ist ganz normale Cola.«
»Okay.« Ohne auf seinen Einwand weiter einzugehen, nehme ich einen Schluck. Sollte ich die Drogen, die vielleicht doch in der Cola sind, nicht schmecken und übermorgen beim Training einen Test machen, bin ich erledigt. Ich verliere nicht nur kurz vor dem Draft meinen Studienplatz, sondern auch meine gesamte Zukunft. Keiner will mit einem Collegespieler arbeiten, der Drogen nimmt.
»Und?« Jordan grinst mich böse an. »Fühlst du dich schon high?«
Ich verdrehe die Augen und trinke wieder von meiner Cola.
»Also?«, hake ich interessiert nach und lasse meinen Blick durch den Raum gleiten. »Was tun wir hier? Und jetzt erzähl mir bitte nicht, dass du alte Freunde besuchen willst.«
»Nein.« Jordan schüttelt mit dem Kopf und atmet tief durch. »Ein Kumpel von mir, Brandon, arbeitet seit Neuestem bei der Drogenfahndung des NYPD. Er ist auf der Suche nach Craig Sanchez.«
»Das ist doch dieser Kinderdealer, oder?«, erinnere ich mich.
Jordan hat mir ein paarmal von diesem Kerl erzählt. Er heuert meistens Kinder zwischen dem zwölften und vierzehnten Lebensjahr in seiner Bande an, um Drogen zu verticken. Da die Kids die Arbeit für ihn erledigen und sie deutlich geringere Strafen erwarten als einen Erwachsenen, konnte man ihm bisher nichts nachweisen. Außer er wird auf einer Party wie dieser mit Drogen erwischt.
»Brandon und zwei seiner Kollegen durchforsten seit Monaten Partys wie diese nach Craig, aber bisher ist der Penner nicht aufgetaucht. Heute haben sie vielleicht Glück, denn es gab einen Tipp, dass er kommen soll.«
»Und warum zur Hölle müssen wir dafür hier sein?« Mir ist nicht klar, wieso wir uns in diese Gefahr begeben. Für mich steht alles auf dem Spiel, wenn ich vom NYPD aufgegriffen werde. »Hast du eine Ahnung, was mit unseren Karrieren passiert, wenn wir hier gesehen werden?«
Jordan verdreht die Augen. »Gar nichts passiert mit unseren Karrieren. Keiner von den Leuten hier, außer mir, wird eine Aussage gegen Craig machen. Sie haben viel zu viel Angst vor dem Kerl. Brandon hat mich gebeten, vor Ort zu sein, und da du gerade ein paar Tage frei hast und nicht in Philly bist, dachte ich, dass es eine coole Idee ist, dich mitzunehmen.«
Ich kann nicht glauben, was schon wieder in seinem Kopf vorgeht. Natürlich habe ich ein paar Tage frei, und seitdem ich in Philadelphia studiere und Jordan in New York, sehen wir uns viel weniger. Nach achtzehn Jahren, in denen wir fast jeden Tag zusammen waren und alles gemeinsam erlebt haben – na ja im übertragenen Sinne –, war es für uns beide schon sehr komisch, dass wir uns nur noch ein- oder zweimal im Monat sehen. Zwillinge, vor allem eineiige, haben ein besonderes Geschwisterverhältnis. Wir sind auf eine unerklärliche Art miteinander verbunden, zwischen die niemals jemand kommen wird. Kein Freund und vor allem keine Frau. Unser Frauengeschmack ist auch derart unterschiedlich, dass ich mir keine Sorgen mache. Während ich Frauen mag, die Kurven haben, steht Jordan auf Modelmaße.
»Ja, was für ein Spaß«, motze ich. »Und wie nett, dass du dafür sorgst, dass dieser mir nicht entgeht.«
Er grinst und trinkt wieder von seiner Cola, während er seinen Blick durch die Menge streifen lässt. Jordan hat mir ein paarmal ein Foto von Craig Sanchez gezeigt. Ein ekelhafter und noch dazu sehr unattraktiver Kerl mit mexikanischen Wurzeln. Es würde mich nicht mal wundern, wenn er illegal in den USA ist.
»Da ist er«, sagt Jordan plötzlich, und ich folge seinem Zeigefinger mit meinen Augen. Tatsächlich betritt in diesem Moment Craig Sanchez den Raum. Ich würde ihn auf einen Meter und achtzig schätzen. Er hat schwarze Haare, die er wie Jordan mit Gel fixiert hat. Dazu trägt er ein schwarzes Hemd, das er bis zur Hälfte seiner Brust aufgeknöpft hat, um uns allen sein schwarzes Brusthaar zur Schau zu stellen. Meine Güte, bin ich wirklich der einzige Mann in diesem Land, der das wegmachen lässt? Es sieht furchtbar aus. Eine Jeans und schwarze Lackschuhe runden sein zwielichtiges Erscheinungsbild ab.
Viel mehr aber erregt die junge Frau neben ihm meine Aufmerksamkeit. Sie wirkt nervös, geradezu panisch, und sieht sich immer wieder um. Ihre langen braunen Haare hängen schlaff über ihre Schultern, und wäre sie nicht so dünn und ausgezehrt, würde ich sie wirklich hübsch finden. Als ihr jemand ein Getränk anbietet und sie lächelt, wirkt sie sofort viel fröhlicher. Sanchez beugt sich zu ihr und flüstert ihr etwas zu, was sie erneut blass werden lässt.
Unweigerlich schließe ich meine Hand fester um meinen Becher und würde am liebsten zu ihnen rübergehen und ihm eine Ansage machen, dass er sich von ihr fernhalten soll. Sie fühlt sich unwohl in seiner Gegenwart. Sie hat nicht das nötige Selbstbewusstsein, sich von ihm zu lösen.
»Kennst du die Frau bei ihm?«, frage ich an Jordan gewandt.
»Ich glaube, sie ist seine Freundin.«
»Ernsthaft?«, entgegne ich und sehe meinen Bruder entsetzt an. »Sie ist wie alt … siebzehn? Und er? Fünfunddreißig?«
»Er ist dreißig«, sagt Jordan ruhig. »Und sie könnte siebzehn sein, ja.«
»Igitt«, entfährt es mir angewidert. »Er lässt Kinder nicht nur Drogen verticken, sondern fickt sie auch noch.«
»Daniel«, zischt Jordan und sieht mich mahnend an. »Könntest du bitte leiser sein.«
»Ich sage doch nur die Wahrheit«, wehre ich mich gegen seinen Vorwurf.
Jordan seufzt und trinkt von seiner Cola. »Ich habe nie behauptet, dass du lügst, oder?«, will er wissen. »Sie ist sicherlich zu jung für ihn, aber so tickt er nun mal.«
»Na klasse«, murre ich.
In der nächsten Stunde stehen Jordan und ich da und beobachten Sanchez und seine Begleitung. Sie telefoniert immer wieder und legt jedes Mal frustriert auf, weil die Person am anderen Ende nicht rangeht. Ich bin mittlerweile wirklich versucht, zu ihr rüberzugehen und sie zu fragen, ob sie Hilfe braucht. Denn es ist mehr als deutlich, dass sie hier wegwill. Unwohlsein macht sich in mir breit, und ich schaue zu meinem Bruder, der Sanchez und sie auch nicht aus den Augen lässt.
»Das reicht«, sage ich, als Sanchez sie am Arm packt und zu sich zerrt. »Ich mache dem Kerl jetzt eine Ansage, die sich gewaschen hat und –«
»Du machst gar nichts«, knurrt Jordan und stellt sich mir in den Weg. »Kapierst du nicht, dass hier eine Ermittlung des NYPD läuft? Hier sind zig Cops in Zivil. Um die Ecke steht ein Sondereinsatzkommando, um Sanchez endlich zu fassen. Du kannst sie nicht retten, Dan.«
»Aber …«
»Kein Aber.« Jordans schneidender Tonfall macht mir klar, dass es keine weitere Diskussion gibt. Ich bin ehrlich beeindruckt von dem Mann, der gerade vor mir steht. Mein Bruder, den ich kenne, und diese Person haben absolut nichts miteinander zu tun. Aber das hätte mir auch klar sein müssen. Jordan kennt sich seit Jahren in diesem Milieu New Yorks aus. Er kann hier nicht der Schwiegermuttertraum sein, den er sonst so gut spielt. Obwohl wir erst zweiundzwanzig Jahre alt sind, scheint er seine Berufung als Anwalt gefunden zu haben. »Du bleibst hier.«
Plötzlich geht alles ganz schnell. Craig zieht aus seiner Jeans eine kleine Verpackung mit einem weißen Pulver und hält sie in die Höhe. Er reicht sie der jungen Frau, die ihn mit riesigen Augen ansieht und im ersten Moment noch zögert, aber schließlich danach greift.
»NYPD«, schreit jemand und stürzt auf Craig zu. Ein weiterer Cop gibt sich ebenfalls zu erkennen und nimmt die junge Frau fest, die immer noch das Kokain – ich nehme an, dass es Koks ist – in der Hand hält. Ihre Augen sind weit aufgerissen, und ihr Blick gleitet panisch durch den Raum. Erneut will ich zu ihr rennen und den Cops klarmachen, dass sie nichts damit zu tun hat, aber es ist zu spät. Der Polizist führt sie ab, und eine weitere Staffel Cops stürmt das Gebäude. Langsam, aber sicher dämmert mir, dass ich mitten in eine Drogenrazzia geraten bin.
»Perfekt.« Jordan klatscht neben mir zufrieden in die Hände, als Sanchez, die junge Frau und weitere Leute abgeführt werden. »Es hat alles nach Plan funktioniert.«
Mein Kopf fährt herum, und ich sehe ihn fassungslos an.
»Nach Plan?«, echot meine Stimme in meinen Ohren. »Was genau hat denn nach Plan funktioniert? Die haben eine junge Frau verhaftet, die gar nichts damit zu tun hatte, und du … du sagst, dass alles nach Plan funktioniert hat.«
Jordan stöhnt auf und stemmt die Hände in die Hüften. »Hör zu, Dan«, redet er mit mir, als wäre ich ein kleiner dummer Junge. »Ich weiß, dass du ihr helfen willst, aber so funktioniert das nun mal. Mitgehangen, mitgefangen.«
Ich schüttle mit dem Kopf, knalle meinen Becher auf den Tisch neben uns und drehe mich um.
»Ich verschwinde«, sage ich und verlasse, ohne auf seine Reaktion zu warten, das Haus. Natürlich hat Jordan nicht unrecht, aber sie ist siebzehn oder achtzehn Jahre alt. Dieser Abend könnte ihr gesamtes Leben verbauen.
»Jetzt warte doch«, ruft mein Bruder mir nach, und ich bleibe stehen. »Sie hätten sie nicht verhaftet, wenn sie sie nicht kennen würden.«
»Wenn du meinst«, murmle ich und trete ins Freie.
Vor dem Haus ist die Hölle los. Mehrere Streifenwagen erhellen die New Yorker Nacht, und zig Menschen um uns herum werden verhaftet. Ich suche sofort den Platz nach der jungen Frau ab, aber kann sie nicht mehr sehen. Hoffentlich passiert ihr nichts weiter, und sie wird nur als Mitläuferin gesehen.
2
Dan
Fünf Jahre später, Manhattan, New York
Ich parke meinen Audi vor Brooklyns Wohnhaus in Manhattan und sehe an der gläsernen Fassade hinauf. Der Mistkerl, der sich auch gleichzeitig einer meiner besten Freunde nennt, hat mich doch wirklich zum Babysitter für seine kleine Schwester Lorraine degradiert. Ich kann immer noch nicht glauben, dass ich zugestimmt habe. Er ist mit seiner Freundin Lilly nach Colorado geflogen, um ihre Familie kennenzulernen, und hat mich gefragt, ob ich ein Auge auf sie werfen könnte. Zunächst habe ich gezögert, aber Brooklyn hat nicht lockergelassen. Schlussendlich hat er noch die Karte des guten Kumpels gezogen und gesagt, dass er das für mich auch machen würde. Blöd nur, dass ich weder eine kleine Schwester habe noch eine Freundin, die ich zu ihrer Familie begleiten muss. Letztendlich habe ich seinem Drängen nachgegeben und ihm versprochen, dass ich mich um Lorraine kümmern werde.
Meine Pläne an Thanksgiving sind dieses Jahr überschaubar. Meine Eltern sind in unserem Ferienhaus auf den Bahamas, und Jordan hat sich im Büro verschanzt. Was soll schon das Problem daran sein, eine dreiundzwanzigjährige Frau von A nach B in New York zu fahren? Richtig – sie ist das Problem.
Für die Erklärung, dass sie das Problem ist, muss ich mindestens fünf Jahre zurückspulen. In die Nacht, in der die Razzia in Queens stattfand, bei der Craig Sanchez verhaftet wurde, und zu meinem Draft.
Wenige Monate nach der Razzia wurde ich von den New York Gladiators gedraftet. Ich kam mit Pierce Gates und Brooklyn Webster als Rookies ins Team. Wir waren die jüngsten Spieler und haben uns rasch angefreundet. Erst später habe ich erfahren, dass die beiden beste Freunde seit dem Sandkasten sind und es schwer war, in ihrer Mitte zu bestehen. Das hat mir aber nichts ausgemacht, denn mit dem Umzug nach New York konnte ich auch die Beziehung zu meinem Bruder wieder pflegen. Jordan ist mittlerweile einer der erfolgreichsten Anwälte der Stadt, aber bewegt sich immer noch am liebsten auf der dunklen Seite. Er kann das nicht ablegen.
Nach zwei Jahren hat Brooklyn mir endlich den Grund erzählt, warum er fast nie über seine Familie – insbesondere seine kleine Schwester Lorraine – spricht. Sie saß damals wegen Drogenbesitzes im Gefängnis. Sofort sind meine Gedanken zu der jungen Frau an Sanchez‘ Seite gewandert. Es wäre ein großer Zufall gewesen, wenn sie dieselbe Person gewesen wäre, aber ich wurde eines Besseren belehrt. Brooklyn hat mir ein Foto von Lorraine gezeigt. Die kleine Schwester meines Kumpels und die junge Frau, die ich damals beschützen wollte, aber es wegen meines Bruders nicht getan habe, sind dieselbe Person.
Mir ist im ersten Moment alles aus dem Gesicht gefallen, was Brooklyn auch gemerkt hat. Er hat aber zum Glück den wahren Grund für meine Reaktion nicht verstanden. Mein Herz ist gerast, und die Gedanken, die ich mir all die Jahre immer wieder gemacht habe, sind Amok gelaufen. Ich hätte es verhindern können, dass sie im Gefängnis landet, aber ich habe es nicht getan. Ich hätte niemals auf Jordan hören sollen. Fünf Jahre hat sie bekommen – fünf. Das ist eine Ewigkeit in unserem Alter.
Jetzt ist sie seit ein paar Wochen wieder auf freiem Fuß und braucht laut Brooklyn einen Babysitter.
Mein Kumpel darf niemals erfahren, dass ich damals dabei war in Queens und Lorraine vor der Scheiße hätte beschützen können.
Genauso wenig darf sie es erfahren.
Wenn ich mir weiter den Kopf darüber zerbreche, ob es die richtige Entscheidung war, Brooklyns Bitte anzunehmen, ruft Lorraine womöglich noch die Cops und stellt eine Vermisstenanzeige für mich aus. Immerhin sollte ich schon vor rund zehn Minuten bei ihr sein. Bei dem dichten Verkehr in Manhattan ist eine Verspätung von einigen Minuten okay. Dennoch möchte ich sie nicht länger warten lassen und bin auch wahnsinnig gespannt auf sie. Immerhin haben wir uns fünf Jahre nicht gesehen.
Mein Puls beschleunigt sich – fuck! Ich Idiot habe bisher nie darüber nachgedacht, ob Lorraine mich damals bemerkt hat. Aber nein, das glaube ich nicht. Ihr Fokus lag die ganze Zeit auf Sanchez und ihrem Handy, mit dem sie – wie ich heute weiß – Brooklyn anrufen wollte, dass er sie abholt. Sie hat nie in unsere Richtung geschaut und war viel zu sehr damit beschäftigt, es diesem Penner rechtzumachen, statt wirklich zu verschwinden. Ich schüttle unwirsch mit dem Kopf und vertreibe die Bilder von damals aus meinen Gedanken, ehe ich aus dem Auto steige und in Richtung des Wohnkomplexes gehe.
Brooklyns Apartment befindet sich in einem der teuersten Gebäude Manhattans. Es ist nicht so, dass ich mir das nicht leisten kann, aber ich mag meine Wohnung drei Blöcke weiter mit direktem Zugang zum Central Park mehr als diese überteuerten Wohnkomplexe der High Society dieser Stadt. Was aber auch daran liegt, dass ich an der Upper Eastside in einer der vornehmsten Straßen der Stadt aufgewachsen bin. Geld war in meinem Leben noch nie ein Thema. Meine Eltern hatten mehr als genug davon. Mein Apartment befindet sich in einer exklusiven Wohngegend, keine Frage, es ist aber dennoch nicht so exklusiv wie die von Brooklyn und Pierce in diesem Gebäude. Für meine stadtbekannten Partys miete ich eine Villa. Niemals würde ich irgendwen zu mir nach Hause einladen. Vor allem weil sich ständig irgendwelche It-Girls und drittklassige Schnösel eine Einladung verschaffen.
»Guten Tag«, begrüßt mich der Portier am Eingang und hält mir die Tür auf.
»Danke«, sage ich freundlich und durchquere die Eingangshalle in Richtung der Aufzüge. Alles in diesem Gebäude strotzt nur so vor Luxus. Mein Wohnhaus hat nicht mal einen Portier, lediglich eine Tiefgarage und einen alarmgesicherten Eingang. Es ist völlig ausreichend. Die Einfassungen der Aufzüge sind aus schwarzem Marmor, und ich drücke die Pfeiltaste zwischen den Türen.
Es dauert ein paar Sekunden, bis die linke Tür sich öffnet und ein Paar mittleren Alters heraustritt. Natürlich bemerke ich, dass ihre Blicke auf meine tätowierten Hände fallen. Wenn die wüssten, dass mein gesamter Körper bis auf mein Gesicht, Intimbereich, Arsch und Kopf tätowiert sind, würden sie vermutlich schreiend wegrennen. Meine Tattoos gehören zu mir, und ich stehe zu ihnen. Im Gegensatz zu meinem Bruder kann ich sie auch frei zur Schau stellen. Jordan hat lediglich seine Oberarme und Schenkel tätowiert. Den Rest seines Körpers will er auf Grund seines Berufs freilassen. Er ist der Ansicht, dass die versnobten Menschen in amerikanischen Gerichtsgebäuden für diese Revolution noch nicht bereit sind. Dazu gehört auch unser Dad. Er hat schon geschimpft wie ein Rohrspatz, als Jordan nur sein erstes Tattoo hatte. Bei mir meinte er, dass ich zum Glück keinen gesellschaftlich angesehenen Beruf habe. Was auch immer er damit ausdrücken wollte, denn meine Eltern sind sehr stolz auf mich und meine Erfolge im Football.
Ich gebe auf dem Touchpad neben der Tür die Etage und den Code ein, um zu Brooklyns Wohnung zu gelangen. Ich lehne mich mit dem Rücken an die Wand und betrachte mich im Spiegel gegenüber. Meine in der Regel längeren braunen Haare habe ich gestern bis auf wenige Millimeter abrasiert. Mein Bart ist voll und gepflegt. Einmal in der Woche gehe ich zum Barbier meines Vertrauens und lasse ihn richten. Bei ihm bin ich öfter als bei meiner Mutter, aber bei ihr bin ich immer noch häufiger als bei meinem Tätowierer. Während der Saison dürfen wir uns keinen Körperschmuck zulegen. Die Gefahr einer Entzündung und eines darauf folgenden Ausfalls ist dem Club zu hoch. Das haben die Bosse sogar vertraglich geregelt.
Ich lege den Kopf schief und schiebe die Hände in die Taschen meiner Winterjacke. Ich bin ein attraktiver Mann, keine Frage. Natürlich bin ich das, sonst würde mein Körper nicht einige Männermagazine im ganzen Land zieren. Nach Brooklyn bin ich der meistfotografierte Spieler der New York Gladiators. Aber an unseren Quarterback komme ich nicht ran. Brooklyns Job ist es, fit und wendig zu sein. Mit seinem Eight-Pack, dem Zahnpastalächeln und seiner muskulösen Statur ist er der Traum aller Schwiegermütter. Als Tight-End bin ich auch gut trainiert, aber deutlich massiger als er.
Meine Gedanken schweifen wieder zu Lorraine, und ich frage mich, ob ich ihr Typ bin. Keine Ahnung, warum ich das tue, denn ehrlich gesagt sollte ich mich hüten, Hand an sie anzulegen. Brooklyn ist mein Freund, und sie ist seine kleine Schwester. Der Bro-Code verbietet es mir, etwas mit ihr anzufangen. Vielleicht sieht sie auch total scheiße aus mittlerweile. Im Knast soll es nicht sonderlich rosig sein.
Ein Pling signalisiert mir, dass der Aufzug angekommen ist. Ich werfe noch einen letzten Blick in den Spiegel und steige aus. Auf der Etage gibt es, wie zu erwarten, nur zwei Wohnungstüren. Ich steuere die linke an und drücke die Klingel, auf der in feinen Buchstaben ›B. Webster‹ steht.
Die Tür wird schwungvoll aufgerissen, und vor mir steht eine wunderschöne junge Frau, die mich lächelnd ansieht. Ihre braunen langen Haare hat sie zu einem Zopf zusammengebunden. Sie trägt einen Hoodie von Brooklyns Sponsor, dazu eine Jeans und Boots. »Hi«, sagt sie mit einer engelsgleichen passenden Stimme, dass es mich völlig umhaut. »Komm doch rein.«
Lorraine tritt einen Schritt zur Seite, und ich gehe an ihr vorbei in die Wohnung. Ich war schon unzählige Male hier, aber noch nie bei ihr. Ich sehe sie nochmal an und schlucke. Fuck. So viel dazu, dass der Knast seinen Tribut fordert. Lorraine ist eine Granate sondergleichen, und das, obwohl sie ein derart unvorteilhaftes Outfit trägt. Ich will mir nicht vorstellen, wie sie ohne diese Schichten an Kleidung aussieht. Nein, das will ich auf keinen Fall. Denn auf einmal denke ich an Dinge, an die ich mit der kleinen Schwester meines Kumpels nicht denken sollte. Heiße erotische Bilder schieben sich vor mein inneres Auge. Ich stelle mir vor, wie sie mich reitet. Wie diese unglaublich heißen Beine sich um meine Hüfte schlingen, während ich sie hart in die Matratze ficke.
»Ich bin Lorraine.« Ich blinzle einmal und bemerke, dass sie mir die Hand entgegenstreckt.
»Hi.« Meine Stimme ist rau, und als unsere Hände sich berühren, durchfährt mich ein Stromschlag. »Ich bin Daniel … aber alle … nennen mich … Dan.«
Ich muss auf sie wirken wie der größte Idiot aller Zeiten. Lorraine aber lächelt mich freundlich an und zieht ihre Hand wieder zurück. Ein wenig seltsam ist die ganze Sache schon. Immerhin kennen wir einander nicht, und jetzt soll ich sie durch die Stadt fahren.
»Schön, dass das geklappt hat«, sagt sie und greift nach ihrer Jacke. »Ich hoffe, du hast ein wenig Zeit mitgebracht.«
»Ja sicher«, erwidere ich. »Was hast du vor?«
Interessiert, was genau meine Aufgabe heute sein wird, mustere ich sie. Lorraine zieht sich ihre Jacke über und schnappt sich ihre Handtasche. Dass Frauen immer Koffer mit sich rumschleppen müssen, mit denen sie auch spontan das Land verlassen können.
»Shopping.« Sie kichert. »Ich brauche dringend noch ein paar neue Klamotten. Brook ist leider nicht da, und ich mag nicht mit der U-Bahn fahren.«
»Warum nicht?«, frage ich sogleich und beiße mir im nächsten Moment auf die Zunge. Von Jordan weiß ich, dass sich gerade in den U-Bahn-Schächten die Dealer rumtreiben. Vermutlich hat sie Angst, Leute aus dem Milieu zu treffen. Was ich absolut verstehen kann.
»Ich weiß nicht, was Brooklyn dir über mich erzählt hat«, nuschelt sie und mustert mich, als könnte sie die Antwort in meinen Augen finden. »Aber ich möchte einigen Leuten ungern begegnen. Die treiben sich meist in der U-Bahn rum.«
»Verstehe«, stimme ich ihr zu. »Und jetzt bin ich quasi dein Chauffeur.«
Ich hoffe sehr, dass mein Witz die Stimmung ein wenig auflockert, denn das Letzte, was wir gebrauchen können, wäre, dass wir uns minutenlang anschweigen und die kommenden Stunden gequält ablaufen. Lorraine scheint sehr locker damit umzugehen, was sie erlebt hat in ihren jungen Jahren. Ich möchte ihr das nicht nehmen, weil ich mich ihr gegenüber verkrampft verhalte. Das liegt vor allem daran, dass ich sie so heiß finde. Verdammt, das darf doch nicht wahr sein. Sie ist gar nicht mein Typ. Sie ist viel zu dünn, hat zu wenig Brust, und überhaupt … Sie ist die kleine Schwester meines Freundes. Ich stehe auf den Typ Frau, wie Brooklyns Freundin Lilly es ist. Hätte er sie nicht zuerst gesehen, hätte ich auf keinen Fall meine Finger von ihr gelassen.
»Dan?« Ich zucke zusammen und sehe zu Lorraine. »Kommst du?« Sie steht in der geöffneten Wohnungs-tür und blickt mich auffordernd an.
»Ja sicher«, bestätige ich und lächle sie an. »Ich war in Gedanken.«
»Okay«, erwidert Lorraine, und ich trete an ihr vorbei in den Flur. Nachdem sie noch einmal kontrolliert hat, ob die Tür wirklich verschlossen ist, gehen wir gemeinsam zum Aufzug.
»Kennst du Lilly?«, will sie auf einmal von mir wissen und sieht zu mir auf.
»Ja.« Ich erwidere ihren Blick. »Und du?«
»Noch nicht«, meint sie und lächelt leicht. Ich sehe aber sofort, dass es nicht das herzliche Lächeln ist, das sie mir vorhin in der Wohnung zugeworfen hat. Es ist vielmehr aufgesetzt und gequält. »Brook tut sich noch etwas schwer, uns einander vorzustellen.«
»Na ja«, versuche ich meinen Kumpel zu verteidigen. »Vielleicht muss er sich mit Lilly erst einhundert Prozent sicher sein.«
»Ja … vielleicht«, bestätigt Lorraine meine Annahme, und wir betreten die Kabine des Aufzugs. Ich drücke den Knopf für das Erdgeschoss, und er setzt sich in Bewegung.
* * *
»Nie wieder«, ich keuche und lasse gefühlt zwanzig Einkaufstüten mitten in Brooklyns Wohnzimmer fallen, »gehe ich mit dir shoppen.«
»Wieso?«, fragt Lorraine lachend und befreit sich von ihren Boots und ihrer Jacke. Ihre Wangen sind von der Kälte draußen leicht gerötet. Sie sieht wahnsinnig süß, aber auch glücklich aus, dass sie alles bekommen hat, was sie wollte – inklusive Dessous. Es hat mich fast umgebracht, mit ihr in das Geschäft zu gehen und die Fragen der quirligen Verkäuferin zu ertragen. Sie hat mich immer wieder gefragt, was ich mir an meiner Freundin vorstellen kann. Daraufhin hat sie mir irgendwelche verdammt scharfen Sets gezeigt, die ich mir nur allzu gut an Lorraine vorstellen kann. Zum Glück hat Lorraine mich nicht gezwungen, mit ihr zu den Kabinen zu kommen, sondern mich im Eingangsbereich warten lassen. Obwohl dieser Gedanke absolut lächerlich ist. Für Lorraine war ich nicht mehr als die Begleitung, um in die Stadt zu kommen.
»Wieso?«, frage ich und streife ebenfalls meine Jacke und meine Schuhe ab. »Du hast alles, wirklich alles gekauft, was dir in die Finger kam.«
»Oh.« Zum ersten Mal an diesem Nachmittag scheint sie zu reflektieren, wie viel Geld sie ausgegeben hat, und beißt sich auf die Unterlippe. Dabei zieht sie diese in ihren verführerischen Mund ein, und ich muss mich ein weiteres Mal zur Raison rufen, dass ich sie nicht an mich ziehe und küsse. »Ich war das erste Mal seit Jahren shoppen«, erklärt sie mir entschuldigend. »Es war so schön, durch all diese Geschäfte zu laufen, die Sachen zu kaufen und zu wissen, dass ich sie bald tragen werde. Tut mir leid. Du hast dir das sicher anders vorgestellt. Ich werde dich nicht mehr anrufen.«
»Nein«, rufe ich und gehe auf sie zu. »So habe ich das nicht gemeint.«
Lorraine sieht zu mir auf. Ihre braunen Augen werden von einem dichten Wimpernkranz umrandet Sie lächelt mich leicht an und macht keine Anstalten mehr, Abstand zwischen uns zu bringen. Und ich auch nicht. Ich bin nach wie vor unheimlich scharf auf sie und wünsche mir, dass ich nur einmal ihre Lippen kosten darf. Ich meine, einmal ist keinmal, oder? Ich küsse sie, habe ihren Geschmack gekostet, und der Zauber ist vorbei.
»Wann warst du das letzte Mal shoppen?«, frage ich, und sie zuckt mit den Schultern.
»Vor sieben Jahren, vielleicht.« Lorraine ist sich nicht sicher. »Vielleicht auch vor sechs. Ich weiß es nicht.«
»Okay«, erwidere ich und strecke meine Hand aus, um eine Haarsträhne, die sich aus ihrem Zopf gelöst hat, hinter ihr Ohr zu schieben. Lorraine hält die Luft an, und als ihr Blick auf meinen trifft, kann ich mich nicht mehr zurückhalten und lege meine gesamte Hand an ihre Wange.
»Dan«, flüstert sie und krallt ihre Finger in meinen Pullover. Ihr Körper drückt gegen meinen, und ich lasse mein Becken kreisen. »Was tun wir hier?«
»Ich weiß es nicht«, raune ich ihr zu und spüre das Blut durch meine Adern rasen. »Wenn du nicht willst, sag es mir.«
Und mein inneres Ich schreit mir zu, dass sie mir das nicht sagen soll. Wann habe ich mich nur in diese unmögliche Situation manövriert, dass ich sie küssen werde? Scheiße, verdammt, das kann doch alles nicht wahr sein.
»Nein«, flüstert Lorraine so leise, dass ich sie kaum verstehen kann. »Das ist es nicht.«
»Sondern?« Ich mustere sie mit meinem Blick und versuche zu ergründen, was von ihrer Seite dagegensprechen könnte, dass wir miteinander schlafen.
»Es ist schon eine Weile her … ich meine …« Erneut beißt sie sich so unendlich sexy auf die Unterlippe, dass es mich jegliche Beherrschung kostet. »Mein letzter Kuss ist ewig her.«
Ich schmunzle und schiebe meine Hand ein wenig zurück, um meine Finger in ihren Nacken zu vergraben und ihren Kopf leicht anzuwinkeln.
»Ich bin mir sicher …«, raune ich ihr zu, »dass du nicht aus der Übung bist.«
»Glaubst du?« Ihre braunen Augen schauen mich fragend an, ob ich ihr die Wahrheit sage.
»Küssen ist wie … wie Autofahren, das verlernt man nicht.«
»Darf ich dich daran erinnern, dass ich keinen Führerschein habe?«
»Musst du immer das letzte Wort haben?«, knurre ich und suche irgendwo ganz hinten in meinem Kopf nach dem letzten Funken Selbstbeherrschung. Dieser ist schon im Dessous-Laden erloschen. Allerspätestens aber, als ich meine Hand an ihre Wange gelegt habe.
»Ich …«
»Schon klar«, flüstere ich, »du musst immer das letzte Wort haben.«
Dann verschließe ich ihren Mund mit meinem.
3
Lorraine
Drei Jahre später, Queens, New York
Auch nach so vielen Jahren ist es noch ein beklemmendes Gefühl, durch die Straßen von Queens zu laufen und nach Kids Ausschau zu halten, die so wie ich damals vom rechten Weg abgekommen sind. Ich habe Soziale Arbeit studiert und habe eine feste Stelle bei Lillys Organisation. Diese Arbeit zieht mich immer wieder auf die Straßen von Queens zurück. Mittlerweile nicht mehr allein und auf der Suche nach Anschluss und Drogen, sondern als Sozialarbeiterin, die die Kids vor genau so einer Karriere wie meiner beschützen möchte. Es sind drei Jahre ins Land gezogen, seitdem ich aus dem Gefängnis entlassen wurde, aber dennoch hat mich die Zeit geprägt wie keine zweite in meinem Leben.
Immer an meiner Seite ist unser Streetworker Louis. Er kam ähnlich wie ich als Teenager auf die Straßen New Yorks, probierte viele Drogen aus, bis er schließlich mit einer Überdosis im Krankenhaus landete und ihm endlich die Augen geöffnet wurden. Nach einem Entzug in einer Klinik in Kentucky ist er clean und möchte anderen Jugendlichen helfen. Darüber hinaus haben wir uns miteinander angefreundet – ich möchte sogar sagen, dass er einer meiner besten Freunde geworden ist.
Mein Leben hat sich in den letzten drei Jahren komplett geändert. Das Verhältnis zu meinem Bruder ist ungebrochen gut, aber auch das zu meinen Eltern hat sich zum Positiven gewandelt. Ich schaffe es endlich, ihnen in die Augen zu sehen, ohne dass ununterbrochen Schuldgefühle, was ich ihnen angetan habe, in mir hochkommen. Während meiner Zeit im Gefängnis konnte ich es nicht ertragen, sie zu sehen. Vor allem die Tränen meiner Mom und ihre Frage danach, was sie falsch gemacht hat, dass ich so geworden bin, haben mich fast umgebracht. Wir haben uns ausgesprochen, und ich habe erkannt, dass meine Abweisung sie noch mehr gekränkt hat als die Dinge, die ich tatsächlich angestellt habe.
Lilly kam ein halbes Jahr nach meiner Entlassung aus dem Gefängnis auf mich zu und hat mir ihre Hilfe als Sozialarbeiterin angeboten. Zunächst war ich entrüstet und furchtbar sauer auf meine Schwägerin in spe, aber sie hat nicht lockergelassen. Wenn Lilly eins hat, ist es Biss. Sie hat sich dafür eingesetzt, dass ich eine Therapie zur Wiedereingliederung in die Gesellschaft mache, und sich sogar mit Brooklyn angelegt, weil mein Bruder ihre Hilfe nicht wollte. Ich habe eingesehen, dass Lilly nur mein Bestes will, und habe zugestimmt. Es war die beste Entscheidung, die ich hätte treffen können.
In all der Zeit war Brooklyn immer an meiner Seite. Er ist nicht nur mein großer Bruder, sondern auch mein bester Freund. Dank ihm und seinem Bankkonto habe ich ein lupenreines Führungszeugnis bekommen, mit dem ich mich an der Uni in New York einschreiben konnte. Zunächst dachte ich noch, dass das niemals etwas für mich sein würde. Früher habe ich mich immer geweigert, mit Sozialarbeitern zu reden. Wen wundert das auch, wenn der einzige Sozialarbeiter, mit dem ich jemals zu tun hatte, der Meinung war, dass ich in eine Wohngruppe für schwererziehbare Mädchen gehöre. Lilly hat mich eines Besseren belehrt und mir einen Praktikumsplatz in ihrer Organisation angeboten, den ich nur zu gerne angenommen habe. Dort habe ich festgestellt, dass mir die Arbeit großen Spaß macht, und schlussendlich habe ich das Studium aufgenommen.
Brooklyn scherzt manchmal, dass ich nun wieder ›back to the roots‹ bin. Ich gucke meinen Bruder meist grinsend an und zucke mit den Schultern.
»Siehst du die Mädchen dort drüben?« Ich schaue zu Louis und folge seinem Finger zu einer Gruppe, die unweit von uns vor einem leeren Ladenlokal sitzt. »Wollen wir sie ansprechen?«
Verlag: Zeilenfluss
Texte: Mrs Kristal
Cover: Art for your Book
Korrektorat: Sabrina Undank, Dr. Andreas Fischer
Satz: Zeilenfluss
Tag der Veröffentlichung: 31.01.2023
ISBN: 978-3-96714-266-2
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