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Eine philosophische Reise ins Jenseits



Es war als ob ich das erste Mal die Augen öffnete. Ungetrübt von dem Schleier des Lebens. Befreit von den kulturellen Normen und den sozialen Einflüssen. Hier konnte ich zum ersten Mal ich selbst sein. Ich war bei klarem Verstand und konnte meine Aufmerksamkeit gezielt fokussieren. Nicht wie sonst, wo ich von der schnelllebigen Zeit überrannt wurde und mein Dasein stets unter dem zentnerschweren Gewicht meines, mir selbst auferlegten, Stresses fristete.
Doch so wohl ich mich hier, in dieser Umgebung, auch fühlte, es bürdeten sich mir doch ein paar Fragen auf: Wo war ich? Wie kam ich hier her? Und was würde jetzt geschehen?
Man kann sich vorstellen, dass eine solche Situation einen in Panik versetzt. Abgeschnitten von der Außenwelt und ganz auf sich alleine gestellt. Doch die Panik kam nicht und mir war plötzlich klar, dass sie auch nicht kommen würde. Hier, an diesem Ort, war alles gut. So wie es war, so sollte es auch sein.
Als ich meine Aufmerksamkeit auf die, mir fremde, Umgebung richtete, fiel mir zu aller erst die auf mich zuwandernde Gestalt auf. Zuerst erkannte ich nur die weißen Umrisse eines Menschen, doch je näher dieser kam, umso besser konnte ich ihn erkennen.
Es handelte sich um einen Mann im weit fortgeschrittenen Erwachsenenalter. Die weißen Umrisse, die ich zuvor gesehen hatte, bezogen sich auf seine Kleider. Er trug einen maßgeschneiderten, schneeweißen Anzug. Eine solch edle Garderobe gab es bestimmt kein zweites Mal. Die langen, weißen Hosen, das dazu abgestimmte Schuhwerk, eine passende weiß-gemusterte Fliege zum Sakko und ein eleganter weißer Hut. Und was war noch nicht alles, was sich in dieser Farbe abzeichnete. Der Unbekannte trug auch einen kurz geschorenen Vollbart, selbstverständlich war kein einziges schwarzes Haar darin zu erkennen. Ebenso weiß waren auch seine Haare - zumindest diejenigen, die unter dem Hut hervorblickten. Instinktiv schoss mir ein Bild von Captain Iglu in den Kopf. Er hatte dasselbe verschmitzte Lächeln wie sein Doppelgänger auf der Fischstäbchenpackung. Fischstäbchen, würde mir dieser gut gekleidete, ältere Mann jedoch nicht verkaufen. Insgesamt machte er einen vertrauenserweckenden Eindruck. Das Captain-Iglu-Lächeln, das bis zu seinen Augen reichte, diesen funkelnden blauen Augen hinter seiner kleinen runden Brille und der schwunghafte Gang mit seinem weißen Spazierstock. So sah jemand aus von dem man auf den ersten Blick sagen konnte, dass man sich einen solchen Menschen als Freund nicht entgehen lassen sollte.
„Hallo.“, sagte er in einem fröhlichen Tonfall. Es war die Stimmlage, die man von einem Mann seines Alters erwartete. „Tut mir Leid, dass ich ein bisschen spät dran bin.“
„Kein Problem.“, sagte ich und wunderte mich über die Zuversicht in meiner Stimme. Hier war alles irgendwie anders. Alles war... besser. Als hätte es niemals solch banale Emotionen wie Angst, Hass, Zorn, oder Furcht gegeben. Auch Liebe, Freude und Ausgelassenheit schienen hier nur eine sekundäre Rolle zu spielen. Hier herrschten die Harmonie, die Gelassenheit und die Übereinstimmung. Hier war alles so, wie es schon immer sein hätte sollen.
„Wo bin ich?“, war meine erste Frage an den älteren Herren.
Mein Gegenüber hob die Augenbrauen, drehte sich um und schien auch selbst erstmals seine Umgebung wahrzunehmen. Dabei wurde mir klar, dass ich meinem Umfeld ebenfalls noch keine große Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Sofort beschloss ich dies nachzuholen.
Der Ort an dem wir uns befanden hätte eigenartiger nicht sein können. Man hätte es als die Unendlichkeit bezeichnen können. Ein Ort festgefroren in Raum und Zeit. Vor mir, in derselben Richtung in die der ältere Mann nun blickte, befand sich die Zukunft. Und so eigenartig diese Erkenntnis auch war, ich wusste, dass ich mich nicht irrte. Als ich den Blick von der Zukunft abwandte und mich drehte, sah ich die Vergangenheit. Die Vergangenheit meines bisherigen Lebens. Doch ich sah keine einzelnen Ausschnitte daraus. Wieder wusste ich, dass ich einfach nur meine Aufmerksamkeit darauf konzentrieren musste, um eine Szene ins Bild zu rufen. Dem wollte ich allerdings später nachgehen, vorerst war es mir wichtig, mich mit dem mir Unbekannten vertraut zu machen. Vielleicht wusste der weiß-gekleidete Mann was hier vor sich ging.
„Nun“, sagte er, nachdem er ebenfalls einen kritischen Blick um sich geworfen hatte. „es scheint mir, als ob wir uns hier in einer Art Zwischenwelt

befinden.“
„Und was machen wir hier?“
„Du hast hier Zeit, um nachzudenken und wenn du einen Entschluss getroffen hast, kannst du einen Weg wählen.“
„Zukunft oder Vergangenheit.“, es war mehr eine Frage als eine Feststellung.
„Nicht ganz. Viel eher Weiterleben oder Zurückkehren.“
„Ich bin also tot?“, fragte ich nach und wieder lag keine Spur von Angst oder Schrecken in meiner Stimme. Es war einfach eine Feststellung.
„Nun ja, das ist nicht so leicht zu erklären. Du bist einerseits zwar nicht mehr am Leben, aber andererseits, tot bist du auch nicht.“
„Was hat das zu bedeuten?“
Diesmal antwortete er nicht. Er drehte sich in Richtung Vergangenheit und sofort klärte sich das Bild. Es war eine Szene aus meinem bisherigen Leben zu erkennen. Ein fülliger Mann lag auf einem Krankenbett. Links und rechts befanden sich zwei Ärzte, die mit einem Defibrillator Stromstöße verabreichten, um sein Herz wieder zum Schlagen zu bringen. Ein wenig abseits von ihnen befand sich eine Schwester, die mit gefüllter Spritze auf ein Zeichen der Ärzte wartete.
Gelassen, und man könnte sogar sagen, mit einem Lächeln auf den Lippen, erkannte ich, dass ich die Person war, die sie gerade versuchten wiederzubeleben.
„Ach so.“, sagte ich vollkommen ruhig. Irgendwie hatte ich es ohnehin gewusst. „Dann bist du also der Tod?“
Er betrachtete mich mit einem Blick, den einem ansonsten nur eine Mutter zuwerfen konnte, wenn das Kind etwas vollkommnen Unerwartetes gesagt hatte.
„Vielleicht so was ähnliches. Zumindest fehlt mir der schwarze Kapuzenumhang, die Sense und ich hab auch noch ziemlich viel Fleisch auf den Knochen.“
Ich nickte stumm.
„Du kannst mich übrigens Hainrich nennen.“, sagte er lächelnd und reichte mir seine Hand.
„Freut mich dich kennen zu lernen, Hainrich.“, erwiderte ich und griff nach seiner Hand.
„Ich fungiere hier übrigens als dein Wegbereiter. Eine helfende Hand, um dir die Entscheidung leichter zu machen.“
„Und was machen wir jetzt?“
„Als erstes machen wir es uns gemütlich.“, sagte Hainrich gut gelaunt und setzte sich auf einen Gartenstuhl.
Waren die beiden Gartenstühle und der ebenso weiße Gartentisch schon immer da gewesen?
„Komm, setz dich. Wie heißt es so schön? Besser schlecht sitzen als gut stehen.“
Bedächtig setzte ich mich ebenfalls. Die beiden Stühle waren in Blickrichtung meiner Vergangenheit ausgerichtet, wo sich immer noch die Szene meiner Wiederbelebung abspielte. Zwischen den Gartenstühlen auf denen Hainrich und ich uns niedergelassen hatten, befand sich das Tischchen. Davon hatte mein neuer Freund gerade eine Teekanne angehoben und goss sich in die Tasse. Der Tee duftete herrlich.
„Darf ich dir auch einschenken?“ Ich zögerte kurz. „Tee aus dem Jenseits

. Eine solche Gelegenheit bekommt man nicht alle Tage. Das solltest du dir nicht entgehen lassen.“
Meine Lippen formten schlagartig ein Lächeln und ich hielt ihm die zweite Tasse unter die Kanne.
„Sollten wir unsere Zeit nicht damit verbringen, zu klären, welchen Weg ich einschlagen soll? Die beiden werden nicht ewig so weiter machen.“, ich richtete meinen Blick auf die Ärzte, die immer noch um mein Leben kämpften.
„Lass dich von dem Bild nicht täuschen. Hier in dieser, ähm, Zwischenwelt, gibt es keine Zeit. Die beiden könnten noch gefühlte Jahre so weitermachen.“
Ich nickte abermals. Irgendwie wusste ich, dass er Recht hat. Es fühlte sich sogar so an, als ob ich es selbst gewusst hätte, nur dass mir die Information kurzzeitig entglitten war. Hainrich nahm einen Schluck aus seiner Tasse und ich tat es ihm gleich. Der Tee schmeckte herrlich. Besser als alles was ich je zu mir genommen hatte und selbst die Temperatur war genau auf mein Bedürfnis abgestimmt.
Man könnte fälschlicherweise glauben, dass jeder andere, der an meiner Stelle gewesen wäre, seinen Entschluss sofort gefestigt hätte und in sein Leben zurückgekehrt wäre. Umso abwegiger muss es erscheinen, dass ich mir die Zeit nehme, um mit einem älteren Mann Tee zu trinken. Aber ich hatte es nicht eilig. Hier war man vom Zeitgefüge abgeschnitten und deshalb gab es hier so etwas wie Eile nicht.
Einerseits wusste ich, dass ich hier nur war, um mich zu entscheiden, andererseits wollte meine angeborene Neugierde mehr über diesen Ort erfahren. Als stellte ich Fragen.
„Kommt jeder hier her?“
Hanrich runzelte die Stirn und dachte nach.
„Mehr oder weniger.“, sagte er schließlich „Dieser Ort entstammt lediglich deiner Fantasie. Das was du im tiefsten Inneren glaubst hier vorzufinden, erwartet dich. Für mache ist es ein Bahnsteig, für wieder andere eine Schifffahrt, mit einem noch unbekannten Ziel. Dann gibt es wieder Menschen, die daran glauben ein Skelett mit einer Sense holt sie ab und führt sie in einen Tunnel voller Licht.“, Hainrich kicherte „Hättest du also an den

Tod geglaubt, nun dann wäre ich der

Tod gewesen. Vielleicht wäre ich auch Charon, der Fährmann und hätte dich für einen Obolus ins Totenreich zum Totengott Hades überführt. Oder wärest du ein gläubiger Katholik gewesen, nun, dann hätte ich vermutlich ein weißes Nachthemd an, hätte einen langen weißen Bart, stünde vor dem Himmelstor und würde auf den Namen Petrus hören.“
„Aber ich war Katholik.“
„Ja, du warst Katholik - am Papier, jedoch nicht im Herzen. Vielleicht ist das auch gut so, denn dann hättest du möglicherweise jemanden mit Hörnern, Hufen und einer Mistgabel vorgefunden, der dich in den Höllenfeuern reinigen möchte. Moslem hättest du sein sollen, dann hättest du einen Haufen Jungfrauen um dich gehabt. Oder Germane, dann säßest du jetzt an einer goldenen Tafel, mit den edelsten Speisen, redest mit den Helden aus vergangenen Zeiten und amüsierst dich gemeinsam mit den Göttern.“
Ich lächelte. Ja, das hörte sich wirklich nicht schlecht an, aber das hatte für mich nur wenig Bedeutung. Das instinktgetriebene, engstirnige Denken, welches meinem Wesen normalerweise auferlegt war, war hier von mir genommen. Nahrung, körperliche Freuden... - darüber konnte ich mit einem Lächeln im Gesicht den Kopf schütteln.
„Und die anderen haben keine Wahl?“
„Doch, doch. Das ist hier nur so eine Art individuelle Zwischenstation. Ausgegrenzt von Raum und Zeit. Du kannst dich hier so lange aufhalten wie du willst. Auch wenn sich eine goldene Tafel und Jungfrauen fantastisch anhören... aber für die Ewigkeit? Das wäre viel zu eintönig und langweilig. Und der Himmel?“, Hainrich beantwortete diese Frage nicht stattdessen gähnte er ausgiebig. „Traurig ist es nur für diejenigen, die hier ewiges Leiden, oder nicht endende Höllenqualen erwarten. Denn genau das finden sie hier vor. Dann gibt es wieder Menschen, die kommen jeden Tag. Ich frage sie, ob sie weitergehen möchten, oder zurückkehren wollen und sie antworten: ,Ein Tag noch.‘ Und morgen treffen wir uns wieder. Irgendwann jedoch kehren sie ihrem Leben den Rücken und gehen den letzten Schritt. Andere wiederum haben diese Möglichkeit nicht.“
„Und diejenigen, die Schreckliches aus möglicherweise guten Motiven getan haben und hier jetzt das Paradies erwarten?“
Hainrich setzte wieder das Chaptain-Iglu-Lächeln auf. „Ja, diese Menschen sagen oft, sie täten es aus guten und ehrenwerten Gründen. Aber im Inneren wissen sie sehr wohl, was richtig und was falsch ist. Und auch diese finden hier genau das, was sie im tiefsten Inneren erwarten.“
„Und für mich ist es also ein Stuhl, ein Tisch und eine Tasse Tee.“
„Und ein alter Mann.“, vervollständigte Hainrich lächelnd „Du hast nicht unbedingt ein Leben geführt, dass dir den inneren Glauben gegeben hatte, hier etwas Wundervolles vorzufinden.“
„Ja, da hast du recht.“, sagte ich gelassen. Vor Hainrich würde ich nicht die Gegebenheiten so verdrehen können, dass sie zu meinen Gunsten standen und das hatte ich auch gar nicht im Sinn. Hier würde nicht geurteilt werden, hier stand man vor vollendeten Tatsachen. „Ich könnte nicht von mir behaupten, dass ich ein ehrenwertes Leben geführt habe, andererseits habe ich auch kein Leben in Schande geführt. Ich war weder gut noch böse. Habe nichts Falsches getan, aber auch nichts Gutes.“
„Du hast noch immer die Möglichkeit zurückzukehren.“
Ja, Hainrich hatte Recht. Aber wollte ich das? Wollte ich wirklich mein Leben fortsetzen? Ich stand auf, ging in Richtung Vergangenheit und betrachtete die Höhen und Tiefen meines Lebens. Meine erste, große Liebe und schließlich die Frau, die ich geheiratet hatte, meine beiden Kinder... Doch ich war ein Mensch, der seine Zeit stets am Schreibtisch verbracht hatte. Überstunden waren Normalität. Dann ein paar Affären meinerseits und ein paar von Seiten meiner Frau, und schließlich die Scheidung. Eigentlich fast schon gewöhnlich in der heutigen Gesellschaft. Das Sorgerecht für die Kinder hatte meine Frau erhalten und zu Lebzeiten war mir das sogar recht gewesen. Sie hatte immer schon gut mit Menschen umgehen können und ich wusste auch, dass sie unter meinen Fittichen keine große Zukunft erwarten hätten können. Außerdem hatte ich somit mehr Zeit - die ich vollkommen meiner Arbeit gewidmet hatte. Wie dumm das alles nun schien. Von dieser Seite aus betrachtet konnte man nicht behaupten, dass ich gelebt hatte. Ich hatte zwar ein Leben geführt, aber so richtig gelebt hatte ich nicht. Nicht einmal mein vierzigstes Lebensjahr hatte ich erreicht. Welch Verschwendung, welch Vergeudung meiner selbst auf dem Planeten Erde. 38 Jahre war ich alt. Mit 38 Jahren einen Herzinfarkt.
„Nun,“, sagte Hainrich, der an meine Seite getreten war „man kann auch nicht behaupten, dass du ein gesundes Leben geführt hast. Zwei Packungen Zigaretten am Tag. Täglich ein schnelles Essen bei der nächstgelegenen Fast-Food-Kette. Was sich übrigens auch an deiner Körperfülle abgezeichnet hatte. Aber vor allem war es der Stress, den du dir auf die Schultern gelegt hast. Wann hattest du das letzte Mal Zeit für dich gehabt? Du hast immer gearbeitet. Und Sport? Ein gesundes Essen? Spaß? Freunde? - Dafür war keine Zeit. Bei diesem Lebensstil macht die Pumpe irgendwann mal schlapp.“
„38 Jahre.“, wiederholte ich nochmals. Jedoch ohne Trauer in der Stimme. So standen nun mal die Tatsachen und ich würde daran nichts mehr ändern können.
„Ja, es ist schon komisch, man sieht es überall in der Welt, aber man glaubt nie, dass es einem selbst passiert und dann steht man irgendwann vor jemanden mit einem Captain-Iglu-Lächeln und sieht zu wie man wiederbelebt wird.“
Wieder zogen sich wie von selbst meine Mundwinkel in die Höhe. Hainrich war in Ordnung - schwer in Ordnung. Aber es stellte sich immer noch die Frage: Wollte ich wieder zurück ins Leben? Mich würde ein fetter, nikotinsüchtiger Körper erwarten. Eine Arbeit, die mich rund um die Uhr eingeplant hat. Eine Frau und zwei Kinder, die mich hassten. Und es gab keinen Menschen auf dieser Welt, dem ich etwas bedeutete, und noch schlimmer, der mir etwas bedeutete. Ja, es mag schon sein, dass ich geachtet und respektiert wurde, aber ich wurde nicht gemocht, geschweige denn geliebt. Ich hatte zwar so etwas Ähnliches wie Freunde, aber keiner von denen würde auch nur eine Minute über meinen Tod trauern. Mein Leben war in jeder Hinsicht ein komplettes Versagen. Nur in meiner Arbeit war ich gut gewesen. Wie töricht und dumm das alles doch nun erscheint.
Hainrich nippte an der Tasse, die er vom Tisch mitgenommen hatte, dann sagte er: „Du musst nicht zurück, wenn du nicht willst, du kannst auch weitergehen.“
„Und sterben?“
„Nein, nicht sterben. Nicht so wie du es dir vorstellst. Es ist eine Rückkehr.“
Ich drehte mich um, in Richtung meiner Zukunft. Hier konnte ich keine Szenen erleben, wie ich sie aus meinem bisherigen Leben gesehen hatte. Es waren mehr Gefühle, die auf mich einströmten. Zusammengehörigkeit, Einklang, Harmonie.
„Was erwartet mich dort?“, fragte ich Hanrich, der mir gefolgt war und nun wieder an meiner Seite stand.
„Das ist schwer zu erklären.“, erwiderte er „Dem menschlichen Geist, sind noch immer Beschränkungen auferlegt. Erst mit der nötigen Zeit und dem nötigen Verständnis können die Menschen diese Schranken durchbrechen.“
Kurze Zeit schwiegen wir beide, Seite an Seite und richteten unsere Blicke ins Ungewisse. Dann erhob Hainrich wieder seine Stimme.
„Wenn du willst, kann ich dir eine Metapher erzählen, um dir zumindest ein ungefähres Verständnis zu geben, was dich dort erwartet.“
„Ja, bitte.“, sagte ich mit ruhiger Stimme, meinen Blick noch immer ins Ungewisse gerichtet.
„Stell dir vor, du wärest ein Puzzle-Stück. Die Farben, die du darauf gemalt hast, deine Form und deine Größe, das bist du, das ist deine Persönlichkeit. Aber erst wenn du zurückkehrst und du dich mit allen anderen Puzzle-Stücken vereinst, wirst du die Abbildung erkennen können. Du wirst kein einzelnes Stück mit einer einzelnen Persönlichkeit mehr sein, sondern ein Bild, das aus vielen verschiedenen Farben und Formen entstanden ist.
Noch kannst du deine eigenen Farben und Formen verändern, du kannst dir allerdings auch gleich das Bild ansehen. Du hast die Zeit dich zu entscheiden und die hast du so lange wie du sie brauchst.“
Ich nickte wieder und Hainrich nippte abermals an seiner Tasse und leerte die Flüssigkeit nun vollständig. So wie Hainrich „die Rückkehr“ beschrieben hatte, hatte sie durchaus seinen Reiz. Ich müsste mich nicht mehr mit den Qualen des Lebens herumschleppen und fand vermutlich endlich eine Art von Seelenfrieden. Es schien der einzig vernünftige Weg zu sein. Und doch konnte ich keine Entscheidung fällen. Noch immer war das Leben zu schmerzhaft und das Unbekannte zu ungewiss.
„Nun“, setzte Hainrich wieder an „ich könnte dir die Rückkehr auch noch auf eine andere Weise erklären. Komm mit.“
Gehorsam folgte ich dem alten Mann. Nach wenigen Schritten hatten wir einen See erreicht. War der See schon immer da gewesen? Wieso bemerkte ich ihn erst jetzt?
Hainrich bückte sich, tauchte ein Glas Wasser hinein und füllte es. Hatte er nicht zuvor eine Tasse in Händen gehalten? Eine Tasse, aus der er Tee getrunken hatte! Jetzt war es ein gewöhnliches Wasserglas. Auch wenn diese Veränderungen der Realität für den menschlichen Geist erschreckend sein mussten und es wie eine Form von Schizophrenie erschien, hier störte ich mich nicht daran. Hier war alles gut so wie es war. Genauso wie es war, so sollte es auch sein und deshalb machte ich mir auch keine weiteren Gedanken darüber.
„Dieses Wasserglas, samt Inhalt, das bist du.“, Hainrich leerte es zurück in den See, doch noch bevor es die Wasseroberfläche erreichte, blieb es in der Luft erstarrt. Hainrich betrachtete mich mit einem vielsagenden Blick, dann hielt er das Glas hoch, so dass ich es genau sehen konnte. „Das hier“, sagte er mit nachdrücklicher Deutlichkeit „ist dein Körper. Und das hier“, er zeigte auf den See „ Ist der Weg, den du gehen könntest. Momentan bist du hier.“, er zeigte auf das sich noch immer in der Schwebe befindende Wasser, das an dieser Stelle wie festgefroren schien. „Doch anders als in der physikalischen Welt, hast du die Möglichkeit zurückzukehren. Wieder zurück ins Glas, zurück in deinen Körper.“
„Und wenn ich weitergehe?“, fragte ich nach, und schlagartig fiel das sich in der Luft schwebende Wasser in den See.
„Dann bist du zurückgekehrt. Dann hast du dich wieder mit allen anderen vereint.“
„Und dann?“
„Nun das ist wieder schwierig zu erklären. Setzen wir einfach die Metapher fort.“, er tauchte das Glas wieder in den See und füllte es erneut. „Dann passiert das.“
„Ich werde wieder geboren?“, schlussfolgerte ich „So wie man es im Buddhismus lehrt?“
„Fast.“, erwiderte Hainrich „Wie im wahren Gefüge des Universums, habe ich auch hier nicht alle Wassermoleküle zurück ins Glas gefüllt, sodass eine vollkommen neue Anordnung erschaffen. Ein neues Bewusstsein, wenn du so willst. Und vermutlich wird es auch kein Wasserglas mehr sein. Vielleicht ist es ein Schale, eine Kanne, ein Weinglas, oder sogar ein Nachttopf. Das bleibt dir, oder viel mehr euch

, überlassen.“
Wieder sah ich in Richtung Zukunft und Rückkehr, und dann in Richtung Vergangenheit und meinen bisherigen Leben. Sollte ich endlich Aufgeben und das Buch beenden, oder sollte ich noch ein weiteres Kapitel hinzufügen? Welchen Sinn sollte es haben weiterzumachen. Hatte das Leben überhaupt einen Sinn?
„Hainrich?“, fragte ich nach dieser kurzen Gedankenpause „Hat das Leben einen Sinn?“
Hainrich lachte. „Aber natürlich hat das Leben einen Sinn, ansonsten würde es das Leben nicht geben.“
„Und was ist der Sinn des Lebens?“
Diesmal brachte Hainrich nur ein gequältes Lachen hervor. „Diese Frage kann ich dir nicht beantworten, nicht einmal mit einer Metapher. Der Sinn des Lebens liegt darin, auf was du deinen Sinn beziehst und das ist wiederum von jedem Individuum abhängig. Es ist mehr so, dass du die Möglichkeit hast, dein Leben sinnvoll zu gestalten. Wenn du wirklich eine genaue Antwort, auf die großen Fragen des Leben haben willst, dann solltest du den Weg der Rückkehr wählen.“
„Also hatte mein Leben einen Sinn?“
„Wenn du deinem Leben einen Sinn gegeben hast, dann hatte dein Leben einen Sinn.“
„Also hatte mein Leben keinen Sinn.“
„Noch hat es keinen Sinn, aber dein Leben muss nicht unbedingt schon zu Ende sein.“
Wieder Stille. Welchen Weg sollte ich bloß wählen? Ich setzte mich wieder auf den Gartenstuhl und griff zu der Tasse, die noch immer gefüllt mit Tee war. Dass der Tee noch immer dieselbe, angenehme Temperatur hatte und sogar den edlen Geschmack beibehalten hatte und nicht bitter geworden war, wunderte mich nicht. So funktionierte diese Zwischenwelt nun mal. Sie war abgeschnitten von Raum und Zeit und selbst von der Realität.
Welchen Weg sollte ich gehen? Sollte ich mir die Last des Lebens wieder aufbürden und versuchen mein Leben sinnvoll zu gestalten, oder sollte ich den einfachen Weg wählen. Tot war ich ja schon, mehr oder weniger.
„Wenn ich ins Leben zurückkehre, werde ich mich an dieses Gespräch nicht mehr erinnern können.“, es war mehr eine Frage als eine Feststellung.
„Nicht unbedingt. Der Großteil kann sich an nichts mehr erinnern, aber es ist nicht zu leugnen, dass es Menschen gibt, die an der Schwelle des Todes gestanden haben und Wissen aus dem, nun ja, aus dem Jenseits mitgenommen haben. Manche berichten von einem Schiff, von dem sie über Bord gegangen sind, andere behaupten sie hätten einen Tunnel gesehen, aus dem ein helles Licht erstrahlte. Manche berichten sogar, wie sie über ihrem Körper geschwebt sind, als sie diesen wieder betraten.“
„Und an unsere Gespräche? Hatte sich irgendjemand an so etwas Ähnliches erinnern können?“
„Nein.“, sagte Hainrich und ein wenig Bedauern war in seiner Stimme zu hören. „nicht Wortwörtlich, dazu ist diese Zwischenwelt

viel zu sehr von der physikalischen Welt differenziert. Aber auch hier gibt es Menschen - Menschen, die ebenfalls Nahtod-Erfahrungen gemacht haben und ihr Leben darauf von Grund auf verändert haben. Ein posttraumatischer Wachstum, wie es die Psychologen bezeichnen. Sie haben diese negative Erfahrung genutzt und haben sich persönlich weiterentwickelt. Viele von ihnen behaupten, sie leben seither intensiver und haben andere Prioritäten in ihrem Leben gewählt. Sie sind glücklicher, geselliger, leben gesünder und haben sich einen engen Freundeskreis aufgebaut.“
„Denkst du, ich könnte das auch?“
„Diese Frage solltest du dir selbst beantworten. Kannst du es?“
Ich antwortete nicht. Ich wusste es nicht. Mein Leben war buchstäblich im Arsch. Ich war in einem Sumpf gefangen, aus dem ich mich unter übelsten Anstrengungen herauswinden musste und wenn ich das geschafft hätte, wäre ich noch immer von Morast und Schlamm besudelt und würde stinken wie ein Iltis. Andererseits wollte ich auch nicht die Flinte ins Korn werfen und wie ein Feigling zu Mami laufen. Was sollte ich tun?
„Willst du meine persönliche Meinung dazu hören? Und man bedenke ich bin nur eine Manifestation deiner eigenen Gedankenwelt. Eine Gestalt aus deinem Unterbewusstsein. Jemand der nie existiert hat. Wenn ich dir meine Meinung kundtue, ist es vielmehr so, als würdest du dich selbst beraten.“
„Das macht nichts. Ich bin für jeden Vorschlag dankbar.“
„Nun wenn das so ist“, sagte Hainrich mit einem breiten Lächeln „ich an deiner Stelle - und ich bin du - würde wieder ins Leben zurückkehren. Was hast du zu verlieren, wenn es nicht klappt, dann führen wir unser Gespräch fort.“
„Aber ich möchte nicht zurückkehren und abermals versagen.“
„Du könntest es zumindest versuchen.“
„Denkst du, ich könnte mich mit meiner Frau wieder versöhnen und eine glückliche Beziehung zu meinen Kindern aufbauen?“
„Was denkst du?“, erwiderte Hainrich, diesmal in einem Tonfall, der eine Antwort erforderte.
„Ja, ich glaube schon. Aber es wird schwierig. Und wer sagt mir, dass ich das, was ihr hier gelernt habe, nicht wieder vergesse, sobald ich wieder lebe?“
„Das kann dir niemand sagen, aber du könntest es zumindest versuchen. Der Großteil der Menschen hat weitergemacht wie bisher, aber viele haben es geschafft, ihr Leben zu ändern. Du musst dich einfach nur anstrengen

.“
„Du hast Recht! Was bin ich doch für ein selbstmitleidiger Feigling. 38 Jahre und kann immer noch nicht ein Leben auf beiden Beinen führen. Es wird Zeit mein Leben in Griff zu bekommen und ihm einen Sinn zu geben. Auch wenn es schon viel zu spät ist, es ist Zeit den ersten Schritt zu wagen.“
„Es ist nie zu spät den ersten Schritt zu wagen, außerdem hast du noch mehr Lebenszeit vor dir, als du hinter dir hast. Wenn du deinen Lebensstil änderst.“
„Danke Hainrich.“, sagte ich, entschlossen meinen Weg zurück ins Leben zu bestreiten.
„Du brauchst mir nicht zu danken. Ich bin nur eine Manifestation deiner eigenen Gedankenwelt. Im Grunde dankst du dir gerade selbst. Und jetzt geh endlich.“
„Leb wohl, Hainrich.“, sagte ich und reichte ihm meine Hand.
„Wohl eher ,Auf Wiedersehen‘, daran gibt es keinen Weg vorbei.“, sagte er lächelnd und schüttelte freundschaftlich meine Hand.
Mit einem Lächeln im Gesicht und Entschlossenheit in der Seele drehte ich mich um und richtete meinen Gang zurück ins Leben. Schlagartiger wurde mir der aufsteigende Nebel in meinen Geist bewusst. Die Klarheit meiner Gedanken, verflüchtigte sich immer mehr und das beschränkte Denken meines Selbst ergriff wieder Besitz von mir. Nichts desto trotz klammerte ich mich wie ein Ertrinkender an die Erkenntnisse und Weisheiten, die mir Hainrich mit auf den Weg gegeben hatte. Ich wollte kein zweites Mal so erbärmlich versagen.
Und da war er schon, der fettleibige, nikotinverseuchte Körper, der meine äußere Hülle war. Eilig schwebte ich auf ihn zu. Hoffentlich würde ich nicht alles vergessen und weitermachen wie bisher. Der letzte Gedanke, bevor ich meinen Körper betrat, galt Hainrich. Dieser alte Mann in seinem maßgeschneiderten, weißen Anzug und dem Captain-Iglu-Lächeln. Ihn würde ich vergessen, aber das Wissen, das er mir mitgegeben hat, das wollte ich um alles in der Welt bewahren.
Und dann hatten sich Körper und Geist wieder vereint. Das EKG fing an zu piepen.

In einer gewöhnlichen Geschichte wäre dies nun das ENDE. Doch diese Geschichte ist nicht gewöhnlich und deshalb ist es erst der

ANFANG


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 07.08.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dieses Buch ist meiner besten Freundin, Kathi, gewidmet und der Grund ist leicht erklärt: Man stelle sich die Schularbeit eines Grundschülers vor, der gerade erst zu schreiben begonnen hat. Eine Arbeit die mehr rot, als blau wäre. So ungefähr hätte man sich die erste Version dieser Kurzgeschichte vorstellen können. Präsens und Präteritum sind für mich zwei gleich aussehende Paar Damenschuhe (die natürlich vollkommen unterschiedlich sind) Und Beistriche? Man stelle sich ein Kleinkind mit einem Salzstreuer vor, das seinen Spaß daran hat die Suppe kräftig durchzuwürzen. Ich stelle mir da immer einen Bergarbeiter vor, der auf der Suche nach Gold ist, nur dass in diesem Falle das Gold ein einzelnes richtig geschriebenes Wort ist. Ich denke ich spreche im Sinne von uns allen, das eine solche Mühe honoriert werden sollte. Kathi, das hast du dir redlich verdient! Ein Schwerstarbeiter hätte es nicht leichter gehabt.

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