Cover

Introduction und Inhalt

 

Carmen Sevilla

 

Louisa - Ich bin verrückt

Renitenz und Wider­spenstigkeit sind überall gefragt

 

Erzählung

 

 

Je ne peux pas respirer sans toi,
je ne peux pas vivre sans toi,
je ne peux pas dormir sans toi,
partout où je vais tu es avec moi.

Im Büro sagte man mir: „Eine Frau hat nach ihnen gefragt, wahrscheinlich eine Studentin. Louisa hieße sie, Louisa mit scharfem 'S' sollte ich ihnen sagen, dann wüssten sie schon Bescheid.“ Louisa, Louisa? Ich kannte keine Louisa. Der Name sagte mir nichts. „Einen Nachnamen hat sie nicht genannt?“ fragte ich noch mal nach. „Nein, Louisa, das reiche. Dann wüssten sie Bescheid.“ „Tut mir leid, ich kenne keine Louisa.“ erklärte ich. Wie sie denn ausgesehen habe, erkundigte ich mich noch, aber das sagte mir auch nichts. „Na, wenn's etwas Wichtiges war, wird sie sich schon wieder melden.“ hakte ich die Angelegenheit ab. Für Louisa war es aber äußerst wichtig gewesen. Nie würde sie das Gespräch mit Nicolas vergessen können. Es hätte sie fast aus der Bahn geworfen, dass er nicht mehr reagiert hatte. Viele Jahre später besuchte sie einen Kongress, bei dem Nicolas einen Vortrag hielt. Unsinnig war es, er hatte sie ja vergessen. Trotzdem musste Louisa ihn noch einmal wiedersehen.

Als ich das Podium verließ, kam eine Frau lächelnd auf mich zu. „Na, übst du auch immer noch brav Geige?“ fragte sie mich. Ich kannte die Frau nicht, hatte sie noch nie gesehen. Woher konnte sie wissen, dass ich Geige gespielt hatte? Louisa hatte nichts vergessen, und Nicolas wollte es unbedingt wieder von Neuem hören.

 

Louisa Ich bin verrückt - Inhalt

 

Louisa Ich bin verrückt 4

Vergessen 4

Louisa mit scharfem 'S' 4

Übst du noch Geige? 4

Ich habe meine Erinnerung gesucht 6

Schwarzer Fleck 7

Mehr ist da nicht 8

Unbewusstes 9

Erwachsen werd' ich nie 10

Eine wunderschöne Frau 11

Nettes Intermezzo? 11

In Gedanken bei Louisa 12

Bestbewachte Person 13

Ich bin verrückt 14

Kostbare Beziehung 15

Sommerfest 16

Ich brauchte Rat 17

Das war Natascha 17

Trauer lässt sich nicht verbieten 18

Renitenz und Widerspenstigkeit überall gefragt 19

Ich glaube' ich will nicht mehr 20

Das soll nie enden 21

Es ist vorbei 22

Lieber Stiefpapa 23

Prädestination 23

 

 

Louisa Ich bin verrückt Vergessen

 

Gestern hattest du es verstanden, hättest jede Aufgabe lösen können, aber schon einen Tag später bekamst du's nicht mehr zusammen. Du wolltest es nicht begreifen, gestern in der Mathestunde hattest du es doch gekonnt. Aber heute war es verschwunden. Natürlich verschwinden jeden Tag, beziehungs­weise jede Nacht Unmengen an Informationen aus deinem Kopf. Alles zu be­halten, was du heute wahrgenommen hast, würde schnell zu einem undurch­sichtigen Chaos führen, du fändest dich selbst im Dschungel deines Gedächt­nisses nicht mehr zurecht. Wahrscheinlich hattest du die Formel am Abend schon vergessen. In der Mathestunde fandest du es gut, dass du es verstanden hattest, aber schon in der Pause bedeutete es nicht mehr viel. Wenn ich vom Einkaufen nach Hause komme, weiß ich doch nicht mehr, welche Gesichter ich gesehen habe, warum auch? Ich bin Dozent für Philosophie, da muss ich vieles lesen und das Gelesene behalten. Ich habe mir ein bestimmtes System ange­eignet, nach dem ich es memoriere und nicht wieder vergesse. Dafür ver­schwindet wahrscheinlich vieles von dem, was am Tage um mich herum vor­geht, aus meinem Gedächtnis.

 

Louisa mit scharfem 'S'


Im Büro sagte man mir: „Eine Frau hat nach ihnen gefragt, wahrscheinlich eine Studentin. Louisa hieße sie, Louisa mit scharfem 'S' sollte ich ihnen sagen, dann wüssten sie schon Bescheid.“ Louisa, Louisa? Ich kannte keine Louisa. Der Name sagte mir nichts. „Einen Nachnamen hat sie nicht genannt?“ fragte ich noch mal nach. „Nein, Louisa, das reiche. Dann wüssten sie Bescheid.“ „Tut mir leid, ich kenne keine Louisa.“ erklärte ich. Wie sie denn ausgesehen habe, erkundigte ich mich noch, aber das sagte mir auch nichts. „Na, wenn's etwas Wichtiges war, wird sie sich schon wieder melden.“ hakte ich die Angelegenheit ab. Ich konnte ja schließlich nicht alle Studentinnen und Studenten kennen und dann auch noch ihren Vornamen. Meine Doktoranden und auch diejenigen, die ihre Examensarbeit schrieben, kannte ich natürlich, aber sonst, wie sollte man denn und warum auch? Louisa war ja schon ein ungewöhnlicher Name. Ob sie vielleicht in einem Seminar ein Referat übernommen hatte? Aber nein, ich konnte mich nicht entsinnen. Man redete sich ja auch nicht mit dem Vornamen an. Louisa war auch am Abend schon wieder vergessen, und in der Folgezeit habe ich auch nichts wieder von ihr gehört. Sie hat sich nicht wieder gemeldet, und ich habe auch gar nicht mehr daran gedacht.


Übst du noch Geige?


Die Tage und Jahre vergingen. Ich hatte mich habilitiert und eine Stelle als or­dentlicher Professor bekommen. In Bonn fand ein Kongress zu neuen Sichtwei­sen vorsokratischer Philosophie statt, und ich sollte etwas zu heutigen Erkennt­nissen und Bewertungen über Thales von Milet sagen. Im Anschluss an meinen Vortrag fand eine kurze Aussprache statt. Als ich das Podium verließ, kam eine Frau lächelnd auf mich zu. „Na, übst du auch immer noch brav Geige?“ fragte sie mich. Ich kannte die Frau nicht, hatte sie noch nie gesehen. Woher konnte sie wissen, dass ich Geige gespielt hatte? Ich sagte ihr, dass sie mir leider un­bekannt sei und mir nichts einfiele, woher wir uns kennen könnten. „Louisa heiße ich, aber das hast du wohl auch vergessen. Du hast dich damals ja auch nicht gemeldet.“ sagte sie. „Louisa, Louisa? Da war doch mal was.“ versuchte ich mich laut zu erinnern. „Ja, richtig, eine Louisa wollte mich mal sprechen, aber ich wusste nicht wer das war. Sie waren das also?“ fragte ich die fremde Frau. „Nicolas, wir haben uns mit Vornamen angeredet. Du hast meinen Nach­namen nicht kennengelernt. Aber du hast anscheinend alles sofort wieder ver­gessen. Wir sind uns auch in der Uni noch begegnet, aber da schienst du mich auch nicht mehr zu kennen. Ja, geärgert hat es mich.“ sagte Louisa. Sie war eine sehr gut aussehende Frau, etwa Mitte Dreißig. Bei mir ging's auf die Fünf­zig zu. „Es tut mir entsetzlich leid, Louisa, aber ich muss das alles wohl sofort vergessen haben. Kannst du und würdest du mein Gedächtnis wieder auffri­schen helfen? Hast du ein wenig Zeit? Können wir das bei einem Kaffee klären?“ bat ich sie. Sie schien mich zu mustern und erklärte dann: „Na gut, hier unten im Haus ist ein Restaurant. Lass uns dort hingehen.“ „Louisa, ich weiß überhaupt nichts mehr. Du musst entschuldigen, aber ich kann es nicht ändern. Ich erinnere mich nur, dass im Büro damals mal etwas mit einer Louisa war.“ erklärte ich. „Soll ich dir alles erzählen, von Anfang an? Warum eigent­lich? Du kennst mich doch gar nicht.“ fragte Louisa skeptisch. „Bitte, trotzdem, Louisa, vielleicht kommen meine Erinnerungen dann ja wieder, oder ich lerne, mich davor in Acht zu nehmen, damit mir so etwas nicht wieder passiert.“ bat ich sie. Erweckte ich für sie einen so sonderbaren Eindruck? Sie kannte mich doch, trotzdem schien sie mich wieder zu mustern. „Ich war damals sehr böse auf dich und enttäuscht. Deshalb weiß ich nicht so recht, weshalb ich mich mit so einem wie dir wieder zusammensetze. Es wird dir nichts bedeuten, morgen wirst du wieder alles vergessen haben, warum also? Es war dumm, hierher zu kommen und dich anzusprechen. Ich weiß nicht, warum ich es trotzdem getan habe.“ sagte Louisa. „Louisa, ich bin doch bereit, alle Schandtaten zu bereuen, aber lass es mich doch, bitte, erst einmal wissen.“ erwiderte ich darauf. „Ganz schön alt bist du geworden in der Zeit.“ bemerkte sie. „Bei dir würde ich ja vermuten, dass du jünger geworden seist, nur ich weiß ja nichts davon.“ rea­gierte ich. Wir grinsten uns an und Louisa begann zu erzählen: „Ich wollte dich nach einem Seminar etwas fragen und du sagtest, wir könnten gern darüber reden, aber jetzt müsstest du ganz dringend fort. Deine Sprechstunde, nein, das sei ja nicht der richtige Ort, und wir vereinbarten einen Termin in der Cafe­teria. Ich sagte dir, dass ich Louisa hieß, und du meintest, dann solle ich dich auch Nicolas nennen. Wir kamen sehr schnell vom Philosophischen ab, und ich fragte dich nach deinem Namen, und ob du dich deshalb mit griechischer Philo­sophie beschäftigtest. Dann hast du erzählt, warum du Philosophie machtest und ganz viel mehr von dir persönlich. Ich habe auch von mir erzählt. Unsere ganze Kindheit und Jugend haben wir voreinander ausgebreitet. Sehr lange ha­ben wir uns unterhalten und dabei sehr viel gelacht. Du gefielst mir, ich mochte dich sehr gut leiden und nahm an, dass es auf Gegenseitigkeit beruhte. Warum hättest du mir sonst das alles von dir erzählen sollen. Ich wünschte mir, dass wir uns wieder treffen würden, aber ich hörte nichts von dir. Schließlich bin ich ins Büro gegangen. Trotzdem meldetest du dich nicht. Du bist an mir vorbeigelaufen, als ob du mich nicht kennen würdest. Ich war, wütend, traurig und verletzt.“ so berichtete es Louisa.


Ich habe meine Erinnerung gesucht


Ich hatte nur manchmal die Achseln gehoben, irgendwelche Erinnerungen ka­men nicht wieder. Ich wusste auch nicht, was ich sagen sollte, machte wohl ein sehr betretenes Gesicht. „Ja, so war das. Ich hatte dich gemocht und nicht ge­merkt, dass du ein Schwein warst.“ fügte Louisa hinzu. „Bitte, Louisa, ich bin kein Schwein und war auch keines. Ich habe es vergessen, frage mich, warum ich so etwas vergessen konnte und finde keine Erklärung.“ reagierte ich. „Ich denke schon, dass ich es mir erklären kann. Vielleicht muss man nicht Schwein dazu sagen, aber etwas männlich, machohaftes wird dahinter stecken. Du bist dir selbst am wichtigsten mit allem was dich interessiert. Wenn dir jemand im Seminar inhaltlich widersprochen hätte, das würdest du nicht vergessen, aber dieses persönliche Getingel, was ist das schon? Im Moment ist es vielleicht ganz nett, aber völlig irrelevant. Das ist nicht wert, dass du es speicherst. Auch dass es Kommunikation mit jemand anders war, berührt dich nicht. Rücksicht auf andere zu nehmen, Frauen und noch fachfremd kennst du nicht. Unser Ge­spräch, es ist am Abend schon bei dir vergessen.“ erläuterte es Louisa. „Ich seh' mich gar nicht so, Louisa, doch meine Arbeit dominiert schon sehr. Ich weiß ja nicht, was ich von mir erzählte, doch wenn ich offen war, will das zum Macho ja nicht passen. Es mag schon sein, dass meine Psyche auch Unge­wöhnlichem nicht stets verschlossen ist. Es stimmt schon, dass mich Hektik stört und Dinge tun lässt, die mir fremd sind. So würde ich es vielleicht eher erklären, dass nach unsrem gemeinsamen Gespräch, mich tief beeindruckend etwas gestört.“ meinte ich dazu. Ich erklärte, dass es mich beschäme, und ich keinesfalls zulassen möchte, dass Ähnliches noch einmal geschehen könne. „Louisa, wenn du es noch weißt, würde ich gern Genaueres davon hören, was ich dir von mir erzählt habe.“ bat ich. „Nicolas, das war doch vor zehn Jahren. Was soll das jetzt, das ist doch alles längst vorbei.“ meinte Louisa dazu. „Du hast mir schon vieles über mich gesagt. Ich bin froh, dich getroffen zu haben, Louisa. Freust du dich denn auch ein wenig? Du hast mich doch gesucht.“ frag­te ich. „Nicolas, ich habe nicht dich gesucht, ich habe meine Erinnerung ge­sucht. Ich bin für dich nicht existent, wen sollte ich da suchen. Unseren Nach­mittag damals gibt es nicht zwischen uns, nur mir allein gehört er.“ korrigierte mich Louisa. Ich zog laut bedenklich Luft durch die Nase. „Jetzt schummelst du ein wenig, Louisa. Das Gespräch und deine Erinnerung hätte es doch ohne mich nicht gegeben. Da gibt es doch ein Bild in dir, das bin doch ich. Berührt muss es dich haben, warum solltest du mich sonst wiedersehen wollen?“ mein­te ich dazu. „Ich weiß es auch nicht, Nicolas. Du gefielst mir schon im Seminar sehr gut. Ich ging gern hin, weil ich dich erleben konnte. Unser Gespräch hat sich ja zufällig ergeben. Ich war fasziniert, dachte wir würden uns auch sonst gut verstehen, würden prima zueinander passen. Ich sah das auch bei dir so und war glücklich. Beim nächsten Treffen würden wir uns bestimmt küssen. Ich war mir sicher, und ich hab' von dir geträumt. Wie's dann tatsächlich lief, hat mich nicht nur enttäuscht. Traurig war ich, wütend und ich fühlte mich erniedrigt. Geweint hab' ich aus Wut und wegen des Verlustes. Du männliches Schwein kannst mein Gefühl so stark verletzen. Nie wieder wird mir so etwas geschehen. Jedoch die Wunde scheint verheilt. Vergessen hab' ich's nicht, doch meinen Emotionen scheint das Schöne besser zu gefallen. Alles wollt ich vergessen, doch das geht nicht. Vorschreiben lässt sich mein Gedächtnis nichts. Was mir gefiel, daran wollt ich erinnern. Es war mein Bild und mein Empfinden. Das wollt ich wieder sehn. Darum hat's mich wohl hergezogen.“ erklärte Louisa es.


Schwarzer Fleck


Meine Augen schauten wohl ein wenig wehmütig. „Was ist mit dir? Warum machst du so ein Gesicht?“ fragte Louisa. „Ich find' es schade für mich selbst, dass ich es nicht mehr weiß. Ich hätte gerne dieses Bild, es muss sehr schön und wertvoll sein. Jetzt kann ich nur etwas aus dem rekonstruieren, was du er­zählst. Doch das sind ohne eigene Gefühle nur Ruinen. Aber vorstellen kann ich's mir schon, dass wir uns mochten.“ antwortete ich. „Siehst du, in dir da ist nichts mehr von mir. Keine Gemeinsamkeit, uns beide gibt es nicht.“ Louisa dazu. „Ich kann's nicht leugnen, dass es wohl so ist. Sehr schade ist es, und ich wünschte mir nicht's dringender, als es wieder ungeschehen zu machen.“ sagte ich. „Das ist auch gelogen. Jetzt im Moment, da glaub' ich's dir. Da wär's ganz nett für dich. Was du dir wirklich wünscht, das liegt doch ganz woanders und nicht an diesem Tisch.“ Louisa dazu. „Das trifft nicht zu, das bin ich nicht, Louisa. Die Einschätzung schreibt deine Wunde, die scheinbar doch nicht ganz verheilt. Wahrscheinlich wird sie immer offen bleiben, ich kann es nicht verhin­dern. Enttäuschtes Vertrauen, was kann für einen Menschen schlimmer sein? Dass du Fehler machst, wenn du etwas vergisst, was wichtig war, versteh' ich gut. Zu deinem Nachteil wird es, und du solltest es vermeiden. Das dein Ver­gessen andere verletzen kann, du ihnen weh tust und sie dadurch kränkst, das habe ich noch nie bedacht. Vergessen suchst du zu vermeiden, weil du dich sonst blamierst, doch dabei geht es nur um Fakten, Wissen. Was ich von dir vergessen habe, kränkt mich mehr. Zuneigung und Vertrauen, das zu verges­sen, kränkt die Seele ganz direkt. Auch wenn mir meine Arbeit viel bedeutet, ja, mir mein Selbstbild sehr stark prägt, auch wenn Bestätigung mir hier sehr wichtig, doch das Soziale kann sie nie ersetzen oder überbieten. Zuneigung und Liebe, menschliche Wärme hat die Arbeit nie zu geben. Das gibt es nur von andren Menschen und hat mit meiner Arbeit nichts zu tun.“ war meine An­sicht dazu. Louisa starrte mich wieder mit diesem musternden Blick an. „Ich kann es ja verstehen, wenn du heute sagst, dass du es lieber nicht vergessen haben wolltest. Die Assoziationen, Wünsche, Vorstellungen, was ich mit dir verbunden habe, was ich nicht kannte, hast du in mir angesprochen, das alles ist nicht fort, doch da ist dieser schwarze Fleck, dass es dir nichts bedeutet hatte. Das ist geschehen, ungeschehen wird es nicht wieder werden können.“ erklärte Louisa. „Kann ich nicht etwas tun, was diesen Fleck ein wenig aufhellt, ihm seine dunkle Schwermut nimmt?“ fragte ich. „Was soll das, Nicolas? Das ist Geschichte, vorbei, wir haben heut' nichts mehr damit zu tun. Wir reden nur darüber, weil ich dich noch kannte und dich angesprochen habe.“ Louisa dazu. „So kann ich das nicht sehen, Geschichte ist doch nicht geschlossen und vorbei. Sie lebt doch in dir fort und ist auch stets präsent in irgendeiner Form. Nicht nur die griechische Philosophie bildet heute noch Grundlage unseres Denkens, auch was vor zehn Jahren zwischen uns geschah, hat dich dazu bewegt, heut' herzukommen.“ war meine Ansicht. Louisa grinste: „Und, übst du heut noch Violine? Das hast du mir nicht gesagt.“ „Louisa, was weißt du denn von meinem Violinspiel? Was habe ich davon erzählt?“ wollte ich lächelnd wissen. „Ich glaube, alles, alles hast du mir erzählt. Es war sehr lustig und wir haben viel gelacht. Von deiner Cousine, Sunny. Dass du immer schon in sie verliebt warst und sie heiraten wolltest. Dass du meintest, sie müsse mit ihre Violine verwachsen sein, weil sie damit fast richtig sprechen könne. Dass du auch Violine spielen lernen wolltest, nein musstest, war selbstverständlich. Auch wenn die Eltern es nicht wollten, es nicht ertragen konnten, als du damit anfingst. Das alles hast du mir erzählt und dazu viele lustige Details. Ja, und auch dass dein Interesse an philosophischen Fragen die Violine von ihrem ersten Platz verdrängt hat, und nicht nur die Violine.“ erläuterte Louisa. „Was denn sonst noch? Das wüsste ich gar nicht.“ fragte ich. „Drei Freundinnen hättest du in der Schule gehabt. Du hättest sie so gern gemocht, das heißt, du warst wohl scharf auf diese jungen Damen. Bei allen dreien hättest du befürchtet, später über die Qualität des Waschpulvers mit ihnen reden zu müssen. Was dich bewegte, philosophisch interessierte, wäre mit ihnen nicht zu diskutieren gewesen. Es hätte dich zerrissen, du hättest sie doch so gern gehabt. Die Perspektive eurer Kommunikation wurd' dir zum Horror, jedes mal. Ich weiß das alles noch, weil du es so lebendig und detailreich erzähltest, und es mir einen tiefen Einblick in dich vermittelte. Dass du mich vergessen konntest, passte einfach nicht dazu.“ erzählte Louisa.


Mehr ist da nicht


„Ich habe eine Idee, Louisa.“ begann ich, „Wir tun jetzt so als ob es damals wäre, nur du weißt eben schon einiges über mich.“ Louisa machte ein Gesicht und ein Geräusch dazu, das sagte: „So ein Blödsinn.“. „Warum? Wozu? Das ist doch Unfug. Die Situation ist nicht mehr die von vor zehn Jahren. Ich bin ver­heiratet und habe Kinder. Ich nehme an, bei dir wird es nicht anders sein. Wir treffen uns hier heute. Für mich ist es nett, dich wiedergesehen und mit dir ge­redet zu haben. Und du hast eine Frau kennengelernt, die ganz viel von dir weiß. Am Montag beginnt wieder unser Alltag wie immer für dich in Düsseldorf und für mich hier. Das war's, mehr ist da nicht.“ Louisa dazu. Ob ich es bedau­erte? Wahrscheinlich schon, das musste mein Gesicht ihr wohl verraten. „Was willst du denn? Soll ich mich jetzt erneut in dich verlieben? So ein Unsinn, du bist ein anderer, du bist schon fast ein alter Mann. Und darüber hinaus habe ich keinen Bedarf mich verlieben zu wollen.“ erläuterte Louisa ihre Sicht. „Welch schöne Komplimente du machen kannst. Vielleicht hab' ich mich doch getäuscht. Du bist nicht jünger, sondern in den zehn um zwanzig Jahre eher gealtert, dass du so zickig Unverschämtes sagen kannst.“ ich darauf. „Ent­schuldigung, das war sehr böse, ich meinte aber eher uns beide. Wir haben miteinander nichts zu tun. Wir sind und werden älter und wir haben jeder unser Leben. Das woll'n wir leben und nicht eine längst vergangene Episode wiederbeleben. So wollte ich's gesagt haben. Ich kann trotz allem doch nichts Böses zu dir sagen. Du bist ein charmanter Mann, der, sagen wir mal, nicht mehr zu den Allerjüngsten gehört. Ist das o. k.“ interpretierte sie es. Wir lachten. „Louisa, ich kann da gut mit leben, wie alt ich bin. Zur Zeit ist es noch so. Genau kann ich's nicht sagen, warum ich weiter gern mit dir geredet hätte. Ich weiß nur, dass ich es als angenehm empfinde und es mich interessierte, mehr von dir zu wissen.“ ich dazu. „Na ja, ich habe dich ja auch nicht nur gesehen und konnte in meinen Erinnerungen leben. Unser Gespräch hat schon das Bild von dir bekräftigt und sicherlich den dunklen Fleck ein wenig heller werden lassen. Wenn du möchtest, können wir uns auch morgen nochmal unterhalten. Ich kann ja wiederkommen, aber ich weiß nicht, wie du hier eingebunden bist.“ schlug Louisa vor. „So gut wie gar nicht. Komm sobald du kannst. Nur zum Abschluss am Nachmittag findet eine Podiumsdiskussion statt, an der ich unbedingt teilnehmen muss. Vielleicht ist das ja auch für dich ganz interessant.“ antwortete ich darauf.


Unbewusstes


War ich verwirrt? So etwas Ähnliches bestimmt. Ich kannte diese Frau doch nicht und trotzdem suchte ich krampfhaft in meinen Erinnerungen nach diesem Gesicht. Es war ja nicht nur das Gesicht, wie wir gesprochen hatten, was sie sagte und auch die Stimme, es war, als ob ich es tatsächlich nicht vergessen hätte. Es schien mir alles selbstverständlich und vertraut. Vielleicht war es aus meinem Unbewussten doch nicht ganz verschwunden. Da musste auch die Sympathie sein, die ich gleich für sie empfand. Natürlich war sie eine fremde Frau für mich, deren Name mir auch nichts sagte, doch so verhielt ich mich nicht. Vielleicht weil sie von unserem Treffen erzählte, doch möglicherweise gab es da auch etwas in meinem Unbewussten von dem das Bewusstsein nichts erfahren konnte. Ich spürte es, dass ich sie mochte, das Empfinden hat­te, dass uns etwas verbinden würde, aber erklären konnte ich dazu nichts. Dass ich es damals vergessen hatte, wurde mir eher unverständlicher, als dass ich es begriff. Es mussten doch alle Bedingungen erfüllt sein, dass man es nicht vergas. Intensive persönliche Betroffenheit und hoher emotionaler Gehalt, was brauchte man denn mehr, um etwas zu behalten. Vielleicht hatte Louisa ja nicht ganz Unrecht. Ich hätte vorher etwas fachlich Bedeutsames gemacht und direkt anschließend wieder, und die Zeit mit Louisa war dazwischen verschwun­den, hatte nie mein Langzeitgedächtnis erreicht. Ich versuchte mir auszuma­len, wie unser Gespräch wohl ausgesehen hätte. Unsinn, ich wusste nur was Louisa jetzt erzählt hatte. Warum musste ich eigentlich immer daran denken? Ich würd' sie morgen wiedersehen, damit war's doch gut. Aber es ließ sich nicht einfach ausschalten. Auch im Hotel und beim Lesen kamen immer wieder Gedanken dazu auf.


Erwachsen werd' ich nie


Am nächsten Morgen kam Louisa schon um Zehn. Nein, richtig gefrühstückt hatte sie nicht, nur einen Kaffee getrunken. Morgens habe sie keinen Hunger, meinte sie. Vom Frühstücksbüfett im Restaurant holte sie sich aber eins nach dem anderen. „Nein, weißt du, wenn ich erst mit der ganzen Family gefrüh­stückt hätte, wäre ich gar nicht los gekommen.“ meinte Louisa und erzählte, wie das bei ihnen so allgemein abliefe. „Ja, eine richtige Familienmami bin ich geworden. Wenn du mich von damals kennen würdest, lachtest du dich jetzt schief. Hast du auch Kinder? Sicher schon ältere, nicht wahr?“ fragte sie mich. „Nein, wir hätten schon gerne, aber dann ging es bei meiner Frau nicht. Wir haben uns unser Leben schön ohne Kinder ausgemalt. In eine Kinderwunsch­manie wollten wir nicht verfallen.“ erklärte ich, hatte aber keine Lust, weiter über Familie und Beziehung zu reden. „Wie und wann bist du denn eigentlich nach Bonn gekommen?“ fragte ich. „Im nächsten Semester schon, nachdem du mich versetzt hattest, habe ich jemanden aus Bonn kennengelernt, mich ver­liebt und war froh von Hamburg wegzukommen. Dann hab' ich hier studiert, und weil es mit meinem Freund und mir wohl etwas auf Dauer werden sollte, sprachen wir auch über Kinder. Ich habe dann Lehramt mit Geschichte/Politik gemacht. Der Wissenschaftsbereich hätte mich schon mehr interessiert, aber da musst du dann flexibel sein und dich voll reinhängen können. Promovieren wollte ich allerdings noch, und zum Ende meiner Dissertation wurde ich schon zum ersten mal schwanger. Alles ganz schön komisch, sag ich dir.“ erklärte Louisa und lachte. „Was war das Komische daran?“ erkundigte ich mich. „Du weißt das ja alles. Die Abläufe sind ja alltäglich, aber wenn dein eigener Bauch dick wird, weil ein Kind von dir darin wächst, dann ist das schon sehr kurios. Es selber zu erleben, ändert dich. Ich weiß nicht, ob erwachsen werden dazu passt, aber du erfährst dich stark verändert.“ sagte Louisa und fügte dem hin­zu: „Erwachsen werd' ich, glaub' ich, nie. Das ist ein Zustand, der nicht zu mir passt. Ich denke, ein mir wesensfremdes Verhalten.“ Wir lachten. „Hältst du mich denn für erwachsen. Was für ein Zustand ist es denn? Ist es sehr wün­schenswert oder eher beschwerlich?“ erkundigte ich mich. Louisa lachte wieder. „Es ist primär ein Zustand der Abwesenheit.“ bestimmte Louisa apodiktisch. „Ah ja, erläuterst du es näher?“ bat ich. „Ja, schau mal, Kinder tun ihren Ge­fühlen keinen Zwang an. Sie leben sie voll aus. Sie leben absolut in ihrem Le­ben. Wo bleiben denn Erwachsene damit. Sie tun, als ob sie keine hätten, alles nur nach festgelegten Ablaufplanungen vollzögen, sie nur der Rationalität ver­pflichtet schienen. Im Leben eines Menschen, wie es dem Menschen selbst ent­spricht, sind sie abwesend. Sie wissen es nur nicht, haben sich dahin treiben lassen, meinen diese schizophrene Situation sei das Typische, Notwendige.“ er­läuterte Louisa. „Verrätst du mir denn jetzt, ob du mich auch unter die Abwe­senden im originären menschlichen Leben subsumierst?“ fragte ich nach. „Da­mals hättest du nicht dazu gehört. Das konnt' ich klar erkennen. Jetzt weiß ich's nicht. Jetzt kenn' ich dich zu wenig.“ antwortete Louisa. Louisa war gut aufgelegt und schien Lust auf Scherze und launige Worte zu haben, aber was sie sagte, war deshalb kein Unsinn. „Wenn du also nicht erwachsen bist, be­deutet das, deinen Gefühlen freien Lauf zu geben, sie voll erfahren und voll auszuleben?“ erkundigte ich mich. Ein lang gezogene „Ja,“ begleitet von einem stakkatoartigen Lachen bekam ich zu hören. „Ach, Quatsch, das geht doch nicht. Nur stell es dir doch vor, wie schön das wär'.“ „Louisa, ich kann mir das gar nicht vorstellen. Wahrscheinlich bin ich zu erwachsen. Mir ist es überhaupt nicht klar, wann ich Gefühle nicht voll wahrnehme und sie nicht entsprechend auslebe.“ so sah ich mich. „Das glaube ich dir nicht. Dir wird’s nur nicht bewusst. Als du mich vorhin sahst, hast du dich doch gefreut. Das sah man, und du hast es nicht verborgen. Du hast nicht kühl mir 'Guten Morgen' gesagt. Dein Gesicht strahlte Freude aus. Das ist sehr wichtig für mich, jedoch auch für dich selbst.“ erläuterte sie es. „Ja, das stimmt, ich habe mich gefreut und tu's auch jetzt noch. Mir kommt es vor, als ob ich unser Treffen doch nicht ganz vergessen hätte. Vielleicht hab' ich was abgelegt, wo ich's nicht wiederfinden konnte.“ meinte ich dazu. „In den Verließen deines Unbewussten willst du mich eigesperrt haben? Ach, Nicolas, wie bist du süß. Du kennst mich nicht und kennst mich doch. Wie kommst du denn auf den Gedanken?“ wollte Louisa wissen. „Mein Bewusstsein kennt dich nicht, das ist schon so, doch mein Verhalten will nicht dazu passen. Meine Gefühle seh'n dich freudig und vertraut, keine Distanz zu einer fremden Frau.“ begründete ich es. „Kannst du Louisas Geist denn aus den Gruften deines Unbewussten auch befreien?“ fragte sie verschmitzt lächelnd. „Er ist schon hier, hat sich vermählt mit Louisas Körper. Spürst du das nicht, dass du ganz hier bist, als der ganze Mensch Louisa?“ fragte ich juxig. „Doch, doch, ich fühl mich voll lebendig, und besonders weil du hier bist.“ Louisa dazu.


Eine wunderschöne Frau


Wir lachten und Louisa kramte in ihrer Tasche. Sie holte Fotos raus, zeigte sie mir und meinte: „Die hast du vergessen. Die sind aus jener Zeit, als wir uns trafen.“ „Ich kann es einfach nicht verstehen, eine so wunderschöne junge Frau.“ war meine Reaktion darauf. „Jetzt fällt's dir leichter, mich zu vergessen, ja?“ wollte Louisa wissen. „Was redest du, Louisa? Du bist auch heute eine wunderschöne Frau, doch das wird nicht der Grund meines Erinnerns sein.“ ich darauf. „Sondern?“ fragte sie. Ich überlegte ein wenig und meinte: „Ich kann es gut verstehen, dass wir uns damals gerne leiden mochten. Ich weiß nicht, was du in mir ansprichst. Ich mag dich sehr, auch wenn ich dich vor vierund­zwanzig Stunden noch nicht kannte.“ „Nein, nein, das ist nicht richtig, Nicolas. Wir können gute Freunde sein, das muss uns reichen. Ein Intermezzo wird es sein, das uns gefiel. Am Nachmittag ist es vorbei. Wir sehn uns nie mehr wie­der. Jeder geht seinen eigenen gewohnten Weg.“ Louisa dazu. Ja, natürlich, so würde es sein. Louisas Anwesenheit bewegte mich. Ich würde sie nicht nur nicht vergessen, sondern öfter an sie denken, dessen war ich mir gewiss.


Nettes Intermezzo?


Und für Louisa selbst war's nur ein Spiel? Das glaube ich nicht. Sie unterrichte­te zwar Philosophie, aber gestern zum Kongress war sie nur meinetwegen ge­kommen. Und auch heute, sie hatte es ja vorgeschlagen. Obwohl sie mich doch gestern gesehen hatte, war ihr auch heute das Treffen mit mir wichtiger als ihre Familie. Es als nettes Intermezzo zum Fall Nicolas ablegen? Das hielt ich für sehr unwahrscheinlich. Von dem schwarzen Fleck, der meinem Bild anhaftete, war heute nichts zu spüren. Kritisch gemustert wurde ich nicht mehr. Sie schien sich wohl zu fühlen, es gefiel ihr. Das musste ihr Gefühl sein, das sie nicht verbarg. Wir unterhielten uns auch ernsthaft. Louisa sprach von ihrer Arbeit in der Schule. Es sei schon enttäuschend, festzustellen, dass es mit der Philosophie jetzt vorbei sei, und es nur um Pädagogik gehe, schilderte Louisa ihre Erfahrungen. „Ich mag ja Kinder, auch ganz kleine, nur als Beruf? Ich weiß nicht, mir gefällt das nicht.“ erklärte sie. Ich habe ja fast nur mit den älteren zu tun. Die schwersten pubertären Auswüchse sind schon vorüber. Griechische Philosophie ist mir ganz wichtig. Das ist noch immer da. Das bist du in mir. Und das Kollegium, die andren Lehrerinnen, Lehrer? Das ist nicht meine Welt. Es gibt schon ein paar Frauen, die ich besser kenne, doch letztlich ist alles sehr reserviert. Am schlimmsten war die Ausbildung im Referendariat. Entwürdigend war es, vor Wut hab' ich geheult, aber ich konnte es ja nicht hinwerfen, mich immer nur trösten, dass es vorüber gehen würde.“ berichtete Louisa. Für irgendeinen undefinierbaren Notfall tauschten wir unsere Adressen und Handynummern aus. Louisa blieb auch zur Podiumsdiskussion. Anschließend wechselten wir noch einige Worte. Wir schienen nicht zu wissen, wie wir uns trennen sollten. „Jetzt muss ich aber endgültig nach Hause.“ meinte Louisa grinsend. Wir umarmten uns und verharrten mit unseren Gesichtern direkt voreinander. „Du musst mich küssen,“ sagte sie, „damit Louisa einmal in ihrem Leben von Nicolas geküsst wurde.“ Wir grinsten und brachten unsere Lippen in Berührung. Leidenschaftlich ist ein triviales Wort. Louisa küsste mit Verlangen und Begierde. Sie atmete tief und ihre Augen sagten, dass es eine Metapher war, für etwas, das es zwischen uns nicht geben konnte.


In Gedanken bei Louisa


Die Vorsokratiker waren das Thema, und ich, hatte ich mich verliebt? So etwas Ähnliches bestimmt. Ich liebte doch Natascha, meine Frau, meine Gedanken waren aber bei Louisa. Ich sollte es als kurioses, schönes Erlebnis memorieren, dabei wollte ich's bewenden lassen. Doch meine Emotionen befolgten meine Vorgaben nicht. Auf der Rückfahrt war noch alles frisch und auch sehr nahe, doch auch im Folgenden verlangte Louisa stets Gedanken. Nach ein paar Tagen würde es sich legen, dachte ich, doch, nein, Louisa blieb mir stets präsent. Ich lebte mit ihr, träumte von ihr. Für welchen Traum ich mir von ihr Erfüllung sah, ich kannte ihn nicht, wusste nicht, was sie in mir ansprach, empfand nur, dass ich mich danach sehnte. Es war ja völlig wiedersinnig, auch wenn es schön war von Louisa und mir zu träumen, war es verrückt und zwecklos. Nach etwa ei­nem halben Jahr war sie noch immer nicht verschwunden. Louisa rief mich an. Sie hatte eine inhaltliche Frage. Sie hätte es auch nachschauen können, doch das sagt' ich nicht. Ihre Stimme hören, machte mir ein warmes Herz. „Hast du noch manchmal an mich gedacht?“ fragte ich dümmlich. „Nein, nein, am nächsten Tage alles absolut vergessen.“ antwortete sie und lachte. Wir spra­chen noch ein wenig, und ich bat sie, mich jederzeit anzurufen, wenn sie eine Frage habe. „Ich rief sie ein paar Tage später an unter dem Vorwand, mich zu erkundigen, wie es ihr mit dem Nachgefragten in der Schule ergangen sei. Das Handy schien uns zu gefallen. Wir riefen uns jetzt öfter an, einfach um etwas zu erzählen. Wir wollten den anderen hören, mit ihm sprechen, das war uns Grund genug. Hat ich Louisa nicht gehört, dann fehlte mir etwas am Tag. „Nicolas, ich möchte dich bitten, dass wir nicht mehr so oft telefonieren.“ sagte Louisa zu mir. „Was ist los? Fühlst du dich bedrängt?“ erkundigte ich mich. „Nein, nein, Nicolas, such keinen Grund bei dir. Mit dir hat es nichts zu tun. Es liegt allein an mir.“ antwortete Louisa. „Hast du zu Haus Probleme, oder woran liegt es?“ fragte ich. „Ich kann dir das nicht sagen. Du musst mir vertrauen. Wir vertrauen uns doch.“ war Louisas Reaktion. „Und wann, wie oft dürfen wir noch telefonieren?“ wollte ich von ihr wissen. „Gar nicht, nein Quatsch, ich weiß es nicht.“ reagierte Louisa leicht verwirrt. „Einmal pro Woche, oder wäre dir das zu oft?“ schlug ich vor. „Ja gut, ruf mich am Dienstagabend an, so etwa um halb neun.“ sagte Louisa. „Louisa, dir wird es vielleicht nicht Recht sein. Ich komm nach Bonn am übernächsten Wochenende. Nichts wäre mir lieber, als wenn wir uns sehen könnten. Am Sonntag, auch wenn's nur für kurze Zeit wär'.“ bat ich sie. „Ach, Nicolas, du machst Probleme.“ stöhnte sie, „Ich werd's mir überlegen, und ich sag dir dann Bescheid.“ Ich hatte nichts zu tun in Bonn, wegen Louisa wollt ich fahren. Sie schien verwirrt und hatte offensichtlich wohl Probleme.


Bestbewachte Person


Am Dienstag sagte sie mir zu. Am übernächsten Sonntag um halb drei wollten wir uns treffen. Ich hatte mir extra etwas ausgedacht, weshalb ich in Bonn sein würde, aber Louisa fragte gar nicht. Ich saß schon im vereinbarten Café, als Louisa reinkam. Wir umarmten uns und unsere Gesichter standen sich wieder grinsend gegenüber. „Zum zweiten mal von Nicolas geküsst? Zur Begrüßung aber nur ganz zart, nicht wahr?“ sagte Louisa, wir lächelten und taten es. „Ach je,“ beklagte sich Louisa, „ich bin die bestbewachte Person in dieser Stadt. Alle wissen jederzeit wo ich bin und was ich gerade mache. Ich habe nicht viele Freundinnen, die schweigen können. Ich bin jetzt bei Anke, sie ruft mich an, wenn jemand sich melden sollte. Ja, ich glaube schon, dass ich gefangen bin. Ich muss nicht gerade Zwangsarbeit verrichten, doch vom Aufstehen an bin ich aktiv und tue, was man von mir erwartet. Erst abends im Bett bekomm ich Ruhe, doch selbst da nicht. Die verführerische Nymphe wird von mir erwartet, die den ganzen Tag über an den Flüssen und Teichen des Olymp gespielt hat. Das hab' ich aber nicht, ich hab' malocht die ganze Zeit, ich bin geschafft und brauche meine Ruhe.“ „Was sind denn das für Zustände bei euch?“ fragte ich erstaunt. „Das sind keine Zustände, das ist anderswo nicht anders. Im Nach­barhaus nicht und im übernächsten auch nicht. Die Frauen blicken's nicht. Sie gehen zur Ärztin lassen sich Hormone verschreiben, weil sie angeblich keine Lust am Sex mehr haben. Es ist das Soziale, dass du keine Lust mehr hast, da­gegen helfen keine Pillen und Hormone. Ich möchte manchmal raus, einfach raus aus alledem nur wohin. Es gibt doch nichts, wohin ich gerne möchte. Ich glaub, ich käme nie zurück, nein doch nicht, schon am nächsten Tag. Ohne die Kleinen könnt' ich's nicht ertragen. Ja wirklich, Nicolas, ich denke oft, dass ich von ihnen lebe, emotional, verstehst du. Wenn ich sie morgens wecke und sie schlafend in ihren Bettchen sehe, geht bei mir schon die Sonne an. Es mag so abgeschmackt und kitschig klingen, aber sie sind wie Blumen, die in deinem Herzen wachsen. Die Realität mit Kindern übertrifft, was du dir vorstellen konntest. Vielleicht ist es ja auch nur bei mir so, und andere empfinden nicht so stark. Aber ich sag's ja, die Gefühle erkennen und leben.“ erzählte Louisa. „Louisa, es klingt so, als ob du allein lebtest. Unterstützt dein Mann dich denn nicht? Er kommt außer als Nymphenfreund nicht vor.“ erkundigte ich mich. „Ich bin zwar eine Nymphe, du erkennst es, nicht war, aber mein Mann hat mich noch nie direkt darauf angesprochen.“ antwortete Louisa und lachte. „Nein, es war eine Metapher dafür, was Männer von Frauen abends im Bett erwarten. Mein Mann ist Arzt im Krankenhaus und oft nicht da. Ich seh' mich schon allein verantwortlich, da hast du Recht.“


Ich bin verrückt


„Da bist du immer so stark beschäftigt, dass unser häufiges Telefonieren dich stört.“ vermutete ich, um mehr zu hören. Jetzt schaute Louisa mich wieder skeptisch an und musterte mich. „Ach, Quatsch, natürlich nicht. Nicolas, ich mag dich sehr, sehr gern. Wir haben ja nichts miteinander zu tun gehabt. Es sind meine Imaginationen, meine Vorstellungen. Ich weiß nicht, was du in mir ansprichst, doch es ist äußerst stark. Der Wunsch nach Liebe und Verlangen, dominieren mich, wenn ich an dich denke. Es ist so stark, wie ich es nie ge­kannt. Dorthin möcht' ich flüchten, nur meine eignen Bilder sind es, die ich grundlos mit dir verbinde. Ich kann mich nicht dagegen wehren. Wenn du an­rufst, sind sie immer da. Ich muss hier leben, ganz vernünftig leben, ständig mit dir telefonieren macht mich verrückt. Ich bin verrückt, Nicolas, so ist es. Lass mich von etwas fesseln, das es gar nicht gibt.“ erklärte sich Louisa. Jetzt blickte ich sie länger an.“Ja, Nicolas, so ist es. Ich bin verrückt, verrückt nach dir, und dafür gibt es keinen Grund.“ „Ich weiß es nicht genau, Louisa, aber ich könnte mir vorstellen, das du etwas überbewertest. Macht das nicht immer Lie­be aus. Der andre spricht etwas in dir an, was du nicht kennst, und du bist fas­ziniert. Vielleicht sind es ganz alte Bilder von Liebe und Vertrauen, die dir selbst nicht mehr gegenwärtig sind. Dein Liebster verspricht, ihnen neue, leuchtende, heutige Farben zu verleihen. Gefühle, die tief in dir und berechtigt sind, als Spinnerei und unbegründete Fantasie, würde ich das nicht sehen. Ich muss auch immer an dich denken, ich weiß es nicht warum, was du in mir be­wegst, in den Verließen meines Unbewussten wird es liegen. Das muss ich ak­zeptieren, es mir verbieten, kann ich nicht.“ meinte ich. „Das können eben nur Erwachsene.“ scherzte Lisa und lachte, „Die haben die Gefühle fest im Griff. Ich habe ja damals schon gedacht, dass wir gut zueinander passen würden, doch dafür ist es jetzt zu spät. Wenn du mich nicht vergessen hättest, was dann wohl wäre. Alles ganz anders würden wir es machen? Ich glaub' es nicht. Viel­leicht hätten wir es uns gewünscht, aber die Macht der Verhältnisse und der Kleinfamilie, hätte uns bestimmt auch nicht einfach so aus ihren Krallen entlas­sen. Solche Gedanken kommen auch in den Träumen gar nicht vor. Da besteht das Leben aus Zärtlichkeiten austauschen und sich gegenseitig glücklich ma­chen.“ „Wenn du das nicht vergisst, keine Sekunde, dass ihr zusammen seid, weil ihr euch gegenseitig glücklich machen wollt, wie soll dann eure Gemein­samkeit zerbrechen?“ sagte ich. „Ach, Nicolas, wir beide könnten so etwas viel­leicht bringen, aber im allgemeinen dominiert doch ziemlicher Beziehungs­schrott?“ war Louisas Kommentar. Ich wollte wissen, was sie darunter verste­he. Na ja, die tiefere Basis fehle eben, auf der man eine Beziehung dauerhaft wertvoll leben könne. Meist bestehe nur anfängliche Verliebtheit, die man nicht verlieren wolle und irgendwann habe man sich dann aneinander gewöhnt. Das war mit Sicherheit ihre eigene Beziehung zu ihrem Mann und war mit Grund dafür, dass sie aus allem raus wollte. Wegen ihres Mannes wollte Louisa ja nicht am nächsten Tag zurück kommen, das waren nur die Kinder. „Ich spiele jetzt mal den Ratgeber, Louisa.“ begann ich unter Lächeln, „„How to know a boy named Nicolas.“ Du machst dir keine Vorwürfe mehr deswegen. Dass du Träume hast, ist ganz normal. Du akzeptierst sie, und du lebst mit ihnen. Sehnsucht zu haben, ist ein Gefühl, das du liebst, wenn sie erfüllt würde, gäbe es das nicht mehr. Sehnsucht und unerfüllte Wünsche und Bedürfnisse, du quälst dich nicht damit, du lebst von ihnen, freust dich dass du wundervolle Träume haben kannst. Dann säh' dein Leben doch ganz anders aus.“ „Ich glau­be auch,“ meinte Louisa, „wenn du bei mir wärst, dann fiel es mir nicht schwer, das alles zu befolgen.“ Wir lachten, und ich meinte auch Rat zu brauchen. „Ni­colas, ich bin eine schlechte Ratgeberin. Ich würde dir nur raten: „Komm her zu mir und küss mich.““ meinte Louisa. Trotzdem befolgte ich ihren Rat. Dass wir uns lieben würden, daran gab es keinen Zweifel. Wir wollten uns nicht mehr krampfhaft deshalb selber Vorwürfe machen, wir wollten unsere Liebe pflegen, nur sie war eben unerfüllbar. So sahen wir es. Telefontermine sollte es nicht mehr geben, nur zum Abschied mussten wir uns küssen. Intensiv genug sollte es schon sein, es hatte schließlich lange vorzuhalten.


Kostbare Beziehung


Gern würde ich Louisa öfter sehen, meine unerfüllte Liebe. Natascha hatte ich etwas vorgelogen, weshalb ich am Sonntag nach Bonn müsse. Das hatte mir kein gutes Gefühl gemacht, es war unangenehm und war mir schwer gefallen. Dass ich oft an Louisa gedacht und mit ihr telefoniert hatte, brauchte ich ja nicht zu sagen. Sonderbar war es mir schon. Sonst gab es nur Natascha, jetzt träumte ich von Louisa. Natürlich war unsere Liebe nicht wie in den ersten Ta­gen, doch erkaltet war sie keineswegs. Auch wenn wir schon seit zwölf Jahren zusammen waren, hatten wir uns nicht aneinander gewöhnt. Wir waren uns geliebter Ankerpunkt für Liebe und Vertrauen in dieser Welt. Etwas anderes war gar nicht denkbar. Frau und Liebe, das war für mich Natascha. An Begehr­lichkeiten anderen Frauen gegenüber konnte ich mich nicht erinnern. Vielleicht hatte das Gespräch mit Louisa damals für mich auch nicht die Bedeutung ge­habt. Ich war nicht offen, war schon mit Natascha befreundet, weshalb ich Louisa trotzdem meine Zuneigung gezeigt, das kann ich nicht erklären, norma­lerweise kam so etwas gar nicht vor. Ich liebte und achtete Natascha, doch mein Begehren hing jetzt an Louisa. Ein wundervolles Leben war es mit Nata­scha, so viel Vertrauen und Verständnis füreinander. Es war schon Basis unse­rer Liebe, dass wir zusammen waren, um uns gegenseitig ein glückliches Leben zu geben. Die Situation einer Kleinfamilie, in der man sich verlieren kann, gab es nicht. Dass wir keine Kinder hatten, dem haben wir nie nachgetrauert. Wir sahen die Vorzüge unseres Lebens, waren zufrieden und glücklich damit. Es störte mich Natascha gegenüber, dass ich immer an Louisa denken musste. Versprach sie mir mehr und Besseres als Natascha? Nein, bestimmt nicht. O. k. Louisa sah vielleicht ein wenig besser aus, doch das war Unsinn und konnte meine Zuneigung nicht beeinflussen. Was mich zu Louisa zog, mich an ihr faszinierte, es waren ja meine Empfindungen und Gedanken, mein Bild, das ich mir von ihr malte. Vielleicht war es verrückt und von mir Spinnerei. Dafür meine kostbare Beziehung zu Natascha abwerten und vielleicht gefährden? Das wollte ich doch nicht. Natascha war meine Begleiterin, meine Gefährtin in so vielen Jahren, sie war ein Teil von mir und ich von ihr. Ich sollte mich mäßigen in meinen Vorstellungen von Louisa. Was konnte sie mir bieten außer meinen Träumen. Eine Alternative würde sie niemals sein. Das hatte ja auch keiner von uns beiden vor. Die Männer sollten nicht nach anderen Frauen schauen, heißt es irgendwo in der Bibel. Das tat ich ja auch nicht, kein Bedarf. Natascha zu sehen, löste in mir Wohlbefinden aus, wenn ich Louisa sah, nur an sie dachte, dann ging bei mir, wie sie es sagte, die Sonne an. Dies Hochgefühl des Glücks, das es für mich sonst nirgends gab. Vielleicht war ich doch zu sehr erwachsen, alles bieder und gemächlich und ganz nett. Vielleicht würd' ich ja auch gern flüchten, in eine Welt von mehr Leben, stärkeren Gefühlen und wusste es nur nicht. Louisa zeigte mir ein Bild davon und weckte mein Begehren.


Es gibt nicht wenige, die zwei Frauen, oder Frauen, die zwei Männer lieben. Der Mensch sei biologisch nicht monogam veranlagt, sagt man. Ich konnt' es aber nicht. Wenn ich Natascha streichelte, liebkoste und dabei an Louisa dach­te, dann störte es mich nicht nur, ich konnte es nicht. So war es aber immer öfter. Nicht selten träumte ich lieber von Louisa, anstatt mich zärtlich Natascha zuzuwenden. Wir schliefen miteinander, doch nicht ungewöhnlich oft. Jetzt kam es immer seltener dazu. Natascha meinte, ob ich in die Wechseljahre käme und bei mir Lust an Sex und Körperlichkeit zum Erlahmen kämen. Ich lächelte verlegen und meinte nur: „Vielleicht.“ Sie wollte mich noch mit Scherzen über alte Männer ärgern, doch mich tangierte so etwas nicht.


Sommerfest


Ich telefonierte öfter mit Louisa. Scherzhaft fragte sie, ob Liebe nicht gefährdet sei, wenn man sich nur so selten sähe? „Ja, gerne öfter, Liebste, aber wie?“ fragte ich. Bei ihnen an der Schule gäb's ein Sommerfest. Sie würde sich ab­melden, und ob wir uns nicht in Köln treffen könnten? Am vereinbarten Treff­punkt küssten wir uns auch schon zur Begrüßung, als ob wir Monate sehnsüch­tig darauf gewartet hätten. Bei dem schönen Wetter gingen wir spazieren. Wir mussten immer wieder stehen bleib und uns küssen, doch vor allem drücken. Durch die Sommerkleidung spürten wir unsere Körper gut. Louisas Augen ver­rieten, woran sie dabei dachte, und sie sagte's auch. „Nicolas, ich habe dich ganz lieb.“ begann Louisa zögernd, machte eine kleine Pause und fuhr fort, „die ganze Louisa, weißt du. Nicht nur mein Geist und meine Seele, meine Lip­pen, alles von mir, mein ganzer Körper. Ich möchte es sehr gerne, kannst du das verstehen?“ Meine Mimik dazu schien Louisa zu gefallen. Sie freute sich und küsste mich auf Stirn und Wangen. „Wie soll das gehen? Wie und wo und wann?“ fragte ich, weil ich noch nie daran gedacht hatte. „Irgendwo zum Fi­cken ins Hotel gehen, das mag ich nicht.“ „Nein, nein, ich auch nicht.“ pflichte­te Louisa mir bei. „Weißt du, wir haben bislang noch nie daran gedacht. Wenn wir es beide wollen, werden wir nach Möglichkeiten suchen und sie finden. Da bin ich sicher.“ sah Louisa es. „Du meinst, wenn zwei sich lieben wollen, wer­den sie auch Wege finden. Bestimmt, Louisa, nur im Moment bin ich noch ganz perplex.“ kommentierte ich.


Ich brauchte Rat


Ich blieb auch länger noch perplex. Natürlich wollte ich es im Moment und auch die ganze Zeit, als wir zusammen waren, nur auf dem Heimweg schon, kamen mir Zweifel. Mit Louisa ins Bett gehen würd' ich gern, das blieb, nur was war dann mit meiner Beziehung zu Natascha. Richtig betrügen würde ich sie mit ei­ner andren Frau. Ungeheuerlich, das passte nicht zu uns. Alles wäre verändert. Aber wenn vorher schon immer meine Liebe Louisa gehört hatte, war das denn nicht auch Betrug. Ich fühlte mich nicht mehr wohl, so wie es war. Statt unse­rem grenzenlosen gegenseitigen Vertrauen waren durch mich Heimlichkeiten und Betrug implementiert worden. Louisa wäre nicht mehr nur ein Bild in mei­nem Kopf, das mich zu träumen inspiriert. Und ehrlich sein, wie unsere Bezie­hung es verlangte und Natascha alles zu erklären versuchen? Dann gäbe es unsere Beziehung nicht mehr, und ich könnte Natascha gut verstehen. Ich könnte ja einfach krank sein, wenn Louisa eine Möglichkeit für uns gefunden hätte. Lieber mich selber belügen und Louisa auch, als die Beziehung zu Nata­scha zu gefährden. Was war aus mir geworden, der ehrlich, aufrichtig sein wollte? In einem Lügengebäude begann ich mich zu verstricken. Das war nicht ich und so wollt' ich nicht sein. Loskommen von Louisa konnte ich nicht mehr, es wäre eine Illusion, daran zu glauben. Dabei war doch bislang so gut wie nichts und es gab auch keine Art von Perspektive. Für drei mal treffen und eini­ge Telefonate mein Leben destruieren, das mir gefiel, in dem ich glücklich war? Ich war ja nicht mehr glücklich, was sich auf Glück bezog, verband ich mit Louisa. Meine Beziehung zerstören und mein soziales Leben bestünde aus Gedanken an Louisa. Ich war verrückt und nicht Louisa. Ich brauchte Rat, je­doch von wem. Mit Natascha hat ich immer alles überlegt, doch das wär' jetzt statt Rat eine Entscheidung. Meine Beziehung zu Natascha, das war mein Le­ben, doch das war nur mein Glaube. Wenn ich es sagte, hatte ich das Bild da­von, wie sie mal war. Jetzt gab es sie so nicht mehr. Ich hatte sie verändert, wie sie mir nicht gefiel. Das Vertrauen zwischen uns, es war nicht mehr be­rechtigt. Zuneigung und Liebe sah ich verbunden mit Louisa, Natascha war nur akzeptabel nicht begehrt.


Das war Natascha


Was tun? Es quälte mich, ich konnte nichts verändern oder lösen. „Oft bist du mürrisch, hast du Ärger?“ fragte Natascha, ich wies sie ab. Hätte ich es nicht doch sagen sollen? Was gab es denn für einen anderen Weg, wenn ich aus meinem Dilemma hinaus wollte. Ich würde es erdulden müssen, ich hatte mich ja selber dort hineinbuchsiert. Dann würde ich die Konsequenzen zu ertragen haben. Ob es nicht einfacher wäre, als diese verlogene Beziehung fortzufüh­ren? Ich fragte es mich immer wieder, und am Sonntagnachmittag sprach ich darüber. Ich sagte, dass wir beide es nicht wollten, doch dass wir machtlos sei­en und es uns nicht losließ. Natascha war gefasst und hörte ruhig zu, als ich berichtete. „Sonst lese ich das immer, jetzt bekomm ich es von dir erzählt und bin davon selbst betroffen.“ sagte Natascha und verzog den Mund zu einem Lä­cheln. Sie war Lektorin bei einem Verlag in Köln. „Ich weiß nicht wie mir ist? Ein neues Leben werde ich beginnen müssen, aber böse, das kann ich gar nicht sein. Ein schlechter Mensch bist du doch deshalb nicht geworden. Ich werde traurig sein, doch das kommt noch. Im Moment bin ich eher verwirrt und rat­los. Das Schöne, was zwischen uns war, machst du ja nicht ungeschehen. Du siehst es ja auch selber so. Alles sei geblieben, nichts zerstört. Doch deine Zweitfrau sein, Nicolas, damit kann ich nicht leben.“ sagte Natascha. Wir rede­ten noch den ganzen Nachmittag und Abend darüber, und manchmal schien es mir, dass ich in Nataschas Augen derjenige war, der mehr Trost brauchte als sie selber. So schliefen wir auch ein, uns innig tröstend über das, was über uns hereingebrochen war. Das war Natascha, und die würde ich verlieren.


Trauer lässt sich nicht verbieten


Am anderen Nachmittag saß ich in meinem Arbeitszimmer und weinte. Ich sah welch wundervoller Mensch Natascha war. Was hatte ich getan? Ob Louisa auch so sein konnte, das wusste ich doch nicht, und außerdem war ich ja ganz al­lein. Ich hatte ja nicht Natascha gegen Louisa getauscht, ich hatte nichts außer meinen Träumen. Lange telefonierte ich mit Louisa und erklärte, dass es mich nicht glücklich mache. Sie würde mich gern trösten, doch sie wisse gar nicht wie. „Es ist schon Trost genug, deine Stimme zu hören, die mich wissen lässt, dass ich nicht allein bin mit meinen Gedanken.“ erklärte ich. Louisa erkundigte sich jetzt ständig, wie's mir ging. Meistens zweimal täglich. Den Gedanken, mich traurig zu vermuten, könne sie nicht ertragen. „Natürlich ist es kein ange­nehmes Gefühl, traurig zu sein, aber ich habe eben etwas verloren. Du kannst der Trauer ebenso wenig verbieten wie der Liebe, bei dir zu sein. Sie fragt dich nicht, ob's dir jetzt recht ist, sie ist einfach da und lässt sich nicht verdrängen, genauso wenig wie das glückliche Gefühl, das sich mit dir verbindet.“ versuch­te ich es Louisa zu vermitteln. Mit Natascha schien ich mich viel besser zu ver­stehen als zuvor. Ich dachte auch nicht mehr an Louisa, wenn ich mit ihr zu­sammen war, ich konnte mit ihr darüber reden. Natascha wollte nach Köln zie­hen, dann brauche sie nicht mehr jeden Tag zu fahren. „In Köln kenne ich auch mehr Leute als hier. Vielleicht vergafft sich dann ja auch mal ein junger Mann in mich. Im Moment bin ich noch eher die Witwe. Aber alte Männer haben's da viel einfacher als alte Frauen. Die Mädels sehen eher das positive Vaterbild.“ meinte Natascha. Ich lachte. „Das sehe ich nicht so, dass es daran liegt. Dann müsste ja viel öfter die ältere Mami die Liebste sein. Louisa macht sich öfter über mein Alter lustig, und es gefällt ihr, mich damit zu ärgern. Mag sein, das viele etwas Reiferes, Ausgeglicheneres fasziniert, doch bei Louisa war das ganz bestimmt nicht so.“ war meine Meinung dazu. „Und was ist es, das sie an dir so fasziniert?“ wollte Natascha wissen. „Das weiß sie selber nicht und kriegt es auch nicht raus.“ antwortete ich lachend. „Ich glaube, ich würde sie ganz gern mal kennenlernen, doch das wird nicht gehen, nicht wahr?“ erkundigte sich Natascha. „Das kann ich überhaupt nicht einschätzen, aber sagen kann ich es ihr ja mal.“ meinte ich dazu.


Renitenz und Widerspenstigkeit überall gefragt


Ja, Louisa war auch interessiert. An einem Sonntagnachmittag wollte sie zu uns kommen und brächte auch die Kinder mit. Louisa sprach ganz offen, dass sie es keinesfalls gewollt habe, aber dass man eben machlos sei und alle Kämpfe dagegen vergebens. „Irgendwann musst du's dir eingestehen, es wei­ter leugnen hilft nicht, macht dich nur neurotisch.“ sagte Louisa. „Das berück­sichtigen wir viel zu wenig, es ist ja nicht nur bei der Liebe so. Sein Gefühlen vorschreiben wollen, wie man zu empfinden hat, ist stets absurd, nur leider tun es alle immer wieder.“ „Du aber nicht.“ merkte Natascha scherzhaft an. Louisa lachte. „Ja, ich würde gerne meine Gefühle immer voll ausleben, aber Tob­suchtsanfälle über blöde Schüler, das käme nicht so gut. Nein, viel schlimmer ist ja, dass du Gefühle nicht mehr registriert. Du könntest viel mehr ausleben, wenn du's nur merktest, wahrnähmest. Du hast so eine eingefleischte Vorstel­lung, wie alles immer abläuft, abzulaufen hat. Zum Beispiel bei den Kindern, da läuft vieles ab, wie jeden Tag, es ist dir selbstverständlich und du merkst nicht, dass es es doch eigentlich Anlass zur Freude sein müsste, was du gerade erlebst. Und das geschieht den ganzen Tag über bei dir. Ein Ablauf mit verdorr­ten, nicht gelebten Gefühlen jeden Tag. So soll der Mensch nicht sein, das ist er nicht. Kinder sind da noch ganz anders. Ihr Leben ist gefühlsreich. Schade ist es, dass man sich diesbezüglich ändert.“ erklärte Louisa, was sie meinte. „Na ja, das passt nicht, davon geht die Welt nicht aus, dass du ein Mensch bist und dich fragt, wie es für dich am besten wäre. Wie du am besten zu verwen­den und gebrauchen bist, ist die entscheidende Maxime.“ meinte Natascha dazu. „Wir würden das ganz anders machen, wenn wir's entscheiden konnten.“ Louisa dazu lächelnd. „Ich lasse mich doch auch missbrauchen, meine Liebe.“ Natascha darauf. „Die Feministen wehren sich nur gegen die Männerdominanz, das ist ja wichtig. Sie müsste nur das ganze Leben sehen, Renitenz und Wider­spenstigkeit sind überall gefragt.“ meinte Louisa. „Du hast ja Recht.“ sagte Na­tascha, „Nur hat man das uns allen schon sehr früh ausgetrieben.“ Fast immer unterhielten sich Natascha und Louisa, ich war dabei nicht sehr gefragt. Worauf sie gerade kamen, darüber sprachen sie, Berufliches, die Kinder, das Studium. Die Kinder kamen wieder rein, Louisa musste nach Hause. „Ich versteh das nicht, warum Nicolas dich verlassen will.“ meinte Louisa wohl auch nicht ganz ernst. „Nein, das will er ja gar nicht. Er hätte gern uns beide. Verstehen kann ich es, nur das ist nicht mein Ding.“ Natascha dazu. Sie verabschiedeten sich mit ausführlichen Komplimenten gegenseitig und dass es jeder fern liege, der anderen zu schaden. Als Louisa und ich uns verabschiedeten, ging Natascha ins Wohnzimmer.


Am Telefon erkundigte sich Louisa, ob ich das wirklich vorgehabt habe, mit bei­den zu leben. „Louisa, wir leben doch gar nicht zusammen. Mit Natascha habe ich zusammengelebt, und sie konnte es nicht ertrag, wenn meine Liebe dir ge­hörte. Mehr und etwas anderes war das nicht.“ löste ich irgendwelche Vermu­tungen auf. Zwei Tage später berichtete Louisa, ihr Mann habe sehr genau wis­sen wollen, bei wem sie denn gewesen wären. Mami habe den Mann ganz lan­ge geküsst, hätten die Kinder erzählt. Sie habe ihrem Mann natürlich etwas vorgelogen, nur sie hätte überhaupt keine Skrupel gehabt, es habe sie völlig kalt gelassen und nicht im geringsten berührt. Natascha zog bald aus. Beide haben wir uns weinend in den Armen gelegen. Wir würden uns gegenseitig nichts vorwerfen, Freunde und in Kontakt bleiben würden wir, wurde mehrfach zwischen uns versichert.


Ich glaube' ich will nicht mehr


„Louisa, hast du schon einen Ort für uns gefunden?“ fragte ich sie. „Natürlich nicht, nein, wie denn?“ antwortete Louisa. „Ich bin doch jetzt allein, hast du daran nicht gedacht?“ wies ich sie auf die Möglichkeit bei mir hin. „Dann käme ich einfach zu dir. Ich werde mir etwas ausdenken und sage dir Bescheid.“ er­klärte Louisa. Sie wollte angeblich ein Wochenende mit einer Freundin in Frankfurt verbringen und zu mir kommen. Es war kühles Herbstwetter. Nach der Begrüßung saßen wir am Kaffeetisch. „Nicolas?“ sagte Louisa mit einer lan­ger Pause, „Ich glaube, ich will gar nicht mehr.“ Ich sagte nichts und schaute sie nur fragend an. Sie hob die Augenbrauen sog tief Luft ein und meinte dann: „Ich glaube, ich bin sehr empfindlich. Damals in Köln, da haben wir uns sehr geliebt und waren gierig aufeinander. Das war meine Erinnerung und jetzt ist es, als ob ich zu dir zum Ficken fahre. Darum geht’s mir nicht.“ „Louisa, wir brauchen nichts zu machen, wir haben keine Vorschriften, wir tun nur, was und wie es uns gefällt. Vielleicht wird es ja wieder wie in Köln, wenn nicht, dann ist es auch egal. Ich liebe dich und es ist wundervoll, dass wir jetzt hier zusam­men sind.“ erklärte ich dazu. „Vielleicht müsstest du mich verführen?“ erwog Louisa. „Ah ja, lässt du dich gern von fremden Männern verführen?“ erkundigte ich mich. „Von fremden nicht, von dir vielleicht.“ erklärte Louisa mit grinsen­dem Gesicht. „Louisa, ich kann das nicht. Ich kann dich nicht verführen. Ich weiß doch gar nicht, was ich dazu machen soll. Und außerdem, ich dacht', ich hätte dich schon längst verführt.“ antwortete ich lachend. „Ja das stimmt, mein Liebster. Schon vor elf Jahren hast du mich verführt, und das ist nie vergan­gen.“ Louisa dazu. „Vielleicht war einfach nur die Fahrt ein wenig stressig und du musstest dich auf etwas anderes konzentrieren. Wenn du ein wenig hier bist, wird sich deine Stimmung wieder ändern.“ schätzte ich es ein. Louisa sag­te: „Die ganze Fahrt über hab' ich an nichts anderes gedacht. Wir können's ja heut Abend einfach mal versuchen, vielleicht ist dann plötzlich alles wieder da.“ „Nein, das mache ich nicht mit. Entweder wir haben beide Lust darauf, und sonst lassen wir's eben.“ war meine Einstellung dazu. Ich zeigte Louisa die Wohnung und einiges Persönliche von mir. „Und wo ist die Geige?“ fragte sie. Ich zeigte ihr den Geigenkasten und sollte natürlich etwas spielen. „Du bist ja gut, und wie oft spielst du?“ fragte Louisa. Ich schüttelte den Kopf. „Als Schüler war ich mal nicht schlecht. Jetzt ist es ganz vorbei, nur reine Muße und ganz selten. Ich habe irgendwann den Anschluss verpasst und ab da war's nur noch Spielerei.“ erklärte ich. „Du siehst das völlig falsch. Das ist ganz toll, ich wäre glücklich, wenn ich so was könnte. Spielst du noch was?“ fragte Louisa. Ich ließ die Geige weinen, spielte etwas Trauriges. „Nein, nicht so,“ protestierte Louisa, „spiel etwas freudig, glücklich Machendes.“ Ich spielte den Hochzeitsmarsch von Felix Mendelssohn-Bartholdy. Louisa grinste. „Du Schlingel, wir sind doch beide schon verheiratet.“ meinte sie. „Der glücklichste Tag im Leben einer Frau, ich sollte doch etwas Glückliches spielen.“ erklärte ich schelmisch. „Ich glaub' so richtig war's das für mich nie. Du meinst es ist ganz gut so, es ist richtig, dann musst du doch auch glücklich sein. Ich war nicht unzufrieden, wenn ich das sagte, wär's gelogen, doch übermäßig stark bewegt hat es mich nicht.“ Louisa schaute mich freundlich aber durchdringend an und sagte nichts. „Was ist? Was denkst du?“ fragte ich. „Nicolas, das war nur bei dir so und sonst nie. Du musstest direkten Zugang zu meiner Seele haben.“ erklärte Louisa. „Heiraten, so ein Quatsch, damit hat das doch nichts zu tun. Da war ein Bedürfnis nach dir, und das ist immer das stärkste geblieben.“ Louisa lächelte und knabberte an meinem Ohrläppchen. Wir spielten zärtlich miteinander und unsere Sprache passte sich dem an. Darüber, ob wir zusammen ins Bett gingen, haben wir kein Wort mehr verloren. Erst spät am Abend fragte, ob sie lieber in getrennten Räumen schlafen möchte. „Du spinnst wohl.“ war die Antwort.


Das soll nie enden


„Einfach so?“ fragte Louisa, als wir uns gegenseitig unter Lachen und Küssen ausgezogen hatten, „Ich habe auch ein Nachthemd dabei.“ Wir lagen im Bett und streichelten uns glücklich träumend. „Nicolas, es mit dir fast wie bei mei­nen Kindern. Alles so selbstverständlich und ganz nah an mir. Du wirst nicht nur in meinen Bildern leben, direkt ein Teil von mir das musst du sein.“ sagte Louisa leise schmeichelnd. „Das dacht ich auch.“ erklärt ich lächelnd, „In dei­nem Herzen wohn' ich doch, nehm' ich mal an.“ „Ja, natürlich. Ist es auch schön warm?“ fragte Louisa, „So ist das bei Richard, meinem Mann, nie gewe­sen. Das kommt nicht mit der Zeit, das ist von Anfang an so und so bleibt es. Richard ist immer der andere geblieben, der Mann. Vielleicht ist das ganz üb­lich, doch bei dir empfinde ich nicht so. Da fühl ich mich zu Hause, wie bei mir selber. Das gibt es sonst nicht, es ist wundervoll. Im Sommer war ich richtig heißblütig.“ meinte Louisa, „Vielleicht kannst du das nur im Sommer sein. Das Empfinden war nicht da. Und deshalb dachte ich, ich wollte nicht mit dir ins Bett. Doch jetzt empfinde ich es so viel schöner. Ohne diese Gier alles ausführ­lich zärtlich zu genießen. Wir haben uns immer nur gedrückt und geküsst, aber zärtlich zueinander waren wir nie.“ Nach langandauernden Zärtlichkeitswonnen verstummten unsere Worte langsam und wir schliefen miteinander. „Ich bin so schlapp, Nicolas, aber ich möchte gar nicht schlafen. Das soll nie enden. Im­mer werden wir uns lieben, nicht wahr?“ forderte Louisa von uns beiden. Ich nickte ihr nur lächelnd zu und streichelte die Wange. Unsere Beziehung war von den Ereignissen der Nacht nicht verschont geblieben. Unsere Sprache schi­en am Morgen eine andere zu sein als noch gestern. Vorm Frühstück musste ich schon Violine spielen und sollte jetzt auch immer fleißig üben, bekam ich aufgetragen.


Es ist vorbei


„Ich bleibe einfach hier.“ sagte Louisa, „In Frankfurt wurd' ich von der Mafia entführt“ „Und Lösegeld wird man für dich nicht fordern?“ erkundigte ich mich nach den Plänen der Mafia. „Du glaubst gar nicht, wie viele Menschen täglich einfach so verschwinden. Warum nicht ich?“ Louisa dazu. „Ich könnte es dir sa­gen, doch du weißt es selber ja genau.“ scherzte ich. „Ich fühl' mich ausge­sprochen wohl so. Am Montagabend werd' ich traurig sein.“ erklärte Louisa. Natürlich wollten wir es, sobald Louisa es ermöglichen konnte, wiederholen. Schon in der Adventszeit fuhr Louisa angeblich alte Studienfreunde in Hamburg besuchen. Wir überlegten, wohl nicht ganz ernsthaft, ob Louisa nicht in jedem Monat ein freies Wochenende zustünde. An dem sie machen könne, was sie wolle und für niemanden erreichbar sei. Doch schon am Sonntagabend rief sie an. Sie hatte unvorsichtig ihre Fahrkarte auf den Tisch gelegt und sie verges­sen. Ihr Mann habe nachgeschaut und gesehen, dass sie nur bis Düsseldorf ge­fahren sei. Ob der Zug nicht bis Hamburg gekommen sei? Hätte er zunächst ironisch gefragt. Sie habe keine Antwort gegeben. Später habe er wissen wol­len: „Louisa, du warst doch nicht in Hamburg. Was hast du denn in Düsseldorf gemacht?“ Auch jetzt habe sie nicht geantwortet. Es wäre ihr nichts eingefal­len. Es sei ja alles offensichtlich. Am Sonntagabend hatte ihr Mann nicht weiter insistiert. Aber am Montag habe er es wieder angesprochen. Sie belüge ihn doch offensichtlich und wolle sich nicht dazu äußern. So könne man doch nicht miteinander umgehen. Louisa hatte es eingestanden, das es einen Liebhaber gebe, der in Düsseldorf wohne. Er habe alles ganz genau wissen wollen, sie habe sich aber so weit wie möglich bedeckt gehalten. Auf dem Philosopiekon­gress in Bonn damals hätten sie sich kennengelernt und dann habe es sich weiterentwickelt. „Wenn du das nicht beendest, zerstörst du doch unsere ganze Familie.“ habe er erklärt. „Ich wolle mal mit dir reden, habe ich gesagt, um ein wenig Luft zu kriegen. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Wenn ich ihm er­kläre, dass du mir wichtiger bist als er, ist es vorbei. Ihn so lange wie möglich hinzuhalten versuchen? Mit welcher Perspektive. Es ergäbe nur einen Sinn, wenn ich ihm erklären würde, dass unsere Beziehung beendet sei. Das wird er bestimmt vermuten, er hält sich nämlich selber für unendlich kostbar. Ich bin ratlos, Nicolas, und sehe selber keine Perspektive.“ erläuterte Louisa ihre Si­tuation. „Im Moment fällt mir auch nichts ein. Sag ihm doch zunächst mal, dass ich deine Situation verstünde und darüber nachdenken wolle. Ich denke nur, langfristig wird sich euere Beziehung so nicht halten lassen.“ war meine Meinung. Das hatte Louisa aber nicht getan. Sie hatte ihrem Mann klar gesagt, dass sie auf mich keinesfalls verzichten würde. Er habe die Chance, es zu ak­zeptieren oder andere Konsequenzen zu wählen. Er hätte mit mir sprechen wollen, aber Louisa habe ihm die Telefonnummer nicht gegeben. Er wisse auch nicht, dass ich hier Professor sei. „Natürlich ist es vorbei. Er braucht wahr­scheinlich nur noch ein paar Tage, um es sich selber einzugestehen. Was dann wird, weiß ich nicht genau, aber er wird doch wohl nicht davon ausgehen, dass ich mir mit den Kindern, weil ich die Böse bin, eine neue Wohnung zu suchen habe.“ meinte Louisa. Sie habe es direkt gesagt, weil langwieriges Taktieren letztendlich auch nicht zu einer anderen Konsequenz habe führen können.


Lieber Stiefpapa


„Louisa, ich möchte dich keinesfalls schockieren, aber warum kommst du nicht zu mir nach Düsseldorf. Jetzt im Dezember könntest du noch einen Verset­zungsantrag stellen, und die Wohnung wäre für uns alle groß genug. Für Kin­der war sie ja auch vorgesehen. Wenn es euch nicht gefallen sollte, könnten wir ja auch etwas anderes suchen.“ stellte ich meinen Vorschlag dar und erläu­terte meinen Wunsch. „Bonn zu verlassen, fällt mir äußert schwer. Ich liebe es.“ erklärte sie tags darauf am Telefon, „Ob ich dich mehr liebe als Bonn? Was meinst du dazu?“ fragte Louisa schelmisch. „Na ja, mit meinem Geige spielen komm ich natürlich gegen Beethoven nicht an, aber Schumann und Heine ha­ben doch auch hier gelebt.“ war mein Beitrag zum Städtevergleich. „Wir wür­den dich am nächsten Wochenende besuchen kommen, ich mit den Kindern, wenn's dir Recht ist. Einerseits drängt es ja wegen des Versetzungsantrages und andererseits wäre ein Wochenende später direkt vor Weihnachten. Lass dir etwas einfallen, damit es für die Kinder spannend wird, lieber Stiefpapa.“ scherzte Louisa am Telefon. Die Vorstellung, dass wir zusammenleben würden, ließ sie sicher äußerst glücklich empfinden. Ich konnte es für mich noch gar nicht voll begreifen. Wie intensiv hatten wir zu Anfang schon beschworen, das es dazu niemals kommen könne. Wir hatten ja auch darauf überhaupt nicht hingearbeitet, hatten es nicht gewünscht, weil es Illusion gewesen wäre. Den letzten Schritt hatte Louisas Unachtsamkeit ermöglicht. Nur dass unsere Besu­che sich nicht ewig verheimlichen lassen würden, hatte ich allerdings schon vermutet. Die Kinder waren mehr begeistert als die Mami. Bonn sei nicht schlecht, aber Düsseldorf sei geil. Sie stritten sich schon um die Zimmer, dabei war es ja noch lange hin bis zum Sommer. Louisa und ich wir konnten es nicht fassen. Blieben oft voreinander steh'n und schnitten uns Grimassen. Louisa schien auch sehr zum Tanzen aufgelegt. Sie nahm die Kleine oder auch den Jungen und drehte sich mit ihnen ein paar mal rum. „Ich glaube, meine Mutter freut sich sehr.“ erklärte es mir Dominique, der Junge, sehr verständig, und Valérie, das Mädchen, lachte immer nur. „Mami!“ mahnte Dominique, als wir uns wieder in Armen lagen. Das war'n die beiden sicher nicht gewohnt, dass Mann und Frau so häufig sich umarmen mussten. Das Glück erfasste auch mei­nen ganzen Körper, Louisas Lust auf's Tanzen konnte ich gut nachempfinden. Zu den nicht ausgelebten Gefühlen gehörte es bestimmt, dass wir's nicht ta­ten. Ihr Gesicht zärtlich berühren, war Ersatz dafür. Ich malte mir die Tage aus, vom Frühstück mit den Kindern und Louisa bis zum ins Bett geh'n mit Louisa, jeden Abend. Ich würd' mich jeden Tag schon freuen auf den nächsten. Meinen Beruf verdrängen würd' es nicht, aber erheblich seine Dominanz beschneiden. Hier konnte ich der Mensch sein, der seine Gefühle lebte. Ich liebte meine Ar­beit zwar, doch war sie eben auch wie anderswo zum großen Teil Routine. Völ­lig verändern würde sich mein Leben. Ein neues gibt es nicht, was bislang war geht nie verloren, jedoch die Welt, die mich erwartete, sie wäre nicht die alte, als ob ich neu geboren würde, kam es mir schon vor.


Prädestination

 

Wenn ich Louisa damals nicht vergessen hätte, vielleicht gäb's dann die Klein­familie mit uns beiden. Louisa hätte sich im Familientrott verloren, und ich hät­te für meinen Beruf gelebt, wie schade. Zum Glück war uns das nicht passiert. Vergessen musste ich, was nicht zu vergessen war. Jetzt trafen wir uns wieder und das Unmögliche geschah. Sollte ich gläubig werden, und die Prädestination verehren? Unsere Logik, unser Denken waren zu Erklärung jedenfalls nicht brauchbar.

 

FIN

 

 

Je ne peux pas respirer sans toi, je ne peux pas vivre sans toi,
je ne peux pas dormir sans toi,
partout où je vais tu es avec moi.

Im Büro sagte man mir: „Eine Frau hat nach ihnen gefragt, wahrscheinlich eine Studentin. Louisa hieße sie, Louisa mit scharfem 'S' sollte ich ihnen sagen, dann wüssten sie schon Bescheid.“ Louisa, Louisa? Ich kannte keine Louisa. Der Name sagte mir nichts. „Einen Nachnamen hat sie nicht genannt?“ fragte ich noch mal nach. „Nein, Louisa, das reiche. Dann wüssten sie Bescheid.“ „Tut mir leid, ich kenne keine Louisa.“ erklärte ich. Wie sie denn ausgesehen habe, erkundigte ich mich noch, aber das sagte mir auch nichts. „Na, wenn's etwas Wichtiges war, wird sie sich schon wieder melden.“ hakte ich die Angelegenheit ab. Für Louisa war es aber äußerst wichtig gewesen. Nie würde sie das Gespräch mit Nicolas vergessen können. Es hätte sie fast aus der Bahn geworfen, dass er nicht mehr reagiert hatte. Viele Jahre später besuchte sie einen Kongress, bei dem Nicolas einen Vortrag hielt. Unsinnig war es, er hatte sie ja vergessen. Trotzdem musste Louisa ihn noch einmal wiedersehen.

Als ich das Podium verließ, kam eine Frau lächelnd auf mich zu. „Na, übst du auch immer noch brav Geige?“ fragte sie mich. Ich kannte die Frau nicht, hatte sie noch nie gesehen. Woher konnte sie wissen, dass ich Geige gespielt hatte? Louisa hatte nichts vergessen, und Nicolas wollte es unbedingt wieder von Neuem hören.

 

 

 

Louisa Ich bin verrückt - Seite 23 von 23

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Tag der Veröffentlichung: 09.06.2013

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