Cover


Der Engel kam stets zur selben Zeit des Tages und stets
blieb er genau eine Stunde vor unserem Haus auf dem Gehweg sitzen, eine Stunde lang, nicht eine Minute mehr oder weniger saß er da, angelehnt an der Mauer. Es war ihm scheinbar gleich, welches Wetter herrschte, ob brennende Sonne, tobender Regen oder klirrendste Kälte. Es war ihm gleich, ob es wieder einmal der Tag der Müllabfuhr war und sich um ihn herum unser stinkender Haushaltsabfall türmte oder Kinder spielten und tobten und die Älteren ob seiner Erscheinung den Kopf schüttelten und das Gesicht verzogen. Vielleicht war dem Engel alles gleich, das wusste ich nicht.

Natürlich war er nicht wirklich ein Engel, aber ich nannte ihn so. In Wahrheit war er ein alternder Berber, dessen Eigenart es war, sich in zerrissene durchsichtige Plastikstreifen zu hüllen, egal ob im Sommer oder im Winter. Die Streifen und Bahnen flatterten dann um seine Silhouette herum und das brechende Licht ließ den Abfall an diesem Kerl aussehen wie ich mir die Schwingen eines Engels vorstellte.

Ansonsten hatte seine Erscheinung wenig engelhaftes, wenn er auch manchmal zumindest seltsam heilig wirkte, wie ein prophetischer Einsiedler auf einem hohen Berg, ein urbaner Zarathustra. Er saß da, an unsere Hauswand gelehnt und schwieg und starrte auf das Haus gegenüber. Als ich in das Haus gezogen bin hatte mich seine Erscheinung irritiert. Ich bewohne nicht unbedingt eine gutsituierte Gegend, aber Penner waren hier dennoch eher eine Seltenheit. Zumal mir sehr schnell eine weitere Eigenartigkeit des Engels auffiel: er bettelte nicht. Er saß nur da, starrte auf das Nachbarhaus und nach exakt sechzig Minuten erhob er sich und ging fort. Er hatte keinen Hut oder eine Büchse, die er vor sich hinstellte und er trank nicht und tat auch sonst nichts.
Eine Weile war mir sein Verhalten etwas unheimlich, aber meine neuen Nachbarn belehrten mich schnell eines Besseren. Sie kannten ihn schon lange, eine Frau, die im Parterre wohnte meinte sogar, das er schon seit den zwanzig Jahren die sie hier lebte jeden Tag zur selben Stunde und immer nur für eine Stunde kam, dort saß und vor sich hin starrte.
Nie bettelte er.
Nie sprach er ein Wort.
Er bewegte sich nicht einmal und wenn der Wind wehte flatterten seine Polyesterschwingen um ihn herum wie eine Gischt um einen unbewegbaren Felsen. Ich begann, mich für den Engel zu interessieren. Sein Platz lag leicht schräg versetzt unter meinem Küchenfenster und ich setzte mich oft an dieses Fenster wenn er kam und beobachtete ihn. Er saß da, was immer geschah und ich konnte nicht erkennen, das sich sein Verhalten in irgendeiner Weise veränderte.

Eines Tages beschloss ich, an ihm vorbei zu schlendern, um ihm in die Augen zu sehen, zu erkennen, was er da die ganze Zeit anstarrte. Eine Stofftasche unter dem Arm eingerollt versuchte ich den Anschein eines einkaufenden Studenten zu erwecken. Als ich wieder zurückkehrte suchte ich dann ausführlich nach meinen Schlüsseln. Das gab mir Zeit, einen seitlichen Blick in das Gesicht des Mannes zu werfen. Und ich sah blaue Augen, klar wie geschliffenes Glas, so traurig in ihrem Ausdruck, das ich augenblicklich meine Tarnung vergaß und nur noch still stehend in diese Augen starren konnte. Und nun konnte ich auch abschätzen, wohin sich sein Blick richtete. Unentwegt blickte er zu einem ganz bestimmten Fenster im dritten Stockwerk im gegenüber liegenden Haus. Ich konnte dort nichts besonderes erkennen, es war eine ganz normale Wohnung und die Fenster waren halb verhüllt durch einfache weiße Gardinen. Und ich begann zu grübeln, was solche eine endlose Traurigkeit in das Herz dieses Bettlers pflanzen konnte, damit er jeden Tag eine Stunde starr dort saß und hinüber schaute. Ich musste wohl volle zehn Minuten da gestanden haben, bis ich mich zusammenriss und in meine Wohnung zurück kehrte und obwohl ich ihn auf unhöflichste Art betrachtet hatte, wandte der Engel für keinen Moment die Augen von der anderen Straßenseite ab. In meiner Küche begann ich zu grübeln und zu überlegen und in den Träumen der folgenden Nacht verfolgte mich die Traurigkeit des Bettlers.

Als er sich am nächsten Tag von seinem Lager erhob und in die Stadt zurück ging, da folgte ich ihm. Und ich sah, wie er sich in die Nähe einer Bahnstation setzte, dort eine alte Mütze vor sich auf den Boden legte und stumm bettelte, ein schlichtes „Danke“ auf ein Pappschild gemalt, das neben der Mütze aufgestellt war. Ich stellte bald fest, das dies sein Stammplatz war, denn wenn es meine Zeit erlaubte, verfolgte ich den Engel. Und immer mehr kam mir in den Sinn, wie zutreffend dieser Name zu sein schien, denn viele seiner Schicksalsgenossen kamen zu ihm, holten sich Rat und Hilfe bei ihm. Er schien sehr gebildet zu sein. Ich versuchte, auf Hörweite an ihn heranzukommen und bin mir sicher, das er meine primitive Verfolgung bemerkte, aber das es ihm egal war.

Meine Freundin war alles andere als begeistert von meiner seltsamen Passion und schalt mich, wenn ich ihr berichtete, wie der Engel anderen Berbern von seinem Geld abgab, wie er sachlich Ratschläge medizinischer und juristischer Art gab, das er sein Geld nie für Alkohol ausgab, sondern für Zeitungen, aber nie für Boulevardblätter und er kaufte anständige und gesunde Lebensmittel, welche er ebenfalls häufig mit seinen Genossen teilte und mit denen er zwar freundlich, aber mit einer gewissen Distanz sprach. Er schien mir immer weniger von dieser Welt zu sein und meine Freundin nannte mich einen Spinner und irgendwie musste ich ihr Recht geben. Ich wurde dreister und näherte mich den Engel immer öfter und auch nah genug, um festzustellen, das er trotz seiner Lumpigkeit nicht stank, zumindest nicht mehr als es bei einem Menschen zu erwarten ist, der sein Leben auf der Strasse verbringt. Mir fiel auf, das er sich sehr bewusst bewegte und seine Zähne zwar leicht gelblich, aber für einen Mann seines Alters (ich schätzte ihn auf Fünfzig) sehr in Ordnung waren. Ich konnte mir einfach nicht erklären, was es mit ihm auf sich hatte.

Bis er an einem Tag im November seinen Platz vor unserem Haus eingenommen hatte. Er saß dort eine Weile, als leichter Nieselregen einsetzte, kalt und klamm und plötzlich eine Frau erschien, die sich zu ihm gesellte. Sie schien in seinem Alter zu sein, war gekleidet in ein schlichtes schwarzes Kleid und trug einen ebenfalls schwarzen Hut. Eine durchweg gepflegte Erscheinung und Schmuckringe an ihren Händen wiesen ebenso wie ihre Bewegungen und ihr Benehmen darauf hin, das sie sich in besseren Kreisen heimisch zu fühlen pflegte. Und diese Frau ging hin zu meinem Engel, dem Berber, der neben unseren Mülltonnen auf dem nassen Gehwegpflaster saß und sie hockte sich neben ihn hin und legte ihre Hand auf die seine.

Und der Engel wandte seinen Blick von der anderen Straßenseite ab, sah sie an und weinte und lehnte sich an sie und meine Engel schluchzte hemmungslos und vergrub sein Gesicht an ihrer Schulter. Und so saßen sie die ganze Stunde da und die ganze Zeit weinte er und sie hielt ihn in ihren Armen und streichelte und drückte ihn an sich. Und ich stand an meinem Fenster und weinte ebenfalls, obwohl ich nichts davon verstand, was ich da sah.

Als seine Zeit vergangen war löste sich der Bettler aus den Armen der wohlhabenden Frau und sie reichte ihm ein Tuch, mit dem er sich die Tränen trocknete und sich schnäuzte. Er schien nun nicht weniger traurig, aber seine ganze Erscheinung hatte etwas erschöpftes, dem eine gewisse Erleichterung innewohnte. Und dann holte die Frau eine Blume hervor, eine weiße Lilie und gab sie dem Engel und er nahm die Pflanze und seine schwieligen Hände streichelten den Blütenkelch mit der Zärtlichkeit eines Vaters für sein neugeborenes Kind. Dann ging der Engel fort, gebeugt wie ich ihn vorher noch nicht gesehen hatte und die Frau stand da und sah ihm nach bis er an einer Straßenecke verschwand. Und nun war es an ihr hinauf zu sehen zu dem Fenster im dritten Stock des Hauses gegenüber. Und dann zuckten ihre Schultern unkontrolliert und sie begann wieder zu weinen.
Ich stürzte die Treppe hinunter und gerade, als sie sich zum Gehen wandte, sprach ich sie an. Sie schien nicht wirklich überrascht und sie verstand meine Neugier. Ich lud sie zu mir ein und bei einer wärmenden Tasse Tee erfuhr ich die Geschichte des Polyesterengels.

Sein Name war Marek und die mir gegenübersitzende Frau war seine Schwester. Gemeinsam mit ihren Eltern, die beide angesehne Mediziner gewesen sind, waren sie nach dem großen Krieg aus der Tschechei nach Deutschland gekommen, weil ihr Vater ihnen das Leben im goldenen Westen bieten wollte.

Marek war ein ganz besonderer junger Mann, freundlich, bescheiden, gut aussehend und dabei äußerst intelligent und interessiert. Er schien vom Glück verfolgt und als junger Student lernte er Anna-Sophie kennen und sie und ihre Liebe machten sein Leben endgültig perfekt. Ebenso wie er war sie ein Ideal an Schönheit und Geist, eine Seele wie ein Gestirn und ein Wesen wie eine heller Morgen. Ihre Stimme schien reine Melodie zu sein und jeder liebte sie und wenn Marek und Anna-Sophie durch die Strassen gingen drehten sich die Menschen zu ihnen um und lächelten.

Marek war fast mit seinem Jurastudium fertig, er hatte hervorragende Noten und sein Fleiß war allseits bekannt, so dass es niemanden wunderte, das er keine Bewerbungen schreiben musste sondern im Gegenteil Angebote renommierter Kanzleien vorlagen. Das Leben der beiden war ein Tanz und es gab niemanden, der sich nicht mit ihnen freute. Die Zukunft gehörte ihnen und schließlich machte Anna-Sophie ihrem Verlobten zum glücklichsten Mann, als sie ihm sagte, das sie ein Kind von ihm erwartete.

Durch den nächsten Tag schien Marek regelrecht zu schweben und Freunde und Kommilitonen klopften ihm die Schultern und drückten ihm die Hand und seiner Schwester bot er die Patenschaft des Kindes an, was sie freudestrahlend annahm. Dann besuchte er die größte Kanzlei des Stadtteils und dort unterschrieb er einen Vertrag, der ihm eine Stelle nach Abschluss seines Staatsexamens zusicherte. Augenzwinkernd reichte ihm der Seniorpartner einen Umschlag mit einem Vorschuss, um das junge Glück angemessen zu feiern und Marek bedankte sich lachend und überschwänglich und seine zukünftigen Chefs trieben ihn breit grinsend aus dem Büro, damit er heim zu seinem Mädchen eilen und mit ihr den Abend begehen solle. Marek tanzte durch die Strassen und er kaufte Champagner und Blumen und nicht zuletzt einen Ring, den einen, der ihm das endgültige Glück besiegeln sollte.

Und so kam Marek nach Hause, um zu feiern und Anna-Sophie zu fragen, ob sie seine Frau werden wolle und das Schloss an der Tür war geborsten und in der ganzen Wohnung war es still und Möbel und Bilder und Porzellan lagen zerschmettert am Boden und Anna-Sophie war fort und nur das verschmierte Blut auf dem hölzernen Boden war von ihr geblieben und Marek stand still und die Blumen entglitten seiner Hand und fielen zu Boden und Rosenblätter so rot, so rot, gingen nieder in klebriges Nass und ein kleines Kästchen fiel hernieder und zersprang und ein Ring rollte durch einen leeren Raum und Marek stand da und es war still und Anna-Sophie war fort.

Zu jener Zeit hatte ein Mann in der Stadt sein Unwesen getrieben, ein Mörder zahlreicher Frauen und lange konnte er nicht gefasst werden, denn wahllos und ohne Motiv verfolgte er seine Opfer, drang in ihre Wohnungen ein und schändete und quälte sie und brachte sie um und nahm die Leichen mit sich und entsorgte sie in fremden Hinterhöfen im Müll.

Erst lange Zeit später wurde man seiner habhaft und erfuhr von Anna-Sophies Verbleib und niemals wurde ihr Körper gefunden und es gab kein Grab für sie.
An diesem Tag zerbrach der Mann, der Marek war. Er verließ die seinen und begann auf der Strasse zu leben. Und jeden Tag, zu der Stunde, an der Anna-Sophies Lachen so sinnlos erstickt wurde, kam er hierher und starrte hinauf zu dem Fenster der Wohnung, die einst seine war und die Anna-Sophies und ihres ungeborenen Kindes.

Das alles erzählte mir die Frau und das sie einmal im Jahr zu Marek kam, an jenem Tag, an dem sich das Grausame jährte und so ging es nun schon dreißig Jahre.
Dann erhob sich die Frau und ich stammelte, das mir das alles leid täte und sie sagte, das müsse es nicht und natürlich hatte sie recht und ging fort. Ich blieb allein zurück und um mich herum war alles still und meine Welt erschien mir plötzlich so unsagbar klein und eng.
Als meine Freundin kam, fragte sie mich warum ich weine und dann erzählte ich ihr die Geschichte von Marek und wir saßen lange schweigend beieinander und hielten uns fest und schützten uns vor einer Welt, in der alles so zerbrechlich schien und ich sagte ihr, das ich sie liebe.

Impressum

Texte: (c) Micha-El Goehre www.michael-goehre.de
Tag der Veröffentlichung: 09.09.2008

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /