Am Brunnen „Les Quatre Dauphins“ wird gedreht. Es ist nicht ersichtlich, wer von den umherstehenden Leuten die Darsteller sind. Einige Fahrzeuge – ein Van mit einer Antenne auf dem Dach, ein Passat, zwei Peugeots - sind ungewöhnlich quer geparkt, ein Beleuchter hält eine mit goldenem Stanniol überzogene Schüssel in der Hand, ein Mann hat eine Kamera geschultert, ein anderer trägt ein Megaphon. Der Kreisverkehr am Brunnen ist nicht abgesperrt, ab und zu befährt ihn ein PKW, niemand der wenigen Schaulustigen weiß, ob dies nun zu dem zukünftigen Film oder zum alltäglichen Verkehr eines frühen Samstagnachmittags gehört, dem sich die Sonne entzieht, um den Himmel endgültig einer hellgrauen Wolkendecke zu überlassen.
Es ist nicht klar, worauf die verantwortlichen Akteure warten. Einmal spricht der Mann mit dem Megaphon eine unverständliche Anweisung ins Gerät, worauf alle Umherstehenden gespannt auf die Kamera blicken, um die Richtung zu erfahren, in der sich die Szene abspielen soll. Doch nichts geschieht, ein weiterer PKW fährt an den Kreisverkehr heran, eine weitere Anweisung aus dem Megaphone folgt, der Wagen wird von einem der Leute angehalten und schließlich durchgelassen, die Stanniolschüssel senkt sich. Noch nicht.
Dann kommt ein überraschendes „Moteur“ aus dem Megaphon, das Objektiv der Kamera deutet auf die gegenüberliegende Seite des Brunnens, auf den gepflasterten Vorplatz eines historischen Sandsteingebäudes aus dem 17. Jahrhundert, wo ein Mann in Postbotenuniform einer Frau, die kurz vorher noch unter den Schaulustigen gestanden hatte, ein silbernes, schuhkartongroßes Paket übergibt und ihr ein, zwei unverständliche Worte sagt. Die Frau nimmt das Paket entgegen und lächelt dankbar dem fortgehenden Postboten nach.
„Coupé!“, ruft das Megaphon.
War das alles? Enttäuscht wenden sich die Schaulustigen vom Geschehen ab und gehen ihres Weges. Die Stanniolschüssel wird in dem Van verstaut, das Megaphon und die Kamera finden Platz im Kofferraum des Passats. Die Frau, die eben noch das silberne Paket in der Hand gehalten hat, zündet sich eine Zigarette an, der vermeintliche Postbote kommt zu ihr zurück und beide wechseln kollegial einige Worte miteinander. „Ein Postbote überreicht der Frau das Paket“, mochte im Drehbuch gestanden haben. Die Szene ist im Kasten.
Steht sie für den Beginn einer Geschichte? Oder für das Ende? Oder ist sie nur eine der unzähligen Zwischeneinstellungen, die, von der Montage aneinandergeschnitten, eine für den Zuschauer nachvollziehbare Handlung erzählen? Oder fällt sie schlussendlich unter den Tisch, weil der Himmel nicht die richtige Farbe hat, oder die Stiefel der Frau dem Regisseur nicht gefallen, oder der dickliche Postbote nicht wie ein Postbote aus dem wirklichen Leben wirkt?
Wie auch immer: Einen kurzen, magischen Moment lang wird der Puls des tatsächlichen Lebens angehalten und folgt den Spielanweisungen eines Drehbuches.
Senne: „Na, was sagt ihr dazu?“ [blickt zufrieden um sich]
Marcia: „Senne, ich dachte, du würdest Brot holen. Stattdessen glotzt du einem Postboten zu, der keiner ist, und der ein Paket übergibt, in dem wahrscheinlich nix drin ist.“
Senne: „Woher willst du das wissen?“
Marcia: „Na jedenfalls kein Brot.“
Senne: „Marcia, Vorstellungskraft, weißt du noch was das ist? Lass deine Fantasie spielen.“
Marcia: „Ich brauche keine Fantasie um zu wissen, dass wir jetzt kein Brot haben.“
Senne: „Die Bäckerei war geschlossen.“
Marcia: „Na klar, die macht um eins zu, während du darauf wartest, dass ein Postbote einer Frau ein Paket übergibt. Bravo!“
Senne: „Marcia, das ist die Macht der Fantasie. Die Fantasie hat die Realität angehalten und einen Moment lang ersetzt. [zu seinem Sohn] Was grinst du so dämlich?“
Sohn: „Mir fällt die nächste Szene ein.“
Senne: „Und die wäre?“
Sohn: „Also: Die Frau packt Zuhause das Paket aus. Ganz langsam. Einen Dildo nach dem anderen. Dann zieht sie sich aus…“
Senne: „Marcia, dein Sohn hat definitiv eine Testosteronvergiftung.“
Sohn: „Ach, als Fantasie gilt nur, was mein alter Herr sich vorstellen kann?!“
Senne: „Unsinn, wenn du die Frau gesehen hättest.“
Marcia: „Was soll denn das nun schon wieder? Muss eine Frau, die sich Dildos bestellt, irgendwie bestimmt aussehen?“
Senne: „Nein, das meine ich nicht…“
Sohn: „Also, mein Soziologieprofessor hat gesagt.. “
Senne [äfft seinen Sohn nach] : „Mein Soziologieprofessor hat gesagt… Mein Soziologieprofessor hat gesagt…“.
Sohn: „Mit dir kann man nicht reden.“
Senne: „Wenn ich wissen will, was dein 68ger Guru sagt, gehe ich in seine Vorlesungen. Ansonsten kann er mich mal…“
Marcia: „Wie hat denn die Frau ausgesehen?“
Senne: „Eine Allerweltsfrau. Eine graue Maus.“
Marcia: „Mensch Senne, ist dir bewusst, wie du von Frauen sprichst?“
Senne: „Nicht von Frauen, Marcia. Von Allerweltsfrauen. Da gleicht eine der anderen aufs Ei. Wie die Chinesen…“
Sohn: „Papa, ich wusste ja gar nicht, dass du Rassist bist.“
Marcia: „Und Frauenfeind, mein verehrter Gatte.“
Senne: „Mensch seid ihr beide verrückt geworden? Ich wollte euch von einem poetischen Moment erzählen, sozusagen als Einleitung zum Nachtisch, und ihr…“
Marcia: „Poetischer Moment? „Postbote überreicht einer Frau ein Paket.“ Sehr poetisch…
Senne: Du darfst das nicht so wörtlich nehmen. Was hat heute schon die Macht, auch nur eine Sekunde lang die Realität auszuhebeln?“
Marcia: „Jetzt werde ich mal ein Drehbuch schreiben, das die Realität aushebelt, und zwar definitiv. Szene 1: Unser Sohn übernimmt ab sofort das Staubsaugen. Szene 2: Senne macht sich endlich an die Gardinenstange. Szene 3: Mein lieber Gatte Senne kocht an den Wochenenden und kauft ein. Szene 4: Unser geliebter Sohn übernimmt die Wäsche, einschließlich das Bügeln und Einräumen.“
Senne und Sohn, gemeinsam: „Und du, was machst du?“
Marcia: „Drehbücher. Ich schreibe Drehbücher, die unsere kleine Welt verändern…“
Texte: Alle Rechte liegen beim Autor
Bildmaterialien: Les Quatre Dauphins in Aix-en-Provence @Lothar Gunter
Tag der Veröffentlichung: 17.02.2014
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