HUBERT HORSTMANN
Der Heilkundige
aus Eisenach
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DER HEILKUNDIGE AUS EISENACH
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Vierundzwanzigstes Kapitel
Fünfundzwanzigstes Kapitel
Sechsundzwanzigstes Kapitel
Siebenundzwanzigstes Kapitel
Achtundzwanzigstes Kapitel
Neunundzwanzigstes Kapitel
Dreißigstes Kapitel
Einunddreißigstes Kapitel
Zweiunddreißigstes Kapitel
Dreiunddreißigstes Kapitel
Vierunddreißigstes Kapitel
Fünfunddreißigstes Kapitel
Sechsunddreißigstes Kapitel
Siebenunddreißigstes Kapitel
Achtunddreißigstes Kapitel
Neununddreißigstes Kapitel
Vierzigstes Kapitel
Einundvierzigstes Kapitel
Zweiundvierzigstes Kapitel
Das Buch
Christian Franz Paullini (1643 - 1712) aus Eisenach ist eine schillernde Figur des ausgehenden Barock; er war in der Tat ein ungewöhnlich vielseitig begabter Mann. Die Stationen seines Lebens: fürstbischöflicher Leibarzt, kaiserlich gekrönter Poet, Übersetzer, Historiograph des Reichsklosters Corvey und Landmedicus.
Paullini verdingte sich während seiner Studienzeit in Dänemark als Dolmetscher an den geheimnisumwitterten Alchimisten und Goldmacher Francesco Borri. Im fortgeschrittenen Alter verfasste er die berühmte Dreckapotheke, konzipierte eine Academia Pauperum (Höhere Schule für Mittellose) und war Autor zahlreicher früher Werke der Unterhaltungsliteratur.
Eisenach, Gotha, Coburg, Kopenhagen, Corvey und Wolfenbüttel sind einige Stationen seines bewegten und wechselvollen Lebens, dessen letzte Jahrzehnte er wieder in seiner Vaterstadt verbrachte, rastlos tätig als Stadtphysicus, Naturkundiger, Projektemacher und Schriftsteller. Im 19. Jahrhundert wurde er posthum der Fälschung historischer Dokumente beschuldigt, und sein Name kam in Verruf.
Der Schriftsteller und Philosoph Hubert Horstmann, Jahrgang 1937, verfasste auf der Grundlage des Lebens und Wirkens von Christian Franz Paullini den fesselnden und lehrreichen historischen Roman Der Heilkundige aus Eisenach – weitere im Apex-Verlag erschienene Werke des Autors sind die Science-Fiction-Romane Die Rätsel des Silbermonds und Die Stimme der Unendlichkeit.
DER HEILKUNDIGE AUS EISENACH
Erstes Kapitel
Der Gewitterregen hatte aufgehört, die Wolken wurden heller, von der Georgenvorstadt her brach die Sonne durch. Rund um den leergefegten Marktplatz wurde es wieder lebendig. Trauben von Kindern, die Zuflucht in den angrenzenden Gassen, unter Toreinfahrten und den Dachtraufen der Bürgerhäuser gesucht hatten, schoben sich lärmend und lachend zum Rathaus. Die meisten von ihnen waren nass geworden, und manche hatten sich im Gerangel um trockene Plätze schmutzige Beinkleider oder schlammbespritzte Rocksäume geholt. Doch alle Gesichter glänzten in freudiger Erregung. Der Stellplatz füllte sich. Rektor Konrad Moeller war mit lauter Stimme bemüht, die Schüler klassenweise zu formieren. Er stand etwas erhöht auf der Rathaustreppe und sah, dass sich drüben, vor der Georgenkirche, die Stadtobrigkeit versammelte. Er mahnte den Lehrer der Quinta zur besonderen Eile, denn der Zug sollte von den jüngsten Schülern und gleichaltrigen Mädchen angeführt werden. Dann befahl er der Quarta und Tertia aufzuschließen und den Primanern, am Ausgang der Judengasse zu verharren. Diese aber, aufsässig wie immer, schubsten sich gegenseitig, schwatzten und drängten ungeduldig nach. Er rief ein paar von ihnen namentlich an, drohte mit der Faust, und es gelang ihm für Augenblicke, Ruhe herzustellen.
Punkt Mittag begannen die Glocken in der Stadt zu läuten. Eröffnet wurde das Geläut durch die neue, erst kürzlich geweihte Glocke von Sankt Georg, dann fielen schwer die Glocken der Annenkirche und der Nikolaikirche ein; es dröhnte vom Glockenturm in der Domstraße und klang hell aus den Kapellen der Vorstädte herüber. Eisenachs Glocken läuteten das Friedensdankfest nach dem Dreißigjährigen Krieg ein.
Christian Franz stand in der vorderen Reihe am Marktplatz, sein jüngeres Schwesterchen Maria Magdalena an der Hand. Er versuchte, sich die bloßen, schlammbesudelten Füße zu säubern, indem er sie abwechselnd in eine Regenpfütze tauchte und an den Waden abrieb. Der Kantor würde ihn rügen, wenn er so in die Kirche kam. Dann rückte er Maria den Rautenkranz auf dem feuchten, strähnigen Haar zurecht. Alle Mädchen waren heute mit Rautenkränzen geschmückt. Maria wehrte seine Hand unwillig ab und sah zu ihm auf. Ihr schmales Gesichtchen glühte vor Aufregung. Sie war nur mit einem Hemd bekleidet, aber sie schüttelte heftig den Kopf, als er sie fragte, ob sie friere.
»Silentium! Silentium!« Rektor Moeller hatte ein paar Schritt vor dem Haufen der Lateinschüler Aufstellung genommen und hob würdevoll die Arme. Mit gerunzelten Brauen wartete er, bis Ruhe eingetreten war. »Eins, zwei... Wär-Gott-nicht-mit uns...«, begann er in tiefem Bass.
»Wär Gott – nicht mit uns – diese Zeit«, ertönte es vielstimmig aus jugendlichen Kehlen. Der Zug setzte sich in Bewegung. Rund um den Marktplatz wurde der Gesang aufgenommen. Dicht gedrängt standen die Bürger: Männer und Weiber, Meister und Zunftgesellen, Händler, Bauern, Tagelöhner, Krüppel; barhäuptig alle, und die meisten barfüßig, in Hemden und Hosen aus grobem Leinen.
»...wir hätten müssen verzagen«, schmetterte Christian Franz. Er war von Herzen froh. Die Sonne lachte vom Himmel. Die Menschen hatten sich mit Blumen und Laubzweigen herausgeputzt. Ein Geruch von frischem Brot, der sich mit den Ausdünstungen der nahen Garküche vermischte, lag in der Luft. Nach dem Dankgottesdienst würde es ein Fest geben. Und auch der Vater würde dabeisein. Christian Franz reckte den Kopf. Als er den Vater endlich erspähte, im braunen Kaufmannsrock, den fünfjährigen Georg Heinrich an der Hand und den jüngeren Johann Christian auf den Schultern, lachte er freudig auf. Wie oft hatte er den Vater in den letzten Monaten vermisst, wenn ihn Handelsreisen im Auftrag der Residenz oder des Rates von der Stadt fernhielten. Das Leben bei den Großeltern war wohl behütet. Es gab immer etwas zu essen im Pfarrhaushalt, und Großmutter Clara verkürzte manchen der langen, dunklen Abende mit lustigen Geschichten oder frommen Liedern und lehrreichen Spielen. Wenn er aber dann neben den Geschwistern in dem breiten Bett lag, sehnte er sich nach der Hand des Vaters, die ihm vor dem Einschlafen beruhigend über den Schopf fuhr und die bösen Träume fernhielt. Hin und wieder kamen sie zurück, die Träume von der sterbenden Mutter.
Sie hatten die Georgenkirche nun fast erreicht. Die Kirchenmauern waren mit Birkengrün geschmückt, von den schmalen Fenstern hingen rote Bänder herab. Gerade begab sich die versammelte Obrigkeit zum Eingang. Ganz vorn ging, auf zwei Kammerjungfern gestützt, die erblindete Herzoginwitwe Christine, dahinter schritt, im festlichen Ornat, vierschrötig und mit hochmütigem Gesicht, der herzogliche Statthalter, Zacharias Prüschenck. In gebührendem Abstand folgten der Bürgermeister und die Mitglieder des Stadtrates.
Am Eingangsportal musste sich Christian Franz von der Schwester trennen. Er schob sie in das Kirchenschiff und stieg, gedrängt von den nachfolgenden schwatzenden und kichernden Chorschülern, die enge Treppe zur Orgelempore hinauf. Kantor Schuchardt erwartete sie bereits und sorgte schnell für Ruhe. Da er gleichzeitig Lehrer der Lateinschule, der Quarta, war und außerdem ein gewichtiges Wort mitzureden hatte, wenn es darum ging, von Fall zu Fall zu entscheiden, welchem Chorschüler es erlaubt sei, in der einträglichen, wenn auch nicht so hoch angesehen Kurrende, bei einer Kindtaufe, Hochzeit oder einem Begräbnis, mitzusingen, genoss er ziemliche Autorität.
Die Schüler nahmen, sich gegenseitig schubsend, Aufstellung um das große, auf einem hölzernen Ständer liegende Choralbuch, dessen riesige Noten und Buchstaben von allen Plätzen aus gut zu lesen waren. Dann kündigte ein Räuspern des Kantors den nahen Einsatz an. Die Schüler erstarrten. Unten, im Kirchenschiff, war noch Bewegung, wurde gehüstelt, geraunt, mit den Füßen gescharrt. Ein Kranker stöhnte und holte rasselnd Luft. In den hinteren Bänken fiel eine Krücke auf den Steinfußboden. Doch auf der Orgelempore war Totenstille. Alle Augen waren auf Kantor Schuchardt gerichtet.
Der Chor begann leise und a capella. »Singet dem Herrn...«, das oft gesungene, lateinisch vorgetragene Eingangslied. Drei, vier helle Knabenstimmen bahnten den Weg, schwangen auf, sprangen über die Empore. Etwas tiefer fielen die anderen Stimmen ein. Der Choral schwoll an und erfüllte die Kirche bis hinunter zum Altar. Es folgte das Kyrie eleison im Wechselspiel des Altargeistlichen mit der Gemeinde, dem Chor und der Orgel, dann das Lied »Ehre sei Gott in der Höhe«.
Christian Franz’ Augen hatten sich längst von dem Choralbuch, aber auch von Kantor Schuchardt gelöst, er kannte die Texte und die Noten auswendig und wusste genau, wann seine Einsätze kommen mussten. Er blickte verstohlen in das Kirchenschiff hinab, er sah, wie Caspar Rebhan, der Superintendent, mit würdevollen Schritten den Altarraum durchmaß und sich der Kanzel näherte, während der Altargeistliche die Kerzen zurechtrückte, dann die Bibel aufschlug und sich anschickte, eine Stelle aus der ausgewählten Epistel vorzulesen. Ihn beschäftigte plötzlich der Gedanke, dass auch er eines Tages im schwarzen Talar vor dem Kreuz stehen und gemessenen Schritts durch den Altarraum gehen würde. Er lächelte, als er sich das bildlich vorstellte: Es würde sehr feierlich sein in der Kirche. Überall brannten Wachskerzen, nicht nur auf dem Altar, sondern auch zwischen den Bänken und auf den Brüstungen der Empore. Der Vater nickte ihm aus der ersten Reihe stolz und aufmunternd zu, und die neben ihm knienden Geschwister staunten ihn mit großen Augen an, als er auf die Kanzel stieg.
Er wusste, dass er zum Predigtamt bestimmt war. Die Großeltern hatten es ihm am Grab der Mutter anvertraut. Die Mutter hatte ein Gelübde abgelegt, als sie ihn schon lange – viel zu lange - unter dem Herzen mit sich herumtrug. In höchster Not hatte sie Gott angerufen, denn viele schwangere Frauen waren schon im Kindbett gestorben, und meist waren es Mütter von Mägdlein gewesen. Sie war noch so jung. Sie wollte nicht sterben. Angstvoll hatte sie darum gebetet, mit einem Knäblein niederzukommen und versprochen, den Knaben, so es Gott gefalle, zum geistlichen Leben zu erziehen.
Die Gemeinde sang »Wir glauben all an einen Gott.« Caspar Rebhan predigte von der Kanzel. Er sprach vom großen, langen Krieg und von Feuersbrunst, von Aufruhr und Pestilenz, von Zwietracht, Not und Teuerung. Christian Franz hörte ihn reden, hörte die Worte, nahm aber nicht auf, was er sagte. Er war jetzt ganz in der Erinnerung versunken. Ja, der Herr hatte sich ihrer erbarmt. Ohne Schaden an ihrem Leib hatte sie ein gesundes Knäblein geboren und in den folgenden vier Jahren noch vier Geschwisterchen zur Welt gebracht. Dann aber... Er sah sie wieder, schweißgebadet und mit wirren Haaren, auf dem Bett liegen. Ihre Schreie hatten ihn aus dem Spielen gerissen. Durch einen schmalen Türspalt hatte er erkennen können, dass Großmutter und die Hebamme bei ihr waren. Vater war gekommen, hatte ihn wortlos zur Seite gestoßen und dieTür hinter sich geschlossen; später hatte er das Haus mit einem kleinen, in blutbeflecktes Sackleinen gehüllten Bündel verlassen. Als er zurückgekommen war, war ihm ein Mann im grauen Umhang und in schlottrigen, kotigen Galoschen gefolgt, mit einer Brille auf der knorpeligen Nase und einem Lederköfferchen in der Hand. Die Mutter hatte gewimmert. Verängstigt und frierend war Christian Franz in die Ecke unter der Treppe gekrochen und nach einer Weile vor Erschöpfung eingeschlafen. Als er am nächsten Morgen aufgewacht war, hatte die Mutter mit hochgebundenem Kinn und einem Kruzifix in den Händen auf dem Bett gelegen. Eine Wachskerze hatte neben ihr auf dem Schemel gebrannt.
»Christian!« Ein Knuff in die Seite schreckte ihn auf. Die Schüler um ihn herum hatten die Knie gebeugt. Der Altargeistliche betete, die Gemeinde stimmte mit Gesang ein. Erschrocken ließ er sich auf die Knie fallen, doch im nächsten Augenblick erhoben sich die Mitschüler schon und Orgelspiel erklang. Da begriff er, dass der Gottesdienst zu Ende war. »Verleih... uns Frieden... gnädiglich«, hörte er Kantor Schuchardt mit gedämpfter Stimme sagen. »Verleih uns Frieden...«, begann der Knabenchor zu singen. Von unten drangen Geräusche herauf, Füßescharren, Schritte, Gemurmel. Die Gemeinde verließ die Kirche.
Als er durch das Tor ins Freie gedrängt wurde, schloss er geblendet die Augen. Die Sonne lachte noch immer vom Himmel, ihre Strahlen wurden von den umliegenden gekalkten Hauswänden und den vielen Butzenscheiben auf den Platz reflektiert. Vom Rathausturm ertönte Musik herüber, der Stadtpfeifer spielte eine lustige Weise, und das Volk rings um den Markt und in den angrenzenden Gassen nahm die Melodie auf und summte und sang mit.
Maria Magdalena wartete schon auf ihn. Der Rautenkranz saß schief auf ihrem Kopf und war über der Stirn aufgegangen, die Enden standen wie kleine Hörner von ihr ab. Sie zitterte in ihrem dünnen Hemd; in der Kirche war es kühl gewesen. Er schnäuzte ihr die Nase mit dem Hemdzipfel und wollte sie an sich drücken, aber sie wich mit gespreizten Händen zurück. »Kommt jetzt das Fest?«, wollte sie wissen. Er bejahte, obwohl auch er nicht genau wusste, was ein Fest eigentlich war. Nur dass es lustig zugehen und Geschenke geben würde, war von den Primanern her durchgesickert.
Zunächst aber mussten sich die Schüler, unter dem Kommando der Klassenlehrer, wieder zu einem geordneten Zug formieren. Rektor Moeller stimmte das Lied an, das sie über den Markt zurück zum Rathaus begleiten sollte: »Erhalt uns Herr bei deinem Wort.«
Vor dem Rathaus war ein Podest errichtet und mit Buchenzweigen geschmückt worden. Ein paar Stufen führten hinauf und am anderen Ende wieder hinunter. Oben standen zwei Tische, einer in der Mitte, der andere, von Weidenkörben flankiert, vor dem Abgang. Ratsherren standen um den mittleren Tisch. Als die Quinta ankam, blies der Stadtpfeifer einen Dreiklang. Rektor Moeller kletterte auf das Podest und schritt auf die Ratsherren zu. Sie unterhielten sich eine Weile. Dann verbeugte er sich vor den Herren, kam zurück zur Treppe und breitete die Arme aus
»Jetzt beginnt das Fest«, sagte Christian Franz, »glaub ich.«
»Zur Erinnerung an diesen Tag«, rief Rektor Moeller, »den neunzehnten August anno Domini sechzehnhundertfünfzig... stiftet der wohledle Rat unserer Stadt für die Schüler unserer Anstalt... und die Mägdlein, so sie begleiten... einen Friedensgroschen. Neu geschlagen in der Münze zu Gotha!«
»Hoho, juchhe!«, tönte es sofort über den Markt. Die Schüler klatschten begeistert. Rektor Moeller hob die Stimme. »Danket dem Rat und haltet die Gabe in Ehren!« Auch die wartenden Eltern, das schaulustige Volk spendeten nun Beifall. Auf ein Zeichen des Rektors erklommen die Quintaner der Reihe nach das Podest und nahmen am Mitteltisch ihren Friedensgroschen in Empfang. Als der erste von ihnen, etwas verlegen und unschlüssig, dem Abgang zusteuerte, brandete erneut Beifall auf: Am anderen Tisch wurde ihm eine große goldbraune Brezel überreicht.
»Jetzt wir!«, sagte Maria Magdalena. Sie zog aufgeregt an ihrem Bruder. Gemeinsam stolperten sie die Treppe hoch. Auch Christian Franz wurde verlegen, als er so viele Gesichter auf sich gerichtet sah. Der Marktplatz wimmelte vor Menschen, sie drängten sich vor den Mauern der Georgenkircke, vor der Apotheke, im Eingang zur Markt- und zur Judengasse, und alle Menschen sahen ihn an. Er senkte die Augen, erst als er vor den Ratsherren stand, hob er den Blick. Der ehrwürdige Rat und berühmte Bildnismaler, August Erich, im dunkelbraunen Amtkleid, mit mächtiger Perücke, lächelte ihn an. »Wie heißt du?«
»Paulin, Christian Franz.
»Vom Kaufmann Paulin... in der Predigergasse«, erläuterte ein zweiter Ratsherr. »Die Mutter selig war Kammerzofe bei der Herzogin.«
»Ach, von unserem Paulin. Und die Kleine?«
»Maria Magdalena, meine Schwester«, sagte Christian Franz.
»Haltet in Ehren!«, sagte der Rat, reichte ihnen freundlich die Münzen und wandte sich an den nächsten Schüler.
»Gib ihn mir!«, raunte Christian Franz dem Schwesterchen zu, als sie sich dem Brezeltisch näherten. »Ich steck ihn in die Hosentasche.« Maria Magdalena gab ihm bereitwillig den Groschen, ihre Augen hingen an den Weidenkörben, aus denen die Brezeln hervorleuchteten.
Am Brezeltisch hatte sich ein kleiner Stau gebildet, denn die Schüler konnten wählen, ob sie eine dunklere Brezel mit Kümmel und Salz oder eine hellere mit einer Honigkruste wollten, und die Wahl fiel nicht leicht. Versprachen nämlich die einen mit ihrer Süße ein köstliches Erlebnis, so lockten die anderen mit ihrem größeren Umfang. Maria Magdalena, die vor ihrem Bruder ging, konnte sich lange nicht entscheiden. Wartend warf Christian Franz wieder einen Blick hinunter in die Menge, in die vielen Gesichter, und bemerkte, nur ein Dutzend Schritte entfernt, den Vater mit den beiden Brüderchen an der Hand. Er winkte ihnen zu, die Kleinen lachten und streckten ihm die Arme entgegen. Neben ihnen stand ein hochaufgeschossener, fremder Junge, der spöttisch zurückwinkte und ihn dann unentwegt anstarrte. Er hatte lange, blonde, mit einem schmutzigen Stirnband zusammengehaltene Haare und war nur mit einer zerlumpten Kniehose bekleidet. Jetzt schnitt er ihm eine höhnische Fratze. Christian Franz hob fragend die Schultern, doch in diesem Moment sagte Maria Magdalena: »Jetzt du!« und drückte strahlend eine große Kümmelbrezel an ihre Brust. Er nahm zögernd ebenfalls eine Kümmelbrezel, zeigte sie in der erhobenen Hand den beiden Geschwistern und bemerkte dabei die gierigen Blicke des fremden Jungen. Der steckte ihm plötzlich die Zunge heraus und verschwand nach hinten in der Menge.
Christian Franz schob die Schwester zur Treppe, es kam ihm jetzt so vor, als würde er auch von andern Gesichtern gierig angestarrt, und er war froh, dass der Vater mit den Geschwistern nahte. Zusammen bahnten sie sich einen Weg aus dem Gedränge.
Sie schlugen den Weg zur Garküche ein, denn die Stadt hatte ihre Bürger zu kostenlosem Suppenschmaus und Freibier eingeladen. Christian Franz zog die Münzen aus der Tasche, um sie seinen Brüdern zu zeigen; sie blinkten in der Sonne, er ließ sie durch die Hände gleiten, prüfte ihre Ränder, ihre Prägungen, warf sie in die Luft und fing sie mit dem Handrücken auf; die Kleinen aber äugten verstohlen nach den Brezeln und wollten kein rechtes Interesse für die glänzenden Metallscheibchen aufbringen. Da gab er sie dem Vater zur sicheren Aufbewahrung. »Was können wir dafür kaufen?«, fragte er.
»Der Groschen bringt ein Pfund Fleisch oder fünf Pfund Brot«, sagte der Vater, »ihr sollt sie aber in Ehren halten und nicht ausgeben.«
»Warum eigentlich?«, wollte Maria Magdalena wissen.
»Als Notgroschen für schlechtere Zeiten«, belehrte sie Christian Franz.
»Aber die Brezeln können wir essen«, begehrte Maria Magdalena auf. Sie brach energisch ihre Brezel in der Mitte durch, steckte den Arm durch die eine Hälfte, teilte die andere in vier gleiche Stücke, gab dem Vater und den kleinen Brüdern davon und begann zu essen. »Du auch!«, sagte sie mit vollem Mund zu Christian Franz. Er teilte seine Brezel nach ihrem Beispiel.
Sie waren an der Garküche angekommen. Es roch nach Kohlsuppe und Bier. Noch war das Gedränge um die dampfenden Suppenbottiche erträglich, denn die Masse der Schüler wartete vor dem Rathaus darauf, die Geschenke in Empfang zu nehmen, und die Eltern warteten auf ihre Sprösslinge. Christian Franz erspähte sogar noch freie Plätze an den aneinandergereihten flachen Tischen und Bänken, und nachdem sie Maria Magdalena und die Jungen dort abgesetzt hatten, reihten sich Christian Franz und der Vater in die Schlange vor den Bottichen ein. Es gab reichliche Suppenportionen. Sie wurden in irdenen Näpfen ausgegeben, nur für Löffel musste jeder Esser selbst sorgen. Doch der Vater hatte vorgesorgt. Mit verschmitztem Gesicht zog er zwei Holzlöffel aus der Tasche und ging Bier holen.
Die Kinder löffelten abwechselnd, und wer nicht warten mochte, bis er wieder an der Reihe war, setzte seinen Napf an den Mund und schlürfte von der warmen, mit Kümmel und Liebstöckel gewürzten Brühe, in der sogar Fettaugen schwammen. Es ging lustig zu in der Garküche. Die Menschen aßen, schlürften, schwatzten miteinander, lachten. Wer keinen Platz gefunden hatte, aß im Stehen oder hockte auf der Erde. Bierkannen begannen zu kreisen. Und vom Rathausturm ertönten immer wieder fröhliche Klänge.
Es wurde zusehends voller in der Garküche. Immer mehr Menschen, Erwachsene und Kinder, drängten herein, schubsten und stießen sich, suchten nach Sitzplätzen, vergrößerten die Warteschlangen vor den Suppenbottichen und dem Bierausschank. Ab und zu kam es zu kleinen Rempeleien, ertönte ein Fluch. Als der Vater mit der Bierkanne zurückkam, musste er sich mühsam einen Weg bahnen. Er brachte Kofent, ein Dünnbier, das aus dem zweiten Aufguss der Maische gebraut wurde. Kofent war in der Brauerstadt Eisenach ein Grundnahrungsmittel wie Grütze oder Rüben und wurde zu jeder Tageszeit getrunken. Er gab die Kanne den Kindern und begann eifrig Suppe zu löffeln.
Christian Franz hatte die Bierkanne angesetzt und wollte gerade einen langen Zug nehmen, als er unter dem Tisch eine merkwürdige Bewegung spürte, so als ob sich ein Hund oder ein Kind auf allen Vieren an seinen Beinen vorbeizuzwängen versuchte. Er beugte sich nach links, um unter die Tischplatte zu blicken, doch da stieß er an den löffelnden Vater, der ihn energisch mit dem Ellenbogen zurückdrückte; zugleich fühlte er, wie eine Hand an seinem rechten Oberschenkel entlang tastete und blitzschnell in seine Hosentasche fuhr, wo er die beiden Friedensgroschen gehabt hatte. Er sprang auf, da war die Hand verschwunden, doch Maria Magdalena, die ihm mit den Brüdern gegenüber saß, schlug plötzlich um sich und starrte dann wie gelähmt auf ihren Arm: die Brezelhälfte war weg. »Diebe!«, rief Christian Franz, »Diebe!« Der Vater fuhr hoch und verschüttete seine Suppe, der ganze Tisch kam in Bewegung, doch in dem Gedränge war nichts Verdächtiges auszumachen. Augenblicke später aber tauchten am langen Tischende zwei Jungenköpfe auf, einer von ihnen mit einem Stirnband, verharrten nur Sekunden und tauchten wieder ab. Als Christian Franz, der den fremden Jungen gleich wiedererkannt hatte, zur Stelle war, waren die beiden längst in der wogenden Menge verschwunden.
Maria Magdalena weinte bitterlich. Der Angriff auf ihren Arm hatte sie erschreckt, und sie vergoss Tränen über den Verlust der Brezel. Sie beruhigte sich erst ein wenig, als ihr Christian Franz ein großes Stück von seiner Brezelhälfte abgegeben hatte. Er teilte seine Beobachtungen dem Vater mit. »Vorher hab ich den Jungen nie gesehen. Ich glaube, auch den anderen nicht. Die sind nicht an unserer Schule«, sagte er bestimmt.
»Vielleicht Straßenkinder«, sagte der Vater mit düsterer Miene. »Kriegswaisen, die irgendwo in den Trümmern der vielen abgebrannten Häuser leben. Sie betteln und klauen...«
»Ja, beklaut haben sie mich!« klagte Maria Magdalena.
»...um nicht zu verhungern«, beendete der Vater seinen Satz. Nachdenklich fuhr er fort: »Die gibt es vielerorts, auch jetzt noch, wo der Krieg vorbei ist. Die meisten kommen aus zerstörten Dörfern, aus dem Hessischen vor allem. Es zieht sie in die Städte, da finden sie was zu essen und bleiben länger unentdeckt.«
Zweites Kapitel
Der Ostermorgen dämmerte herauf, als sie, an den wuchtigen Mauern von St. Georg vorbei, in die Schmelzergasse einbogen. Der Himmel war bedeckt, ganz im Osten färbten sich die ersten, lockeren Wolken zartrosa. Doch die Gasse lag noch grau und verschlafen vor ihnen. Es roch nach Ruß, kaltem Rauch und Pferdemist. Hier wohnten und arbeiteten die Huf-, Nagel- und Messerschmiede, die Schwertfeger, Schlosser und Büchsenmacher. Schemenhaft zeichneten sich rohe Bretterzäune, dahinter Lehmfachhäuser und Stallungen ab. In einer Toreinfahrt stand ein Fuhrwerk mit gebrochener Achse. Krähen hatten sich auf den Holmen niedergelassen.
Christian Franz lief gähnend hinter dem Vater her. Ihn fröstelte, er hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben und die Mütze tief ins Gesicht gezogen. Er gab sich Mühe, Schritt zu halten. Große, flache Steine sollten es den Passanten in der Gasse ermöglichen, trockenen Fußes durch den aufgewühlten, mit Schneeresten und Kot vermengten und von Radspuren durchfurchten Lehmbrei zu kommen. Doch die Abstände waren für Erwachsenenbeine berechnet. So musste er von Stein zu Stein hüpfen und springen, und manchmal strauchelte er. Der Vater achtete nicht darauf. Er lief schweigend voran. Er hatte weder gesagt, warum sie so früh unterwegs sein mussten, noch, wohin sie gingen.
Sie hatten die Gasse am Frauenberg erreicht, und der Vater schlug die Richtung zum nahen Stadttor ein. Es war nun fast hell geworden. Über der schnurgeraden Häuserzeile zur Linken stiegen hie und da Rauchfähnchen auf; ein Kopf mit Nachtmütze lugte aus einem halbgeöffneten Fenster, warf den beiden Wanderern einen Morgengruß zu und spuckte rasselnd auf die Gasse. Der Weg war hier breiter und teilweise gepflastert, sie konnten nebeneinander gehen, und Christian Franz bemerkte erst jetzt, dass der Vater einen Fuß nachzog: Er hinkte, und seinem Gesicht war anzusehen, dass er Schmerzen hatte.
»Habt Ihr wieder eure Gicht, Vater?« Doch der Vater antwortete nur mit einem kurzen, rauhen Lachen und einer wegwerfenden Handbewegung. Er war in den letzten Tagen recht schweigsam und oft mürrisch gewesen. Vielleicht spürte er, dass ein Gichtanfall nahte. Dann war er immer schlecht gelaunt, obwohl er versuchte, es vor den Kindern zu verbergen.
Rechterhand tauchten jetzt die verfallenden Türme des alten Doms auf. Aus dem Kirchenschiff wurden schon seit langem Steine für den Neubau herzoglicher und städtischer Gebäude gebrochen; viel Material verschwand auch in den Mauern von Bügerhäusern, die im Großen Krieg abgebrannt waren und nun allmählich wieder aufgebaut wurden. Auch die breite, steinerne Treppe, die über den Frauenplan zum Dom hinaufführte, war durch wilden Abriss schon arg lädiert. Ein Hundekadaver mit schwarzgrauem Zottelfell lag auf der untersten Stufe. Er konnte noch nicht lange da liegen, denn die Ratten hatten ihn kaum angefressen.
Das Frauentor wurde gerade geöffnet. Es war das einzige der fünf Stadttore, das Christian Franz noch nicht durchschritten hatte. Der Vater hatte es ihm verboten, und die Torwächter waren von Rektor Moeller angewiesen, Schülern bis zur Quarta nur in Gruppen oder in Begleitung Erwachsener den Durchgang zu gewähren. Gleich hinter dem Tor begann der endlose Wald. Auf den Wegen, die nach Ruhla und Meiningen und weiter nach Nürnberg führten, gab es Schluchten und wilde Abgründe; nachts heulten die Wölfe, und manch ein Wanderer berichtete von Irrlichtern und grausigen Gespenstern im Mariental, am Fuße der Wartburg. Auch sollten sich aus Kriegszeiten noch versprengte, heimatlose Söldner und andere Wegelagerer in den Forsten rund um den »Rynnestieg« aufhalten.
Der Turm über dem massiven Steintor war viereckig und trug eine gespitzte Dachhaube mit einem Erkerfensterchen und einer Wetterfahne. Rechts, an der Mauer schloss sich das Wohngebäude für die Wächter und den Torschreiber an. Die Ketten der Zugbrücke rasselten. Der Weg aus der Stadt war frei. Der Vater begrüßte die beiden Torwächter nur flüchtig, aber wie alte Bekannte, und humpelte eilig auf die Brücke. Von draußen drängten ein paar malerische Gestalten heran. Sie waren bäuerlich gekleidet, stellten aber auch Teile von Uniformen zur Schau, die bunt zusammen gewürfelt waren, als hätten sie diese im Vorbeigehen auf einem Schlachtfeld aufgelesen; einer hatte vielfach geflickte gelbe Stulpenstiefel an, ein anderer einen blauen schwedischen Rock, ein dritter Wams und Federhut, wie sie die französischen Kürassiere trugen. Sie schienen am Vorabend, nach Einbruch der Dunkelheit, angekommen zu sein und keinen Einlass mehr in die Stadt gefunden zu haben. Nachts waren die Tore fest verschlossen. Spätankömmlinge konnten, so sie Geld dabei hatten, im Gasthof vor der Stadtmauer, die anderen mussten unter freiem Himmel übernachten. Die Ankömmlinge waren unsicher auf den Beinen, sie hatten fahle Gesichter und redeten und fluchten mit heiseren Stimmen durcheinander; offenbar hatten sie bis in den Morgen hinein gezecht. Zwei von ihnen schleppten ein Reh mit durchschnittener Kehle auf den Schultern, sie hofften wohl, das Wildbret am Ostertag besonders günstig verkaufen zu können. Der Torschreiber stellte sich ihnen in den Weg.
»Christian!« Der Vater hatte sich schon ein gutes Stück entfernt, Christian Franz war neugierig stehengeblieben, er hatte die finstere Miene des Schreibers bemerkt und wollte sehen, ob sich vielleicht Händel zwischen den Torwächtern und den Fremden anbahnten. Schnell hatte er den Vater eingeholt. Als sie den breiten Stadtgraben und den aufgeschütteten mächtigen Schutzwall passiert hatten, dehnte sich vor ihnen, dunstverhangen und grau, das Mariental, zogen sich Fichten- und Eichenwälder bergwärts und verschwanden im Nebel, bis sie, noch höher, plötzlich im roten Licht der aufgehenden Sonne wieder sichtbar wurden. Die Hänge und Hügel linkerhand waren zum Teil bewirtschaftet, weitflächige Hopfenfelder wechselten mit dunklen Gruppen knorriger Obstbäume.
»Wohin gehen wir eigentlich, Vater?«
»Rütgen schneiden – bevor die Sonne drauf fällt.« Sie stapften jetzt in eine feuchte Wiese hinein und folgten den Windungen eines Bachs. Kopfweiden tauchten aus dem Nebel auf, und Christian Franz dachte schon, dass sie Weidenruten zum Korbflechten schneiden würden. Doch der Vater verließ plötzlich den Bach, durchquerte die Wiese und eilte hügelan auf eine Gruppe von Haselsträuchern zu. »Da sind wir endlich. Nun hurtig, Junge. Ich darf nicht, ein Knäblein muss es machen... So einer wie du. Also, pass auf!« Er zog ein Messer aus der Tasche, schnitt einen jungen Haseltrieb ab und hielt Christian Franz die Klinge hin. Es war ein ganz neues Messer. Christian hatte es noch nie gesehen. Auf der Klinge waren drei Kreuze eingraviert. Er bückte sich nach einem Trieb und setzte das Messer an. »Nein, so!« korrigierte ihn der Vater hastig. »Mit einem einzigen glatten Schnitt, hat der Bader gesagt.«
Christian Franz begann, Ruten zu schneiden. Er wusste nicht, wozu sie die Ruten brauchten, und warum der Vater so zur Eile drängte, und welchen Bader er meinte. Aber er fragte nicht. Er spürte, dass der Vater gereizt und dass es besser war, einfach seine Anordnungen zu befolgen. Er schnitt Rute um Rute, der Vater sammelte sie schweigend ein und wickelte sie in ein großes Stück Leinen. Als sie einen Armvoll zusammen hatten, sagte er: »Gut so.« Er ließ sich das Messer geben, wischte die Klinge sorgfältig ab, steckte sie in eine Scheide aus Ziegenleder und schob es in die Tasche zurück. Dann klemmte er sich das Rutenbündel unter den Arm und reichte Christian Franz die freie Hand. »Komm!«
Sie gingen den gleichen Weg zurück. Der Vater sah jetzt zufrieden, beinahe fröhlich aus. Er blinzelte unter seinen buschigen Augenbrauen in die aufgegangene Sonne. »Gerade noch geschafft. Kein Strahl darf die Rütgen berühren. Und sie müssen am Ostermorgen geschnitten sein.« Er lächelte dem Jungen zu. In Frankfurt auf der Messe hat mir ein Bader das Geheimnis anvertraut... wie man die Fußgicht vertreibt.«
»Mit Haselrütgen?«
»Wirst das schon machen, Junge.«
»Was soll ich machen?«
Der Vater überhörte die Frage. Er zog den Jungen mit sich, und bald waren sie wieder an der Stadtmauer angelangt. Die Fremden krakeelten immer noch vor dem Tor herum. Sie hatten Bierkannen aus dem Gasthof geholt, tranken und redeten auf den Stadtschreiber ein mitzuhalten. Das Reh hatten sie auf der Zugbrücke abgelegt. Die Torwächter verwehrten ihnen den Eingang in die Stadt mit nachlässig gekreuzten Hellebarden. Sie grinsten, als sie den Kaufmann Paulin mit seinem Sohn durchließen. »Schon wieder besoffen, die Galgenvögel.«
»Wenn das dem Prüschenck zu Ohren kommt!«, sagte der Vater im Vorbeigehen. »Mit Wilddieben macht der nicht viel Federlesens.«
Es war später Nachmittag. Nach dem Osterkirchgang und der Vesper mit den Großeltern und Geschwistern hatte Christian Franz das Schwein und das Schaf versorgt und sich für Leseübungen in den kleinen Hinterhofgarten zurückgezogen. Er konnte schon recht gut lesen,
deutsch und latein, er las flüssig, ohne den Gebrauch der Finger, und der Lehrer hatte ihn dafür gelobt. Anfangs hatte Großvater viel Geduld und Mühe und manche Abendstunde bei Kerzenschein aufgewandt, um die Neugier auf die kleinen schwarzen Buchstaben zu wecken: Wie sie hießen, wie Silben und Worte aus ihnen entstanden, und was die Worte bedeuteten. Inzwischen las er aus eigenem Antrieb. Zuerst wiederholte er die Verse aus den Evangelien, die sie am Vortag durchgenommen hatten, so lange, bis er sie aus wendig hersagen konnte, dann nahm er sich einen neuen Vers vor, buchstabierte ihn, versuchte hinter seinen Sinn zu kommen, und es machte ihm großen Spaß, wenn er einen Vers entdeckte, den der Pfarrer in der Predigt schon zitiert oder gar zum Leitspruch einer Predigt gewählt hatte.
Heute jedoch hatte ihm der Vater – was er noch nie getan hatte – eine Textstelle zum Üben vorgegeben und mit einem Augenzwinkern gesagt: »Lies das, aus dem Evangelium Marci, das kannst du aufsagen, wenn du hernach die Rütgen schwingst.«
Die Rütgen schwingst? Christian Franz schüttelte verständnislos den Kopf, als er die Schrift und die markierte Stelle aufgeschlagen hatte. Kapitel zwei, Vers elf: »Ich... sage dir... stehe auf, nimm dein... Bette und gehe heim«, las er. Er las es noch einmal. »Nimm dein Bette und gehe heim.« Das sollte er sagen? Warum? Zu wem sollte er das sagen? »Nimm dein Bette...« War vielleicht jemand im Haus, von dem er nicht wusste? Hatten die Großeltern einen Schlafgast einquartiert, als er in der Früh mit dem Vater weggegangen war? Nimm dein Bette und gehe! Warum sollte er das sagen und dabei Rütgen schwingen? Er konnte sich keinen Reim darauf machen. Er versuchte weiterzulesen. Doch auch der nächste Vers gab ihm keine Aufklärung. Da wandte er sich dem Anfang des Kapitels zu und las in der Inhaltsangabe: »Jesus heilt in Kapernaum einen Gichtbrüchigen.« Er hielt inne. Einen Gichtbrüchigen! Das war das Geheimnis. Begierig las er weiter. Doch nach einer geraumen Weile schlug er die Bibel enttäuscht zu. Er konnte einfach nicht verstehen, was da gesagt wurde, und von Rütgen war nirgendwo die Rede. Es dämmerte schon, als er missmutig ins Haus zurückging.
Nach dem Abendessen sagte der Vater. »Wenn du die Kleinen ins Bett gebracht hast, komm in den Stall.« Das Stallgebäude war an das Wohnhaus angebaut und enthielt zwei Verschläge, einen für das Schwein, im zweiten war gerade noch Platz für zwei Schafe und den Wintervorrat an Rüben, Eicheln und Heu, doch eines der beiden Schafe war zur Weihnachtszeit geschlachtet worden, und das Viehfutter war beinahe aufgebraucht. Als sich Christian Franz vom Hof her dem Stall näherte, sah er durch die Türritzen, dass drinnen Licht brannte. Das war ungewöhnlich. Vater hatte es streng verboten, den Heuschober mit Kerzenlicht zu betreten, und er hatte sich selbst immer streng an das Verbot gehalten. Ein Luftzug, ein Flackern, ein Funke genügte mitunter, um einen Brand zu entfachen, und unversehens stand auch das Wohnhaus in Flammen. Es hatte schon viele verheerende Brände in der Stadt gegeben.
Christian Franz öffnete die Tür. Sein erster Blick fiel auf ein Talglicht, das ruhig in einem flachen Tontöpfchen auf einem Schemel blakte. »Komm herein!«, hörte er den Vater sagen. Er folgte der Aufforderung und stieß unwillkürlich einen Schrei aus. Der Vater lag, nackt bis auf einen schmalen Lendenschurz, neben dem Schaf auf der strohbedeckten Erde. Er hatte sich seitlich hingestreckt, stützte den Kopf auf den angewinkelten Arm und lachte verhalten. »Hab ich dich erschreckt? Schließ die Tür und komm näher!« Christian Franz hatte den Vater noch nie nackt gesehen. Unsicher huschten seine Augen über den bleichen Körper, von dem sich der grauschwarze Haarschopf und die dunklen Büschel unter den Armen seltsam abhoben. Zögernd trat er heran. »Was macht Ihr hier, Vater?«
»Du sollst mir helfen, Junge. Podagra, meine Fußgicht. Du musst sie herauspeitschen.«
»Herauspeitschen?«
»Mit den Haselrütgen, da.« Er deutete in die Ecke, wo das Rutenbündel lag, das sie am Morgen geholt hatten. »Du nimmst fünf Stück in die Hand und schlägst einfach los.«
»Ich soll Euch schlagen?«, fragte der Junge entsetzt.
»Nur zu. Du fängst am Rücken an und peitschst langsam abwärts bis zum Arsch, dann den rechten Oberschenkel hinab bis zum Fuß, dann den linken Oberschenkel bis zu den Zehen. Durch die Zehen fährt die Gicht aus dem Leib... sagt der Bader.«
Christian Franz war verwirrt. Schläge hatte es im Haus der Großeltern, im Pfarrhaus Himmel, nie gegeben. Auch Vater strafte nur mit Worten, nicht mit der Hand. Vaters Hand hatte ihn nach dem Tod der Mutter so oft beruhigt, ihm die bösen Träume verscheucht, aufmunternd die Wangen getätschelt. »Wie kann ich Euch absichtlich wehtun?«, fragte er, den Tränen nah.
»Ich sage dir doch, du sollst mir helfen, Dummkopf. Nicht mir tust du weh, sondern der alten Gichthexe.« Ein Schaudern fuhr durch den großen Körper. »Mach schon, es wird langsam kalt!«
Christian Franz bückte sich nach den Ruten. »Jesus... in Kapernaum... hat dem Kranken... die Sünden vergeben«, brachte er stotternd hervor. »Er hat ihn nicht ausgepeitscht.«
»Aber du bist nicht Jesus!« Der Vater wälzte sich auf den Bauch. «Jetzt fang endlich an!«
Christian Franz schluckte. Das Rutenbündel in seiner Faust traf die Schultern des Vaters, zweimal, dreimal. Er hörte ihn seufzen. Das Schaf war aufgesprungen und zerrte an seinem Strick. Das Schwein hatte den Rüssel durch den Verschlag gesteckt und sah ihn aus kleinen Triefaugen aufmerksam an.
»Weiter, mehr!«, rief der Vater. Er zuckte unter den Rutenstreichen zusammen, und manchmal stöhnte er auf, doch er gebot dem Jungen, nicht nachzulassen und feuerte ihn zu immer größerem Eifer an.
Christian Franz rannen Tränen über das Gesicht. Ein Schwindel erfasste ihn, und wie durch Nebelschleier hindurch sah er, dass sich rote Striemen auf der misshandelten Haut bildeten. Erschrocken hielt er inne, doch schon traf ihn ein schneidender Ruf weiterzumachen. In seiner Not begann er herauszuschreien, was ihm gerade in den Sinn kam: »Steh auf... nimm dein Bette... und geh!... Steh auf, nimm dein Bette und geh heim!«
»Recht so, Junge, recht so!«, keuchte der Vater.
Drittes Kapitel
Er hatte den Vater noch oft auspeitschen müssen, und der Vater schwor jedes Mal, dass es ihm danach besser gehe, doch die Besserung war immer nur von kurzer Dauer. Die Fußgicht blieb sein ständiger Begleiter.
Christian Franz war nun elf Jahre alt und hatte die Unterabteilung der Quarta erreicht. In der Oberabteilung saßen die Dreizehnjährigen. Kantor Theodor Schuchardt musste beide Abteilungen, insgesamt siebzig Schüler, in einem Klassenzimmer unterrichten. Es herrschte immer Raumnot in der Lateinschule. Sie war in den Mauern des alten Dominikanerklosters untergebracht, die neben der Wohnung des Rektors auch das Stadtgefängnis und das Zeughaus beherbergten.
Es war halb sieben Uhr in der Frühe. Die Schüler hatten gebetet und gesungen. Quartallehrer Schuchardt hatte, wie gewohnt, seine Taschenuhr aufgezogen und auf das Pult gelegt und hatte den beiden Klassenhälften, den Inferiores und den Superiores, das heutige Tagespensum verkündet. Nun wandte er sich, die Hände mit dem gefürchteten »Schwüppchen« auf dem Rücken, den Superiores, den älteren Schülern im hinteren Teil des Klassenzimmers zu.
Christian Franz fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn und seufzte. Es war, als wenn ihn der Teufel narrte. Mit geschlossenen Augen konnte er den langen Satz fehlerlos herbeten, doch sobald er die Lider öffnete, um den Federkiel in die Tinte zu tauchen und in sauberer Linie über das Papier zu führen, brachte er die Reihenfolge der Wörter an irgendeiner Stelle durcheinander. Musste es nun heißen: »...gut Regiment, gut Wetter, Friede, Gesundheit, Zucht, Ehre« oder kam »Friede« vor »gut Wetter« oder hieß es gar »...gute Gesundheit«?
Oben hatte er mit dicken Buchstaben auf das Blatt geschrieben: »Was heißt denn täglich Brot?« Das war die Nachfrage zur vierten Bitte des Pater noster. Und es sollte Luthers Erläuterung folgen, so wie sie im Katechismus stand. Auf buchstabengerechte Wiedergabe legte Kantor Schuchardt großen Wert. Er legte den Kopf in den Nacken, kniff die Augen zusammen und begann mit gedämpfter Stimme zu deklamieren: »Was heißt denn täglich Brot? Alles, was zur Leibes Nahrung und Notdurft gehört, als Essen, Trinken, Kleider, Schuh, Haus, Hof, Acker...«
»Halts Maul, Esel!«, raunte ihm der Banknachbar zu und drohte mit der geballten Faust. Das war Johann Jakob, der Sohn vom Lohgerber Kley aus Steinbach, der einzige Rotschopf unter den Quartanern.
»Selber Esel!«, raunte Christian Franz zurück. Er sah sich verstohlen um, doch es war niemand sonst aufmerksam geworden, und Kantor Schuchardt im hinteren Teil des Klassenzimmers wandte ihm den Rücken zu. Er schloss wieder die Augen und flüsterte: »...Acker, Vieh, Geld, Gut... fromm Gemahl, fromme Kinder, fromm Gesinde, fromme und treue Oberherren, gut Regiment, gut Wetter...« Er stockte. Eine Merkhilfe! Vier Substantiva ohne Eigenschaft, dann vier Substantiva mit dem Adjektiv »fromm« und zwei mit dem Adjektiv »gut«. Bedächtig brachte er die Wörter auf das Papier, schloss erneut die Augen, begann den Satz wieder von vorn und beendete ihn schließlich mit der Aufzählung »...gut Wetter, Friede, Gesundheit, Zucht, Ehre, gute Freunde, getreue Nachbarn und desgleichen.« Er schrieb auch diese Wörter hin, las das Ganze, immer noch im Flüsterton, sorgfältig durch und legte den Federkiel beiseite. Geschafft!
War er der Erste? Sein Vordermann hatte den Kopf auf beide Hände gestützt, es sah aus, als ob er angestrengt nachdenke, vielleicht aber war er eingeschlafen. Es kam oft vor, dass ein Schüler einschlief, zumal in den frühen Morgenstunden, denn die meisten von ihnen mussten nach der Schule und den Hausaufgaben noch arbeiten: auf dem Feld helfen oder Schafe hüten oder das Stallvieh versorgen. Der Banknachbar des Vordermannes kaute nervös an seiner Gänsefeder, sein Blatt Papier war mit Tintenkleksen, aber nur mit wenigen Schriftzeichen bedeckt. Johann Jakob, der Rotschopf, verbarg das Geschriebene schnell mit der Hand und verdrehte hochmütig die Augen, als Christian Franz zu ihm hinsah.
Er wandte sich nach hinten um, sah aber nur angespannte Gesichter und hörte Federkiele kratzen. Er schien tatsächlich als erster fertig zu sein. Er konnte Doktor Martin Luthers Erläuterung zur Bitte: »Unser täglich Brot gib uns heute« auswendig hersagen und fehlerlos niederschreiben. Sein Herz frohlockte. Denn Kantor Schuchardt hatte ihnen eine Frist von drei Tagen gesetzt, um die Aufgabe zu lösen. Und heute war erst der zweite Tag.
Er legte das beschriebene Blatt, für jeden gut sichtbar, vor sich auf die Bank und lehnte sich bequem zurück. Aus dem hinteren Teil des Klassenzimmers drang halblaut die eintönige Stimme des Kantors an sein Ohr. Der Kantor las aus dem Vestibulum vor, aus dem »Vorhof der Schul-Gelehrsamkeit des Lateinischen« von Comenius. Obwohl Christian Franz nur einzelne Worte deutlich hörte, konnte er sich bald zusammenreimen, womit sich die Oberabteilung gerade beschäftigte. Der Lehrer versuchte herauszufinden, wie viel von den Übungen der letzten Wochen bei den Superiores hängengeblieben war. Jetzt ging es um die Modi rerum, die Arten der Dinge. Er nannte die deutschen Begriffe, und sie sollten die lateinischen Entsprechungen aufschreiben: »Der Mensch ist dem Auge nach - Homo ab oculo est: einäugig – luscus, schielend – limus, triefäugig – lippus« und so fort. Im Latein war Christian Franz den Mitschülern ein ganzes Stück voraus. Denn der Vater und Großmutter Himmel sorgten zwei- oder dreimal in der Woche mit dem Vestibulum in der Hand für Privatunterricht.
Er hörte noch eine Weile zu, dann erlahmte seine Aufmerksamkeit und suchte sich einen neuen Gegenstand. Sein Blick fiel auf die Taschenuhr, die Kantor Schuchardt auf das Pult gelegt hatte. Es war ein sogenanntes Nürnberger Ei. Auch der Vater besaß eine solche Uhr. An einem regnerischen Sonntag hatte er vor den staunenden Kindern ihr Gehäuse geöffnet, mit einem feinen Kienspan auf die einzelnen Teile gezeigt und auf einem Stück Papier erklärt, wie sie untereinander in Verbindung standen. Vielleicht, dachte Christian Franz, hat sich mein Kopf die Teile gemerkt, und ich kann sie jetzt ebenso auswendig hersagen wie Doktor Martin Luthers Erläuterung »Was heißt denn täglich Brot?« Er überlegte eine Weile, hatte auch einige Teile, wie die Schnecke, die Triebfeder und die Unruhe, vor Augen und konnte sie benennen, wusste aber nicht mehr, wie sie zusammengehörten und als Ganzes eine Uhr ergaben. Da nahm er sein Papierblatt und begann, auf der Rückseite, darzustellen, was er vom Inneren der Uhr gesehen und im Gedächtnis behalten hatte. Zuerst malte er das eiförmige Gehäuse mit dem Haltering für die Kette, dem geöffneten Deckel und dem Zifferblatt auf. Daneben deutete er mit ein paar Strichen ein liegendes Zifferblatt mit den Zeigern an und setzte ein viereckiges Kästchen darunter. In dem Kästchen wollte er das Räderwerk unterbringen. Doch woraus bestand es genau? »Das Herz jeder Uhr ist die Triebfeder«, hatte der Vater gesagt. Christian Franz erinnerte sich, dass die Triebfeder eine Welle mit Zahnrad in Drehung bringt und die Drehung auf den Minutenzeiger und von diesem auf den Stundenzeiger übertragen wird. Er zeichnete ein kleines tellerförmiges Gebilde für die Triebfeder, ein gezacktes Rädchen und eine Achse in das Kästchen. Ganz wichtig war auch, das wusste er ebenfalls noch, die Unruhe mit dem Schwungrad und der Spiralfeder. Wie aber wurde sie in Bewegung versetzt? Wie war sie mit der Triebfeder verbunden? Er sann lange nach, er legte die Stirn in Falten und biss sich auf die Lippen, doch die Erinnerung wollte nicht kommen. Da versuchte er, selbst eine Verbindung zwischen der Unruhe und der Triebfeder herzustellen. Er ahnte dumpf, dass sie sich irgendwie aus dem Ineinandergreifen der Zahnräder, die er in Vaters Uhr gesehen hatte, ergeben musste. Er malte zwei große Zahnräder, außerhalb des Kästchens, auf das Papier und zerbrach sich den Kopf darüber, wie sie angeordnet sein mussten, um eine stehende in eine liegende Drehung umzuwandeln. Umsonst. Er hatte keinen Einfall. Entmutigt legte er den Federkiel aus der Hand und starrte Löcher in die Luft. Da schien es ihm plötzlich, als ob die Augen Johann Jakobs, seines Banknachbarn, lauernd auf ihm ruhten und sich das Gesicht unter dem Rotschopf zu einer schadenfrohen Grimasse verzog.
Im nächsten Augenblick verspürte er einen heftigen Schmerz im Genick, und dann hörte er das »Schwüppchen« pfeifen. Es traf ihn noch drei- oder viermal. Er wusste sofort, dass er sich zu erheben hatte, sprang auf und wandte das Gesicht dem Kantor zu.
Kantor Schuchardt stand breitbeinig, mit gerötetem Gesicht vor ihm. Die Rechte mit dem »Schwüppchen« hatte er in die Seite gestemmt, in der Linken hielt er das bekritzelte Blatt Papier, seine Augen unter den buschigen Brauen tasteten ungläubig über die Uhrzeiger und Zahnräder. »Impertinente Possen!« murmelte er nach einer Weile kopfschüttelnd und heftete den Blick durchdringend auf Christian Franz.
»Was ist denn wohl... anno Domini 1654... unser Lerngegenstand Deutsch... in der Quarta?«, fragte er gedehnt.
»Der kleine Katechismus«, brachte Christian Franz hervor.
»Und im jetzigen Quartal?«
»Das Vaterunser.«
»Und das Pensum dieser Woche?«
»Die vierte Bitte. Unser täglich Brot gib uns heute. Auswendig lernen und niederschreiben.« Christian Franz tastete nach dem schmerzenden Nacken, aber schon traf ihn ein neuer Schlag, diesmal fuhr das »Schwüppchen« über seinen angewinkelten Arm.
»Steh still, Paulin!« herrschte ihn der Kantor an. Er wandte den Kopf und schickte einen strafenden Blick in den hinteren Teil des Klassenzimmers, wo Getuschel laut wurde. »Soso, unser täglich Brot gib uns heute«, sagte er dann erbost und schwenkte das Papierblatt. »Und was ist das?«
»Ein Nürnberger Ei«, sagte Christian Franz kleinlaut.
Ein paar von den Superiores prusteten los, auch in den vorderen Sitzbänken wurde gekichert.
Die Stirnadern des Kantors schwollen an. »An den Ofen, Paulin!« Empörung und Zorn lagen in seiner Stimme, er kehrte, ohne noch ein weiteres Wort zu verlieren, dem Jungen den Rücken, ging wieder zu den älteren Schülern und setzte sein Diktat fort.
Christian Franz blieb wie betäubt stehen. Das Blatt lag wieder vor ihm auf der Bank »Aber das ist doch die Rückseite...«, flüsterte er, »auf der Vorderseite...« Er hatte ja die Aufgabe gelöst, das Pensum erfüllt, sogar als Erster!
»Geh schon, Esel!« zischte ihn der Rotschopf an.
Er ging zum Ofen und kniete nieder, so, wie es vorgeschrieben war, mit dem Gesicht zur Feuertür, mit dem Rücken zur Klasse. Es war das erste Mal, dass er diese Art von Strafe verbüßen musste. An der Schule war sie gang und gäbe, besonders in den oberen Klassen. Er verharrte mit gesenktem Kopf, die Hände auf den Oberschenkeln. Der Steinfußboden war hart und drückte. Bald begann es, in seinen Knien und Fußgelenken zu brennen und zu ziehen. Er biss die Zähne zusammen, doch nach einer Weile rannen ihm Tränen über das Gesicht. Er leckte sie in den Mundwinkeln ab und weinte still in sich hinein, ängstlich darauf bedacht, sich nicht zu verraten. Er weinte aus Scham.
Allmählich wurden seine Beine taub und die Schmerzen ließen nach. Er beruhigte sich. Er hörte die gedämpfte Stimme des Kantors und ab und zu ein unterdrücktes Gähnen und ungeduldiges Füßescharren aus den vorderen Sitzreihen. Als endlich die Pausenglocke ertönte und die Schüler lärmend aus dem Klassenraum drängten, blieb er sitzen, denn er wollte nicht ihren Spott.
Der Kantor rief ihn an aufzustehen. Er hatte sich erneut das Blatt Papier von der Bank geholt und besah sich nun angelegentlich die Niederschrift auf der Vorderseite. »Du hast gut gelernt«, sagte er versöhnlich und hob anerkennend den Blick. Dann betrachtete er schweigend die Rückseite »Vielleicht... vielleicht bist du sogar begabt.« Er seufzte und fügte hinzu: »Aber bitte den Herrn, dass dich deine Begabung nicht hochmütig werden lässt... Nun geh!«
Viertes Kapitel
»Vorzeitig aufgerückt? Das nenn ich trefflich«, sagte der Vater, als sie die Residenz verließen. Er strahlte über das ganze Gesicht. »Und warum hast du’s verschwiegen?«
»Hab’s selbst nicht gewusst.« Christian Franz reichte ihm, als er die Balustrade losließ, die zweite Krücke. »Nach Hause?«
»In den Schlossgarten.« Der Vater humpelte energisch los. »Deine Patentante wird nichts dagegen haben.« Er hatte der Herzoginwitwe einen Besuch abgestattet, wie er sie nach jeder Handelsreise besuchte, um ihr aus der großen Welt zu berichten und ein Mitbringsel zu überreichen: Spezereien, gezuckerte Früchte, Nürnberger Lebkuchen... Trotz ihres hohen Alters nahm sie lebhaften Anteil an den Vorgängen draußen, und, seit sie erblindet war, zog sie täglich auch Erkundigungen über die nähere Umgebung ein. Der alte Melchior Buchner, der ehemalige Sekretär des Herzogs, war gehalten, mit offenen Augen und Ohren über die Märkte, in den Ratskeller und in die Kanzlei zu gehen, und sie bat, in gewissen Abständen, den Rektor der Lateinschule, den einen oder andern Ratsherren und den Hofapotheker zu einem Plauderstündchen zu sich. So hatte sie auch, durch Rektor Moeller, von der vorgesehenen Versetzung ihres Patenkindes, Christian Franz, in die Oberabteilung der Quarta erfahren. Dass der Kaufmann Paulin, wegen zunehmender Gichtbeschwerden und einem Nierenleiden, nun nicht mehr auf Handelsreisen gehen konnte, die letzte Reise in der Kutsche vor Schmerzen kaum überstanden hatte, bedauerte sie aufrichtig und hatte ihm, vorübergehend, eine Zofe für den Haushalt sowie ein gewisses Deputat an Grütze, Fleisch und Heringen aus der Schlosskammer zugewiesen.
Der Garten dehnte sich, hangaufwärts, bis zur Stadtmauer. Sie folgten einem Pfad, an dessen Ende eine Bank zum Verweilen lockte. Unter ihren Füßen raschelte Laub, die Bäume und Sträucher standen kahl in der Novembersonne.
»Wie hast du es gemacht?«, wollte der Vater wissen. »Wie bist du dem Kantor aufgefallen?«
»Mit den zehn Geboten, dem Glaubensbekenntnis und dem Vaterunser.« An jenem Tag, als er, viel schneller als die Mitschüler, Luthers Erläuterung niedergeschrieben hatte und dann eine Stunde lang schändlich auf den Knien liegen musste, war ihm zugleich mit den Tränen der Gedanke an eine besondere Fähigkeit gekommen. Hatten die anderen weniger Eifer aufgebracht als er? Waren sie weniger emsig gewesen? Das konnte er einfach nicht glauben. Vielleicht war das Auswendiglernen gar keine Sache des Fleißes allein, vielleicht fiel es den einen von Natur aus leichter als den anderen. Der Gedanke ließ ihn nicht mehr los, und er nahm sich vor, seinen Kopf auf die Probe zu stellen. Mit Feuereifer begann er, den Katechismus Satz für Satz zu lesen und das Gelesene Satz für Satz zu rekapitulieren. Er las leise, abends bei Kerzenschein, und wiederholte laut aus dem Gedächtnis, wenn er das Vieh versorgte oder wenn er beim Holzsammeln vor dem Predigertor oder auf dem Weg zur Schule war. Nach einigen Wochen konnte er die zehn Gebote, das Glaubensbekenntnis und das Vaterunser mit allen Erläuterungen hersagen. Und die Gelegenheit, mit dem gewonnenen Pfund zu wuchern, kam, als Rektor Moeller, dem es gefiel, den Klassen hin und wieder überraschend auf den Zahn zu fühlen, der Quarta ein schriftliches Examen zum Katechismus in Aussicht stellte. Als der Tag heran war, versorgte sich Christian Franz reichlich mit Schreibzeug, und während seinen Mitschülern das Vaterunser mühsam aus der Feder kroch, brachte er gleich drei der fünf Hauptstücke des Enchiridion bis auf den letzten Buchstaben zu Papier. Dem Rektor war das nicht geheuer. Um auszuschließen, dass der junge Paulin irgendwie geschummelt, heimlich eine Vorlage benutzt hatte, musste er die Prüfung tags darauf unter den Augen des Kantors wiederholen. Doch am Ergebnis änderte sich nichts.
»Das nenn ich wirklich trefflich«, sagte der Vater lachend, als Christian Franz berichtet hatte. »Besser hättest du dich dem Schlauhaus nicht empfehlen können... als durch eine gute Merkfähigkeit. Die Bücher Mose, die Propheten, die Evangelien im Kopf? Ja! Dort zielt ja alles auf Vorbildung zum evangelischen Predigeramte.
Sie waren an der Bank angekommen, und der Vater ließ sich ächzend nieder. Er war stark abgemagert und hatte eine gelbliche Gesichtsfarbe. Auf den Händen und an den Ohren hatten sich dicke Gichtknorpel gebildet.
»Ihr seht müde aus und krank«, sagte Christian Franz schüchtern. Ihr solltet Euch ins Bett legen und von der beschwerlichen Reise nach Worms erholen.«
»Aber hier ist es schön, in der Novembersonne«, widersprach der Vater. »Hernach gehen wir ein Stück weiter, bis hinauf zur Mauer. Von dort hast du einen guten Blick über die ganze Stadt.« Er hustete lange und presste sich dabei die Hände auf den Bauch. Als er den ängstlichen Blick des Jungen bemerkte, sagte er leichthin: »Auf dem Markt hab ich Fässchen mit schwarzen Wanzenbeeren gesehen, in Branntwein eingelegt. Der Stadtmedicus nennt sie auch Johannis- oder Gichtbeeren. Hol mir davon, morgen, und bring Flachsseide aus der Apotheke mit.«
»Flachsseide, Vater?«
»Hab in Worms davon gehört. Muss ein eigentümliches Gewächs sein, das auf verschiedenen Kräutern schmarotzt, die Säfte herauszieht und in sich aufnimmt. Soll auch die Gichtbeschwerden lindern... Apropos Worms«, setzte er, schon wieder lachend, hinzu, »hab dort die wunderlichsten Sachen gesehen und gehört. Auf dem Schaustellermarkt sah ich einen Bauernknaben von fünfzehn Jahren, mit dicken, starken schwarzen Haaren. Derselbe konnte eine zinnerne Flasche mit zwölf Maß Bier, an den Haaren des Hinterkopfs angebunden, eine halbe Meile weit tragen. Auch sah ich eine Magd, welcher der Bader, wegen der Läuse, die Haare abgeschoren hatte. Allein dadurch verlor sie, wie Simson in der Bibel, alle ihre Kräfte. Denn ohnerachtet sie starke Arme hatte, konnte sie doch keinen Eimer Wasser, wie sonst immer, auf dem Kopf tragen.«
»Schon oft habt Ihr von Badern und Medici erzählt, denen Ihr auf Reisen begegnet seid. Aber keiner wusste die Gicht zu heilen, jeder versprach nur, die Beschwerden zu lindern.«
»Da hast du wohl recht«, brummte der Vater. Er stand mühsam auf, klemmte die Krücken unter die Arme und stakte langsam bergan. Christian Franz lief neben ihm her. »Ich will auch Medicus werden, Vater.« Und als der Vater überrascht stehenblieb: »Will’s besser machen, als jene.«
Der Vater hinkte schweigend weiter. Als sie die Stadtmauer mit dem Glockenturm erreicht hatten, konnte er sich kaum noch auf den Beinen halten. Er atmete schwer, auf seinem fahlen Gesicht hatte sich kalter Schweiß gebildet. Auf den Jungen gestützt, schleppte er sich zur nächsten Sitzbank. Er rang eine Weile nach Luft, dann klärte sich seine Miene wieder auf. »Schlag dir das aus dem Kopf, Sohnemann. Mütterchen hat dich versprochen, und du weißt auch warum.«
»Ja, ich weiß«, gab Christian Franz zu.
Die Stadt lag zu ihren Füßen, von der tief stehenden Sonne in ein mildes Licht getaucht. Die Mauern und Dächer von St. Georg und der Predigerkirche erhoben sich über die Fachwerkhäuser und Katen der Innenstadt, weit draußen, im Norden, türmte sich die Klemmburg, nach Westen zu ragte das Nadeltor auf. Menschen durcheilten geschäftig die Gassen, Karren wurden geschoben, ein Pferdefuhrwerk holperte über den Mittwochsmarkt und bog in die Messerschmiedengasse ein.
»Die Theologie lässt auch Raum für andere Neigungen«, fuhr der Vater mit eigentümlich schleppender Stimme fort. »Oft waren gelehrte Seelsorger zugleich Kräuter- oder Sternkundige, Historici, Musici, Dichter... Apropos Dichter. Denk an deinen hochberühmten Vorfahr, den Bischof von Nola.« Christian Franz wusste, dass der Vater jetzt unversehens bei seinem Lieblingsthema war, der Ahnengalerie. Von jeher fand er ein besonderes Vergnügen daran, berühmte Männer aufzuzählen, die seine direkten Vorfahren oder deren enge Verwandte waren. Im Wohnzimmer hatte er eine umfangreiche Ahnentafel aufgehängt, auf der er die Glieder der Familie bis in graue Urzeiten zurückverfolgen konnte. Auf den heiligen Paulinus von Nola, der seinerseits von einer vornehmen Familie aus Aquitanien abstammen sollte, war er besonders stolz. »Vergiss auch die Pfarrersippe Himmel nicht«, spann er, in Eifer gekommen, aber immer noch mit schleppender Stimme, den Faden weiter aus. »Großvater Himmel selig, dessen Vater und Blutsverwandte... alles gelehrte Männer: Ratsherren, Bürgermeister, Archediakone... und gedenke deiner Ahne Clara, die in theologischen Schriften wohlbelesen und eine ziemlich gute Poetin ist... Oh, oh...«
Er angelte plötzlich nach seinen Krücken, zog sich daran hoch, presste erneut die Hände auf den Leib und trat hastig von einem Fuß auf den anderen. »Oh, oh, ich muss ganz schrecklich... purgieren, Junge.«
»Purgieren, Vater?« Im Schlossgarten? Christian Franz sah sich hilflos um. Kein Baum, kein Strauch in der Nähe! Doch ein Blick in das gequälte Gesicht des Vaters trieb ihn zur Eile. »Kommt!« Er stützte den schweren Körper, zog ihn bis dicht an die Stadtmauer heran und half ihm, den Hosenbund zu öffnen. Dann bot er ihm Deckung.
Als sich der Vater endlich wieder erhoben hatte, taumelte er, fasste sich stöhnend an den Kopf und stammelte mit schiefgezogenem Mund ein paar unverständliche Worte.
Fünftes Kapitel
»Wenn du mich armen Waisen, dein liebes Kind wirst heißen, so biet ich allen Trutz.«
Er legte den Federkiel beiseite, pustete die Kerze aus und blieb im Dunkeln sitzen. Er war erleichtert und froh. Endlich hatte er die Worte gefunden, die ausdrückten, was er jetzt fühlte. Er kam sich wieder geborgen vor und hatte neuen Mut.
Als der Vater am Schlagfluss gestorben war, hatte sich ein nebliger Abgrund vor Christian Franz aufgetan. Mit dem Vater war der Ernährer, Behüter und beste Freund fortgegangen. Zurückgelassen hatte er eine Familie, die aus Großmutter Himmel und den fünf Enkeln bestand. Und Großmutter ging auf die Achtzig zu. Es hatte ein paar Tage gedauert, bis Christian Franz bewusst geworden war, was das für ihn bedeutete. Ganz plötzlich war ihm, dem Zwölfjährigen, die Rolle des Haushaltsvorstandes im Haus am Pfarrberg zugefallen. Er war verstört. In seiner tiefen Ratlosigkeit hatte er zu Papier und Feder gegriffen und dem Allmächtigen im Himmel sein Leid geklagt:
»Ja wohl, oh großer Gott, bin ich von dem verlassen,
der mich gezeugt, auf dieser Jammer Gassen...
Auch die, die mich mit Schmerzen,
trug unter ihrem Herzen,
ist längst schon nicht mehr hie.«
Was sollte nun werden? Es war dann aber nicht so schlimm gekommen, wie er es sich ausgemalt hatte. Zunächst hatten Großmutters Anverwandte, die weitläufige Familie
der Himmels in Creuzburg und Mihla, geholfen; sie hatten die beiden Jüngsten zu sich genommen und Großmutter überredet, etwas später mit den anderen beiden Enkeln nachzukommen. Bis es so weit war, wollte die Herzoginwitwe Christine für das tägliche Brot im verwaisten Pfarrhaushalt sorgen. Zudem hatte sie dem alten, schon etwas schrulligen, aber lebenserfahrenen und vielbelesenen Melchior Buchner ans Herz gelegt, sich um ihr Patenkind zu kümmern. Und schließlich hatte sie diesem, falls es an der Lateinschule weiterhin so gute Fortschritte mache, ein kleines Stipendium für spätere Studien an der Universität in Aussicht gestellt. Christian Franz sah sich also der Ängste und Sorgen, die er sich um die Geschwister und Großmutter gemacht hatte, enthoben. Was er aber nun von Tag zu Tag mehr verspürte, war, dass er fortan ganz auf sich allein gestellt sein würde, dass ihm der väterliche Freund fehlte, dem er sich anvertrauen konnte.
»Ich hab kein Freund, dem ich mich darf vertrauen,
Worauf soll ich denn nun mein Glück und Wohlfahrt bauen?«
Er hatte begonnen aufzuschreiben, was ihn bedrückte. Nach der Schule und dem täglichen Lernpensum, wenn die Geschwister schon schliefen und Großmutter in ihrer Kammer vor sich hin schnarchte, setzte er sich auf Vaters Platz am Fenster und vertraute sich dem Papier an. Und er bemerkte bald, dass es nützlich war, wenn er seine Gedanken so aufschrieb, als wären sie für einen anderen bestimmt. Dann mussten sie nämlich für jenen anderen verständlich sein. Und das waren sie nicht, so lange sie von unklaren Ängsten und dumpfen Kümmernissen handelten. Er musste sich angewöhnen, den Dingen auf den Grund zu gehen, das Unklare zu klären, das Verworrene zu entwirren, bevor er darüber sprach und lamentierte. Jener andere aber, an den er sich künftig vertrauensvoll wenden wollte, war ER:
»Du bist der Waisen Vater, der Armen Aufenthalt,
der Blöden bester Rater, und auch mein bester Schutz.
Wenn du mich armen Waisen, dein liebes Kind wirst heißen,
so biet ich allen Trutz.«
Er stand im Dunkeln auf und lehnte sich aus dem Fenster. Draußen summte ein Mückenschwarm. Vom Mittwochsmarkt her näherten sich Schritte und schlurften die Rolle herauf. Eine graue Gestalt bog in die Gasse ein. Sie war in einen Umhang gehüllt und hatte eine Lanze geschultert. Mit gesenktem Kopf ging sie am Fenster vorbei und entfernte sich, weiter bergauf, in Richtung auf das Predigertor.
Christian Franz war müde geworden. Er zog sich aus und kroch zu den Geschwistern ins Bett. Rektor Moeller hatte der Quarta und Tertia für den morgigen Vormittag eine Exkursion zum Gackteich verordnet. Aus Gründen der Abschreckung, wie einige Primaner grienend in Umlauf gebracht hatten. Denn Schüler der beiden Klassen stünden im Verdacht, an Diebereien in der Stadt beteiligt gewesen zu sein.
Sie sammelten sich in zwei lockeren Haufen am östlichen Ausgang der Judengasse. Die Schüler der Tertia waren schon vollständig beisammen, sie standen vor der Brücke, die über den Löbersbach führt. Eben trafen auch die letzten Quartaner mit ihrem Lehrer ein. Alle waren froh gestimmt, lag doch ein unterrichtsfreier Tag vor ihnen.
Die beiden Klassen überquerten den Löbersbach und kamen auf den Sonnabendmarkt am Nikolaitor. Obwohl heute kein Markt abgehalten wurde, war der Platz ziemlich belebt. Aus der Untergasse kamen Fuhrwerke, teils mit Pferden, teils mit Ochsen bespannt. Sie folgten der Via regia, der alten königlichen Handelsstraße, die von Paris über Frankfurt und Vacha am Georgentor in die Stadt kam, und Eisenach durch das Nikolaitor nach Osten verließ, über Gotha, Erfurt und Krakau bis nach Kiew führte. Zwischen den großen, vierrädrigen Gespannen wurden von Bauern und Handwerkern zweirädrige Karren geschoben; ein barfüßiger Junge verstopfte mit seiner Schafherde die Fahrbahn, er rannte hin und her und fluchte und schrie den zottigen Hütehund an, im Bemühen, die Tiere schneller durch das Tor zu treiben.
Nach den Schafen drängten nun auch die Schüler in die Ausfahrt unter dem mächtigen, wehrhaften Steinturm, vorbei am gedrungenen Kirchenschiff und dem hohen achteckigen Turm mit der Spitzhaube von St. Nikolai.
Hinter dem Tor begann der Zwinger, ein an den beiden Längsseiten von Mauern eingeschlossener rechteckiger Platz, der, nach Osten hin, durch das haubengeschmückte Vortor begrenzt wurde. Näherten sich Feinde der Stadt und waren durch das Vortor eingedrungen, so konnten sie in dem Karre von allen vier Seiten – von den Mauern und den beiden Toren her – angegriffen, bekämpft und bezwungen werden, daraus ergab sich die Bezeichnung Zwinger. In friedlichen Zeiten aber wurden auf dem Platz die Fuhrwerke, Karren und Traglasten der ein- und durchreísenden Händler und Bauern nach zollpflichtigen Waren durchsucht. Von Sonnenaufgang bis zum Einbruch der Nacht versahen hier die Torschreiber ihren Dienst. Auch hatten sie darüber zu entscheiden, ob ankommende Bettler und fahrende Leute in die Stadt gelassen oder gleich am Tor abgewiesen wurden. Bettler, die glaubwürdige Gründe für ihr Umherziehen und ihre Bedürftigkeit vorbrachten, wurden zum Almosenvorsteher geschickt. Dieser händigte ihnen ein Zehrgeld aus, mit dem sie sich bis zur nächsten Ortschaft durchschlagen konnten.
Hinter dem Vortor dehnte sich eine weite, grüne Ebene mit dem wasserreichen Hörselmühlgraben und den Fachwerkkaten und Hütten der Nikolaivorstadt. Rechterhand stieg das Gelände zum Galgenberg an. An seinem Fuße, gleich neben dem Vortor, lag die Sandgasse. Hier hatten sich die Sandmacher niedergelassen. Sie verdienten sich ihren Lebensunterhalt mit dem Abbau und der Aufbereitung feinen Scheuer- und groberen Streusandes für die Stadt. Linkerhand, zwischen der Stadtmauer und einem langgestreckten, begehbaren Erdwall, lag der »Gackteich«.
Auf diesen Wall führte Kantor Schuchardt die beiden Klassen. Es hatte sich schon viel schaulustiges Volk eingefunden: Landarbeiter, Knechte und Mägde von den angrenzenden Feldern, Tagelöhner aus den Vorstädten; auch Stadtbürger waren darunter. Sie standen oder lagerten in Gruppen auf dem Rasen, unterhielten sich und harrten neugierig und mit unverhohlenem Vergnügen der Dinge, die da kommen sollten. Hie und da hatte eine von den Weibsbildern die Nase in ein Tuch oder einen Schal vergraben, zum Schutz vor dem üblen Geruch, der aus dem Teich aufstieg. Unweit eines Wachturms in der Stadtbefestigung, am »Brauseloch«, durchbrach der Löbersbach die Mauer und schwemmte mit den städtischen Abwässern auch Fäkalien in den »Gackteich«.
Vom Nikolaitor her näherte sich ein ochsenbespanntes Fuhrwerk, und Bewegung kam in die wartende Menge. Dem Fuhrwerk voran, schritt der Henker. Er hatte die Hände auf den Rücken gelegt, ging vornübergebeugt mit fröhlichem Gesicht und antwortete mit einem stummen Kopfnicken auf Grüße, die ihm vereinzelt zugeworfen wurden. Doch als er an den Schülern vorbeikam, die ihn teils beklommen, teils neugierig, mit offenen Mäulern anstarrten, verzog er die Miene zu einer furchteinflößenden Grimasse.
Das Ochsenfuhrwerk brachte die Missetäter. Sie kauerten in zwei Lattenkäfigen. Im ersten befanden sich eine zerlumpte Mannsperson und ein junges Weibsbild. Die Frau bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und zitterte vor Angst. Im anderen hockte ein Pärchen kahlgeschorener Mannsleute mittleren Alters; ihre unbedeckten Körperteile wiesen Narben und Wunden auf. Erstere waren, wie Kantor Schuchardt den Schülern mitgeteilt hatte, Felddiebe. Sie hatten, auf dem Weg ins benachbarte Fischbach, einen Sack Erbsen vom Feldrand weg auf ihren Handkarren geworfen. Da sie die Bauersleute entfernt, im Schatten eines Baumes bei der Vesper gesehen hatten, hatten sie sich unbeobachtet gefühlt und zu dem Diebstahl verleiten lassen. Letztere waren nachts, in der Nähe der Fischervorstadt, beim Ausweiden eines Schafes überrascht worden. Sie hatten das Tier, noch im Gatter, getötet und auf den Schultern kaum ein paar Dutzend Schritte fortgeschleppt, um ihm das Fall abzuziehen. Sie waren von einem Trupp trinkfester Knechte, die in der Vorstadt gezecht und gerade den Heimweg, quer durch die Felder, zur Klemmburg angetreten hatten, entdeckt und halbtot gedroschen worden. Im Verließ des Nikolaiturms hatten sie auf ihr Urteil gewartet. Vorgesehen war eine Geldstrafe in doppelter Höhe des Schafwertes oder Zwangsarbeit in Fußketten bis zur Abgeltung. Außerdem sollten sie, zur Abschreckung, gegackt werden.
Das Fuhrwerk hielt gegenüber dem Brauseloch, unmittelbar neben dem Wippgalgen, an, und sofort drängten die Schaulustigen nach. Sie kamen nur noch selten in den Genuss des Spektakels am Gackteich. Der Henker verrichtete seine Arbeit mit dem Strick in aller Regel auf dem Galgenberg, bisweilen vollzog er Todesurteile mit dem Beil an Ort und Stelle des Verbrechens, kleinere Vergehen wurden ohnehin nur mit dem Staupbesen und Schandpfahl geahndet. Das Gacken war, wie sich die Älteren noch erinnern konnten, früher, insbesondere bei Felddiebstählen, recht verbreitet gewesen, dann aber aus der Mode gekommen und erst im Zusammenhang mit den Kriegswirren und Nachwirren wieder etwas aufgelebt.
Der Wippgalgen bestand aus einem schräg aufgerichteten glatten Fichtenstamm von etwa fünfzig Fuß Länge, der im oberen Drittel auf einer Querachse gelagert und auch horizontal schwenkbar war. Das lange, unten aufliegende Ende wurde vom Gewicht des Käfigs nach oben gezogen und musste, nachdem der Käfig eingetaucht war, von den Gehilfen des Henkers mittels Seil flugs wieder eingeholt werden.
Die Gehilfen bugsierten den Wippgalgen über den Käfig, in dem das junge Weibsbild mit seinem Gefährten hockte. Der Henker kletterte auf den Wagen und schlang eine vom Galgen herabhängende rostige Kette um die Aufhängung. Auf seinen Wink hin wurde der Lattenkäfig angehoben und über den Teich geschwenkt.
Christian Franz verfolgte das Geschehen mit großen Augen. Es war das erste Mal, dass er an einem öffentlichen Strafgericht teilnahm. Der Vater und die Großeltern hatten ihn von solchen Veranstaltungen stets ferngehalten. Zwar konnte er sich daran erinnern, in jungen Jahren und aus der Entfernung einen brennenden Scheiterhaufen gesehen zu haben, und ab und zu drang auch Kunde von schauerlichen Vorgängen auf dem Galgenberg an sein Ohr. Doch er war weder Augenzeuge einer Hinrichtung, noch einer bloßen körperlichen Züchtigung von Missetätern geworden. Aus eigener Anschauung kannte er nur den Schandpfahl neben dem Rathaus, an dem mindere Vergehen geahndet wurden, und den Karzer auf dem Schulhof.
Er reckte den Hals, als ein Trommelwirbel ertönte. Der Amtmann und ein Schreiber hatten sich neben dem Fuhrwerk aufgestellt. Der Amtmann verlas mit monotoner Stimme das Urteil. Als er geendet hatte, ertönte die Trommel von neuem. Ganz langsam begann sich der Käfig zu senken.
Die Frau war aufgestanden, ihre Hände umklammerten die Gitterstäbe, sie blickte starr in die Zuschauermenge. Als der Käfig die Wasseroberfläche berührte und die trübe, schaumige Brühe an ihren bloßen Füßen leckte, er schrak sie, zog das eine Bein an und blieb reglos auf dem anderen stehen. Auch ihr Kumpan hatte sich aufgerichtet. Doch während er sich stumm und dumpf in sein Schicksal ergab, fiel sie plötzlich in eine ohnmächtige Raserei. Sie schrie, rüttelte an den Latten und versuchte mit tollpatschigen Sprüngen, dem Wasser zu entkommen. Als es unerbittlich höher stieg und schon ihre Schenkel berührte, raffte sie die nassen Röcke bis zum Bauch. Gemurmel aus der Menge, anzügliche Rufe, Lachen und Pfiffe wurden laut. Da ließ sie die Röcke wieder fallen und vergrub das Gesicht in den Händen. Sie schluchzte, ihr ganzer Körper begann zu zucken.
Auch Christian Franz lachte. Ihm kam weder das sinnlose Gehüpfe, noch das sonstige Gebaren der Frau komisch und lächerlich vor, er lachte, weil ihn die Umstehenden mit ihrem Gelächter angesteckt hatten. Jetzt regte sich Mitleid in ihm. Sicher verbarg sie ihr Gesicht nicht, weil sie eine Diebin war. Sie verbarg es aus Scham, weil sie, wie ein gefangener, hilfloser Vogel in seinem Bauer, angegafft, verspottet und mit hämischen Bemerkungen bedacht wurde. Er kannte dieses Gefühl.
Das Wasser reichte dem Mann, der immer noch stumm und finster dastand, schon bis zur Brust. Büschel schleimiger Entengrütze und Fetzen von Schilf, die in den Käfig geschwemmt waren, setzten sich an seinem zerlumpten Wams fest. Die Frau war an den Latten hochgekrochen. Ihre Hände umklammerten jetzt das Deckengitter, die Füße suchten vergeblich Halt an den glitschigen Seitenhölzern.
Der Ruf des Amtmanns kam unerwartet. Auch für den Henker, denn er gebot den Gehilfen zwar sofort Einhalt, wandte sich aber sogleich mit fragender Miene dem Rufer zu. »Genug!« bestätigte der seine Entscheidung. Der Henker zögerte einen Moment, denn im Urteil war ausdrücklich die Rede davon, dass das Diebespärchen untergetaucht werden sollte. Doch dann nickte er gleichmütig mit dem Kopf, verbeugte sich mit ausgebreiteten Armen vor dem schaulustigen Publikum und gab seinen Gesellen ein Zeichen, die Pein zu beenden.
Vereinzelt waren unmutige Rufe zu hören, als der Käfig aus dem Teich gezogen wurde, andere klatschten Beifall. Das Volk schien uneins, ob die Delinquenten den Erbsendiebstahl mit der erlittenen Schmach und ausgestandenen Angst gesühnt hatten oder nicht. Plötzlich brandete Gelächter rund um das Fuhrwerk auf. Der Käfig war in die Höhe geschwenkt, und es regnete schmutzig-gelbe Schaumflocken und Entengrütze auf die Köpfe der Landleute herab. Während sich ein paar Mägde kreischend in Sicherheit zu bringen suchten, brachten Zuschauer, die keinen Platz in der Nähe des Wippgalgens gefunden Hatten, lauthals ihre Schadenfreude zum Ausdruck, und in der allgemeinen Belustigung neigte sich die Stimmung immer mehr zu Gunsten derer, die für ein Ende der Tortur waren.
Als der Käfig geöffnet wurde und die beiden triefenden Gestalten herauskrochen, bildete sich eine Gasse bis zum Nikolaivortor. Sie gingen beide vornübergebeugt, mit hängenden Köpfen, der Mann voran. Die Frau hatte die Arme vor der Brust gekreuzt, sie schluchzte noch immer, und sie zitterte in den nassen Kleidern, die nach Morast und Fäkalien stanken. Nur hin und wieder traf sie jetzt noch ein hämischer Zuruf. Am Ende der Gasse warf ihr jemand einen Umhang über. Man sah noch, dass sie sich beide auf dem Weg in das Dorf Fischbach davontrollten.
Die Aufmerksamkeit der Schaulustigen wandte sich nun dem zweiten Diebespaar zu. In Zeiten des Krieges und der Hungersnöte waren Viehdiebe wie auch Wilderer ohne viel Federlesens gehenkt worden. Dass die beiden aus dem Gothaischen stammenden Haderlumpen so glimpflich davonkommen sollten, wie es der Spruch vorsah, empörte viele, doch hatte das Gericht in Betracht ziehen müssen, dass der Geschädigte auf Wiedergutmachung geklagt hatte, was bedeutete, dass sie zumindest so lange am Leben bleiben mussten, bis sie, wie auch immer, den Gegenwert des getöteten Schafes – und das Fleisch und Wolle und Milch für ein Jahr – aufgebracht hatten.
Und darauf schienen die beiden Kahlköpfe zu bauen, denn sie hatten die Bedrängnis ihrer Vorgänger aufmerksam, aber mit gut zur Schau gestelltem Gleichmut verfolgt und verzogen auch jetzt, da der Käfig gerade über das Wasser geschwenkt wurde, keine Miene. Vielleicht waren sie sogar froh, dem Turmverlies, in dem sie sichtlich mit Stockhieben traktiert worden waren, endlich entronnen zu sein. Oder sie bildeten sich ein, der Ruf des Amtmannes werde auch sie noch rechtzeitig vor dem Schändlichsten bewahren. Sie saßen in der Hocke, und als das Wasser einzudringen begann, standen sie behäbig auf und lehnten sich so an die Käfigstangen, dass sie dem Publikum, als wollten sie es verhöhnen, die Rücken zukehrten. Die Geste rief sogleich Entrüstung hervor. Angespornt durch das einsetzende Gejohle, griffen einige der Gaffer, denen offenbar viel daran lag, das Grausen in den Gesichtern der Verurteilten zu sehen, zu Kieselsteinen, warfen sie, verfehlten aber ihr Ziel, und bevor sie zum nächsten Wurf ausholen konnten, sackte der Käfig plötzlich ab. Das Wasser schlug über ihm zusammen.
Ein Aufschrei ging durch die Menge. Es war aber mehr ein Aufschrei der Überraschung als des Entsetzens. Alle hatten erwartet, dass der Kerker gemächlich, Fuß um Fuß abtauchen werde, jetzt sah es ganz nach einem Unfall aus, der tödliche Folgen haben konnte. War das eine Absicht des Henkers? Oder hatten seine Gehilfen geschludert? War die Aufhängung gerissen?
Doch da kam der Käfig schon wieder zum Vorschein und schwenkte in die Höhe. Die beiden Haderlumpen hatten sich, wie vorher das junge Weib, an die Latten über ihren Köpfen geklammert, das Wasser hatte ihre Körper nach oben gedrückt, und sie hatten auch mit den nackten Füßen Halt zwischen den Sparren gefunden. Nun hingen sie, wie zwei übermächtige Spinnen, am Deckengitter. Sie spien aus und würgten und schnappten nach Luft. Ihr Anblick machte die Zuschauer im ersten Moment betroffen, doch sie beruhigten sich schnell, bald setzte allgemeine Erheiterung ein, es wurde gewitzelt, und schon wurden spöttische Zurufe laut.
Da fiel der Käfig von neuem, und als er platschend aufschlug, verloren die beiden den Halt und verschwanden wieder in den aufgewühlten, mit schlierigem Grünzeug durchsetzten Fluten. Diesmal dauerte es länger, bis sie auftauchten, und als sie endlich an die Oberfläche kamen, schlugen sie wie wild um sich und stießen unartikulierte Laute aus. Nach einer Weile blieben sie erschöpft, bäuchlings hingestreckt, auf dem Boden ihres Gefängnisses liegen. Sie mussten viel Wasser geschluckt haben, denn sie erbrachen sich, gurgelten und röchelten geräuschvoll.
Der Henker nahm sie umständlich in Augenschein, als der Wippgalgen den Käfig auf dem Ochsenfuhrwerk abgesetzt hatte. Er rollte sie auf den Rücken, stieß sie wiederholt mit dem Fuß an und zog an ihren Armen und Beinen. Er schien sich vergewissern zu wollen, ob er die Prozedur mit einem weiteren Tauchgang fortsetzen oder ob er es dabei bewenden lassen sollte. Unschlüssig wandte er sich an den Amtmann, der nun ebenfalls auf das Fuhrwerk geklettert kam und die Delinquenten durch seine Lorgnette musterte. Sie besprachen sich, und der Amtmann bedeutete dem Trommler, die Stöcke zu schlagen, zum Zeichen, dass das Strafgericht beendet sei.
Es gab nur geringen Widerspruch. Da ohnehin keine Hinrichtung in Aussicht stand, wie ein paar Spanner noch gehofft haben mochten, war die Neugier befriedigt, das Verlangen nach Strafe für die frechen Diebe zufriedengestellt und das Interesse an dem Strafgericht überhaupt abgeklungen. Als der Henker Vorbereitungen für den Rücktransport der Übeltäter in die Stadt traf, machten sich die ersten Männlein und Weiblein auf den Heimweg.
Auch Kantor Schuchardt drängte zum Aufbruch. Er hatte den beiden Klassenältesten Order gegeben, die Schüler zu sammeln. Sie sollten sich gegenüber dem »Brauseloch« treffen. Von da wollte er sie »zwecks heimatkundlicher Unterweisung« am Mühlgraben entlang, nördlich um die Stadt, zum Georgentor führen.
Christian Franz reagierte unwirsch auf den Befehl zum Abmarsch. Gerade hatte er sich fast bis an das Ochsenfuhrwerk herangearbeitet, das noch immer von Schaulustigen umlagert war. Er wollte aus nächsten Nähe sehen, wie die Frevler ihre Züchtigung überstanden hatten. Jetzt war er, eingeklemmt zwischen drängelnden, schwitzenden Leibern, nur noch einen Schritt von dem Käfig entfernt. Als ihn der Bote unsanft am Ärmel zog, riss er sich los und hievte sich mit einem festen Griff in die Radspeichen, noch dichter an den Wagen. Die Sträflinge lagen nun ausgestreckt vor ihm. Der eine hatte sich auf den Bauch gerollt, seine Arme mit den zerschundenen Ellenbogen waren seltsam verdreht. Sein Gesicht lag in Erbrochenem, er atmete schwer, und bei jedem Atemzug rasselte es in seiner Brust. Der andere hatte sich auf die Seite gewälzt und die Beine angezogen. Schleimfäden hingen ihm aus der Nase und glänzten in der Sonne. Er stierte reglos vor sich hin. Als sich Christan Franz über ihn beugte, hob er langsam den Kopf. Er hatte blutrote Augäpfel und glasige Augen. In seinem Blick flackerte Entsetzen. Er streckte die Hand nach dem Gesicht des Jungen aus, und ein Winseln entrang sich seiner Kehle.
Christian Franz stieß die Hand zurück, richtete sich auf und kehrte dem Käfig schnell den Rücken. Wieder hatte sich Mitleid in ihm geregt, und dabei wusste er, dass sie kein Mitleid verdienten. Nicht nur, dass sie einen armen Teufel aus der Vorstadt beraubt, seinem Milchschaf die Kehle durchgeschnitten und seine Kinder damit dem Hungern ausgeliefert hatten. Sie waren auch nicht wirklich reuig geworden. Er hatte
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Hubert Horstmann/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 05.05.2020
ISBN: 978-3-7487-3960-9
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