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Johann Wolfgang von Goethe als mein Weihnachtsgast



"Lieber Geheimrat,

Ihre Nachricht hat uns freudig überrascht. Natürlich nehmen wir Sie am 2. Weihnachtstag gerne in unserem Hause als besonders willkommenen Gast auf. Es trifft sich gut, denn dann sind die Kinder mit den Enkeln wieder fort. Unser altes Fachwerkhaus wird Ihnen gefallen. Es ist so alt wie Sie. Sie werden sich heimisch fühlen zwischen Gebälk und Büchern. Sie werden sich in Ihren gesammelten Werken wiederfinden. Auch Schiller ist neben Ihnen postiert. Dort werden Shakespeare, Brentano, Kleist, Tieck, Hauff und Hölderlin auf sich aufmerksam machen, ebenso wie Novalis, Heine und Thomas Mann. Dann wird Sie sicher Marcel Reich-

Ranicki interessieren, der heute als Litera-
turpapst bezeichnet wird, dann Günter Grass, den ich schätze, weil er so rebellisch schreibt in unserer Zeit, wie Sie ehemals zu Ihrer Zeit.

Ja kommen Sie nur, es wird Sie nicht reuen, denn in unserem Weinkeller ruhen erlesene Tropfen. Können Sie sich noch erinnern an das Rochusfest zu Bingen, als wir zwischen Monstranz und Weinzelt dem "Johannisberger" und dem "Assmannshäuser" Rotwein zugesprochen hatten? Mir ist ihr Ausspruch noch in den Ohren, als Sie den Pestheiligen Rochus zum Festheiligen machten.
Meine Frau und ich, wir freuen uns wie ein Kind zu Weihnachten auf Ihren geschätzten Besuch.
Ihr sehr ergebener KHL"


Am 2. Feiertag gegen 11 Uhr fuhr eine Taxe vor. Ich rannte zur Tür und half dem Gast aus dem Wagen. Goethe schüttelte den Kopf über das stinkende Metallgefährt. "Früher war es doch gemächlicher in der Pferdekutsche, wenn auch nicht so bequem." Dabei lächelte er freundlich, als er mir seine Hand zu Gruße reichte. Der Chauffeur nahm Hut, Mantel und seine Reisetasche aus dem Blech-
kasten, wie er den Kofferraum nannte. Meine Frau kam ebenfalls zur Haustür. Errötend begrüßte auch sie den hohen Gast. Wann hat man denn schon solch hohen Besuch. Sie schritt die Stiegen voraus zum Wohnzimmer. Dort brannten bereits die Lichter am Tannenbaum und verströmten ein heimeliges Licht zwischen Bücherwand und Fachwerkgebälk. Die Küche verbreitete Bratenduft. Der Herr Geheimrat genoss diesen Augenblick, ließ seinen etwas stechenden Blick wandern, gewahrte das Familien-
kruzifix, auch die zwölf unterschiedlichen Bibeln. Er sagte:
"In der Jugend war ich noch fromm. Meine ersten Glau-
benszweifel wuchsen in mir nach dem verheerenden Erdbeben in Lissabon, wo Gott die Gerechten mit den Ungerechten dem Verderben preisgab. Meinen anerzo-
genen Protestantismus empfand ich als eine Art trockener Moral, so dass die Lehre weder meiner Seele noch dem Herzen guttat. Meine Haltung zu den christlichen Dogmen blieb distanziert. Ich betrachtete sie als Mischmasch von Irrtum und Gewalt. Ich empfand besonders die Lehre von der Erbsünde anstößig. Aber lassen wir das. Die heutige Einstellung der Menschen hat sich ohnehin gewandelt. Wie wär´s denn mit dem Begrüßungstrank?" Dabei lachte er schelmisch und folgte meiner Geste, Platz zu nehmen.
Während sich meine Frau dem Braten widmete, entkorkte ich einen Kiedricher Gräfenberg Riesling Spätlese, trocken. Vorsichtig drehte ich die Spirale in den pressvollen Pfropfen und zog den Korken so behutsam aus der Flasche, als ob ich einen Säugling auf dem Arm halte. Während ich die Gläser füllte und den Pokal gegen das Licht des Weihnachtsbaumes erhob, seine Farbe prüfte und sogleich das feine Glas wiegend schwenkte, damit sich der Duft entfalten konnte, sprach ich den Trinkspruch aus meinem Schauspiel "Johannes Ruchrat, der Rebell:"

"Lasst die Gläser hell erklingen,
funkelnd perlen goldnen Wein,


und im Kreis von Freunden singen,
lasst uns heute fröhlich sein.

Dass beim Tranke wachsen Bande
zwischen Mensch und Mensch zugleich
und im ganzen Rebenlande
Eintracht zwischen Arm und Reich.

Seht mir in das trunkne Auge
in das lachende Gesicht,
wie ich aus dem Becher sauge,
was Unsterblichkeit verspricht.

Reinheit, Klarheit, ausgegoren,
glücklich wer den becher hält.
Glücklich, wer sich Wein erkoren,
Wein, du Mittelpunkt der Welt."

Der Geheime Rat sah mich unentwegt an, nickte anerken-
nend und sagte: "Trefflich, trefflich."
Jetzt erst kosteten wir den schiefrigen Riesling mit seiner trockenen Fruchtnote und der ihm eigenen ausgewogenen Säure. Das war die Stunde, da der Geheimrat von Auer-

bachs Keller schwärmte, von der Sage des Faust und dem Fassritt, den er im Faust I verewigt hatte. Und er lobte seine Frauen, die Katharina Schönkopf, sein "erstes Mädgen", dann Charlotte Buff, genannt "Lotte", die mit Kestner verlobt war. Er verliebte sich in sie unsterblich, bis Kestner sich ihn zur Brust nahm. Noch in derselben Nacht flüchtete er nach Frankfurt, wo er sich niederließ. Während eines Besuchs in Koblenz bei Sophie von La Roche traf er deren Tochter Maximiliane, die von nun an Charlottes Stelle trat.
Er seufzte: Die Weiblichkeit war wie ein Magnet für mich. Denken Sie nur an Lili Schönemann, die ich in Ehrenbreit-
stein kennen lernte. Lebenslustig, blond, selbstbewusst, fein und ernsthaft. Sie entzückte mich bis ins Mark. Ich hatte Lili nie vergessen. In "Stella" und "Hermann und Dorothea" erscheint sie heute noch als Hauptfigur. Eine weitere Gefährtin war die Hofdame Charlotte von Stein. Sie war es, die dem Geniekerl in mir Manieren und gleichmäßiges Arbeiten beigebracht hatte. Sie formte aus mir eine disziplinierte Person. Zehn lange Jahre hat sie meine eher stürmische Darstellung von Leidenschaften, Landschaften und Wolkenflug umgewandelt in ruhiges Nachdenken über die Werte der Schöpfung. Aber die innere Unruhe in mir veranlasste mich zur Trennung.

Unrast eines Vagabunden nenne ich das. Zurück in Weimar, fiel mir alsbald die Decke auf den Kopf. Meine Jahre in dem formenreichen Italien hatten mich dermaßen vereinnahmt, dass unser gestaltloses Deutschland mir fremd erschien. In dieser Zeit traf ich die 23 Jahre alte Christiane Vulpius, Tochter aus einer verarmten Akademi-
kerfamilie mit geringer Schulbildung. Liebe fragt nicht nach Bildung. Ich bildete mir ein, es genüge, wenn einer sie hat. Es dauerte nicht lange, da war sie meine Geliebte. Vielleicht deshalb, weil sie der römischen Geliebten so ähnlich sah. Das war die Zeit der "Römischen Elegien", meine leichtesten und fröhlichsten Verse.
Im Dezember 1789 wurde unser Sohn August geboren wurde. Er war der Einzige von fünf Kindern, die das Kindsalter überlebten. Aber erst 1806 legalisierte ich das Verhältnis zu Christiane Vulpius. Trauzeuge war unser 17-jähriger Sohn August und dessen Hauslehrer Friedrich Wilhelm Riemer, mein späterer Sekretär."

Es hörte sich an wie bei einer Lebensbeichte. Meine Frau und ich waren erstaunte Zuhörer. Inzwischen war die Flasche mit dem Kiedricher Riesling leer. Der Mittagtisch war gedeckt. Es gelang meiner Frau, ohne Porzellange-
klapper. Dafür waren die Ausführungen unsers Gastes zu wertvoll.
Meine Frau warf mir einen fragenden Blick zu. Ich deutete ihr, sie möge jetzt die Speisen servieren. Während sie den Braten und die Klöße aus rohen Kartoffeln mit dem frischen Rotkohl auftrug, konstatierte unser Gast:
"Aha, das ist ein rheinisches Gericht!"
Als Beigabe standen Glasschälchen mit selbst eingemach-
ten Birnenstücken im eigenen Saft bereit. Ich holte den bereits dekantierten Roten und die

passenden bauchigen Gläser herbei. Goethe strich mit der Zunge über seine Lippen, für uns der Hinweis seines Wohlwollens. Auch beim Essen entpuppte sich der Geheimrat als wahrer Genießer. Wenn es dem hochwohlgeborenen Gaste schmeckt, sind die Gastgeber zufrieden.
Dann wurde der betagte Herr neugierig, wollte aus unserer Familie bemerkenswerte Geschehnisse erfahren. Ich empfahl ihm etwas kleinlaut meine neun Bücher,die sich natürlich nicht mit der Wortgewalt eines geadelten Geheimrates messen können. Aber ich schenkte ihm meine Lebenserinnerungen "Bibeln,Bonzen, Bomben" mit einer persönlichen Widmung. Bevor er über Literatur sprach, das war nach dem Nachtisch, lobte er die Kochkünste meiner lieben Frau, die er förmlich mit Huldigungen überhäufte. Ich dachte, Vorsicht, Herr Rat, damit haben Sie schon manches Weibsbild betört. Aber ich blieb höflich und sagte kein Wort.
Er nahm mein Buch kritisch prüfend zur Hand und stellte erfreut fest, es ist ja in Leipzig verlegt worden. Das erinnerte ihn wieder an Auerbachs Keller. Und er fand auch gleich meinen dort abgedruckten Brief an ihn über unsere erste Begegnung auf dem Rochusfest. Darin hatte ich ihn regelrecht angefleht, er möge Politiker werden, weil unser Land Köpfe seines Schlages brauche. Doch er schüttelte sein Haupt zum Zeichen seiner Ablehnung. Er sprach: "Junger Freund, Sie sind mit Ihren 75 noch jung gegen mich. Mit meinen 259 Jahren bin ich zweieinhalb mal älter als Johannes Heesters mit seinen 105 Jahren. Bitte haben Sie Erbarmen mit mir. Wenn Sie mir jetzt noch einen italienischen Espresso machen, dann rufen Sie mir bitte eine von diesen Blechkarossen, damit ich Ihre Gastfreundschaft nicht überstrapaziere."
Ich rief das Taxi, und wir begleiteten den Gast zur Tür. Dort umarmten wir uns zum Abschied. Als der Wagen abfuhr, winkten wir ihm nach. Wir warteten noch, weil der Taxifahrer wenden musste; wir winkten abermals, aber unser Gast war in dem Auto nicht zu sehen. Vielleicht war es ja auch nur ein Geist, sein Geist, der uns besucht hat. Oder war´s der Weingeist aus den Flaschen?

Impressum

Texte: Alle Rechte vorbehalten
Tag der Veröffentlichung: 18.12.2008

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für meine Familie

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