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Es gab eine Zeit ...

 

für meinen Vater …

 

Es gab eine Zeit, da warst Du einfach da. Damals, als ich gerade anfing, die Welt zu entdecken. Es war nicht leicht für Dich, als Du hörtest, dass Dein Kind anders ist als die anderen. Du hättest so gerne eine perfekte Tochter gehabt. Hättest Deinen Vater so gerne stolz gemacht und ihm bewiesen, dass Du es geschafft hast. Der war schon mit Deiner Frau nicht glücklich, weil sie schon mal verheiratet war und bereits ein Kind hatte. Zu mir sagte er dann: So eine hätte man zu meiner Zeit nicht am Leben gelassen. Ich habe Dich nie gefragt, was Du ihm geantwortet hast, aber ich weiß, Du hast Dich dafür entschieden, mich zu lieben, so gut Du es konntest. Hast mich auf Deinen Schultern getragen, mich auf Deinem Schoß gewiegt, hast Dich oft anstecken lassen von meiner Fröhlichkeit.

Viele schöne Erinnerungen. Eine glückliche Familie. Damals.

 

 

Es gab eine Zeit, da habe ich Dich vermisst. Du hast viel gearbeitet, wolltest, dass es uns gut geht, wolltest Dich beweisen in Deinem Job. Doch Du warst selten zu Hause. Hast selten wirklich Zeit gehabt für uns. Ich habe oft auf Dich gewartet abends, und wenn Du dann kamst, habe ich meine Arme ausgebreitet und bin auf Dich zugerannt. Du hast mich immer aufgefangen. Ein kurzer, inniger Moment – ein Ritual, das wir beide geliebt haben. Doch es hielt nicht lange an. Denn selbst wenn Du zu Hause warst, warst Du oft nicht wirklich da. Hast Dich verschanzt hinter Deiner Zeitung oder der Bierflasche, und wenn ich laut und fröhlich war, hat es Dir oft gar nicht mehr gefallen. Aber selbst wenn Du wütend wurdest, war es für mich ein kleiner Sieg, weil Du die Zeitung gesenkt hast und für einen Augenblick ganz bei mir warst.

Es gab Wochenenden, es gab Urlaube, wo Du selber fröhlich sein konntest. Am besten hat es Dir immer gefallen, wenn viele Freunde dabei waren, wenn Du allen von Deinen Träumen berichten konntest – dem Ferienhaus in Schweden, dem eigenen Segelboot. Wenn Du erzählen konntest von dem Leben, das Du gerne geführt hättest, wären da all die Verpflichtungen nicht gewesen. Dein Vater ist in den Krieg gezogen, da warst Du kaum auf der Welt, und er kam erst aus der Gefangenschaft zurück, als Du gerade die Grundschule beendet hast. Ihr wart allein, Du und Deine Mutter, und eins war für Dich klar: Du würdest Deine Familie nicht im Stich lassen. Du würdest dafür sorgen, dass immer genügend Geld da ist.

Aber Du warst nicht da. Und irgendwann kam der Streit. Ihr dachtet wirklich, wir würden es nicht mitkriegen. Dass Ihr plötzlich getrennte Schlafzimmer hattet, dass Du nachts oft gar nicht mehr nach Hause kamst. Ihr dachtet, es gäbe einen vernünftigen Weg, sich scheiden zu lassen.

Viele ungesagte Worte. Ein Umzug in ein neues Leben. Damals.

 

Es gab eine Zeit, da warst Du mein Held. Du bist dort geblieben, wo mein Zuhause war, und wir lebten plötzlich an einem fremden Ort. Mit einem anderen Mann, der nicht mein Vater war, und es auch niemals sein würde. Ich wollte nicht dort sein, ich wollte zu Dir, und alle vierzehn Tage durfte ich es auch. Allein mit dem Zug bis nach Stuttgart, was habe ich mich erwachsen gefühlt. Noch besser war es natürlich, wenn Du mich freitags von der Schule abgeholt hast, in Deinem knallroten Porsche. Ich weiß genau, die neidischen Blicke meiner Klassenkameraden (und Lehrer!) haben Dir genauso gefallen wir mir.

Am besten war es natürlich, das ganze Wochenende mit Dir in Deiner Wohnung zu verbringen, Deine „Junggesellenbude“, wie Du sie manchmal scherzhaft genannt hast. Nur wir zwei, keine Arbeit, keine Verpflichtungen. Samstags shoppen auf der Königsstraße. Abends grillen oder Essen gehen mit Freunden, die ich alle so gut kannte. Oder Du hast einfach etwas gekocht – ich liebte Deine Küche! - und wir haben es uns vor dem Fernseher gemütlich gemacht. Und selbst, wenn Du Dich mal hinter der Zeitung oder der Bierflasche verschanzt hast, habe ich irgendeine Beschäftigung gefunden. Aber wir konnten auch richtig gut reden zu dieser Zeit. Ich fing an, mich für Jungs zu interessieren und fand es cool, wenn Du mir Tipps gegeben und mich gleichzeitig ermahnt hast, keinen Blödsinn zu machen.

In den Ferien dann Entspannung pur, wenn wir zu Deiner Mutter gefahren sind. Die beste Oma der Welt, die einzige, die ich noch hatte. Manchmal hätte ich mir gewünscht, dass Du länger bleibst, mal eine Woche oder zwei. Die Zeit zusammen war immer so kurz, vielleicht hat sie sich deswegen so kostbar angefühlt.

Und Pläne habe wir geschmiedet. Dass ich zu Dir komme, wenn ich achtzehn bin, um in Stuttgart zu studieren. Dass ich irgendwann meinen Doktor mache, damit alle stolz auf mich sind. Dass wir auf gemeinsame Segeltour gehen.

Viele schöne Träume. Ein sorgloses Leben. Damals.

 

Es gab eine Zeit, da habe ich Dich gehasst. Weil Du nicht verstehen konntest, dass ich nicht wegen eines Doktortitels geliebt werden wollte, sondern wegen dem, was ich wirklich bin, was mich und mein Wesen ausmacht. Weil meine Klamotten und meine Haare plötzlich bunter wurden und Du nicht begriffen hast, warum ich diesen Weg gehe. Warum ich meine Freunde in der Kneipe und im Park gefunden habe und nicht auf meinem Gymnasium. Warum ich so lautstark gegen das protestiert habe, was Dein Vater noch so überzeugt vertreten hat. Du wolltest mir nicht mal zuhören, als ich versucht habe, es Dir zu erklären. Was hat Dich so ablehnend werden lassen? Wärst Du vielleicht selbst gerne ein Rebell gewesen? Hättest du zu Deinem Vater gerne die Dinge gesagt, die ich auf Demos in die Welt hinaus gebrüllt habe?

Wir konnten nicht mehr reden, stattdessen hast Du Dir eine neue Familie gesucht. Hast wieder geheiratet, noch eine Tochter bekommen. Eine, die perfekt war. So wie alles in Deiner neuen Familie perfekt war. Ich hatte das Gefühl, dort nicht mehr hineinzupassen. Konnte mich nicht mit Dir freuen. Konnte all das, was ich Dir sagen wollte, nur meiner Oma erzählen, wohl wissend, dass Du es auf diesem Weg erfahren würdest. Sie hat mich verstanden, hat sich zumindest darum bemüht – warum konntest Du mir dieses Gefühl plötzlich nicht mehr geben?

Gebrochene Versprechen. Du wolltest mit mir in den Urlaub fahren, ganz groß, ganz toll, ich sollte mir das Ziel aussuchen. Eine Woche Österreich war sicherlich nicht das, was ich mir ausgesucht habe, doch ich bin mitgekommen. Die Gespräche waren schal. Mit Dir an der Hotelbar zu sitzen und von jemandem gefragt zu werden, ob wir ein Paar wären, fühlte ich einfach nur falsch an. Auf der Heimfahrt war es kälter als zuvor.

Als Oma starb, starb auch etwas zwischen uns. Du konntest nicht verstehen, warum ich nicht mit Euch Abschied nehmen konnte. Wie ich behaupten konnte, längst von ihr Abschied genommen zu haben.

Endlos viele Missverständnisse. Ein großer Graben. Damals.

 

Es gab eine Zeit, da hast Du mich gebraucht. Der Brief zur Versöhnung kam von mir, doch Deine Einladung und Deine Freude waren aufrichtig. Vielleicht warst Du auch einfach nur froh, dass die wilde Zeit vorbei war, dass ich langsam wieder zur Vernunft kam und nun doch noch studieren ging. Dass sich dieser Schritt vom ersten Tag an richtig anfühlte, konnte ich zugeben, ohne mich dafür zu schämen. Dass ich ohne Deine finanzielle Unterstützung meinen Weg nie so hätte gehen können, auch. Das „Danke“ zwischen uns fühlte sich noch fremd an. Doch wir fingen an, uns daran zu gewöhnen.

Deine neue Familie zerbrach, lange vor dem Tod Deiner zweiten Frau. War es überhaupt jemals so perfekt, wie ihr es nach Außen hin dargestellt habt? Du warst plötzlich allein mit Deiner Tochter und ich, die nun wieder einen Vater hatte, bekam auch noch eine kleine Schwester dazu. Perfekt hat sich das alles nie angefühlt, aber ein kleines bisschen nach Familie. Wir waren zusammen in Dänemark, oder ich habe das Haus gehütet, wenn ihr weggefahren seid. So manches Wochenende zusammen verbracht, beinahe so wie früher. Nein. Anders als früher. Statt zu zweit im Porsche, saßen wir jetzt zu dritt in der Familienkutsche. Statt gemütlich auf der Königsstraße shoppen zu gehen, fuhren wir die Supermärkte der Umgebung nach den aktuellen Sonderangeboten ab. Ich wollte von Dir wissen, ob dies das Leben sei, von dem Du immer geträumt hattest. Die Woche über damit beschäftigt, meine Schwester zur Schule oder zum Pferd oder zu Freunden zu fahren. Am Wochenende die Werbeblättchen zu studieren, genau wie Dein Vater es früher getan hat. Du hast geantwortet, es sei genügend Geld da, mehr hättest Du nie gewollt.

Als mein Studium zu Ende ging, hast Du mich gefragt, ob ich nicht nach Würzburg kommen will. Und später, als ich mich für den Hof ganz in der Nähe entschieden habe, da hast Du dort kurzerhand Dein Altenteil geplant. Du warst so erleichtert, dass Deine beiden Töchter nun versorgt waren und nahe beieinander wohnten.

Viele gute Gespräche. Ein Gefühl von Stolz. Damals.

 

Es gab eine Zeit, da waren wir uns ganz nah. Als Du in deinem Krankenbett auf der Palliativstation lagst und wusstest, wie schwer das Erbe ist, das Du mir hinterlassen wirst. Als Du über all Deine unerfüllten Träume gesprochen hast und über das, was Dir wirklich wichtig war im Leben. Als es wahre Versöhnung gab mit den Menschen, die Du geliebt hast. Als neue Träume gewoben wurden, so als gäbe es die Zeit nicht und den Tod.

Doch beides hat Dich eingeholt. Wir haben weitergemacht, so gut es ging, auf unsere Art, auf unserem Weg, und ich weiß, dass Du über einige unserer Schritte verständnislos den Kopf geschüttelt hättest. Aber das ist okay. Ich weiß auch, dass Du trotz Allem stolz auf uns wärst.

Vieles blieb unausgesprochen. Einiges blieb ungelebt. Ich vermisse Dich. Heute.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 11.11.2015

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
für meinen Vater

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