In meiner Kindheit gab es viele Düfte, an die ich mich noch erinnere. Es gab angenehme und unangenehme. So ziemlich der unangenehmste und widerwärtigste Geruch, der mir dabei in den Sinn kommt, ist der von Teer. In den 60er Jahren wurden viele Straßen, die zuvor Kopfsteinpflaster hatten, asphaltiert. Die riesigen Teerwagen, die dabei benutzt wurden, sahen für mich nicht nur furchterregend aus, sondern verbreiteten einen schrecklichen Gestank. Ich lief immer schnell an den Stellen vorbei, wo damit gearbeitet wurde.
Der lieblichste und angenehmste Geruch aus meiner Kindheit ist der von frischgebackenen Keksen. Hannover hatte und hat eine große, sehr bekannte Keksfabrik, die jeder kennt, selbst im Ausland: die Firma Bahlsen. Damals wurden die Kekse noch im Stadtteil List produziert, wo heutzutage nur noch die Verwaltung ist. Produziert wird nunmehr in Barsinghausen, das ist circa 20 Kilometer von Hannover entfernt.
Seinerzeit gab es sogenannte Kekskarten, die eigentlich nur für die Mitarbeiter der Firma gedacht waren. Damit konnte man im Fabrikladen sehr preiswert Kekse und andere Artikel von Bahlsen einkaufen. Das waren ganz normale Produkte, wo lediglich (warum auch immer) „Zweite Wahl“ auf den Packungen darauf klebte. Dem Geschmack tat das keinerlei Abbruch. Apropos Bruch: Es gab auch die sogenannten Bruchkekse. Diese wurden in großen Papiertüten verkauft und enthielten Kekse, die teilweise oder ganz zerbrochen waren.
Diese Kekskarten wurden von den Beschäftigten oft und gerne an Freunde und Verwandte weitergegeben, obwohl das eigentlich verboten war. So erhielt auch meine Mutter etwa alle zwei bis drei Monate eine dieser begehrten Karten von ihrer Freundin Irma.
Immer denn, wenn wir diese Karte hatten, machten meine Mutter und ich uns auf den Weg zur Fabrik. Das war nicht weit, vom Stadtteil Kleefeld zum Stadtteil List ging es quer durch die Eilenriede, unserem Stadtwald. Es war stets ein wunderschöner Spaziergang. Allein schon im Wald roch es sehr angenehm, insbesondere im Frühling.
Die Eilenriede wird von mehreren Straßen durchschnitten. Da war zunächst der Messe-Schnellweg, der autobahnmäßig ausgebaut ist. Für die Überquerung gibt es mehrere Brücken für Fußgänger und Radfahrer. Oft, wenn wir die Brücke überschritten hatten, konnte man schon – wenn der Wind günstig stand – den Duft der frischgebackenen Kekse wahrnehmen. Meine Mutter und ich versuchten, dann immer zu erraten, was wohl an diesem Tag produziert wurde. Waren es Butterkekse, Waffeln oder gar Löffelbiskuit? Es war natürlich schwierig bis unmöglich, das herauszufinden, außer im Herbst, wenn die Lebkuchen und die Zimtsterne für die Weihnachtssaison gebacken wurden.
Die nächste Straße, die überquert werden musste, war die Waldchaussee. Offiziell trägt diese Straße gar einen Namen, das gilt bis heute. Der Name hatte sich aber bei der Bevölkerung so eingeprägt, dass er mittlerweile in manchen Stadtplänen eingetragen ist. Auf dem Weg ging es am Zoo vorbei, wobei wir die direkte Strecke mieden, weil damals dort das Wolfsgehege war, welches weniger angenehme Düfte verströmte. So machten wir immer einen kleinen Umweg.
Nachdem wir das Ende des Waldes erreicht hatten, waren es nur noch ein paar hundert Meter bis zum Fabrikgebäude. Der Backsteinbau war und ist sehr imposant und hat mir schon als Kind sehr gut gefallen. Man musste ein Tor, das von einem Bogen überspannt wurde, durchschreiten und sich beim Pförtner melden. Dann ging es in den ersten Stock, wo der Fabrikladen war. Er war kärglich ausgestattet, die Kekspackungen lagen auf einfachen Regalen. Nach dem Bezahlen gingen meine Mutter und ich mit der Ausbeute gut gelaunt nach Hause. Unterwegs durfte ich immer schon von den Keksen naschen und zu Hause stürzten sich dann auch meine Geschwister darauf.
Heutzutage darf jeder in den Fabrikläden von Bahlsen, von denen es mittlerweile fünf im Stadtgebiet und im Umland von Hannover sowie in einigen anderen Orten gibt, jederzeit und problemlos die preiswerten Produkte kaufen. Die „Kekskarte“ gibt es nicht mehr. Den lieblichen Duft der frischgebackenen Kekse verströmen diese Läden jedoch nur im geringen Maße. Aber die Erinnerung daran ist mir immer noch geblieben.
Bildmaterialien: www.yelp.de
Tag der Veröffentlichung: 28.03.2020
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