Cover

Von Maimonides zu Maimon

 

             

             „Glückseligkeit, Lust, Liebe, Vollkommenheit, Wesen, Krafft, Freyheit, Übereinstimmung, Ordnung und Schönheit (sind) einander verbunden, welches von wenigen recht angesehen wird." (Leibniz)

 

„Um Weisheit zu erlangen, braucht ein Weisheitslehrer viel Zeit zum Studieren. Die aber hat er nur, wenn er sich nicht mit anderen Arbeiten abgeben muß. Wie kann einer Weisheit erlangen, der ständig den Pflug führt und dessen ganzer Stolz der Stock ist, mit dem er seine Zugtiere antreibt, und weiß nichts, als von Ochsen zu reden?" (Sirach 38, 24 - 25)

 

 

             

             Wir schauen die Dinge an, aber ihre Verschiedenheit denken wir hinzu wie ihre Einheit. Sowohl der Idealist Fichte wie später der Neukantianer Cohen berufen sich von verschiedenen Seiten aus zu Recht auf Maimons Kritik an Kants Kritiken. Obwohl beide das Ding-an-sich leugneten, fühlte Kant sich von Maimon ebenso verstanden wie von Fichte mißverstanden.

 

1794 erschien Fichtes „Wissenschaftslehre" wie Maimons „Neue Logik". Wir wissen nicht, ob Maimon sich von Fichte ebenso mißverstanden fühlte wie Kant. Das Problem ist nicht der allgemeine Begriff, sondern die besondere Anschauung: Bei Kant wird das Besondere angeschaut und das Allgemeine gedacht, hingegen bei Maimon wird das Besondere wie das Allgemeine gedacht. Auch Kantianer Cohen sollte später die Anschauung zum Denken rechnen, welches den Gegenstand 'erzeuge'. Einheit des Bewußtseins und Vielfalt der Dinge seien Gedanken. Fichte war mathematisch wenig interessiert, er sah das einzelne Nicht-Ich gar nicht als „Differential des Bewußtseins", aber die Verschiedenheit der Dinge als Leistung des Subjekts.           

 

            Fällt alles, was Kant zusammengefügt hatte in der Einbildungskraft, wieder ganz auseinander in den dogmatischen Rationalismus eines Leibniz und den empirischen Skeptizismus eines Hume? Wenn das wahr wäre, hätte sich Fichte auf Maimon zu unrecht berufen, denn für Fichte stimmt allgemeine Vernunft und besondere Wahrnehmung noch viel weiter zusammen als bei Kant. Nicht nur die Natur als das Ganze aller möglichen Erfahrungsobjekte ist bei Maimon eine Idee, sondern schon jeder einzelne Erfahrungsgegenstand als das Ganze seiner möglichen Aspekte ein Idee. „Mathematische Grundsätze sind nur aus der Anschauung ... gezogen", schrieb Kant, und „Form der Anschauung kann nichts sein als die Art, wie das Gemüt ... durch sich selbst affiziert wird" und nicht durch Dinge an sich. Wenn Raum und Zeit es nur mit mathematischen und nicht mit realen Objekten zu tun haben, dann gibt es wohl synthetische Urteile a priori so wenig wie analytische Ur­teile aposteriori, sondern nur analytische Urteile apriori und synthetische Urteile aposteriori.

 

Transzendentale Ästhetik ist für Cohen wie für Maimon transzendentale Logik und mathematische Logik. Die Mannigfaltigkeit des Inhalts gehöre wie die Einfalt der Form zur inneren Möglichkeit des Denkens. Bei Maimon gibt es kein Ding an sich, aber auch noch nicht diesen Totschlag der Natur, den Schelling an Fichte störte. Bei Maimon ist allerdings anders als bei Fichte der Schritt vom Formellen zum Reellen ein Schritt von der mathematischen Gewißheit zur empirischen Skepsis, von Leibniz zu Hume. Jedes Individuum sei wie das Ganze aller Individuen eine Idee vollständiger Bestimmungen.

 

Mehr als Fichte haben Maimon und später Cohen der Tatsache Rechnung getragen, daß Kant die mathematische Naturwissenschaft philosophisch begründen wollte. Kant wollte Hume und Leibniz vereinigen, Maimon und Cohen warfen ihm vor, in der Anschauung nicht schon das unvollständige Denken (Husserl sah später im Denken die unvollständige Anschauung) entdeckt zu haben und im Denken nicht den Infinitesimalkalkül. Für den alten Cohen ist Allgemeingültigkeit und praktische Allgemeinverbindlichkeit weiter eine Sache der Vernunft, aber die Individualität ist ihm nicht mehr eine Sache der Differentialrechnung, sondern der biblischen Vernunftreligion: Die Masse wird in Individuen zerlegt, aber das Individuum vor Gott nicht in Atome zerlegt.

 

Fichte berief sich auf Maimon, als er das Ding an sich zusammen mit der Natur depotenzierte, aber er berief sich niemals auf Maimons Bewußtseinsdifferentiale, weil er nie auf Leibniz zurückging. Weder Fichte noch Schelling und Hegel haben die mathematische Naturwissenschaft als Paradigma der Aufklärung gelten lassen. Das wird erst wieder wichtig bei Marx, der den technologischen Industrialismus sozialistisch nutzen wollte. Cohens ethischer Sozialismus und Marxens wissenschaftlicher Sozialismus haben ihren gemeinsamen Fluchtpunkt in der mathematischen Naturwissenschaft. Maimon kennt den Gegenstand als Idee und die Idee als Gegenstand, die Summe aller Dinge als Ding und jede Einheit als Ganzes von Einheiten. Wenn Maimons Kantkritik von so unterschiedlichen Denkern wie Fichte und Cohen in Anspruch genommen werden kann, liegt der Verdacht nahe, daß er von beiden mißdeutet wird, vom einen idealistisch, vom anderen logizistisch. Als Kant Fichtes System ein „ephemeres Erzeugnis", eine gänzlich unhaltbare Sache und gespenstisch genannt hatte, wurde er von Fichte „Dreiviertelskopf" geschimpft.

 

Sicher hat Maimon nicht Kants Kritik kritisiert, um Fichte Recht zu geben. Wenn Maimon im Ding an sich nicht nur ein völlig unbestimmtes X sah, sondern eine irrationale Wurzel aus minus X, dann sah er darin nicht ein vom Ich gesetztes Nicht-Ich. Maimon nahm nur ernst und wörtlich, daß Kant das „Ding an sich“ schon selbst ein bloßes 'Noumenon' und 'Gedankending' genannt hatte. Das Ding an sich war ihm eine bloße Projektion der schon bestimmten Teile des Objekts auf seine noch nicht bestimmten, die Projektion einer endlichen Menge auf eine potentiell unendliche Menge von Bestimmungen. Maimon behandelt jeden Gegenstand so als Kosmos, wie Kant nur die ganze Welt und Natur behandelt. Er behandelt das Geschöpf nicht anders als den Schöpfer, wenn beide erkannt werden sollen, aber für den Schöpfer sei alles zugleich gegeben, was für sein Ebenbild nur nacheinander und nebeneinander gegeben sei. Die Crux ist das Antinomienkapitel der reinen Vernunftkritik: Ist die Ganzheit von Objekten ein Objekt unter anderen oder eine bloße Idee? Gott ist für Maimon das Denken des Denkens, Dianoia und Theorie sind die göttlichen Tugenden, wie sie es für den Aristoteliker Maimonides gewesen waren. Eine grobe Synopse würde zeigen:

             

Leibniz        

Integral       Differential      Monaden       -----------   

Verstand     Sinnlichkeit      Erfahrung      Skepsis

 

Maimon  

Kategorien  Raum / Zeit     Mathematik   Erscheinung

 

Fichte           

Ichheit        Imagination     Nicht-Ich        ----------    

   

Kant        

Kategorien  Schema Zeit    Erscheinung    Ding an sich

 

 

            Die 'objektive Gültigkeit der Verstandesformen' erstreckt sich bei Kant auf empirische Objekte, die keine Dinge an sich sind, und bei Maimon nur auf mathematische Objekte, die keine empirischen Objekte sind. Mathematische Objekte sind für Kant eine Sache reiner Anschauung ohne Verstand, für Maimon aber eine Bestimmung der Anschauung durch den Verstand.

             

            Maimon hielt die apriorische Naturwissenschaft, die Kant im 'Opus posthumum' versuchte, für unmöglich, denn a priori galten ihm allein Logik des Verstandes und Mathematik der Anschauung. Der 'Schematismus der reinen Verstandesbegriffe' soll bei Kant den Übergang vom Denken zur Realerfahrung bewirken und bewirkt bei Maimon doch nur den Übergang von der Logik zur Mathematik. Die „Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung“ seien nicht die Bedingungen der Möglichkeit aller Erfahrungsgegenstände, sondern die Ermöglichungsbedingung der mathematischen Konstruktion sei die Ermöglichungsbedingung mathematischer Objekte. Bei beiden Denkern geht es um den Übergang vom Allgemeinen zum Besonderen : Wenn die Allgemeinbegriffe des Verstandes auf den besonderen Stoff der Anschauung treffen, entstehen bei Kant empirische und bei Maimon nur mathematische Objekte. Fast könnte man sagen, das Ding an sich sei für Kant so unerkennbar wie für Maimon die Erscheinung. Umgekehrt ist das Ding an sich für Maimon prinzipiell so durchschaubar wie für Kant das Phänomen.

 

Auch Kant will nicht eine jede Schreibfeder aus der Vernunft deduzieren können, aber doch die Bedingung ihrer Möglichkeit zeigen. Seinsgrund und Erkenntnisgrund fallen für Kant in empirischen und für Maimon in mathematischen Objekten zusammen. Kant konstituiert die Gegenständlichkeit empirischer Gegenstände, Maimon erstellt die Gegenständlichkeit mathematischer Gegenstände. Die Frage ist, ob der Verstand bei Kant direkt die sinnliche Materie formt und bei Maimon nur auf dem Umweg über mathematische Konstruktionen. Die Frage ist, ob die Verstandeskategorien sich zu Kants empirischen Objekten nun verhalten wie Maimons mathematische Objekte zu den Erfahrungsgegenständen. Kant hat Humes Skepsis von der Erscheinung auf das Ding an sich verschoben, Maimon hat denselben cartesianischen Zweifel vom Ding an sich auf die Erscheinung zurückverlegt.

 

            Kants Ding an sich ist unerkennbar wie Maimons Erfahrungsgegenstand, für Maimon ist umgekehrt das Ding an sich so erkennbar wie für Kant nur die Erscheinung. Für beide gibt Mathematik über Raum und Zeit die Vielfalt, gibt Logik über den Verstand die Einfalt dazu. Reiner Verstand ist Logik, reine Anschauung ist Mathematik. Kant sieht das 'transzendentale Schema' zwischen Verstand und Sinnlichkeit in der Zeit, Maimon aber in

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 29.11.2018
ISBN: 978-3-7438-8796-1

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /