Fremd
Was ist fremd? Das Andere, welches uns unbekannt ist, was erstaunt, erschreckt und uns beschäftigt, weil es uns vielleicht aus der Bahn werfen könnte, das ist das Fremde.
Die Furcht vor dem Fremden ist verbreitet und steckt vermutlich in jedem, quasi zum Selbstschutz. In der vorliegenden Geschichte geht es jedoch nicht um fremde Menschen, die uns umgeben, die unser Leben tangieren, nein es geht um das gefühlte Fremde in uns selbst.
Sie hatte sich zurückgezogen. Dafür gab es viele Gründe. Manchmal ist es einfach nötig, sich zum Nachdenken in einen ruhigen Raum zu begeben.
Die einen stürzen sich in den Trubel bunter Ablenkungen, andere bevorzugen Sport oder Ähnliches und konzentrieren sich auf einfache, mental leicht beherrschbare Dinge, um den Kopf wieder frei zu bekommen oder lassen sich schlicht berieseln.
Sie wollte das alles nicht mehr, denn sie hatte mit sich selbst ein Problem, welches sich weder in lustiger Gesellschaft, noch beim Sport lösen ließ. So entschloss sie sich, quasi auf Tauchstation zu gehen. Sie fühlte etwas Fremdes in sich oder anders ausgedrückt, sie war sich fremd geworden und wollte nun ergründen, worum es hier überhaupt ging, was das bedeutete, warum sie sich so fühlte und letztlich, was dagegen zu tun sei.
Die vielen Jahre, die besonderen Erfahrungen mit den Menschen, die zufällig ihre Wege kreuzten, auch länger verweilten, sie dabei zutiefst enttäuschten, hatten sie verändert. Sie hatte es verlernt, unbekümmert zu feiern. Sie konnte einfach nicht mehr lustig sein, die Gegenwart von mehr als ein bis zwei Menschen war ihr lästig geworden. So hatte sie sich mehr oder weniger verschanzt, nahm selbst an Familienfeierlichkeiten nicht mehr teil, erfand allerlei Ausreden, um ihnen fern bleiben zu können. Das war nicht immer einfach, denn keiner verstand so ein Verhalten. Erklärungen abzugeben, erschien ihr müßig, zu langwierig und umständlich, zudem befürchtete sie, dass ihr keiner wirklich zuhören würde, auch nicht wollte.
So lebte sie damit, dass man sich schließlich auch von ihr zurückzog. Ein Entfremdungsprozess mit anderen, aber merkwür-
digerweise verstärkt auch mit sich selbst, setzte sich in Gang. Sie verstand ihre introvertierte Haltung schon lange nicht mehr wirklich und bemerkte entsetzt, dass etwas völlig Fremdes in ihrem Innersten von ihr mehr und mehr Besitz ergriff. Etwas schwer Erklärbares, kaum Greifbares. Es machte ihr zunehmend Angst.
Eigentlich hielt sie sich für einen offenen, lebensfrohen Menschen, der nicht imstande wäre, einem lebenden Wesen etwas zuleide zu tun.
Sie schaute eines Tages in den Spiegel und ein ernstes Gesicht blickte zurück. Sie versuchte ein Lächeln. Es gelang nicht besonders gut und schien nur aufgesetzt. So schnitt sie eine Grimasse aber sie war gar nicht lustig, nicht ein bisschen, eher irgendwie drohend. Ein fremdes Gesicht starrte sie an. Das war nicht nur irritierend, nein es war furchteinflößend, denn sie erkannte nichts in diesem, offen-
sichtlich ihrem, schrecklichen Gesicht. Verstört und tief in sich versunken wandte sie sich von ihrem Spiegelbild ab.
Sie lebte schon längere Zeit allein, ging einer wenig erfüllenden, auch ungeliebten Arbeit nach, arbeitete nur, um das nötige Geld zum Leben zu verdienen. Ihr Schreibtisch stand in einem Einzelzimmer, Kontakte mit Kollegen waren nicht nötig und vor allem auch nicht erwünscht. Man erwartete nur, dass sie funktionierte und ihr keine Fehler unterliefen. Man hielt sie weitestgehend isoliert, quasi wie ein Tier, welches einmal freigelassen, nur Schaden anrichten würde. Die Kollegen, die sich dann und wann und sei es nur aus dringenden dienstlichen Gründen, in ihrem Arbeitszimmer einfanden, wurde nahe gelegt, sich nicht zu lange aufzuhalten. So entwickelte sich kaum ein Gespräch, wie es manchmal und üblicherweise in den Büros stattzufinden pflegte.
Bei den wiederkehrenden betrieblichen Feiern war sie die absolute Außenseiterin. Sie gehörte in keinen Kreis und man bat sie auch nicht, sich einfach dazu zu setzen. Schließlich ging sie einfach nicht mehr hin und meldete sich unpässlich. Keiner vermisste sie.
Seit geraumer Zeit fühlte sie, dass das Fremde in ihr an Kraft gewann und sie zu drängen schien, etwas zu unternehmen. Es wollte hinaus und ihr etwas mitteilen, den anderen etwas mitteilen. Das Fremde wollte vermutlich, dass sie wahrgenommen wird, dass sie wenigstens einmal im Fokus aller stünde.
Sie spürte, dass genau dieses Handeln, was nur einem einzigen Ziel dient, nämlich Aufmerksamkeit zu erhalten, das Fremde in ihr ausschließlich definierte und ihr damit eine wahrlich scheußliche Angst einjagte. Etwas Böses schien erwacht zu sein.
In jedem Menschen schlummert Gutes und Böses. Das vermeintlich Böse empfand sie als fremd, welches ihr nun täglich finster aus ihrem Spiegelbild entgegen starrte. Sie kannte sich nicht mehr, fürchtete sich nunmehr vor sich selber. Es fiel ihr immer schwerer, zur Arbeit zu fahren, im Supermarkt einzukaufen oder überhaupt auf der Straße herumzulaufen. Sie wagte nicht mehr mit anderen Menschen zu sprechen und igelte sich noch mehr ein.
Ihr Verstand hatte sich dem „Fremden“ noch nicht untergeordnet und so beschloss sie dem Phänomen „das Fremde in mir“ auf den Grund zu gehen. Sie wollte nicht den Verstand verlieren und eventuell eine verzweifelte Tat auf sich laden. Sie las von Selbstmördern, Amokläufern und anderen Schrecklichem, welches verzweifelte Menschen auslösen, nur weil sie mit etwaiger Fremdheit nicht fertig werden.
So begann ein umfangreicher Dialog mit der Fremdheit. Er war nicht immer einfach und klar und es verging eine Menge Zeit, doch eines Tages lächelte ihr Spiegelbild und es war ihr so vertraut, so wundervoll vertraut.
Bildmaterialien: Coverbild und Illustration gemalt von Helga Siebecke
Tag der Veröffentlichung: 24.07.2012
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Inspiriert durch das Buch von
Geli(vielleser9)
"Die fremde Frau"