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Skandal



Moni staunt



Anders als in den einzelnen Wissenschaften häufen weder die Philosophie noch die einzelnen Philoso-
phierenden Wissen an oder verfügen über definitive und allgemein anerkannte Ergebnisse. Sie sammeln historische Antworten, reflektieren diese und können dadurch zeitgebundene Blickwinkelverengungen, wie sie in manchen Spezialwissenschaften anzutreffen sind, vermeiden. Insofern kann der philosophische Diskurs als ein in sich nicht abschließbarer Prozess betrachtet werden – als ein kontroverses Gespräch über die Jahrhunderte hinweg.
Sie streiten sich schlicht vermutlich bis ans Ende aller Tage, staunt Moni. Sie verfolgen allerdings eine interessante Streitkultur, die nur Auserwählte als erleuchtend erfühlen können. Jeder andere tappt im Dunkeln, sitzt in der Höhle des Platon und starrt auf eigene Schattenrisse, die sie mit ihren schlechten Augen geradeso noch zu erkennen vermögen. Staunen können sie nicht, zu fragen wagen sie nicht, lernen bleibt eine leider seltene Glücksache, vom Wissen wissen sie rein gar nichts.

Die Philosophie baut auf das Staunen auf und sie staunt heute noch. Doch die Philosophen selber sind wenigstens aus der Höhle raus und staunen, dass die Heide wackelt, ohne irgendwann zu definitiven oder zu unumstößlichen Erkenntnissen zu gelangen. Sie wollen es nicht einmal, heißt es. Sie stünden darüber, sagen sie. Und das ist der „Skandal der Philosophie“, den allerdings nur Laien so empfinden würden, glauben sie.

Moni ist Laie und sie wagt die Frage: „Bringt uns das Staunen weiter?“ Immerhin denkt sie wenigstens darüber nach und staunt nicht nur. Das sei ihr einmal ausnahmsweise und gnädig gestattet.
Das Sich-Wundern, das kindliche Staunen, das Fragen, das Unbehagen an der Welt oder an sich selbst: all dies kann der Beginn philosophischen Denkens sein, wird behauptet.
Platon formulierte diese ursprüngliche Neugierde des Menschen:

„Das Staunen ist die Einstellung eines Mannes, der die Weisheit wahrhaft liebt, ja es gibt keinen anderen Anfang der Philosophie als diesen.“

Es ist ja ganz nett, sich zu wundern und zu staunen, findet Moni nun auch … aber irgendwann nach der ganzen Staunerei sollte daraus auch Erkenntnis werden, um Handeln anzuregen, wenn man es denn nicht selber kann oder will, durchaus auch durch Handlungsfähige.
Die jedoch machen nach wie vor was sie wollen. Sie handeln ohne zu fragen, ohne zu staunen und was das Schlimmste ist, auch ohne zu wissen, was letztlich geschieht, wenn’s schief geht. Sie sind aber erstaunt, dass es schief gegangen ist! Das können sie gut.

Die Plastiktüte wird erfunden. Sie ist praktisch und unkaputtbar, wie man so schön zu sagen pflegt. Kurz sie überlebt uns alle und die kommenden Genera-
tionen auch noch mit links. Es ist DIE Erfindung. Jeder Zahnstocher und Büstenhalter, der im Kaufhaus erworben wird, erhält eine passende Plastiktüte, obwohl sie bereits in einer anderen netten Plastikverpackung aufwendig eingeschweißt wurden.

Der Kunde ist König, er hat Anspruch auf Verkaufs-
kultur. Gedankenlos oder ganz selbstverständlich geht er mit seinen inzwischen fünf unverrottbaren Plastiktüten nach Hause, um sie dort sofort wegzuschmeißen. Der Müll wird entsorgt, nur weg ist er nicht wirklich. Moni weiß, dass der ganze Rotz zum Teil in den Weltmeeren kreist und das in einer schier unermesslichen Größenordnung. Fische nehmen Partikel auf und sie gelangen auf unseren Tisch. Guten Appetit!

Ja, darüber staunt Moni. Davon wussten die alten Philosophen nichts und sie sind natürlich nicht in Schuld für diesen ungeheuren Frevel zu nehmen aber sie würden darüber gewiss sehr staunen, so viel ist sicher.

Moni beschließt sich keine Plastiktüte mehr geben zu lassen. Es geht erstaunlicherweise auch völlig ohne. Die Sache mit dem wunderbaren Werkstoff Plastik ist ziemlich schief gegangen, findet sie und staunt nun doch darüber, dass keiner damit aufhören will. Die Angelegenheit sei alternativlos, sagen viele. Es ist zu spät und aus. Moni ist anderer Meinung.

Sie fragt sich, worüber wohl andere Menschen staunen?

Über die Sterne am Himmel? Über die Pyramiden von Gizeh? Über das Wunder unserer Existenz?
Sie persönlich staunt über alle möglichen Phänomene ihres Daseins. Über die Zeit und das Nichts, über Primzahlen und die Schönheit der Natur. Gelegentlich staunt sie auch über ihr schlimmes Knie, ihren Mann, über die Quantenphysik und zuweilen auch über ihr schönes Leben als Rentnerin. Ja, auch darüber, denn das leider ist nicht ganz so selbstverständlich wie mancher annehmen möchte.

In der überaus staunenswerten Online-Enzyklopädie Wikipedia lesen wir dazu, es handle sich dabei um einen "emotionalen Zustand als Reaktion auf das Erleben von etwas Unerwartetem, das nicht den bekannten Denkmustern entspricht." Weniger bürokratisch gesagt: Das Staunen rührt uns an. Es raubt uns die Fassung. Es weckt Ehrfurcht und Bewunderung. Es wirft uns gleichsam aus der Bahn.
Für die alten Griechen war es der Anfang aller Wissenschaft, aller Philosophie.

Keiner von uns staunt morgens gleich mal seine Nachtischlampe an. Staunen macht uns nur das Außerordentliche. Das Unerwartete. Das Rätselhafte. Staunen macht uns nur, was wir uns nicht gleich erklären können. Nicht das Überraschende oder Spektakuläre an sich ist auch schon staunenswert. Manche spektakuläre Dummheit (inklusive ihrer eigenen) verwundert Moni zwar. Doch staunen kann sie darüber nicht.

Das wahre Staunen ist ein Anfang. Eine Art qualifiziertes Nichtwissen: Es führt uns zu Fragen, bringt uns zum Denken. Wer ein echter Dummkopf ist, kann deshalb schlecht staunen – er glaubt ja schon alles zu wissen.
Monis eigenes Staunen geht im Grunde schon beim Staunen selber los. Wenn sie ans Staunen denkt, kommt sie aus dem Staunen sozusagen gar nicht mehr heraus.
Sie ist dabei ganz von dem Skandal der Philosophie abgekommen, was sie sehr erstaunlich findet.

Das sinnliche, nützliche, das metaphysische Staunen, und nicht zuletzt das Einfach-so-Staunen wäre nur dem Menschen möglich, lernt Moni und doch glaubt sie schon bemerkt zu haben, dass ihre gute Schäfer-
hündin sich so manchesmal gewundert hat, wenn sie etwas für sie Eigenartiges (für die Katze war dieses in der Regel weit aus weniger merkwürdig) vernahm, nur uferte das bei ihr vermutlich nicht in philosophische Betrachtungen aus. Ein Meinungsstreit mit der Katze fand deshalb auch nicht wirklich statt.
Der Hund widmete sich kurz nach der tierischen „Staunerei“ ungerührt wieder den wesentlichen Dingen: wo und wann gibt es Fressen und wer würde mit ihr endlich durch die Felder pirschen?

Zurück zu den philosophisch angehauchten Menschen und den anderen weniger angehauchten:
Wird sich nun etwas ändern oder nicht? Werden die Menschen klüger oder sind sie schlicht und einfach ewig und immer nur streitsüchtige oder verträumte Staunemänner?
Moni ist sich nicht sicher und hofft wieder einmal, dass andere eine Antwort finden.
Sie legt sich ihre vorsichtshalber zurecht.

Impressum

Bildmaterialien: Cover Aqarell von Helga Siebecke
Tag der Veröffentlichung: 28.01.2012

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