Moni und die Zerstreuung
Man sagt ja immer, dass die Zerstreutheit im Alter zunimmt. Es heißt, die Konzentrations-
fähigkeit lässt nach. Damit erhält der Begriff einen unangenehm negativen Anstrich.
Die Alte ist schon reichlich zerstreut, sagen die Leute und grinsen dabei mitleidig. Moni findet das untersuchungswürdig, denn wenn sie es richtig versteht, ist doch gerade die Zerstreuung das scheinbar zu erstre-
bende Ziel der Menschen, wenn sie einmal frei von Pflicht und Arbeitshetze sind.
Sie möchten und müssten sich unbedingt zerstreuen, sagen sie. In erster Linie ihre Gedankenwelt aber wie es aussieht nicht nur diese, denn sie eilen nun von Event zu Event, um nichts zu verpassen, was geil und angesagt ist.
Man lässt sich also erst einmal ordentlich mit cooler Mucke beschallen und hat sich damit schon ziemlich zerstreut. Ein paar Pillen ermöglichen weitere Zerstreuungen aber auch Durchhaltevermögen vor Ort. Man steht lieber stundenlang neben sich, kann und will nichts mehr Zusammenhängendes sagen als dass man wieder zu sich findet. Das versucht man dann mit letzter Kraft am Montagmorgen, wenn Zerstreuung nicht mehr gefragt ist. Auftrieb ist nötig. Die Herde der Menschen sehnen sich vermutlich immer wieder nach einem neuen Zugpferd, dass ihnen Auftrieb gibt.
Omas und Opas nehmen auch Pillen, allerdings soll damit einer zunehmenden Zerstreuung vorgebeugt werden. Moni wundert sich. Offensichtlich ist Zerstreuung nicht dem Zerstreutsein gleichzusetzen, außerdem ist immer zu unterscheiden, ob es sich um ältere oder jüngere Leute dreht. Moni findet das ungerecht. Aber darum geht es nicht. Gerechtigkeit bei der Ausle-
gung eines Begriffes ist nicht zu erwarten.
Vermutlich muss man näher den Begriff untersuchen, denkt Moni. Da spricht man von Zerstreuung und von Zerstreutheit.
„Die totale Zerstreutheit ist der Zustand planlos wechselnder Aufmerksamkeit, partielle Zerstreutheit ist mit der Konzentration der Aufmerksamkeit auf ein Gebiet verbunden“,
heißt es.
Also, sinniert Moni, die totale Zerstreutheit ist heutzutage wohl an der Tagesordnung. Das hört sich schlimm an. Allerdings in partieller Zerstreutheit zu leben, würde nichts anderes bedeuten als sich allmählich zu einem Fachidioten zu entwickeln, was nicht weniger bedenklich scheint.
„Nach EBBINGHAUS besteht die Zerstreutheit in dem »Zurücktreten und Unwirksambleiben solcher seelischen Gebilde, deren Hervortreten man nach Lage der jeweiligen Einwirkungen auf die Seele hätte erwarten sollen« (Grdz. d. Psychol. I, 575).
Nach KREIBIG ist Zerstreutheit jener Zustand, für welchen »ein rasches, planloses Hin und Herwandern schwach konzentrierter, unwillkürlicher Aufmerksamkeit über verschiedene sich zufällig darbietende Objekte charakteristisch ist« (Die Aufmerks. S. 29).“
Die Zerstreutheit ist also Schwäche in Sachen Konzentration. Aufmerksamkeit fehlt, also genügend Aufmerksamkeit, um etwas zu bewirken. Planlosigkeit herrscht. Und genau das ist es, was die Menschen suchen und für gut befinden. Spontaneität heißt das Schlagwort.
Moni findet, dass genau das die Zerstreu-
ungen der Gesellschaft beschreibt, die sie so notwendig zu brauchen vermeint. Man braucht Zerstreuung und wehrt sich dage-
gen zerstreut zu werden. Moni ist nun gänzlich verwirrt.
Der Begriff Zerstreuung und Zerstreutheit scheinen ziemlich nahe beieinander zu liegen. Man muss aufpassen, denn sie sind gegensätzlich belegt. Um es zu versimpeln, das eine ist gut, das andere ist schlecht. Oder scheint das nur so?
Es läuft vermutlich auf ein Zugleichsein hinaus, auf eine Simultaneität, einer Ko-
existenz, dem Außereinander in dem Mitein-
ander der Dinge, oder die Einheit der Nega-
tivität und Positivität der Dinge überhaupt, liest und meint auch Moni.
Man denkt, das ginge nicht? Doch! Ob alt oder jung, Menschen möchten sich zer-
streuen, obwohl sie manchmal zerstreut sind. Sie vereinen das Negative des Begriffes mit dem Positiven, suchen die Gedanken zu streuen, indem sie sich genau darauf konzentrieren. Das Mittel wäre die Zerstreuung.
Nur dass man dafür neben sich stehen und um jeden Preis aus sich herauskommen muss, das will der guten Moni nicht ein-
leuchten, denn sie zieht sich zur Zerstreu-
ung lieber in sich zurück und entdeckt Horizonte. Das geht auch.
Tag der Veröffentlichung: 20.03.2010
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