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Das Kartenspiel




Eine fast wissenschaftliche Betrachtung




erdacht von Helga Siebecke Wiesbaden 2008


Heute ist eigentlich gar nichts los. Draußen auch nicht, nicht einmal die Sonne ist zu sehen. Es ist einfach alles grau und Nichts sagend. Ich inklusive. Ich frage mich also: Was könnte ich jetzt wohl machen, damit dieses Gefühl endlich verschwindet. Eine GESCHICHTE SCHREIBEN; EINE LÄNGERE. Das wäre es. Mein eigenes verflossenes Leben ist allerdings schreibmäßig schon reichlich ausgelutscht. Bisher schöpfte ich ja aus diesem Stoff, der so üppig hinter mir liegt. Es ist wohl an der Zeit, dass ich mir wirklich etwas ausdenke. Das ist nämlich die wahre Kunst. Ich bewundere Menschen, die einfach aus dem Nichts eine Story herholen, diese super lebendigen Figuren aufbauen, die in eine spannende oder meinetwegen auch rührende Handlung verwickelt werden und es dabei auch noch schaffen, so scheinbar am Rande, unendliche Weisheiten einfließen zu lassen. Die so genannten Protagonisten schwätzen darüber hinaus cool und humorvoll oder ans Herz gehend herum und beeindrucken den Leser, zumindest soweit, dass er weiter gierig liest. So etwas möchte ich unbedingt auch können. Aus mir brechen aber leider immer nur kleine Gedichte oder kurze Geschichtchen hervor, mehr oder weniger gut. Das wurmt mich irgendwie und stimmt mich mies. Manchmal denke ich, über jeden Furz ist bereits ein Buch geschrieben, nichts ist den Schreiberlingen dieser Welt entgangen. Alles ist beleuchtet, durchleuchtet und bis zum Erbrechen durchgelabert. Muss ich nun auch noch zum tausendsten Male zum Thema Pipapo irgendeine Kopfgeburt rauslassen? All diese Gedanken entmutigen ziemlich. Sie bringen mich einfach nicht weiter. So habe ich manchmal den unangenehmen Eindruck, dass ich meine Zeit vergeude, denn ich hocke in letzter Zeit häufig am Computer und spiele ein furchtbar idiotisches Kartenspiel. Davon sollte ich aber besser keiner einzigen Seele erzählen, finde ich. Es wäre schlicht mehr als peinlich. Mir selber am meisten. Und das ist noch sehr untertrieben. Ich bin nämlich deshalb zuweilen auch ziemlich wütend auf mich, lasse es mir natürlich nicht anmerken. Warum mache ich also nichts Nützliches oder wenigstens etwas halbwegs Sinnvolles? Dazu fällt mir nicht die leiseste plausible Erklärung ein. Ich, die ich sonst immer soviel Wert darauf lege, ein kreativer Mensch zu sein, spiele am Computer Karten. Das wäre ein Skandal, wenn es jemand wüsste. Mein Image würde vermutlich schrecklich leiden. Man würde den Kopf schütteln, sich an die Stirn tippen, bestenfalls aber nur die Schultern zucken. Auch das reicht. Eigentlich würde ich, so entblößt, als Lügnerin dastehen. Das ist kein besonders gutes Gefühl, sich so als Primitivling geoutet zu haben. Man fühlt sich ganz sicher noch belämmerter als vorher. Immerhin glaube ich bis dato, dass die Freunde und Familie nur Gutes über mich denken, mich vielleicht sogar ein wenig beneiden um meine unendliche Kreativität. Würden sie davon Wind bekommen, dass ich andauernd Karten spiele, dann wär’s damit aus, mein diesbezüglicher Nimbus wäre verloren. Nur mein lieber Mann, der Bernd, der weiß davon. Aber er würde mich deshalb nie schmähen oder meine Kreativität anzweifeln, jedenfalls nicht so, dass ich es merke. Aber manchmal lächelt er so komisch, wenn er mich beim Kartenspielen erwischt, er sagt dennoch nichts dazu, kein Sterbenswörtchen. Nur ich weiß warum! Ich glaube, es ist nun an der Zeit, dass ich mir endlich ernsthaft Gedanken darüber mache, warum ich spiele und was dabei überhaupt in meinem Schädel vor sich geht. Entweder ich komme dabei zu einem Ergebnis, welches überzeugt und das Kartenspielen als notwendig und unbedingt wichtig für mein Leben definiert oder nicht, dann sollte ich es in Gottes Namen ein für alle Mal sein lassen. Falls Letzteres nicht funktioniert, wäre das Kartenspielen eindeutig nur eine verdammte, bescheuerte Sucht und nicht mehr. Was nach Gewinn dieser Erkenntnis geschähe, weiß ich im Augenblick allerdings überhaupt nicht. Aber soweit ist es ja auch noch nicht gekommen. Man soll unbedingt positiv denken und nicht immer gleich vom Teufel sprechen, dann stünde er ja bekanntlich sofort Gewehr bei Fuß. Jeder weiß das, deshalb beginne ich mit dem hochwissenschaftlichen und damit analytischen Untersuchungen meiner Gedanken-gänge beim Kartenspielen am Computer, in der Hoffnung auf positive, geniale Forschungsergebnisse. Ich beschließe, nach sorgfältiger Überlegung zur Herangehensweise, den Dekadensprung zu wählen, einen überschaubaren Zeitraum. Zur näheren Erklärung: es ist kein Eisprung oder Ähnliches, es handelt sich hier um die Beobachtung des inneren Spiels vom ersten bis zum zehnten Tag und nicht nur das, sondern vor allen Dingen die Untersuchung des Danachs. Interessant ist doch, wie bin ich anschließend drauf? Bin ich ausgehöhlt, leer, am Rande der totalen Verblödung, höchst unzufrieden, immerhin gewinnt man ja nicht immer, oder fühle ich mich ausgesprochen erholt und frei für neue geistige und andere Taten? Das sind Fragen, die förmlich nach einer Antwort schreien. Natürlich lechzt nicht die ganze Welt danach, denn Anderes steht an, zum Beispiel das Studieren der weisen und spannenden Erkenntnisse von Titan Dieter Bohlen. Aber mich und vielleicht einen kleinen interessierten Kreis von ganz besonderen Menschen, könnte meine wissenschaftliche Arbeit noch mehr Erleuchtung bringen. Immerhin.

Es folgen alsdann die Aufzeichnungen der internen Untersuchung:


1. Tag

9.43 Uhr

Die Küche ist aufgeräumt, der Proband (das bin ich, künftig kurz als P. bezeichnet) ist immer noch im Bademantel, sitzt vor dem PC und spielt. P. denkt: „Nur ein Kurzes, dann gehe ich ins Bad. Wahrscheinlich wasche ich mir die Haare, denn der Spiegel verhieß heute früh nicht viel Gutes. Ich möchte immer noch, trotz meines unglaublich hohen Alters schön aussehen, mich wenigstens so fühlen als ob.“ P. spielt ein wenig lustlos und denkt minutenlang nichts. Inzwischen waren es schon drei Spiele geworden. Alle verloren. P. schlurft nun leicht verärgert ins Badezimmer, vermeidet den üblichen, prüfenden Blick in den Spiegel, hat auch ganz bewusst keine Beleuchtung eingeschaltet. Für misslaunige Gesichter sei Stromvergeudung absolut nicht nötig, denkt P. trotzig. Der PC blieb allerdings angeschaltet. P. ist zu faul, ihn runter zu fahren.

11.30 Uhr

P. ist nun vollständig angezogen, die Haare liegen nach der Wäsche zufrieden stellend. P. ist dennoch etwas enttäuscht, denn die Waage vermeldete keine, nicht die geringste Gewichtsabnahme. P. gnäckert laut: „Wozu verkneift man sich eigentlich fast jeden beknackten Keks, wenn nicht einmal lausige 300 Gramm runterkommen und wieso rege ich mich darüber überhaupt andauernd auf?“ P. macht dabei seufzend aber schnell die Betten und setzt sich anschließend immer noch leise mosernd an den PC. Nur ein Spiel. Gewinnt! P. hat dabei nichts gedacht. Denkt aber nach dem die Gewinnerrakete aufstieg: „Donnerwetter! Gleich noch einmal gespielt.“ Gewinnt. P. steht auf, um die Waschmaschine anzuwerfen, anschließendes Blumengießen. Schließlich der Blick in den Kühlschrank. Die Beantwortung der Frage: „Was esse ich jetzt und was koche ich heute Abend?“ P. findet eine befriedigende Lösung und beschließt nach dem Imbiss (Rest vom gestrigen Essen) einen Spaziergang hinten rum zu unternehmen. Eine halbe Stunde durch die Felder, wozu wohnt man denn am Stadtrand. P. ist nach dem Gang mit sich und der Welt ziemlich zufrieden, schreibt am Nachmittag ein Gedicht und bearbeitet Fotos. Weitere Kartenspiele finden an diesem Tag nicht statt.

2. Tag

9.17 Uhr

P. hatte sich nach dem Frühstück mit Bernd noch einmal aufs Ohr gelegt. Draußen ist es neblig und irgendwie nicht sehr hell. Im Herbst nicht anders zu erwarten. P. sitzt im Bademantel am Computer und meckert, weil das Ding so langsam hochfährt. Im E-mailpostkasten nur Müll. P. zieht einen Flunsch und schreibt ein paar alberne Sätze ins Tagebuch. Sie arten übel aus. Der Nebel hat sich auch noch nicht gelichtet. Zeit für ein Spielchen. P. verliert, verliert, verliert und kommt ins Grübeln: „Man müsste ein Bild malen, ein ganz freundliches, ein helles mit viel Wärme. Vielleicht ein Motiv aus der Toskana, mit Zypressen, Olivenhainen, einem wunderschönen Haus auf einem Hügel, die welligen goldenen Felder…ach, ja…“ P. hört mitten im Spiel auf, geht sinnend aber mit leuchtenden Augen ins Bad, schaut in den Spiegel und lächelt sich zu. Die üblichen lästigen Hausarbeiten werden mit affenartiger Geschwindigkeit erledigt. Dann steht P. an der Staffelei. Kein Kartenspiel mehr an diesem Tag.


3. Tag

8.30 Uhr

P. sitzt im Bademantel an der Staffelei. Ein wenig gelbe Farbe ist auf den Teppich gekleckert. P. ärgert sich darüber, schließlich hätte sie ja den Teppich abdecken müssen oder zurückschlagen. Aber nun war es zu spät. Maler Klecksel halt! P. summt trotzdem vor sich hin und freut sich über ihr naives Bild. Die Farbe sollte nun erst einmal trocknen. P. gönnt sich ein Pause und spielt das Kartenspiel, nebenbei dudelt das Radio, die Nachrichten um Neun Uhr verheißen wenig Gutes, die Finanzwelt ist am Zusammenbrechen, die Kanzlerin verspricht die Managergehälter zu kontrollieren, in Afrika und Asien verhungern täglich tausende von Menschen. P. denkt: „Man könnte sämtliche Managergehälter ein Jahr lang nach Afrika schicken und diese gierigen Bankertypen für Ihr Unvermögen mit Harz IV bestrafen.“ P. macht noch ein Spielchen, höchste Schwierigkeitsstufe, verliert und geht ins Bad, kopfschüttelnd, ernst. Immer noch sinnend werden alle Haushaltspflichten erledigt. P. sitzt den kompletten Nachmittag am Computer und schreibt zwei furchtbar böse und empörte, gesellschafts-kritische Gedichte, findet die Welt mehr als beschissen und vor allem ungerecht. P. schaut auf ihr Bild, die Farbe ist getrocknet und sie findet es zu fad, findet zu wenig Dramatik und ist nicht wirklich zufrieden mit ihrem Werk. Es muss aussehen wie eine Insel, wie eine letzte friedliche Insel, eine Zufluchtsstätte der landschaftlichen Schönheit, der wahrhaften und natürlichen Harmonie. P. spielt nachdenklich ihr Kartenspiel und bricht ab. Es ist weder interessant, noch wichtig.


4. Tag

9.31 Uhr

P. spielt das Kartenspiel fast ohne hinzuschauen, ganz mechanisch mit leerem Blick. Ein Außenstehender würde denken: „Die hat ’ne Vollmeise.“ P. hat keine Vollmeise, wenn auch manchmal einige Vögel zu ticken scheinen aber nur dem Anschein nach. Sie hat ein reiches Innenleben und kann dabei Karten spielen. Während des stupiden Spieles, laufen die Gedanken wie von selbst und wenn sie nicht weiter wissen, dann machen sie eben eine Pause. P. denkt dann nichts. Generierung nennt man diesen Zustand. Man wird dabei völlig ruhig. Mancher sagt unwissend und altklug, dies wäre eine Geistesabwesenheit aber das stimmt nicht, denn der Geist ist ja vorhanden, er ruht sich nur aus. P. glaubt das jedenfalls. An diesem Tag ist es tatsächlich so, der Geist verhält sich still. „Vielleicht schöpft er ja auch Kraft während des Kartenspiels“, denkt P. hoffnungsvoll. Danach denkt sie gar nichts mehr und spielt einfach nur das Spiel, verrichtet allerdings zwischendurch die notwendigen Arbeiten in der Wohnung, spielt am Nachmittag sogar ein wenig auf dem Klavier, wenn auch nicht besonders gut, aber immerhin, alles hat sie noch nicht verlernt und wartet schließlich sehnsüchtig auf Bernd, damit der Tag endlich einen Sinn findet.

5. Tag

Ich beschließe die Untersuchung vorzeitig abzubrechen, denn ich denke, zugegeben etwas voreilig erscheinend, genug in Erfahrung gebracht zu haben und kann jetzt schon ergiebig schlussfolgern.



Ich erkenne fast triumphierend, dass die Betrachtung etwas gebracht hat, denn selbst der Einfachste und gerade der, sieht, dass bei meinem so primitiv ausschauenden Kartenspiel, wertvolle Gedanken fließen. Gut, manchmal nicht schrecklich sprudelnd und hüpfend vor Lebensfreude, aber sie sind unterwegs, machen auch einmal Pause, wie im richtigen Tagesgeschehen eben. Ein Mensch mit Geist freut sich, denn der Schein trügt, es ist nicht geistlos, Karten zu spielen, ganz im Gegenteil, Gedanken brechen zu neuen Ufern auf, Kopfgeburten drehen sich an der Nabelschnur des Hirns, begierig das Licht der Welt zu erblicken. Und dies ist bei weitem nicht alles. Es kann nämlich durchaus passieren, dass man nach dem Spiel, egal ob verloren oder gewonnen, frohgemut die Haushaltsarbeit bewältigt oder, was noch viel wertvoller erscheint, man sich lächelnd wohlgefällig im Spiegel anschaut. Ich konstatiere auch, dass das Weltgeschehen während des Kartenspiels absolut nicht an mir abgleitet, wie vermutet werden könnte, nein, Nachrichten erreichen mein Gemüt und lassen mich sehr nachdenklich und zornig werden, mein Dichterherz wird tosend umbrodelt, wütende Verse sind das prompte Ergebnis. Im Kartenspiel, welches stets so niederträchtig als Idiotenbeschäftigung abgekanzelt wird, schlummert der Samen der Kreativität. Ich möchte fast behaupten, dass jeder Künstler, Dichter oder Denker, also jeder wirkliche, zunächst Karten spielt, ob nun am Computer oder mit schnöden Papierkarten, die meisten selbstverständlich heimlich, wegen des Rufs und so. Aber sie tun es ganz gewiss, denn ohne Samen, man weiß das ja, entwickelt sich rein gar nichts.


Nachwort

Was soll ich sagen, das Ergebnis war zu erwarten. Ich habe es mir so oder ähnlich gewünscht, denn ansonsten müsste ich doch zugeben, dass ich einer hirnlosen, suchtähnlichen Beschäftigung vermehrt nachgehe. Das wäre bitter. Man muss eben nur ordentliche Begründungen erdenken, sein Tun so verteidigen, dass ein jeder von der noch so bescheuertesten Handlung positive Eindrücke mitnimmt. Jeder Politiker, jeder Chef überhaupt, verhält sich so oder ähnlich. Manchmal klappt das sogar, doch es soll auch Bürger, Leute, Mitmenschen, Künstler auch Denker geben, die sich nicht so plump überzeugen lassen. Sie spielen verstockt kein einziges Kartenspiel und bringen trotzdem die wundervollsten und erstaunlichsten Sachen raus. Vermutlich haben sie einen mir leider völlig unbekannten Hort ihrer kreativen Sämereien. Vielleicht komme ich aber noch während des Kartenspiels dahinter. Ich gebe nie auf.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 17.10.2008

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