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Wir sitzen alle im selben Boot

Ich räkele mich auf dem Balkonstuhl und schaue in den Himmel. Blau leuchtet er mir entgegen. So ein strahlendes Blau habe ich seit meiner Kindheit nicht gesehen. Es ist, als würde er sich freuen, seine ursprüngliche Schönheit zeigen zu dürfen.
Auf den Straßen stehe ich nicht mehr im Stau, der Verkehr ist zurückgegangen. Es fliegen kaum noch Flugzeuge, außer die, die Frachten transportieren. Der Lärm hat bedeutend nachgelassen. Die Industrie liegt lahm, die Schadstoffemissionen sinken. Die Luft ist klarer geworden. Ich kann wieder besser atmen, zumindest, wenn ich keine Maske aufhabe. Deutschland könnte sein einst gesetztes Klimaziel erreichen. Entschleunigung ist angesagt.
Genüsslich beiße ich in das frische Brötchen, dass ich am Morgen gekauft habe. Beim Bäcker las ich unter den Hinweisschildern, die das Virus so mit sich bringt, die Aufforderung: »Bitte nicht mit Karte bezahlen.« Mein Erstaunen war groß. Ich dachte an unsere Skandinavienurlaube zurück. Dort konnte man bargeldlos die kleinsten Beträge abbuchen lassen. Die Bewohner der nordischen Länder sind dabei zu vergessen, wie sich Bargeld anfühlt.
Hätten wir nach einer Überwindung von Corona nicht die Chance, zum bargeldlosen Bezahlen überzugehen, am besten in kontaktloser Form, also ohne irgendwelche Tasten berühren zu müssen? Für Viren und Bakterien wäre das ein kleiner Albtraum.
 Gern wird gesagt, die Menschen seien durch die Krise freundlicher geworden. Ich bemerke keinen Unterschied. Diejenigen, die mir vor dem Virus freundlich zugetan waren, sind es bis jetzt nicht stärker, und die, die mich nie mochten, sind trotz Corona noch genau so mufflig wie vorher. Aber die Hilfsbereitschaft hat zugenommen. Personen bieten Gebrechlichen und anderen Risikopersonen an, für sie einzukaufen. Frauen, die eine Nähmaschine besitzen, nähen Masken und verschenken diese an bedürftige Einrichtungen. Es werden Hilfen beim Gassigehen mit Hunden angeboten und manch einer möchte etwas für Obdachlose tun. Fußballspieler spenden wegen Corona von ihrem Gehalt, im Ausland sogar Minister ... All das finde ich schön.
Wenn allerdings eine Krise/Katastrophe vorbei ist, rücken die freiwilligen Helfer leider wieder in den Hintergrund. Sie fallen nicht auf, helfen nicht mehr oder werden von der Öffentlichkeit vergessen. Das ist schade. Vielleicht wird das durch das Virus anders, weil sich das positive Gefühl sowohl beim Helfen als auch beim Annehmen der Hilfe einbrennt. Je öfters wir den Mitmenschen etwas Gutes tun oder uns geholfen wird, desto größer wird die Erinnerung daran sein. Wir werden häufiger entsprechend handeln. Wäre das nicht eine Chance für die Zukunft?
Was ich ganz und gar nicht verstehe ist, wieso erst eine Pandemie kommen muss, um von amtlicher Seite aus zu erkennen, wie wichtig doch die Berufe im medizinischen Bereich und in der Pflege sind. Jetzt hat man vor, sie finanziell aufzuwerten. Hoffentlich bleibt es nicht nur beim Plan, sondern wird auch umgesetzt, denn diese Berufsgruppen haben schon immer Großes geleistet und durch den gefährlichen Erreger noch Größeres.
 Auf der anderen Seite deckt Corona das Schlechte in uns auf. Kommt es hart auf hart, gewinnt der Egoismus die Oberhand. Wie viele Menschen würden im Affekt nur an sich denken, wenn das eigene Leben spontan bedroht würde. Das nennt man Selbsterhaltungstrieb. Später urteilen Außenstehende rasch negativ über derartige Verhaltensweisen.
Umso mehr erschreckten mich die Hamstereinkäufe. Etwas ratlos betrachtete ich im Supermarkt die leeren Regale. Toilettenpapier? Fehlanzeige. Wir mussten unsere Toilettenpapierreste, die mit weihnachtlichen Motiven geschmückt waren, aufbrauchen. Ich wollte sie für das nächste Fest aufheben. Ich weiß, dass es Schlimmeres gibt, doch mit den Enkeln darf ich keinen persönlichen Kontakt haben. Das miteinander Herumtoben und Schmusen fehlen. Das macht mich extrem traurig.
Weilte ich in den 1950er Jahren bei meiner Oma zu Besuch, musste ich auf dem WC, das sich eine halbe Treppe tiefer befand, fein säuberlich klein geschnittenes Zeitungspapier verwenden. Toilettenpapier gab es wohl damals nicht oder war schlicht Geldverschwendung ... Das nur als Denkanstoß.
Mehl, Nudeln, Hefe und was weiß ich nicht alles war ausverkauft. Wie mag es den körperlich Behinderten, den greisen Senioren oder den Kranken ergangen sein, die nicht die Kraft aufbringen konnten, um eilig genug an die Paletten mit der ersehnten Ware zu kommen?
 Da wir grad bei den Negativeigenschaften sind: Aus den Medien erfahre ich, dass es Mitbürger gibt, die anderen bei Regelverstößen verpetzen. Ich nenne das denunzieren. Die Polizei hingegen bezeichnet es als Hinweis aus der Bevölkerung. Sie geht ihm nach.
Es ist nicht einfach, den Überblick über all diese Regelungen in den unterschiedlichen Bundesländern zu behalten. Mich nervt, dass jeder Landesfürst etwas anderes verkündet, nur weil er sich exponieren will. Die Folge ist, dass das Volk nicht mehr so recht durchblickt, hat es doch gelernt, global zu denken.
Mir und meinem Mann ist folgendes passiert:
Der Landespräsident unseres heimatlichen Sachsens, ich glaube vorher bereits die Bundeskanzlerin, haben festgelegt, dass Ausflüge wieder gestattet sind. Der Erstere hat deren Entfernung sogar definiert. Er sagte, wir könnten soweit reisen, wie wir es ohne Übernachtung schaffen würden. Diese Aussage hat es auf die Titelseite der Leipziger Volkszeitung geschafft, was meinen Mann und mich ermutigten, auf den Dauercampingplatz nach Sachsen-Anhalt zu fahren, wo unser Wohnwagen steht. Die Landesgrenzen zwischen beiden Bundesländern sind wie gewohnt geöffnet. Wir wollten nur nach dem Rechten sehen, sauber machen, das welke Laub beseitigen und uns anschließend in die Sonne fläzen. Die 45 Minuten Heimfahrt per Auto würden eh keine Hürde sein, die Nacht wieder im sächsischen Bett zu verbringen. Umso enttäuschter waren wir, als vor der geschlossenen Zeltplatzschranke gleich vier rote Zettel informierten, dass nur den Sachsen-Anhaltinern Zutritt gewährt wurde, um ihren Stellplatz zu warten.
Ich weiß nicht, welcher Corona-Regelung ich trauen kann.
Ein simples Beispiel ist der aktuelle Mund- und Nasenschutz, im Volksmund  Maske genannt. Ich grübele, was wohl dahinter stecken könnte, dass er zu unterschiedlichen Zeitpunkten eingeführt wird. Wir Sachsen gehören nach Jena und Halle mit zu den Vorreitern.
Noch mehr Fragezeichen tauchen auf, weil anfangs gesagt wurde, eine Maske würde überhaupt nichts bringen, später, sie würde die Mitmenschen vor mir schützen, und jetzt bekomme ich zu hören, dass sie überdies ein wenig Selbstschutz bietet. Mein Vertrauen schlägt Purzelbäume. Das ist schlimm, da ich derzeit jede Regelung hinterfrage, sogar den Shut-Down, weil er für viele Menschen finanzielle und psychische Nöte mit sich bringt. Ist er wirklich notwendig? Ich glaube schon, aber hinterher weiß man immer mehr. Ich halte allen Verantwortlichen und auch uns zugute, dass die gefährliches Situation, die wir gerade erleiden müssen, ein schlüpfriges Parkett ist.


 Sollte das Virus im Kampf mit uns unterliegen, hoffe ich, dass man auf eine eventuell folgende Pandemie gut vorbereitet ist. Die Daten und Statistiken zur Corona-Krise, die derzeit gesammelt und bereits ausgewertet werden, müssten helfen, Pläne zu entwerfen, nach denen sich die Menschheit vertrauensvoll richten könnte. Dafür dürften Kosten und Gewinndenken keine Rolle spielen.
Sind das zu viele Konjunktive?
Ich setze zusätzliche drauf: Mir würde es gefallen, wenn der Himmel sein Leuchten für immer bewahren könnte, und wenn weiterhin weniger Lärm durch unsere Ohren dröhnen würde. Die klare Luft, die derzeit durch die Nasen aller Lebewesen strömt, ist wie Balsam und sollte beibehalten werden. Es wäre ein Beitrag, die Immunabwehr zu stärken.


Die Zeit zum Umdenken haben wir.

Impressum

Texte: Brigitte Voß
Cover: Brigitte Voß
Tag der Veröffentlichung: 24.04.2020

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