Mein Vater
Mein Vater wurde als viertes von sechs Kindern 1895 im Kreis Ortelsburg in Ostpreußen geboren. Um die Jahrhundertwende verließen seine Eltern Ostpreußen und wählten den Kohlenpott in Nordrhein Westfalen als neue Heimat. Mein Vater ist in Wattenscheid eingeschult worden.( Damals war Wattenscheid eine eigenständige Stadt, jetzt gehört Wattenscheid, wenn ich richtig unterrichtet bin zu Bochum.) Er war ein aufgeweckter Schüler und sein Lehrer hätte ihn liebend gern zum Gymnasium geschickt. Meine Großeltern waren dafür aber gar nicht zu haben. Der Großvater war Bergmann, hatte einige Mäuler zu stopfen und verdiente nicht viel. Seine Devise war :“ Der Junge geht zum Pütt, Geld verdienen.“ Und so geschah es auch. Ich glaube mein Vater hat sein Leben lang ein wenig darunter gelitten, dass ihm der Besuch des Gymnasiums verwehrt wurde.
Als 1914 der erste Weltkrieg begann, wurde auch mein Vater einberufen. Er wurde 1916 bei der Schlacht um Verdun verwundet und wurde nach seinem Lazarettaufenthalt aus dem Militärdienst entlassen.
Mein Vater arbeitete nach dem Krieg im Bergbau als Hauer unter Tage Er lernte 1926 meine Mutter kennen, im Mai 1927 heirateten sie und 1928 wurde mein Bruder geboren. In den zwanziger Jahren herrschte nach dem Krieg überall große Arbeitslosigkeit. Auch mein Vater verlor seinen Arbeitsplatz. Bis dahin war mein Vater parteilos und politisch überhaupt nicht aktiv.
Als Hitler dann 1933 an die Macht kam, die Nazis ihm Arbeit versprachen, wenn er der Partei beitreten würde, ging er darauf ein und wurde Parteimitglied. Er bekam Arbeit auf einer Zeche in Essen-Kray. Im September 1938 kam ich zur Welt, ein Jahr bevor der zweite Weltkrieg anfing. Geboren wurde ich noch in Wattenscheid. Aber 1939 sind wir dann nach Essen-Kray gezogen . Ich bin dort groß geworden, habe dort geheiratet, alle drei Kinder dort bekommen und erst 1968 sind wir nach Hamm gezogen.
Wenn ich an meine Kindheit und an meinen Vater zurückdenke, habe ich einen liebevollen, treusorgenden Familienvater in Erinnerung. Ich kann mich an ein Weihnachtsfest erinnern, es muss 1942 oder 43 , mitten im Krieg gewesen sein, an dem ich eine wunderschöne Puppenstube bekam, naturgetreu unserer Wohnstube und unserem Schlafzimmer nachgebaut. Mein Vater hatte sie gebastelt. Kaufen konnte man in diesen Zeiten so etwas nicht. Ich weiß nicht wie viel Wochen er daran im Keller gearbeitet hatte, um mir diese Freude zu bereiten. Und ich habe mich riesig gefreut.
Mein Vater war unter Tage im Bergbau als Hauer beschäftigt. Ich glaube, das war auch mit ein Grund, warum er während des Krieges nicht eingezogen wurde. Vielleicht war es aber auch aus Altersgründen. Er war Jahrgang 1895 und hatte als Kriegsteilnehmer schon den 1. Weltkrieg mitgemacht.
Als der zweite Weltkrieg dann endlich zu ende war, es so gut wie nichts zu essen gab, sorgte mein Vater dafür, dass immer etwas da war. Der Schwarzmarkt blühte, und mein Vater versorgte uns mit Nahrungsmittel vom Schwarzmarkt. Er bekam ab und an eine Schnapszuteilung auf der Zeche, die er gegen Nahrungsmittel tauschte. Eine Tages kam er mit einem ganzen Eimer voll Bismarckheringen nach Hause. Die ersten habe ich mit Heißhunger gegessen, die letzten konnte ich dann allerdings nicht mehr sehen. Und die Hamsterzeit blühte. Auch mein Vater war unterwegs. Einmal brachte er einen großen Klumpen Butter und Brot mit, Das war ein Festessen.
Und dann nahte im Herbst 1945 mein erster Schultag und die erste Hausaufgabe, bei der ich mich sehr schwer tat. Wir sollten eine ganze Tafel voll „i“s malen. Ich hatte unheimliche Schwierigkeiten damit, meine Mutter verlor die Geduld dabei. Bei mir gab es Tränen. Da erbarmte sich mein Vater, setzte sich zu mir und mit unendlicher Geduld schaffte er es schließlich dass meine Tafel voller „i“s war.,
Von da an betrachtete er es als seine Aufgabe , sich um meine Hausaufgaben zu kümmern. Und ich wurde eine gute Schülerin. Als ich im dritten Schuljahr schon den Wunsch äußerte, dass ich nach der vierten Klasse zur Mittelschule ( der späteren Realschule) wechseln wollte, unterstützte er mich voll und ganz , gegen den Willen meiner Mutter. Sie meinte ein Mädchen braucht das nicht, dass sie sowieso heiraten würde und nach der Volksschulzeit lieber eine Haushaltsschule besuchen sollte. Mein Vater und ich setzten uns aber durch. Dafür bin ich meinem Vater noch bis heute sehr dankbar.
Ich glaube , er dachte daran, dass seine Eltern es ihm verwehrt hatten und er es mir auch aus diesem Grunde schon ermöglichen wollte, obwohl die 10, 00 DM Schulgeld meinen Eltern bestimmt nicht leicht fielen. Mein Vater verdiente wenig, so dass wir uns nicht viel leisten konnten.
Ende der vierzieger Jahre bekam er Silikose, eine Berufskrankheit von Bergleuten. Die Silikose ist eine Lungenerkrankung, die durch die Inhalation von mineralischen Staub verursacht wird. Zunächst einmal wurden meinem Vater 60 % anerkannt. Das hatte zur Folge, dass er nicht mehr als Hauer vor Kohle im Streb arbeiten konnte, Der Streb ist beim Kohlebergbau der Teil eines Flözes in dem die Kohle abgebaut wird. Ein Hauer ist ein Bergmann, der alle Gesteins- und Gewinnungsarbeiten zur Erschließung und zur Gewinnung von mineralischen Rohstoffen verrichtet. Mein Vater arbeitete nun im Gedinge. Das Gedinge war eine spezielle Form der Entlohnung. Der Arbeiter wurde nach erbrachter Leistung bezahlt, z. B. der Anzahl der geförderten Wagen. Und das bedeutete weniger Geld.
Anfang der fünfziger Jahre wurden meinem Vater 80 % anerkannt. Er arbeitete noch zwei oder drei Jahre über Tage und bekam eine kleine Unfallrente. Dann kam der Tag als ihm 100 % anerkannt wurden und er in Rente gehen konnte.
So vergingen meine Kinderjahre in liebevoller häuslicher Atmosphäre. Bis dann die Pubertät bei mir begann.
Ich fing an mich mit der Vergangenheitsbewältigung, d. h. mit der Nazizeit zu beschäftigen. Unsere junge Geschichtslehrerin , Pfarrerstochter und Sozialdemokratin, nahm diese Zeit ausführlich mit uns durch und weckte mein Interesse. Ich las alles, was ich dazu in die Finger bekam. Das erste Buch war „das Tagebuch der Anne Frank“ , später folgte „Die weiße Rose.“. das tragische Schicksal der Geschwister Scholl..
Das alles führte dazu, dass ich endlose Diskussionen mit meinem Vater führte. Ich wusste, dass mein Vater zur Nazizeit in der Partei war. Das habe ich noch nicht einmal als so schlimm empfunden, da ja die meisten Bürger sich verblenden ließen und diesem Herrn hinterher liefen. Mein Vater hatte die Entschuldigung, dass er durch seine Parteizugehörigkeit wieder Arbeit bekam und er die Verantwortung für die Familie hatte. Das verstand ich ja. Aber was ich nicht verstehen konnte war, dass er auch noch den Posten eines Blockwarts angenommen hatte. Das war zwar der rangniedrigste Parteifunktionär innerhalb der NSDAP. Er war für etwa 40 bis 60 Haushalte zuständig. Aber ich fragte immer wieder warum ??? und wollte die Entschuldigungen nicht gelten lassen.
Ich nahm es ihm auch nicht ab, dass er von dem Holocaust nichts gewusst , und er immer noch nicht 10 Jahre nach dem Naziregime an die Greueltaten, dieses Regimes glaubte.
„Das verstehst du nicht, du warst damals noch zu klein, Ich will darüber jetzt nicht mehr diskutieren, basta, „ Nach so einer Debatte zog ich dann immer enttäuscht und wütend ab. Ab da hatte ich ein gespaltenes Verhältnis zu meinem Vater. Diese kindliche naive Liebe war auf einmal nicht mehr vorhanden. Ich begann meinen Vater mit anderen Augen zu sehen.
Die Tatsche, dass er einem russischen Kriegsgefangenen, der auf seiner Schicht war , regelmäßig eine Stulle mit zur Arbeit nahm, obwohl das verboten war, und meine Mutter schreckliche Angst hatte, dass das mal auffliegen könnte, stimmte mich allerdings ein wenig gnädiger.
Heute im weisen Alter von über 80 Jahren, weiß ich , dass in diesen pubertierenden Jahren damals und auch heute die Jugendlichen zur Rebellion neigen. Die Eltern keine Ahnung haben, sie nicht verstehen , dass sie alles falsch machen und dass sie, wenn sie einmal Kinder haben werden, alles besser machen würden.
So war es bei mir, auch bei meinen Kindern und jetzt auch bei meinen Enkelkindern.
Erst in den letzten Lebensjahren meines Vaters, als es ihm gesundheitlich nicht mehr gut ging, und ich absehen konnte, dass seine Jahre gezählt sind , wurde ich nachsichtiger mit ihm, sah ein, dass ich damals als junger Mensch zu hart mit ihm zu Gericht gegangen bin. Ich ließ gelten, dass er bei allem , was er tat, immer nur an seine Familie gedacht hat.
Als es mit ihm zu Ende ging, habe ich an seinem Bett gesessen, habe seine Hände gehalten , bis er seine Augen für immer schloss. Ich weiß nicht, ob er mich noch wahrgenommen hat. Ich hoffe es und bin froh, dass ich in seiner letzten Stunde bei ihm war und meinen Frieden mit ihm geschlossen habe.
Mein Vater ist trotz der Silikose, 85 Jahre alt geworden. Meine Befürchtungen, dass er am Ende ersticken würde, ist nicht passiert. Sein Herz hat ganz einfach aufgehört zu schlagen. Er ist ganz ruhig eingeschlafen.
Texte: Doris Frese
Bildmaterialien: Coverfoto Archiv
Tag der Veröffentlichung: 04.11.2015
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