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Die Brüder



Auf dem Weg, der zwischen den Bäumen steil den Berghang hinab führte, kam eine Frau durch den Schnee gestapft. Rechter Hand lagen große Felsbrocken herum, an deren windabgewandter Seite man etwas leichter vorwärts kam; nach links ging es tief ins Tal, und die Äste der Buchen, die da weit unten standen, reichten gerade bis hier hoch.

Britta hieß die Frau; sie hatte einen dicken wollenen Rock an und trug Stiefel aus weichem, gefüttertem Leder und eine Jacke aus dunkelblauem Stoff. Sie hatte Handschuhe an und eine Fellmütze auf dem Kopf, unter der ihre Haarspitzen blond wie Stroh und ebenso wirr in die Stirn ragten. Sie hatte himmelblaue Augen, eine Stupsnase und sehr schmale Lippen, die von der Kälte blass waren, während ihre Wangen zu glühen schienen.

Sie mochte Mitte dreißig sein, und sie hatte offenbar eine stämmige Figur, wenn die dicke Kleidung nicht etwa täuschte. Jedenfalls kämpfte sie sich kraftvoll durch den Schnee, und man sah wohl, dass sie sich durch die Widrigkeiten der Natur, die diese Jahreszeit bescherte, nicht aufhalten ließ. An ihren Armen hingen zwei große Körbe, die leer waren und die bei jedem Schritt hin und her schwangen, als wollten sie sich losreißen.

Der Schnee wurde wieder tiefer, und Britta begann zu fluchen und schimpfte auf jemanden und blieb schließlich stehen, um zu sehen, wo entlang sie am besten weitergehen sollte. Und da sie schwieg und das Knirschen ihrer Tritte verstummte, hörte man nur das Gekrächze der Raben durch den Wald schallen, die in dichten, schwarzen Scharen über den Himmel flatterten, sich auch zwischen den Bäumen zerstreuten oder wie von etwas angelockt plötzlich nach einer Richtung umschwenkten.

Ein paar landeten, als Britta sich nicht weiterbewegte, ganz in ihrer Nähe auf dem Schnee, und Britta dachte, so mühelos müsste man darüber laufen können; sie hofften vielleicht, die Frau werde ihnen irgendetwas zu futtern hinwerfen. Dann musste sie schmunzeln: wenn sie ein Rabe wäre, würde auch die Welt für sie wahrscheinlich ganz anders aussehen und es brächte ihr keinen Vorteil. Oh nein, da hoch oben im schwankenden Geäst in einem liederlichen Nest zu hocken, jedenfalls sah es von hier liederlich aus, das wäre nicht erstrebenswert. Und wie sie nach jeder Krume betteln, die sie leider nicht bekommen. Selbst wenn Britta ihnen jetzt etwas geben wollte, so hatte sie doch nichts dabei, denn sie war erst auf dem Hinweg zum Bäcker.

"Und nachher", sagte sie laut zu den Vögeln, "wenn ich wieder vorbeikomme, wenn meine Körbe voll sind, dann kriegt ihr auch nichts, und ich sage euch auch warum: weil ihr nicht so schön singen könnt zur Sommerszeit, wie sich das für ordentliche Vögel gehört. So groß, mit so einem großen Schnabel, und dann bringt ihr nichts als hässliches Krächzen und furchteinflößendes Schreien heraus, pfui, man tut ganz recht daran, euch zu den traurigsten und langweiligsten Gesellen zu rechnen, die hier so umherfliegen. Ist mir auch egal, ob vielleicht manche von euch Boten des Walvaters sind und unsere Sprache sprechen. He, du da", rief sie einem der Raben zu, der sich gerade ein wenig abwandte, als wollte er sein kleines schwarzes Gesicht verbergen, auf dem Britta eben einen silberfarbenen Fleck über den Augen wahrgenommen hatte, "bist du vielleicht der Hugin? He? Oder du! Bist du Munin? Des Walvaters Gedächtnis?"

Sie lachte wieder, dann fügte sie hinzu "Dann merk' dir mal was, von mir kriegt ihr kein Krümelchen, bevor ihr nicht hübsch singen lernt. Bis zum Frühling ist's noch Zeit, da könnt ihr bis dahin üben. So und jetzt habe ich lange genug hier rumgestanden." Sie stapfte weiter, und die Vögel flogen erschrocken auf und davon. Britta hatte ein paar Schritte getan, dann murmelte sie noch "Na, nimm' mir's nicht übel, Alter, aber ehrlich, es gibt so viele Geschöpfe, die tausendmal schöner anzusehen sind als diese hässlichen Raben, ist mir schleierhaft, was du an denen findest, immer sehen sie so aus, als warten sie bloß drauf, dass man tot umfällt, nicht mal ihre Federn kann man gebrauchen."

Plötzlich hörte man ein Stimmchen rufen. "Britta! Britta, warte." Sie drehte sich um und auf ihrer Spur kam ein Mädchen gesprungen, das versuchte, immer in Brittas Fußstapfen zu treten, aber es fiel ein paar mal hin und der Schnee blieb auf dem Gesicht haften und es machte ihr offenbar großes Vergnügen und sie rief immerzu "Britta, so warte jetzt endlich." "Lisbeth, was machst du hier? Geh' sofort zurück, ich krieg' einen Heidenärger, wenn du dich hier im Wald rumtreibst." Das Mädchen blieb stehen und schaute zurück, wo ihrer beider Spuren zwischen den Bäumen im Wintergrau verschwanden. "Ich kann nicht umkehren, sieh nur, wie finster es dort ist." "Ach ja? Und wie hast du's bis hierher geschafft?"

Das Mädchen, dessen Name Elisabeth war, setzte eine trotzige Miene auf und kam langsamer auf Britta zu. Die sagte "Na, nun komm' mit, aber eins sage ich dir, wenn ich Ärger krieg' deswegen, schieb' ich alles auf dich." Elisabeth kämpfte sich an Britta vorbei und marschierte tapfer vorneweg. "Das darfst du ja nicht", sagte sie fröhlich. "Oh, auch noch frech werden, was für ein hochnäsiges Fräulein, ich werde dich ..." "Mit wem hast du da geredet?" "Was?" "Mit wem hast du vorhin geredet?" "Mit niemandem." "Ich hab's genau gehört, du hast mit den Raben gesprochen." "Warum fragst du noch, wenn du's weißt." "Was hast du gesagt? Ich will es wissen." Sie ging voran und kam außer Puste beim Laufen und Reden, und ihr Atem verflog in der kalten Luft. "Nichts besonderes", murmelte Britta. "Bestimmt hast du ihnen wieder leckere Brotkrumen auf dem Rückweg versprochen." "Ja, genau, das hab' ich."

Elisabeth drehte sich für einen Augenblick zu ihr um und prüfte ihren Gesichtsausdruck. Sie wusste, nein, sie glaubte zu wissen, dass ihre Kinderfrau Britta eine gehörige Ehrfurcht vor diesen Tieren hatte, weil sie angeblich mit Wotan, den Britta Odin nannte, in irgendeiner Beziehung stünden. Elisabeth konnte sich weder Brittas Ehrfurcht genau erklären, noch diesen Odin sich vorstellen, über den Britta stets redete wie über einen Onkel, der hinter den Bergen wohnt und alle paar Jahre mal vorbeikommt und sie besucht, aber ausgerechnet dann, wenn Britta schläft oder gerade nicht da ist.

"Haben sie was von deinem Onkel gesagt?" fragte sie Britta. "Nichts Neues." "Kommt er bald?" "Meine liebe Elisabeth", sagte Britta mit leicht erhobener Stimme, "ich weiß, dass du es nicht oft genug hören kannst, und deshalb sage ich es noch einmal: Gerade jetzt ist die Zeit ..." "... Da Odin auf seinem Pferd über das Land reitet", ergänzte Elisabeth und hob dabei bedeutsam die Hand, die aus dem dicken Ärmel ihres Mantels herausragte.

"Richtig. Aber bis jetzt hat ihn noch niemand gesichtet." "Wer weiß, ob er ausgerechnet bei uns vorbeireitet", gab Elisabeth zu bedenken, und es klang ein bisschen altklug. "Warum denn nicht? Odin ist überall." Das Mädchen lachte. "Wie kann man überall sein? Nichts kann überall sein." "Das denkst du, mein überkluges Fräulein." "Natürlich. Oder nenne mir etwas, das überall sein kann." Britta überlegte einen Moment, dann sagte sie: "Heute ist überall." Elisabeth erwartete, dass ihre Kinderfrau noch etwas sagte, aber da dies nicht geschah, fragte sie "Was ist heute überall?" "Na eben heute. Oder jetzt, wenn du's genau wissen willst, jetzt ist überall jetzt." Sie presste ihre blassen, schmalen Lippen noch fester zusammen und schien sehr zufrieden mit ihrer Erklärung.

Elisabeth sagte "Du spinnst." "He, kleines Fräulein, beleidige mich nicht, ich gebe mir alle Mühe, dir etwas beizubringen", gab Britta verärgert zurück. "Na wirklich", sagte Elisabeth nicht mehr so entschieden, "das kann ich mir nun gar nicht vorstellen, jetzt ist überall jetzt." "Und vorhin war überall vorhin." "Und bald wird überall bald sein." "Siehst du, du hast es begriffen." "Ich werde Meister Immenberg einmal fragen, was er dazu meint." Britta sagte schnell "Damit wäre ich an deiner Stelle vorsichtig." "Warum? Meister Immenberg weiß alles. Letztens hat er uns erklärt, warum der Mond manchmal ein Kreis und manchmal eine Sichel ist und wie es kommt, dass immer eines auf das andere folgt." "Ja, ja, da hat er Recht."

Britta wollte noch etwas hinzufügen, aber sie sah, dass Elisabeth so vor sich hin stapfte, als wäre sie in Gedanken schon mit etwas anderem beschäftigt. Und da ertönte plötzlich wieder ein Rufen hinter ihnen. "Lisbeth!" "Was ist denn mit euch heute los?", fragte Britta, "ich denke, ihr wolltet Schlitten fahren." Sie waren beide stehengeblieben und schauten hinauf zu dem Rufer. "Der da wollte Schlitten fahren", sagte Elisabeth. "Lisbeth!" rief der Junge wieder und kam zwischen den Bäumen zum Vorschein; er rutschte munter auf dem Schnee hinab. Es war Hermann, er kam keuchend zu ihnen. "Wo ist'n der Schlitten?" fragte Elisabeth. Hermann musste erstmal Luft holen. "Hab' ich oben gelassen." "Ich denke, wir wollten hobeln."

Britta musste lachen. "Du meinst bestimmt rodeln." Sie konnte sich köstlich darüber amüsieren, wenn Elisabeth die Wörter im Deutschen, das nicht ihre Muttersprache war, verwechselte oder einen Ausdruck im falschen Zusammenhang gebrauchte. "Hier doch nicht", erklärte Hermann, "drüben am Kahlen Rain." Und mit einem Blick auf den Abgrund links setzte er hinzu "Hier kannst du dir höchstens das Genick brechen." "Gott bewahre", sagte Britta, "passt bloß auf, dass kein Unglück passiert mit euerm Schlitten." "Bis jetzt haben wir uns ja noch nicht mal draufgesetzt", erwiderte er beinahe enttäuscht.

Hermann war sehr schlank und hochgewachsen und überragte die beiden an Größe, obwohl er kaum älter war als Elisabeth, die das nicht glauben konnte; sie war überzeugt, er sei mindestens schon zwanzig Jahre alt, worauf sie um so mehr beharrte, als jedermann versuchte, sie zu überzeugen, Hermann wäre in dem Jahr geboren, als über der Stadt die Feuerkugel am Himmel erschienen war und Monate lange Regenfälle ausgelöst hatte. Tatsächlich brachten sie zum Beweis den Umstand an, dass Hermann gar nicht wasserscheu wäre wie andere Kinder, was Elisabeth aber nicht genügte und sie ihn dennoch als einen viel älteren Jungen betrachtete; und das gefiel ihr.

Hermanns Mütze war in den Nacken gerutscht und sein helles lockiges Haar wallte über den Schal um seinen Hals herab, aber die Spitzen in der Stirn waren ebenso wie seine Augenbrauen mit hauchdünnem Eis überzogen, woran Britta erkannte, dass er sich schon lange Zeit draußen herumgetrieben haben musste. "Frierst du?" fragte sie ihn. "Nö, im Gegenteil, bin grade ins Schwitzen gekommen, als ich euch hinterhergelaufen bin." Sie ermahnte ihn trotzdem, die Mütze wieder aufzusetzen, was er auch sofort tat. "Also was ist nun?" fragte er das Mädchen, und man konnte sehen, dass er sich auf das Rodeln richtig gefreut hatte.

Elisabeth tat unschlüssig. "Ich weiß nicht." Britta sagte "Ich lasse euch auf keinen Fall allein zurück gehen." "Wir sind nicht allein, sondern zu zweit", sagte Hermann. "Keine Widerrede. Es kann mir schon genug Ärger einbringen, dass Lisbeth mitgekommen ist." "Na ja, und was wird aus mir?" meinte er vorwurfsvoll, als hätte man die Stube, in der er schläft, ausgeräumt. Britta überlegte, dann sagte sie "Bleibt nichts anderes übrig, als dass du auch mit uns gehst." "Wohin?" "Brot holen", sagte Elisabeth, "oder glaubst du, wir gehen angeln." Hermann wand sich. "Och, das ist ja langweilig."

Da kam von unten der Knecht Gregor den Hang herauf, er zog einen selbstgezimmerten Schneepflug hinter sich her. "Gregor", rief Britta laut, "über dich habe ich vorhin schon geflucht." "Hab' ich gemerkt", brummte er zurück, ohne zu den anderen aufzusehen, "es hat mich im Rücken gezwickt, immer dieselbe Stelle, hundsgemein bist du, Britta Valgardstochter." "Du hast versprochen, den Weg frei zu machen." "Ja und?" brummte er standhaft. "Ja und? Hast du?" "Natürlich hab' ich, oder hat der alte Gregor schon einmal sein Versprechen nicht gehalten?"

Hermann schüttelte den Kopf, und Elisabeth schaute von einem zum andern. "Ach was!" rief Britta spöttisch, aber Gregor, der jetzt fast bei ihnen angelangt war, entgegnete ruhig "Du hast mir nicht gesagt, dass du auch noch überall Zeichen an den Bäumen brauchst, damit du ihn nicht verfehlst, meinen hervorragend frei gemachten Weg. Und die Kinder hier durch den tiefsten Schnee treiben, schämen sollst du dich."

"Wir sind ihr nachgegangen", sagte Elisabeth. "So, nachgegangen, na ja", brummte der Alte, "so ist das, wenn der Blinde dem Lahmen folgt." "Was redest du da für Unsinn", verteidigte sich Britta, "wo soll denn dein famoser Weg sein?" Gregor wies mit dem Arm in die Richtung. "Da drüben, keine dreißig Schritt, aber du läufst lieber genau daneben lang, als wolltest du mir damit schaden." "Kein Mensch will dir schaden." "Oh, und was war das vorhin mit deinem Fluch, Britta Valgardstochter, du weißt wohl, was deine Flüche anrichten können, und trotzdem kannst du deine Zunge nicht im Zaum halten, wie eine neugeborene Schlange." Elisabeth musste lachen, wie Gregor seine Worte mit den Fingern vorm Mund veranschaulichte.

Trotz der Kälte trug er keine Handschuhe und auf dem Kopf nur eine Kappe; auch hatte er bloß ein ziemlich dünnes Hemd an, das noch nicht einmal bis oben zugeknöpft war. Hermann hatte Elisabeth erzählt, wie er Gregor eines Morgens sogar mit nackten Füßen durch den Schnee hatte laufen sehen, und sie hatte es Britta weitererzählt, die meinte, bei Gregor sei da oben im Kopf was nicht ganz richtig. Aber den Eindruck machte er auf Elisabeth nicht, und sie vermutete, dass er absichtlich so durch den Schnee gelaufen ist, zumal Hermann meinte, er habe das beinahe mit einem genüsslichen Ausdruck gemacht, wie man ihn auf dem ansonsten so finsteren Gesicht niemals erwartet hätte.

"Dann lasst uns da hinüber gehen", sagte Britta, und Gregor brachte sie auf den Weg. Dort stand sein kleines Pferd, das auf den komischen Namen Salto hörte. Es reichte dem Gregor gerade etwas über Bauchhöhe, es war selbst für seine Rasse klein, hatte einen fast zierlichen Kopf mit kleinen runden Ohren, aber große, lebhafte Augen. Salto hatte eine lange Mähne, und jetzt im Winter war sein mausgraues Fell stark aufgehellt.

Elisabeth dachte immer, es wäre ein Esel, aber Gregor hatte ihr erklärt, dass es einen ganz anderen Charakter hat als ein Esel und auch viel älter werden kann. Manchmal ließ er sie darauf reiten, aber für ihn war Salto ein Zugpferd, das er in der warmen Jahreszeit vor den Pflug spannte, und zwar auf den gerodeten Bergflächen, die abschüssig und uneben waren; im Winter dagegen musste Salto wie man sehen konnte, Gregors selbstgebauten Schneepflug ziehen.

"Wieso hast du ihn eben selbst gezogen?" fragte Britta, und Gregor überlegte, fand aber keine Begründung oder wollte sie nicht verraten. "Keine Ahnung, wollte wohl da drüben irgendwas machen." Elisabeth streichelte Salto, und es schaute sie aus seinen großen Augen freundlich an; das Mädchen ahnte in diesem Moment nicht, dass Salto sie irgendwann in einer höllischen Nacht auf seinem Rücken forttragen werde.

Britta machte den Vorschlag, Hermann könne, wenn er nicht mit in den Ort will, zusammen mit Gregor zur Burg zurück gehen. Er willigte ein, und Gregor sagte, er kann sich auf den Pflug setzen, vor den er Salto, der es anscheinend schon langweilig fand so herumzustehen, wieder anspannte.

Die Backstube von Wenzel Kling lag in der Weidengasse, und man konnte schon in einiger Entfernung den unverkennbaren Duft vom feuchten, warmen Sauerbrotteig schnuppern, der aus allen Ritzen von Klings Bäckerei heraus drang. Es war eben Mittag vorbei, aber an diesen Tagen wurde es kaum richtig hell, sondern das Licht schimmerte wie durch einen bläulichen und fahlen gelben Dunst hindurch.

Alles war ohne Schatten, und die Leute, die auf der Gasse liefen, wirkten farblos und flach, und nur, wenn sich welche grüßten oder sich laut etwas zuriefen, bemerkte man, dass in den dunklen, molligen Kleidern, Mänteln und Röcken Menschen mit Leib und Seele steckten, die nicht, wie zum Beispiel die Bären oben in den Wäldern, Winterschlaf hielten, sondern weiterhin, wenn auch aufs Nötigste beschränkt, ihrer Arbeit nachgingen.

Wie auch der Bäcker Kling, der sogar jetzt mehr zu tun hatte, als zu mancher anderen Zeit, denn die Leute kauften nicht bloß Brot bei ihm ein, sondern auch allerlei Backwerk, das schon seit eh und je am Ende eines Jahres auf die Tische in allen Stuben kam und dessen Menge an Zutaten ungefähr der Menge an Wünschen, Segen, Dankgebeten, besinnlichen und fröhlichen Sprüchen entsprach, unter denen es verteilt und verzehrt wurde.

Wenzel Kling hatte zwei Söhne, die natürlich beide in der Backstube arbeiteten; und der eine, der ältere, ließ auch schon seine eigenen Kinder dort umhertollen, sofern sie nicht im Wege waren oder Schaden anrichten konnten, damit sie gleich von Anbeginn das Handwerk ihrer Väter und Vorväter erlernten.

Als Britta und Elisabeth eintraten, machten sie alle gerade eine Verschnaufpause, die Kling-Söhne saßen jeder im hellen Leinenhemd und mit Schürze und über und über mit Mehlstaub bedeckt auf Säcken, während der alte Bäcker in der Tür zur hinteren Kammer stand und auf einer Liste herumkritzelte. An der Backofenklappe zog ein hauchfeiner weißer Dampf heraus; es war herrlich warm hier drinnen. Der jüngere Sohn, welcher Lenhart hieß, sprang auf, als er Britta hereinkommen sah und begrüßte die beiden sehr freundlich, während die anderen ihnen lächelnd zunickten. "Guten Tag", sagte Britta, und Lenhart meinte "Die Prinzessin und ihre treusorgende Amme, welch' glückverheißender Besuch."

Er nahm Britta die Körbe ab, stellte sie beiseite und half Elisabeth aus dem Mantel, aber die sagte "Ich möchte erst einen Blick draußen in den Garten werfen", worauf der alte Kling die Brauen hochzog und sie anschaute, als hätte sie ihn um eine Handvoll frisch gepflückte Erdbeeren gebeten. "In den Garten, Euer Hoheit? Da ist es jetzt nicht so hübsch wie im Sommer." "Kann ich mir denken", sagte Elisabeth, "nur kurz." "Warum nicht", meinte der andere Sohn, erhob sich von dem Mehlsack und ging mit ihr nach hinten hinaus.

Britta hatte ihre Sachen abgelegt, und nun sah man, dass sie wirklich strohblonde Haare hatte, die zu zwei dicken Zöpfen geflochten waren, so dick, dass man erahnen konnte, welche Fülle ihr Haar besitzt. Und man sah noch etwas in aller Deutlichkeit, nämlich ihre großen Brüste, die wunderbar prall und fest unter ihrem Oberkleid hervorragten, und auf die zumindest Lenhart mehrmals so flüchtig wie nötig, damit es nicht auffiele, einen Blick warf. Überhaupt schien der junge Kling-Sohn zuvorkommender als die anderen zu sein, die ihn ihrerseits nicht darin störten, nicht nur Brittas Kaufwünsche beflissentlich entgegenzunehmen, sondern wie nebenbei auch noch über dies und das mit ihr zu plaudern, wobei freilich keinem der Anwesenden entging, welche kleinen Komplimente er unter seine Worte mischte. Auch Britta nicht, für die sie ja gedacht waren und die sie des öfteren mit einem kecken Augenaufschlag honorierte.

Aber der unterhaltsame Gesprächsstoff war ihm sogleich ausgegangen und er redete über seine Arbeit, obwohl das Britta sicher weniger interessieren würde. Dann berichtete er gar von einem ganzen Ofen voll Brot, das missraten und ungenießbar geworden sei, wahrscheinlich durch den darin verwendeten Koriander. Britta hörte, entgegen Lenharts Befürchtungen, aufmerksam zu und meinte dann, der Koriander sei wohl nicht zur rechten Zeit geerntet worden, denn wenn dies der Fall ist, können die Körner, wie man weiß, wie Wanzen schmecken. "Pfui Teufel", sagte Lenhart, und der alte Kling redete auf ihn ein "Habe ich dir doch gesagt: 'Nimm' nicht die grünen Körner', irgendein Schlitzohr hat sie vor der Zeit abgerupft und untergemischt." "So schmecken Wanzen?" fragte Lenhart. "Sagt man", erwiderte Britta lachend, "selber habe ich sie freilich noch nicht probiert." "Ach so, da bin ich aber froh." Er errötete im Gesicht unter den hellen Mehlflecken; das war nun kein so gelungenes Kompliment gewesen, obwohl er es natürlich ehrlich gemeint hatte.

Elisabeth hatte das Haus durch die Hintertür verlassen und war in den Garten gegangen, der sich wie ein schmales Band bis an den Lohmebach erstreckte, der im Abstand zur Gasse hier vorbeifloss. Auch der Garten war verschneit, aber die Äste der Apfelbäume waren frei, hier und da schauten Grasbüschel oder gelbe, verwelkte Stauden unter der Schneedecke hervor, als würden sie sich gegen die Last aufrichten wollen. An dem dicken Ast des Walnussbaums hing am Seil das Brett herab, das im Sommer die Schaukel war, von dem zweiten Seil war es abgerissen.

In diesem Sommer war Elisabeth krank gewesen, und ihre Stiefmutter hatte sie auf Anraten der Ärzte in die Stadt gebracht, wo sie im Kloster der Heiligen Katharina untergebracht war, in einem hübschen Zimmerchen mit zwei kleinen Fenstern, aus denen man auf den Platz an der Kirchenmauer blicken konnte, wo auch der Markt stattfand. Zuerst sollte sie nicht da schlafen, weil sie auch tagsüber das Bett hüten musste, und man den Lärm, der vom Markttreiben und auch sonst von dem Verkehr durch die Stadt herüberkam, für quälend hielt. Aber man hatte den Fehler gemacht, das Mädchen schon zwei Tage lang in diese Kammer zu legen, bis einer der Ärzte auf die störenden Geräusche von draußen aufmerksam machte, welche die Schwestern, die ständig dort wohnten, gar nicht mehr richtig wahrnahmen.

Elisabeth hatte sich dagegen gesträubt, die Stube zu wechseln, sie sagte, es gefiele ihr hier, und sie lausche allem, was an ihr Ohr dringe, ja sie konnte sogar die Rufe der einen Gemüsefrau nachmachen, wenn sie ihre Ware feilbot oder auch den kläglichen Singsang des Bettlers, der da an der Ecke sitzt. Der Arzt war zum Fenster gegangen, hatte hinaus geschaut und gesagt "Da steht kein Bettler, Euer Hoheit." Und Elisabeth hatte geantwortet. "Nein, jetzt nicht, denn um diese Zeit ist er nicht da, ich möchte zu gerne wissen, wo er jetzt ist. Aber er kommt wieder, warten Sie es nur ab, und außerdem steht er nicht, sondern er sitzt da an die Hauswand gelehnt."

Der Arzt hatte - nicht zu ihr, aber zu den Schwestern - gesagt, man könne nicht Rücksicht auf einen Bettler nehmen, bevor man auf das Wohl der Königstochter bedacht sei, und deshalb müsse sie in eine andere Stube. Von dort war Elisabeth, da man ihre Einwände offenbar ignorierte, nachts wieder in das alte Zimmer geschlichen, und sogar als man dieses zugeschlossen hatte, legte sie sich auf den nackten, kalten Fußboden vor der Tür, was man natürlich nur ein einziges Mal hinnahm und ihr danach schließlich ihren Willen ließ. "Na also", hatte das Mädchen gesagt, "es geht doch, wenn man nur will."

Was ihre Krankheit betraf, so war sie aus heiterem Himmel über sie gekommen, als sie eines Nachmittags während irgendeiner Beschäftigung aufgestanden war, einen heftigen Schwindelanfall bekam und ohnmächtig zusammengebrochen war, wobei sie sich durch einen Stoß an der Tischkante am Kopf verletzte. Sie blutete stark und man legte gleich einen großen Verband um ihren Kopf, dass sie aussah wie der Sultan Salaheddin, bloß ohne Bart und auch nicht so grimmig. Sie kam bald wieder zu sich und meinte, sie fühle sich wohl, aber man hatte schon Maßnahmen ergriffen, sie bei weiteren Anfällen dieser Art, die man anscheinend befürchtete, zu behüten.

Ihr selbst schien diese kurze Attacke nicht besorgniserregend, und seltsamerweise sprachen auch die Erwachsenen, jedenfalls ihre Stiefmutter, ihre Tanten und die Hofdamen, auch Britta und die anderen Frauen, selbst die vom Gesinde nicht so darüber, wie man gemeinhin über eine schlimme Krankheit oder über deren rätselhafte Anzeichen redete. Sie bekam alle mögliche Arzneien aus zig verschiedenen Fläschchen verabreicht, die eigentlich alle gleich scheußlich schmeckten (bis auf eine zuckersüße mit einem vielfältigen Aroma) und die, so vermutete Elisabeth bald, bloß dazu dienen sollten, ihr die Gewissheit zu geben, dass man über ihr Leiden genau Bescheid wüsste.

In ihrem Bett waren eines Morgens auch Blutflecken, und sie wunderte sich, wie das Blut unter ihrem Turban hervor aus ihrer Wunde gelangt wäre, überdies an eine Stelle auf dem Laken, wo selbst im unruhigsten Schlaf kaum ihr Kopf zu liegen gekommen wäre. Die Schwestern vom Katharinenstift, die sie betreuten, unterdrückten beinahe einen Jubel beim Anblick ihres beschmutzten Bettes, taten aber Elisabeth gegenüber sehr geheimnisvoll, ja fast verschwörerisch, was ihr gar nicht behagte. Ihr frommes und zugleich völlig unempfindliches Getue machte Elisabeth mehr zu schaffen als die Tatsache, dass sie fortan für jeden Mond des Kalenders einmal ein reines, weißes Tuch an ihrem Geschlecht tragen musste. Und sie sagten ihr, allerdings erst auf ihre Frage hin, wie lange das erforderlich sei, mit einem seligen Ausdruck auf ihren Gesichtern "Hoffentlich recht lange."

Da diese Veränderung an ihrem Körper und in ihrem Leben offenbar die Ursache wie auch die Wirkung jener Krankheit war, derentwegen man die Königstochter im Kloster untergebracht und behandelt hatte, so konnte man eigentlich nichts dagegen einwenden, wenn Elisabeth sagte, ihr Zustand habe sich gebessert, sie sei wieder gesund und könne tun und lassen, was ihr gefiele. Damit wollte sie endlich dem unbequemen Lager entkommen, wo es auf Dauer sehr langweilig geworden war und wo sie des nachts häufig böse Träume hatte, aus denen sie erst im allerletzten Moment entkam. Britta besuchte sie fast jeden zweiten Tag, und weil Elisabeth ständig in der viel zu engen Stube umherhüpfte und Britta sah, dass sie unbedingt mehr Bewegung brauchte, zumal draußen herrlichsten Sommerwetter war, so nahm sie sie mit zum Bäcker Kling, dessen Garten hinterm Haus hervorragend zum Spielen geeignet war.

Dorthin kamen auch die Kinder aus der Nachbarschaft. Der Lohmebach war stellenweise schmal und tief, anderswo breit und flach, mal hatte er eine Böschung, mal ein Fleckchen feinen Sand am Ufer. Man erzählte zwar, es wäre einmal ein Kind dort ertrunken, aber diese Geschichte hielt keinen von dem Ort ab, und ihre traurige Fabel war längst wie das Wasser des Baches selbst hinweggegangen. Man konnte barfuß drin umherwaten, man konnte mit Händen oder mit einer Schüssel daraus schöpfen und das Wasser in kleine Kuhlen füllen, die man im Garten gegraben hatte und die rundherum mit schönen Steinen gesäumt wurden. Man konnte sich gegenseitig vollspritzen oder sich mit dem blanken Hintern reinsetzen.

Die Jungen bauten sogar ein kleines Floß, mit dem sie ein Stück abwärts trieben, bis es irgendwo hängenblieb. Einmal schütteten alle einen Damm auf, und das Wasser staute sich und es gab einen richtigen kleinen See, bis bei irgend jemandem die Gemüsebeete überschwemmt wurden und man den Damm einreißen musste. Elisabeth hatte sich mit einem Mädchen angefreundet und die beiden verbrachten viele Tage miteinander; auch als Elisabeth wieder aus dem Kloster ausgezogen war, besuchten sie sich noch eine Weile gegenseitig.

Jetzt dachte Elisabeth an die Sommerszeit. Durch den Schnee war ein schmaler Pfad bis zum Bach getreten, wahrscheinlich holten die Bäckersleute hier das Wasser, denn die Eisschicht war aufgebrochen, und Elisabeth sah, wie das Wasser darunter genauso rasch vorbeigluckerte wie immer. Weiter oben waren Kinder, die mit Schlittschuhen über das Eis rutschten, ihr Rufen und Lachen klang durch die kalte Luft bis hierher. Elisabeth glaubte, ihre Freundin zu erkennen, sie rief ihr zu und winkte, und die andere winkte kurz zurück und drehte dann weiter ihre Runden, hielt sich an jemandem fest, wackelte mit den Armen und versuchte eine kunstvolle Bewegung auszuführen. Elisabeth war sich nicht sicher, ob sie es wirklich ist. Vielleicht würde sie im nächsten Sommer oder im Frühjahr schon herkommen und nach ihr fragen. Vielleicht auch nicht, wer weiß.

Britta hatte sich Brot und Gebäck in die Körbe legen lassen und alles mit Leinentuch abgedeckt. Sie plauderte noch ein wenig mit Lenhart und den anderen, die währenddessen weiter ihre Arbeit taten. Man fragte auch Elisabeth dies und das, und sie antwortete freundlich und erzählte dann noch ein Erlebnis, das sie kürzlich auf der Burg hatte. Lenhart bedauerte, dass er die beiden nicht begleiten und für Britta die Körbe tragen könne, aber Britta winkte lächelnd ab, das sei nicht so schlimm, das würde sie schon schaffen, und sie warf ihm noch einen Blick zu, den er erwiderte und sich dann wieder errötend abwendete, aber dabei ausgerechnet an ihrem gewaltigen Busen hängenblieb und ihr gedankenversunken hinterher starrte, als Elisabeth die Tür aufhielt und Britta die Backstube verließ.

Der alte Hermann, der Landgraf, war zornig, als er hörte, dass Elisabeth ohne Erlaubnis die Burg verlassen hatte, und er bestrafte Britta, der er die Schuld dafür gab, indem er ihr den Lohn um diesen Tag kürzte. Elisabeth erfuhr davon nichts. Noch am Abend hatte sie Britta weiter ausgefragt über den sagenhaften Odin, wie er auf seinem Pferd durch den Wald hetzt. Brittas Auskunft war spärlich, sie hielt sich zurück und wollte die Phantasie des Mädchens nicht noch mehr aufreizen, als sie es ungewollt schon getan hatte.

Doch keiner sonst, so schien es Britta, berichtete Elisabeth von diesen Dingen, und immer ging Britta von sich aus und überlegte, welch bedeutsame Wirkung die Erzählungen auf sie selbst machten, als sie zuerst davon vernommen hatte. Freilich konnte und durfte sie sich mit der jungen Königstochter nicht messen, der ein ganz anderes Schicksal bestimmt war, ein besonderes, in welchem Menschen wie sie, Britta die Amme, völlig nebensächlich waren, nie genannt, geschweige denn um ihre Meinung gefragt wurden.

Aber Elisabeth selbst hatte sie gefragt, und Britta hatte dabei ein ziemlich zwiespältiges Gefühl. Wenn sie, ein einfaches, ungebildetes Weib, durch welche Macht auch immer, dafür auserkoren war, einem Mädchen von königlichem Blut ihre Fragen zu beantworten (freilich Fragen, die Elisabeth nur unter vier Augen stellte oder abends, wenn sie am Kamin saßen, als wüsste sie selber, dass es niemand mitkriegen durfte), wenn Britta also regelrecht gezwungen war, darauf zu antworten, dann war es auch ihre Pflicht, dies nach bestem Wissen und Willen zu tun, das heißt so, wie sie selbst darüber dachte, anstatt so, wie es sich für ein Mädchen von Elisabeths Stand gehört hätte, was Britta ohnehin schwergefallen wäre, denn sie war schließlich nur ihr Kindermädchen und nicht ihr Lehrer. Aber ob Meister Immenberg sich mit diesen Dingen besser auskannte, da war sie sich auch nicht ganz sicher.

Oder lag es daran, daß Britta Valgardstochter selbst aus dem Norden kam und daß die Geschichte mit ihrem Onkel keineswegs bloß ausgedacht war. Es hatte wirklich einen Onkel gegeben, in dessen Begleitung Britta vor etlichen Jahren aus Dänemark hierher gereist war. Die Gründe für diese Reise mitzuteilen, würde hier zu lange dauern; Elisabeth hatte zwar von dem Onkel gehört, war aber über die Zusammenhänge nicht im Bilde, was freilich dazu führte, daß sie sich selber alles Mögliche darüber zusammenreimte.

Tatsache war: Brittas Onkel stammte aus den Regionen der eisigen See und der Mitternachtssonne, von dort, wo nach den Berichten des Mönchs Brendan Inseln mit riesigen Wäldern auf den Rücken von Fischen trieben und wo nicht weit weg davon Odin selbst zu Hause war.

Natürlich hatte keiner ihrer Vorfahren selbst in Asgard, der Heimstatt der Götter, gewohnt, aber zumindest in der Gegend auf dieser Erde, von wo aus nach Asgard (und von dort her) der kürzeste Weg führte, und wo alle Wesen, die riesenhaften, zwergenhaften und götterhaften, die tierischen, halbmenschlichen und menschlichen sich am nächsten waren und am meisten voneinander wussten.

So hatte sie es Elisabeth beschrieben, die, obwohl sie nur einen Bruchteil davon begreifen konnte, immer noch weitere Eigenarten über die Bewohner erfahren wollte. Wo alle aus den alten, ersten Quellen schöpfen, fuhr Britta fort, wo man unermüdlich aufbricht zu neuen, fremden Gestaden und immer wieder heimkehrt auf den eigenen Hof, wo man die Mittel kennt, Weisheit aus allem herauszulocken, das sie besitzt, ob es ein Einsiedler, eine Schlange oder die Glut eines Feuers ist, und wo man den Tod überlisten kann, wenn man die richtigen Mächte auf seiner Seite hatte. Wo die Blutsverwandtschaft alles zählt und die Gesetze nichts; wo Brüder den Mord ihrer Brüder rächen und wo Söhne ausziehen, um ebenso schöne wie stolze Frauen zu erobern, mit denen sie erst im Steinweitwurf wetteifern müssen, damit jene, wenn sie besiegt sind, sich ihnen hingeben. "Was geschieht", fragte Elisabeth, "wenn der Mann verliert?" "Dann", so sagte Britta zu schnell, um es zurückzuhalten, "verliert er auch seinen Kopf."

Die junge Elisabeth kam aus der entgegengesetzten Richtung, von einer Burg an dem Flüsschen Bodrog, das in einen anderen Fluss mündete und der wieder in einen anderen, bis die Wasser sich in das Schwarze Meer ergossen, wo sie sich vielleicht tatsächlich alle schwarz färbten; an dessen Ufern Völker wohnten und über seine Wellen segelten, deren Ahnen von noch weiter her aus dem Osten kamen und die ihre Legenden in Bücher geschrieben und vorgelesen hatten, lange bevor hier, auf dem Fels, wo des Landgrafen Hermanns Wartburg steht, das erste Geviert abgemessen wurde, um darauf Steine zu einem festen Haus aufzuschichten.

Hunnen, hieß es, wären Elisabeths Vorfahren, heißblütige Männer und dunkeläugige Frauen, die in den endlosen Steppen lebten, so weit weg von den Eisgletschern, an die Britta dachte, wenn sie an die Brücke dachte, welche die Götter über die tiefsten Abgründe hinweg erbaut hatten und mit ihrem lichtklaren, schier unendlich weit reichenden Blick bewachten.

Und diese Hunnentochter, die äußerlich so sanft war wie ein junges Lamm, sie fragte die Valgardstochter nach jenem längst einsam gewordenen Mann aus, der in Mantel und Hut gehüllt auf seinem Pferd daherjagt, der sein Auge eingebüßt hat, um mehr, noch mehr Weisheit zu erlangen, und dessen mit Runen eingeritzter Speer vielleicht schon zerbrochen ist - es gibt nur wenige, die das sicher wissen.

Von diesem Mantel Odins hatte ihr Britta erzählt und dann, als ihre Rede einmal in Gang gekommen war, mit Gesten beschrieben, wie der Saum dieses Mantels schwer im Winde treibt und gegen die Flanken des Rosses schlägt, wenn Odin auf ihm unterwegs ist. In der Nacht hatte Elisabeth aus dem Fenster geschaut auf die Bäume und den Schnee, der im Mondlicht schimmerte. Wind war aufgekommen und die Flocken fielen schräg und dicht hernieder. Elisabeth fröstelte und verkroch sich unter Decken und Felle, und obwohl es draußen pfiff und heulte und die Ketten am Tor aneinander rasselten, schlief sie doch bald ruhig und fest ein.

Der Schneesturm hielt auch am Morgen an, und als Elisabeth diesmal aus dem Fenster sah, traute sie ihren Augen kaum: dort unten an einem der jungen Bäumchen, die wie Gestrüpp den Hang unterhalb der Burg überzogen, hing ein großer Fetzen dunkler Stoff, genauso, als wäre er von dem Mantel eines vorbei eilenden Reiters abgerissen worden. Er hatte sich an einem Zipfel fest verfangen, und der Wind ließ ihn heftig flattern. Elisabeth wollte Britta Bescheid sagen, aber dann dachte sie, womöglich werde Britta bloß mit irgendeiner beiläufigen Erklärung abwinken und sich nicht darum kümmern. Man musste den Mantel, oder jedenfalls das Stück davon, wofür Elisabeth es zweifellos hielt, von dem Ast lösen und es ihr zeigen. Wenn Britta es in Händen hält, wird sie schon sehen, daß es von niemand anderem sein kann als von Odin.

Es war zu gefährlich, da hinunter zu klettern, der felsige Untergrund war vereist, überall konnte man abstürzen und ins Bodenlose fallen. Elisabeth schaute sich die Stelle genau an, dort, von diesem einen Vorsprung aus, könnte man mit einer Stange hinüber reichen, am besten mit so einer ... Sie beschloss, zu den Wachleuten vorn am Tor gehen, die hatten solche Stangen mit Haken an der Spitze, vielleicht konnte sie einen von ihnen überreden, für sie das Mantelstück zu holen. Die Männer, es waren an diesem Tag fünf, hörten sich Elisabeths Bitte an, sie sagte, ihr selbst wäre der Rock versehentlich aus dem Fenster gefallen. Sie gingen auf die Brücke hinaus und erkannten, daß es schier unmöglich war, dahin zu gelangen, ohne sich vorher wenigstens dreimal den Hals zu brechen, wonach keiner von ihnen - auch nicht zu Gefallen der Königstochter - Verlangen hatte. So kehrten sie wieder in ihre warme Wachstube zurück, und Elisabeth war sehr enttäuscht.

Sie überlegte noch einen anderen Plan, und als eine Weile vergangen war, hörte sie die Wachleute rufen. Sie lief schnell hin, und wirklich hatte einer, der gerade hinzugekommen war und dem die anderen von dem Vorfall erzählten, sich kurzerhand entschlossen, das verlorene Kleidungsstück zu bergen. Er war der jüngste von allen, und er erwies sich als sehr geschickter Kletterer über die unwegsamen Klippen. Er war schon auf dem Rückweg, als er, das Bündel unterm Arm, bei einem kühnen Schritt abrutschte und fiel; ein Aufschrei ging durch die Wachmannschaft und nur Elisabeth blieb ruhig und erwartete, daß er es unbedingt schafft. Er konnte sich an einem Ast festhalten und wieder hochziehen und gleich darauf war er tatsächlich wohlbehalten bei den anderen angelangt.

Er kniete vor Elisabeth nieder und überreichte ihr den Fetzen Stoff, über den sich alle außer ihr sehr wunderten. Nachher sagte einer zu seinen Kameraden "Sollte das einer von ihren Röcken sein? Heiliger Strohsack, wenn das mein Weib trüge, ich würde mich vorsehen, sie anzufassen." Die anderen lachten, und einer sagte zu dem mutigen Jungen, er sollte sich dafür vom Grafen eine Belohnung erbitten. Jener gab sich bescheiden und lehnte ab, doch der Kommandeur fand den Vorschlag nur angemessen, und noch am selben Tag sprach er bei Graf Hermann vor, der die Bitte auch ohne weiteres gewährte.

Der Alte wollte den Rock ansehen, was auch ungewöhnlich war, denn niemals zuvor hat sich ein Fürst für Frauenkleider interessiert. "Na wenn schon", sagte er zu Sophia, der Landgräfin, die ihn erstaunt angesehen hatte, "was unsere liebe kleine Elisabeth angeht, das geht auch mich an, womöglich braucht sie nun einen neuen Rock, wenn dieser zerrissen ist." Das würde man ihren Kammermädchen und der Schneiderin überlassen, meinte Sophia, aber der Graf bestand darauf und er fügte hinzu "Der Britta traue ich sowieso nicht, sie ist ... sie ist ...", er überlegte, aber es fiel ihm kein treffendes Wort ein, und für einen Augenblick versuchte er sich zu erinnern, wann und weshalb Britta überhaupt an den landgräflichen Hof gekommen war. Er hätte sie längst hinausgeworfen, wenn er nicht mit ihrer Anstellung vermutlich irgendeinem seiner zahllosen wahren und falschen Freunde einen Dienst erwiesen hätte.

Die Landgräfin ließ Britta seinen Befehl ausrichten, die zunächst nicht verstand, worum es eigentlich geht. Sie sprach mit Elisabeth, die den Kleiderfetzen in ihrer Kammer zum Trocknen aufgehängt hatte. "Wo ist er?" fragte Britta. "Da hängt er", antwortete Elisabeth. "Wovon redest du?" fragte Britta, die davor zurückschreckte, nach dem feuchten Lappen zu greifen. "Wovon redest du denn?" entgegnete Elisabeth. "Der Graf will den Rock sehen." "Hast du eben schon mal gesagt." "Also jetzt raus mit der Sprache, was ist damit." "Siehst du nicht, daß es ein Stück von Odins Mantel ist? Er ist gestern Nacht hier vorbeigeritten. Er konnte nicht einmal darauf achten. Das bedeutet, er hatte es sehr eilig." Sie kam nahe an Britta heran und sagte "Wahrscheinlich ist er auf der Furcht und braucht Hilfe." "Auf der Flucht", murmelte Britta und unterdrückte ein Lachen. Sie trat ans Fenster und sagte "Da unten, da kann selbst ein Odin höchspersönlich nicht entlangreiten." Elisabeth stellte sich neben sie. "Meinst du?"

Das scheußliche Wetter war vorbei, der Himmel war blau und Sonnenschein lag auf dem Schnee. Sie schauten über die Bäume hinweg in die Ebene, wo überall aus den winzig erscheinenden Häusern, die hinter den Hügeln hervorguckten, weißer Rauch aufstieg. Sie schwiegen beide und ihre Blicke wanderten ruhig in die Ferne und wieder zurück in die Nähe an den Abhang zu ihren Füßen. Dann sagte Elisabeth ein bisschen kleinlaut "Ich dachte, es ist ein Zeichen von deinem Onkel." "Ja, ja, schon gut. Und was zeigen wir jetzt dem Grafen?" "Weiß nicht, irgendwas anderes." Britta suchte von Elisabeths Sachen ein Kleidungsstück aus. Die sagte "Aber das merkt er doch, daß das frisch und sauber ist. Und wenn er es nun den Wachleuten zeigt?" Britta erwiderte "Lass mich das nur machen." Sie dachte noch darüber nach, mit welcher Vorstellung Elisabeth sich mit diesem lächerlichen Fetzen draußen am Baum beschäftigt hatte und auch darüber, wie sie versuchte, den Grafen zufriedenzustellen und sein Misstrauen zu verhindern.

Am nächsten Tag, als Elisabeth ihre Kammer verlassen hatte und später wieder hereingekommen war, hörte sie Hermann vom Hof herauf pfeifen, sie kannte seinen Pfiff, mit dem er sich stets bemerkbar machte. Sie trat auf den Gang vor den Zimmern und sah zu ihm hinunter. Er schwenkte den schwarzen Fetzen Stoff über seinem Kopf. "Was soll das?" rief Elisabeth, wurde sich aber gleich bewusst, daß sie nicht noch mehr dazu sagen durfte, weil es sonst andere hören könnten. "Kommst du herunter?" rief Hermann. Sie schüttelte den Kopf. "Ich will dir was zeigen." "Komm' du erst hoch." "Warum?" "Darum, weil ich dir's sage." "Zicke", zischte Hermann, fügte sich dann aber und erschien sogleich an ihrer Tür. "Gib' das her." "Ach, es gehört dir?" "Du hast es mir geklaut." "Was ist denn daran besonderes? So ein alter Lumpen." "Dann kannst du ihn mir auch zurückgeben und wir müssen nicht weiter drüber reden." "Über was sollten wir reden?" "Ich könnte deinem Vater sagen, daß du geklaut hast." "Ach so? Und ich könnte ihm sagen, was die Wachleute ..." "Was willst du?" "Nichts. Ich dachte, du kommst mit, ich will dir was zeigen." "Ja, weiß ich." "Und?" "Gib ihn mir und ich komme mit." "Na gut." Er warf den Fetzen auf den Boden. "Kann ich sowieso nicht gebrauchen."

Elisabeth strafte ihn, indem sie lange kein Wort redete. Sie verließen das Burggelände und liefen nach Südwesten hin über eine verschneite Wiese. Hermann hatte aus einem Versteck den Schlitten geholt und ging vorneweg. Er machte ein paar Versuche, ein Gespräch anzufangen, aber Elisabeth drückte sich immer gleich die dicken Handschuhe an die Ohren. "Ist es kalt?" fragte er beim dritten Mal, um scheinbar zu zeigen, daß er ihr Schweigen nicht verstand. Dann sagte er "Du kannst dich auch draufsetzen, ich ziehe dich." Er hatte das sehr sanftmütig gesagt und es klang wie eine Wiedergutmachung für sein Verhalten von vorhin. "Würdest du dann gefälligst mal anhalten", raunzte sie. "Natürlich. Entschuldigung." Sie setzte sich auf den Schlitten, er zog mit allen Kräften an dem Lederriemen. Nachdem er die Haftung überwunden hatte, ging es leichter, und manchmal rutschte der Schlitten ein ganzes Stück von allein. Elisabeth machte es Spaß.

Dann ging es sachte bergab, und Hermann musste vor dem Schlitten her rennen. Dann wurde es noch abschüssiger. "Bahn frei!" rief Elisabeth. Sie fuhr ihm beinahe in die Beine. Er warf ihr den Riemen zu und sprang zur Seite. Als sie an ihm vorbei war, machte er einen Satz hinter sie auf den Schlitten, der am Ende einsackte. Sie jauchzte auf. Er ließ sich nach hinten abrollen, fasste den Schlitten an beiden Seiten und schob ihn zusätzlich an, er keuchte wie verrückt, sie bekamen volle Fahrt. "Hör' auf, das reicht, hör auf", lachte Elisabeth.

Hermann kniete sich darauf, und sie sausten die Wiese hinab. "Da unten kommen Bäume", rief sie. "Nee, die kommen nicht, die stehen da. Wir kommen." "Du lieber Himmel, mach' was, Hermann, sonst passiert ein Unglück." "Sonst ja", krächzte er heiser, sprang aber nochmal ab und gab wieder Anschub. Sie drehte sich nach ihm um und haute mit dem Handschuh auf seine Mütze. "Hör' auf, du Affe." Sie sah sich im nächsten Moment gegen den Baum prallen. Aber plötzlich lenkte er den Schlitten genau in eine Schneise hinein und sie fuhren zwischen den Bäumen hindurch, bis sie wieder auf einer freien Fläche waren, die gleich darauf anstieg und den Schlitten rasch abbremste.

Kurz bevor sie stillstanden, gab Hermann ihr einen Schubs, daß sie vornüber in den Schnee purzelte und liegen blieb. Er erhob sich fast gemächlich vom Schlitten und sah, daß sie sich nicht rührte. "Wir sind da", sagte er, aber Elisabeth blieb liegen. Er ging auf sie zu, verfing sich in dem Riemen und wäre beinahe gefallen. Im selben Augenblick warf Elisabeth halb aufgerichtet einen Schneeball, den sie unbemerkt unter sich zusammengedrückt hatte, nach ihm. Er traf ihn voll auf die linke Backe, so hart, daß sein Kopf zur Seite flog. Er sagte nichts, und sie sah, daß er die Zähne aufeinander presste und die Tränen mühsam zurückhielt.

Sie war selbst erschrocken. Er kam zu ihr und sie wollte etwas sagen, aber er reichte ihr die Hand, um ihr aufzuhelfen. Sie klopften sich den Schnee ab; sie strich mit dem Ärmel über seinen Rücken. Dann sagte sie "Was wolltest du mir zeigen?" "Das da", sagte er und deutete auf die Stelle oberhalb des Abhangs, wo so etwas wie ein Schneehügel aufgehäuft war.

Sie stiegen da hinauf und es war eine Eishöhle wie eine umgestülpte Halbkugel, sie war sehr ordentlich und gleichmäßig errichtet. "Hast du die gebaut?" "Nee, hat einem Schneemann gehört, den hab' ich getötet." "Unsinn." Sie ging drumherum. "Die ist großartig." "Kannst auch reingehen." "Du zuerst." Der Eingang war klein, und man musste auf Knien hineinkriechen. Oben war ein Loch, und es kam ein bisschen Licht herein. Elisabeth hockte sich hin. "Ich mache ein Feuerchen an", sagte Hermann geheimnisvoll. Auf dem Boden hatte er den Schnee beseitigt und Laub und Reisig ausgelegt; in der Mitte war eine kleine Feuerstelle und am Rand lag kleingehacktes Holz.

Er holte aus seiner tiefen Jackentasche einen Beutel heraus, in dem Zunder, ein kleiner Stahl und ein Feuerstein waren, damit versuchte er, Funken in die trockenen Schwammbrösel zu schlagen. Er hatte das schon öfter erprobt, aber die rechte Übung fehlte ihm. Er konzentrierte sich sehr auf seine Handgriffe, beugte sich tief herab, daß sein Rücken unter der Jacke einen Buckel machte, und Elisabeth sah die Anstrengung auf seinem Gesicht; er streckte sogar die Zunge heraus und schob sie von einem Mundwinkel in den anderen. 'Angeblich ist er in dem Jahr zur Welt gekommen, als der große Regen fiel', dachte Elisabeth, die das nicht glauben wollte. Doch wenn man ihn so sah, wie er mit Begeisterung herumkokelt, könnte man denken, er wäre wirklich unter der Feuerkugel geboren worden, die dem Regen vorangegangen war.

"Gib' was von dem dürren Reisig her", sagte er, und Elisabeth sah ein schmales Rauchfähnchen zwischen seinen Händen aufsteigen. Sie legte die Zweige darauf. Hermann pustete sachte auf die Stelle, und plötzlich glimmte es rot und gelb auf wie ein Edelstein oder wie das Auge eines Salamanders, der aus dem Schlaf aufschreckt. Und dann schoss das Flämmchen hoch und packte eins der Zweiglein, züngelte an ihm entlang und verschlang es mit einem hellen Knacken. Dann brannte es, und Hermann schichtete der Reihe nach immer dickere Zweige und Holzstücke darauf; es wurde hell in dem milchigtrüben Innern und auch warm, und der Rauch zog durch das Loch oben ab.

Er drückte Elisabeth einen Topf in die Hand und sagte, sie soll ihn mit Schnee füllen, und als sie wiederkam, hängte er den Topf an einer Astgabel über das Feuer. Der Schnee war schnell geschmolzen, der Topf war nur halb voll Wasser. "Zu wenig", brummte Hermann. "Ich hol' noch was", sagte sie und kam mit drei großen Schneebällen zurück. Sie ließ einen vorsichtig ins Wasser fallen und sie schauten beide zu, wie er obenauf schaukelte und immer kleiner wurde. Auch der zweite und dritte passten noch hinein.

"Ich denke, das reicht", sagte Hermann. "Wofür?" Er zuckte mit den Schultern. "Vielleicht für eine Suppe", sagte Elisabeth. "Für eine Suppe?" empörte er sich. "Eine Suppe kriegst du auch zu Hause. Dafür muss man nicht das alles erst schaffen." Er bewegte den Arm vor sich im Halbkreis, als würde das Thüringer Land bis zum Horizont vor ihm ausgebreitet liegen, und Elisabeth glaubte die Stimme seines Vaters, des alten Grafen, herauszuhören. Aber dieses "schaffen" klang ein bisschen komisch, und sie musste grinsen. "Warum lachst du?" "Wegen nichts. Vielleicht könntest du auch einen Hirsch erlegen, dann machen wir uns einen Braten." "Könnte ich", sagte er und fühlte sich geschmeichelt. "Und was machst du solange?" Sie sah sich um. "Ich könnte aufräumen."

Das war genauso komisch, aber Hermann hatte wohl nicht richtig hingehört, er sagte unvermittelt "Du musst mich jetzt küssen." Elisabeth erschrak. "Was?" "Du musst mich küssen", wiederholte er so entschlossen, als hätte er es vorher hundertmal vor sich hin gesagt. "Aber wieso?" "Damit wir Kinder kriegen natürlich." Sie erschrak noch mehr, aber gleich darauf zerstreute sich ihre Befürchtung; irgendein Gefühl versicherte ihr, daß das eine mit dem anderen nicht viel zu tun hat. Sie starrte ihn an. Er sagte mit einiger Beherrschung "Ich bin jetzt dein Mann und du bist meine Frau, ich sorge für dich, und wir haben Kinder, so ist das." "Wann sind wir denn Mann und Frau geworden, das hab' ich gar nicht mitgekriegt." Er sah sie an, als wollte er prüfen, ob sie ihn hinhalten will, aber ihr Blick war so aufrichtig und auch voller Zuneigung, daß er sogar schlucken musste und unwillkürlich in Erklärungsnot kam. "Das war ... das ist eben schon passiert." Er stocherte mit einem Ast in dem Feuerchen herum, aber er tat es ohne die Aufmerksamkeit von vorhin und eher verdrießlich. Dann fügte er hinzu "Alle wissen es."

Damit hatte er Recht. Seitdem Elisabeth auf der Wartburg angekommen war und ihre neuen Eltern, den alten Hermann und seine Frau Sophia, begrüßt und umarmt hatte, seit diesem Tag ging überall die Rede davon, daß Hermann der Sohn und sie miteinander verheiratet werden sollen. Aber niemand sprach offen darüber und niemand sprach zu den beiden, die es ja zuerst anging, auch nur eine Silbe, nicht einmal Britta, die stets irgendwelche Ausflüchte suchte, wenn Elisabeth sie daraufhin fragte. Man behandelte sie wie einen Besitz, wie zwei Schmuckstücke, die zwar wertvoll waren und in allen Augen, welche sie betrachteten, einen entzückten Glanz hervorriefen, die aber auch Neid und Gier bei denen auslösten, die nicht nach ihrem Willen über sie verfügen konnten.

Als Elisabeth jetzt Hermann anschaute, wie er eigentlich ganz hilflos und verunsichert vor seinem selbst erschaffenen Feuerchen hockte, das er bestimmt mehr ihr, Elisabeth, zuliebe, als wegen seiner Prahlerei entzündet hatte, da fühlte sie, daß es ihm ebenso erging wie ihr und daß ihm so vieles unverständlich war. Und dann ahnte sie auch, weshalb Hermann hier draußen, ziemlich weit weg von der Burg und ihren Leuten, die Schneehöhle gebaut hatte: weil er im Grunde nicht recht wusste, wie er sich ihr gegenüber verhalten soll und sich fürchterlich schämen würde, wenn jemand zugesehen hätte, wie er sich vollkommen töricht und kindisch benimmt und noch so weit von dem entfernt ist, was man einen starken Mann nennt. Sie fragte "Wollen wir das Küssen noch einmal verschieben? Mir wäre es lieber." Die Ernsthaftigkeit, mit der sie den letzten Satz ausgesprochen hatte, beeindruckte Hermann und machte ihm Mut.

Es dunkelte schon, als sie zurückgingen. Hermann sagte, sie solle hier warten, er würde den Schlitten holen. Es war ihr jetzt unheimlich in der Schneehöhle bei dem verlöschenden Feuer und der hereinbrechenden Dunkelheit und Kälte. Aber Hermann beeilte sich und war bald wieder da. Sie setzte sich auf den Schlitten, und er zog, und sie bewunderte ihn, daß er den Weg so gut kannte und sie wohlbehalten heimbrachte.

Britta hatte sich verplappert und verraten, daß es einen alten Brauch gebe, mit dem ein Mädchen herausfinden kann, ob es im nächsten Jahr heiraten wird. Das muss ihr in Elisabeths Gegenwart wirklich so rausgerutscht sein, denn Britta war zu schlau, als daß sie solche Bemerkungen fallen gelassen hätte, die unweigerlich nur Unruhe stiften würden, wofür dann wiederum allein sie selbst die Schuld tragen würde.

Elisabeth hatte sofort aufgehorcht und auch sie war so schlau, scheinbar wie nebenbei von Britta Näheres zu erfahren. So redeten die beiden eine Zeitlang aneinander vorbei, bis Britta behauptete, sie könne sich an den genauen Ablauf für das, was man dabei tun muss, nicht mehr erinnern und zu einem anderen Thema überging. Elisabeth zog Hermann ins Vertrauen und meinte, es gebe da etwas, das sie unbedingt vollziehen müssten, um einen Einblick in ihr Schicksal zu gewinnen, und bei ihren Worten bekam er ein mulmiges Gefühl.

Er sagte, er wüsste da jemand, eine heilkundige Bußschwester namens Gertrud, die selbst zwar keine Nonne sei, sich aber oftmals in Reinhardsbrunn aufhalte, um ihr Wissen weiterzugeben. Reinhardsbrunn war das Hauskloster der Landgrafen seit ihrem Stammvater, oder genauer, seit dessen Sohn, Ludwig, dem sie den Beinamen der Springer gegeben hatten und der es bauen ließ; Elisabeth war auch schon dort gewesen, es lag wunderschön in einem Tal am Rande des Gebirges, umgeben von Wiesen und Feldern und Teichen.

Hermann schaffte es irgendwie, in drei Tagen herauszufinden, was es mit diesem Zauber, wie er sich ausdrückte, auf sich haben könnte. Elisabeth widersprach, es sei kein Zauber, denn ein Zauber verwandelt etwas in ein anderes. Dies hier sei eher ein Orakel. "Ein was?" fragte Hermann. "Das klingt ja wie was, das in der Kirche von der Decke runterhängt." Elisabeth lachte und meinte, es wäre einfach eine Vorausschau in die Zukunft, eine Weissagung, die alten Argiver würden so etwas gebrauchen, wie man ihr erzählt hatte. "Nenn' es wie du willst", winkte Hermann ab, "ich weiß jedenfalls, was man machen muss."

Dann fing er an, es ihr zu beschreiben, aber das klang noch schwieriger als Elisabeths fremdartige Bezeichnung, und vor allem war es völlig verworren und irgendwie unausführbar. Mit vielem Nachfragen stellte sich heraus, daß Hermann eigentlich nicht von einer, sondern gleich von drei verschiedenen Handlungen redete, die nötig waren, und die ihrerseits wieder aus einzelnen Schritten bestanden. Aber bei Hermann, der das ganze ja auch nur vom Hörensagen kannte, vermischte sich alles zu allerlei mehr oder weniger sinnlosen Tätigkeiten, bei denen zum Beispiel Zwiebeln, zerbrochene Schüsseln (oder solche, die man dafür zerschlagen musste) und Schuhe eine wichtige Rolle spielten.

"Also warte mal", unterbrach ihn Elisabeth abermals, "wenn ich das richtig verstanden habe, dann kann man aus den Zwiebelscheiben erkennen, welcher Monat des Jahres sehr feucht und welcher eher trocken sein wird." "Wenn man sie mit Salz bestreut", ergänzte Hermann. "Ja natürlich. Aber das interessiert mich doch gar nicht." "Nein?" "Hermann, ich will wissen, wie es mit der Heirat steht." "Ja, ich auch. Dann müssen wir das andere machen." "Das Geschirr zerdeppern?" "Ja, oder den Schuh werfen." "Muss das ein besonderer Schuh sein?" "Ja, ein ganz besonderer." "Was für einer?" "Er muss dir gehören, und er muss dir passen." "Ich verstehe, was du meinst, ich muss ihn auch tragen können." "Ich denke ja." "An so was sollte es nicht mangeln. Dagegen wäre die Sache mit dem Geschirr schwieriger." "Ich könnte welches besorgen, ich stecke einfach nach dem Essen ein paar Teller ein." "Das ist nicht gut." "Nicht gut? Wir haben das beste Geschirr weit und breit." "Eben. Wir können nicht einfach was kaputt machen. Außerdem würde es auffallen. Womöglich erzürnt dein Vater so sehr darüber, daß du bestraft wirst und wieder mal drei Tage Arrest kriegst." "Ach pfff!", wehrte Hermann überlegen ab, "ich habe einen Schlüssel, der zu allen Kammern passt, oder glaubst du, ich sitze den ganzen Tag herum, nur weil es meinem Herrn Vater so gefällt." "Dann warst du das doch, den ich letztens draußen gesehen habe, als du eigentlich mit Meister Immenberg das griechische Alphabet lernen solltest." "Na und. Nenne mir eine Sache, wo das griechische Alphabet einem nützlich wäre." "Da können wir ein andermal drüber nachdenken." "Da gibt es nichts drüber nachzudenken." "Kann sein, jedenfalls bin ich dafür, daß wir die Schuhe nehmen." "Ja, das macht auch nicht soviel Lärm", sagte Hermann, um Elisabeth noch einen Grund nach ihrem Gutdünken zu liefern.

Sie verabredeten einen Tag und einen Ort, an dem sie das Orakel befragen wollen. Elisabeth suchte ein Paar helle Leinenschuhe aus, die vorn und hinten einen Silberbeschlag hatten und so weder zu leicht noch zu schwer waren, denn man muss diesen Schuh über die linke Schulter nach hinten werfen. Aus der Richtung, in die er weist, wenn er auf dem Boden zu liegen kommt, kann man dann folgendes erkennen: liegt er mit dem Fersenende zur Tür hin, dann wird in diesem Jahr keine Hochzeit stattfinden; liegt er mit der Spitze zur Tür, dann wird das Mädchen die Stube als Braut verlassen. Zeigt er nach keiner der beiden Richtungen, dann kann man nichts Genaues sagen; und Elisabeth und Hermann wünschten gleichermaßen, daß dieser dritte Fall nicht eintritt.

Sie wählten einen Raum hinter den Vorratskammern, der nur eine Tür hatte. (Wie sonst hätten sie sich für eine von mehreren entscheiden sollen?) Elisabeth stellte sich nahe der gegenüberliegenden Wand auf und nahm den linken Schuh in die Hand. "Den anderen", sagte Hermann, der so daneben stand, daß er als erster sehen würde, wie er fällt. "Was?" "Rechter Schuh über linke Schulter. Es sei denn, bei dir liegt das Herz auf der anderen Seite." "Was? Du bringst mich ganz durcheinander." "Dann frag' nicht so viel und schmeiß' das Ding endlich, es ist kalt hier." Elisabeth zog den linken wieder an, nahm den rechten und holte aus. "Muss ich dabei die Luft anhalten und die Augen schließen." "Kannst du machen, wie du willst. Ich rate dir, nicht zu weit zu werfen, sonst knallt er an die Tür und ..."

Sie hatte aber schon geworfen. Der Schuh flog im Bogen durch den Raum und er wäre allerdings gegen die Tür geschlagen, wenn diese nicht genau in dem Moment aufgegangen wäre. Im Türrahmen erschien ein Junge in Jägerkleidung, mit einem runden, hellen Gesicht und langem braunem Haar, und als er den Gegenstand auf sich zukommen sah, hielt er geistesgegenwärtig die Hände auf und bekam den Schuh zu fassen, bevor er heruntergefallen wäre. Hermann sagte "Was machst du hier?" Elisabeth stand unverändert mit erhobenem Arm und presste die Augenlider aufeinander. "Kann ich gucken?" fragte sie und drehte sich um. "Ich habe euch gesucht", sagte der Junge.

Elisabeth schaute auf ihn, dann auf Hermann, dann auf ihren Schuh und suchte einen Anhaltspunkt, um irgendetwas zu deuten. Der Junge war ein bisschen verwirrt, aber nur, weil er nicht wusste, was sich hier abspielt. "Ich bin Ludwig", sagte er mit knabenhafter Stimme. "Na, Mensch, meinst du, ich kenn' dich nicht", gab Hermann zurück, dem es missfiel, daß die ganze Sache schiefgegangen war. "Habe ich ja auch bloß zu ihr gesagt", entgegnete der Junge ruhig, aber unbeeindruckt und mit einer Kopfbewegung zu Elisabeth hin. "Du kennst ihn doch auch, nicht wahr? Ludwig, meinen kleinen Bruder", sagte Hermann und zog die Augenbrauen hoch. "Na ja", meinte Elisabeth, die in Gedanken noch nicht wieder ganz hier war, "ich glaube, wir haben uns schon mal gesehen." "Sicher", sagte Ludwig und ein freundliches Lächeln huschte über sein Gesicht.

daß Hermann noch Geschwister hatte, war Elisabeth bekannt, er hatte sogar eine Schwester, die um vieles, manche sagten, zwanzig Jahre älter war als er. Und sie hatte auch schon den Namen Ludwig mehrmals nennen hören. Dieser Junge wohnte auf der landgräflichen Burg in Weißensee und die beiden Brüder sahen sich nur selten, entweder dort oder wie jetzt hier auf der Wartburg. Die paar Mal, wenn Hermann sich über seinen Bruder geäußert hatte, reichten kaum aus, um in Elisabeths Vorstellung ein Bild von ihm entstehen zu lassen, und so war sie jetzt weder überrascht noch enttäuscht, als sie ihm begegnete.

Er war nicht so groß wie Hermann und seine Bewegungen waren weniger fahrig und ungestüm wie bei jenem, der meistens nicht zu bremsen war, wenn er sich etwas Bestimmtes zu tun in den Kopf gesetzt hatte. Ludwig wirkte bedächtiger, beinahe etwas zu langsam oder müde. Aber das täuschte, denn in Wirklichkeit mochte er sich alles, was er unternehmen wollte, erst genau überlegen, und deshalb waren seine Gesten behutsam, aber gleichermaßen entschlossen und kraftvoll.

Das gab ihm eine besondere Geschmeidigkeit in seinem Gang und in seinen Handlungen, die noch durch einen aufmerksamen bis durchdringenden Blick (der allerdings manchmal mehr nach innen als auf die Außenwelt gerichtet schien) und durch eine merkwürdige Entspanntheit in seinen Zügen, betont wurde. Kein Zweifel, er machte auf Elisabeth einen angenehmen Eindruck, und das, obwohl er dieses Jägerkostüm anhatte, das eigentlich, anstatt ihn erwachsener zu machen, ein bisschen unpassend wirkte. Er beurteilte das jedoch ganz anders, und sie sollte bald darauf erfahren, wie empfindlich er reagierte, als sie ihn deswegen belächelte. Er legte großen Wert auf seine äußere Erscheinung, aber mitunter waren es gerade die ausgeprägten und unverwechselbaren Eigenschaften seines Charakters, die er glaubte durch äußerliche, auffällige Zeichen hervorkehren zu müssen und sie dadurch eher verdeckte oder von ihnen ablenkte.

Elisabeth war rasch klar geworden, daß Ludwig in seiner besonnenen Art, obwohl sie vielleicht zu besseren Taten taugte, gegenüber seinem Bruder in den Augen der anderen stets ins Hintertreffen geriet. Als sie später das Gerücht vernahm, wonach eigentlich Ludwig der ältere war, und man dagegen Hermann, natürlich auch begünstigt durch seine große Gestalt, für den Erstgeborenen ausgab, der die Nachfolge des Vaters antreten würde, da dachte Elisabeth, dieser Tausch und diese Täuschung, so sie denn tatsächlich erfolgt waren, sei auch Ludwigs offensichtlichem Mangel an Ehrgeiz und an jener gesunden Rücksichtslosigkeit geschuldet, die von Männern, welche dieses Amt zum Nutzen all' derer, die sie letztlich darin eingesetzt hatten, erwartet wurde. Denn wollte man ein starker Landgraf sein, wie ihn sich alle wünschten, dann durfte man keinesfalls, auch nicht nur gelegentlich, so einen träumerischen Blick aufsetzen, wie er Ludwig manchmal anwandelte. Von einem seiner Ludowinger Vorfahren ging die Sage, ein Schmied im Wald habe ihm durch den Anblick seiner ohrenbetäubenden Schläge mit dem Hammer auf den Stahl und Amboss die Schwäche und Unentschlossenheit ausgetrieben, die man ihm vorwarf. Einen Schmied als Erzieher, nichts weniger hätte sich dieser junge Ludwig hier gewünscht.

daß er seinen Jägeraufzug so schätzte, hatte einen naheliegenden Grund: seine Lieblingsbeschäftigung war eben das Jagen, und zwar die Beizjagd mit Habichten, von welchen er mehrere besaß und sie hegte und pflegte. Im Sommer reiste Elisabeth anlässlich irgendeines Familienfestes mit dem Landgrafen und seinem Gefolge nach Weißensee und traf dort Ludwig wieder. Als die Feierlichkeiten vorbei waren und die Verwandten wieder abrückten, blieb Elisabeth auf ihren eigenen Wunsch hin noch ein paar Tage länger da; es wurde ihr eine kleine Schar von jungen, fähigen Rittern, Mägden und Knechten unter Führung des Walter von Vargula an die Seite gegeben, die sie nach Ablauf der Zeit heimbegleiten sollten.

Sie war jeden Tag mit Ludwig zusammen, sie machten zu Pferde weite Ausritte, und Ludwig zeigte ihr die Gegend, die viel ebener war als bei Eisenach, von langgestreckten, gelinde ansteigenden Hügeln durchzogen, die von lichten Wäldchen mit schlanken Bäumen bedeckt waren oder sich als Heide, auf der allenthalben Schafe weideten, hin zu dem flachen und stellenweise ziemlich breiten Fluss ausdehnten, der sich durch das Land schlängelte und über den am Fuße der Burg eine steinerne Brücke führte, auf der spät an den Nachmittagen die Hufe ihrer beiden Pferde klapperten, wenn sie zurückkehrten.

Auch gab es zahlreiche Teiche, in denen Fische aufgezogen wurden, und etliche Fürsten, selbst aus entfernteren Regionen, hatten hier Pachtrechte erworben. Mit einem Kahn trieben die beiden gemächlich auf dem Wasser umher und unterhielten sich oft ein, zwei Stunden ohne Pause, und dann ergriff Ludwig die Ruder und brachte sich und Elisabeth an den Steg zurück, der etwas verborgen im Schilf in den Teich ragte. Ohne sich dessen ausdrücklich bewusst zu werden, fand Elisabeth die Gespräche mit Ludwig wohltuend und anregend. Er hörte ihr gern und geduldig zu, und wenn er etwas sagte, so steckte darin meistens irgendeine Einzelheit, die Elisabeth neu war, und sie sah, daß er seine stille Freude daran hatte, es ihr mitzuteilen.

Am besten gefiel ihr seine Leidenschaft für die Habichte und natürlich die schönen Vögel selbst, um die sich Ludwig fast ganz allein kümmerte, lediglich unterstützt von zwei Gehilfen und angeleitet von einem erfahrenen Falkner, der aber nicht ständig anwesend war. Einen Habichtsterzel hatte Ludwig selbst im Vorjahr aus dem Nest geholt und ihn seitdem aufgezogen. Er zeigte ihr auch, als sie daran vorbei ritten, den hohen Baum, wo der Horst zu sehen war. "Da hoch bist du geklettert?" fragte sie ungläubig. Er erklärte ihr, wie er unten am Stamm mit Hilfe von Steigeisen hinaufkam und dann über die großen Äste weiterkletterte. Wie die meisten Horste war auch dieser nahe am Stamm gebaut. Wie er den kleinen Vogel dann nach unten gebracht habe, wollte sie wissen. "In einem Körbchen an einem Strick hinabgelassen."

Inzwischen hatte er dem Habicht beigebracht, auf dem ledernen Fausthandschuh zu sitzen, von dort loszufliegen und auch wieder zu landen. Elisabeth war beeindruckt von der schönen braunen Färbung des Federkleides und von dem hellen gestreiften Muster auf der Brust. Der Habicht schaute sie aus seinen scharfen Augen an, über die sich lange, gerade Brauen wölbten und ihm ein sehr strenges Antlitz gaben. Es schien ihr, als würde er sie nicht eben willkommen heißen.

An einem anderen Tag nahm Ludwig den Habicht mit auf eine hügelige Wiese, wo es Kaninchen gab, die er jagen sollte. Ob er denn auch einen Namen habe, fragte Elisabeth, und Ludwig sagte "Er hört auf 'kirro'." "Kirro? So heißt doch der andere Habicht auch?" "Ja, sie hören alle auf diesen Namen." "Das ist aber merkwürdig. Wie hält man sie dann auseinander?" "Man hält sie nicht am Namen auseinander, sie sehen doch ganz verschieden aus. Eigentlich brauchen sie keine Namen, und es ist auch nicht ganz sicher, ob sie überhaupt darauf hören. Im übrigen ist ja immer nur einer bei der Jagd, den kann man nicht verwechseln. So, jetzt pass' auf, ich lasse ihn fliegen." Der Habicht schwang sich in die Luft, flatterte und segelte ein Stück, drehte eine Runde und ließ sich dann auf einer Kiefer nieder, wo er anfing, sein Gefieder zu putzen. Ludwig war erst sprachlos und dann fluchte er leise; Elisabeth musste kichern. "Das kommt vom Sonnenschein", sagte Ludwig, "es ist zu gutes Wetter heute." "Mir gefällt's." "Ihm gefällt's auch, aber da ist er zu faul zum Jagen."

Beim zweiten Mal begleitete sie einer der Gehilfen und sie nahmen ein Frettchen im Kasten mit, das in den Kaninchenbauen herumstöbern und die Beute hinaus scheuchen sollte. Ludwig erzählte, wie sie das schon mit Erfolg praktiziert hatten, und der Gehilfe, der mit Schorf und Warzen übersäte Hände hatte und dauernd grinste, bestätigte das. Der Habicht und das Frettchen würden sich gut vertragen, versicherten die beiden, aber es klang so, daß Elisabeth jeden Augenblick erwartete, der Vogel würde dennoch seine nadelspitzen Krallen in das weiße Fell des kleinen Tierchens bohren und es blutrot färben.

Aber es war die meiste Zeit in den Kaninchengängen verschwunden, und tatsächlich hoppelten bald ein paar davon durchs Gras. Elisabeth konnte beobachten, wie der Habicht sich eins ausgespäht hatte, immer niedriger flog und endlich, als er nur noch im geringen Abstand über seiner Beute war, schnell wie ein Pfeil hinabstürzte. Aber er verfehlte es oder es hatte im letzten Moment einen Haken geschlagen. Er flatterte ihm hinterher, nahm einen neuen Anflug, doch das Kaninchen hatte sich in ein Brombeergestrüpp geflüchtet, wo der Habicht Gefahr laufen musste, sich selbst zu verletzen. Schließlich kam er zurück auf Ludwigs Faust, der ihn für seine Anstrengung mit ein paar Bissen Fleisch belohnte.

Dann regnete es einen ganzen Tag lang, und sie beschäftigten sich mit den Habichten und allem, was sonst zu tun war, wenn man nicht auf die Jagd ging. Ludwig zeigte Elisabeth seine ganze Ausrüstung, vor allem die Teile, auf die er besonders stolz war. Darunter war eine Falknertasche aus Leder mit einem Besatz aus geschnitztem Hirschhorn, der eine Beizjagdszene darstellte. Diese Tasche, dazu Drahlen und Fesseln, wie die Riemen zum Festhalten hießen, sowie ein Paar Schellen, eine aus Silber und eine aus Messing, waren ein Geschenk vom Kaiser Friedrich persönlich, der selbst ein begeisterter Falkner war und darüber sogar ein Buch verfasst hatte.

Ludwig erwähnte auch, daß dies Geschenk ursprünglich in Hermanns Hände gegeben worden sei, weil Hermann als des Thüringer Landgrafen Sohn dem Kaiser geläufiger war, aber Hermann hatte sich nie für so etwas interessiert. Elisabeth dachte darüber nach, warum Ludwig ihr das erzählt hat, und sie meinte, er habe damit indirekt andeuten wollen, es sei ihm durchaus bewusst, daß seine Fähigkeiten oft unterschätzt werden, er aber am Ende doch sein Ziel erreichen könnte.

Ludwig und der Gehilfe bauten an dem einen Schuppen herum, während Elisabeth mit den Frettchen spielte, die unvergleich zutraulicher waren als die Habichte. Ludwig zeigte ihr, wie man eins am Nacken packt, und sie nahm es genauso hoch; da hing es herab und ließ Ärmchen und Beinchen baumeln und schaute sie aus seinen roten Augen an. Dann gähnte es auch noch, und Elisabeth musste lachen. "Das ist die Tragschlaffe, wenn sie so runterhängen", erklärte Ludwig und fügte hinzu "wenn sie ranzen, dann packt das Männchen das Weibchen auch so im Nacken und schleppt es herum." "Wenn sie tanzen?" "Ranzen. Das ist, wenn sie ... also wenn sie kopulieren." Elisabeth fragte nicht weiter; Ludwig schaute sie ganz arglos an, und erst im nächsten Moment wurde sein Gesicht purpurrot. "Aha, so ist das", stammelte Elisabeth, "wieder was dazugelernt."

Und einmal machten sie Jagd auf die Enten am Teich. Statt der Frettchen war ein schwarzweißer Münsterländer Hund dabei, der gegebenenfalls die Ente aus dem Wasser holen musste. Diesmal war der Habicht in großer Form, vielleicht hatte er mehr Lust auf Enten als auf Kaninchen. Er flog unbemerkt an sie heran und fing eine, bevor die ganze Schar vom Ufer weg flüchten konnte. Er hielt mit einem seiner Fänge ihren Kopf fest, den anderen hatte er in ihren Hals gekrallt. Die Ente schlug verzweifelt mit den Flügeln, und die Schellen an den Habichtsfüßen bimmelten, als er sich ihren Zuckungen entgegensetzte, sie konnte ihn nicht mehr abschütteln und rasch erlahmte ihre Kraft. Ludwig trat hinzu und gab ihr mit dem Stilett den Todesstoß ins Genick. Der Habicht wurde wiederum für seine Mühe belohnt, die Ente gab es abends gebraten zum Essen, wozu auch der Gehilfe eingeladen wurde. Der Hund aber war eine Zeitlang verschwunden und kam erst am nächsten Tag wieder.

Elisabeth war schon seit ein paar Wochen wieder auf der Wartburg, aber fast täglich erinnerte sie sich an die Tage in Weißensee. Hermann war das wohl aufgefallen, und er versuchte auf seine Art, sie abzulenken und ihre Gedanken zu zerstreuen. Es war bestimmt nett gemeint, aber es half nicht richtig. Noch bevor sie sich über ihr Verhältnis zu Hermann klar werden konnte, spürte sie, daß die Entfernung zwischen ihnen und ihrer beider Wesen mit jedem Tag größer wurde. Dabei vermisste sie nicht etwa eine Ähnlichkeit, welche ihn und sie in Geist und Gemüt noch näher zusammengeführt hätte; denn ebenso gut, so dachte sie, hätte eine Verschiedenheit, ja Gegensätzlichkeit das gleiche bewirken können.

Es kam ihr vor, als hätte sie schon zu der Zeit, als sie noch nicht mit Hermann zusammen war, geahnt, daß ihre Bekanntschaft nur eine Episode sein sollte, und das war eigentlich eine unverschämte Begründung, auch in Anbetracht der bevorstehenden Verheiratung, um derentwillen sie anscheinend zuallererst von ihrer Heimat fortgeholt worden war. Aber das Gefühl in ihrem Herzen, welches ihr diese Begründung vermittelte, behauptete sich so stark, daß Elisabeth es selbst gegen ihren guten Willen und auch mit unmissverständlicher Zurückweisung von Hermanns Zuneigung zu ihr akzeptieren musste. Hätte das noch länger gedauert, so wäre die Kluft zwischen ihnen beiden nicht mehr durch das unauffällige Ausweichen voreinander für andere unsichtbar geblieben, sondern jeder fremde Beobachter hätte sie bemerkt, und die Reaktionen darauf mochte sich Elisabeth gar nicht ausmalen.

Hermann war nichts anzumerken, er benahm sich aufgeweckt und abenteuerlustig wie eh und je. Er hatte unter den Wachleuten ein paar neue Freunde gefunden und mit ihnen unternahm er manchen Streifzug in die Stadt und auch in Viertel, wo ihn der alte Landgraf niemals hingelassen hätte. Drei oder vier Wochen lang erhielt er Unterweisungen bei den Mönchen in Reinhardsbrunn, und Elisabeth sollte ihn dort besuchen, aber das schlechte Wetter machte es unmöglich. Sie vertrieb sich die Zeit mit Stickereien, die Britta ihr beibrachte, und sie versuchte sich an einem Motiv mit dem aufrecht gehenden Löwen, dem Wappentier der Thüringer.

Einmal ging Britta in ihren Hinweisen und Erläuterungen weit über das hinaus, was man so zum Sticken beherrschen musste. "Schau' her, Lisbeth", sagte sie und wendete den Stickrahmen von der Ober zur Unterseite mehrmals hin und her. "Genau besehen ist auf beiden Seiten eine Stickerei, nur mit dem Unterschied, daß man auf der Unterseite kein Motiv erkennen kann. Die Fäden verlaufen hier völlig durcheinander, sie kreuzen sich scheinbar zufällig, und wenn man sich nicht bemühte, Zwirn zu sparen, so könnte man die Nadel einmal hier, das nächste Mal dort, beim dritten Mal wieder an einer entfernteren Stelle einstechen und den Faden durch den Stoff ziehen; glaube mir, das Löwenbild gelingt einem am Ende doch, auch wenn man ein erst ein Stückchen am Kopf, dann ein bisschen Pranke, dann zwischendurch am Schweif stickt. Natürlich macht man es nicht so, sondern immer schön der Reihe nach.

Aber was ich dir eigentlich damit sagen will, meine Lisbeth, ist dies: ein Muster entsteht auf beiden Seiten des Stoffs und irgendein Muster entsteht immer, sobald man den Faden von einer Seite zur anderen und wieder zurück führt. Was meinst du, was ist der Grund dafür, daß wir dennoch die Oberseite für die richtige halten und nur sie unseren Blicken für würdig befinden?" "Ich denke", erwiderte Elisabeth, "nur diese eine Seite stellt etwas dar, nur in diesem Muster erkennen wir den Löwen und erfreuen uns an seinem Bild; die Unterseite ist ein purer Wirrwar." "Richtig", sagte Britta, "aber beide Muster, das mit dem Löwen und das mit dem Wirrwar sind in Wirklichkeit nur zwei Muster von unendlich vielen möglichen Mustern, verstehst du das?" "Ich denke schon, ich könnte ja jeden Tag irgendwas aufs Geradewohl sticken und würde mich nicht wiederholen."

Nach einer Pause sagte Elisabeth "Ich glaube, ich weiß, was du damit andeuten willst. Unter allen diesen unzähligen Mustern geben wir nur einem den Vorzug, nur eines ist, das uns gefällt." Britta nickte, und Elisabeth fuhr fort "Und mehr noch, die anderen Muster sind unschön, wertlos, würde jemand von einem behaupten, es gefällt ihm viel besser als der Löwe, dann würde man ihn für einen Spinner halten oder sagen, er will die anderen mit seiner Behauptung bloß ärgern."

"Zweifellos", sagte Britta. "Weißt du was, Lisbeth, manchmal denke ich, mit unserem Leben ist es ebenso. Es ist wie ein Faden, der sich durch den Stoff zieht, einmal auf der Oberseite und dann wieder auf der Unterseite, aber es ist ein Faden mit einem Anfang und einem Ende. Und gibt es nun da oben im Himmel einen Gott, der unser Leben anschaut, so wie wir eine Stickerei anschauen können, dann frage ich mich, welches Muster wird ihm am besten gefallen?" "Aua", rief Elisabeth, die sich in den Finger gestochen hatte, weil Brittas kühne Schlussfolgerung sie nun doch von ihrer Arbeit ablenkte. Dennoch konnte sie ihre Worte nicht mehr vergessen.

An dem Tag, als das Unglück geschah, war Elisabeth mit Britta in die Stadt gegangen. Als sie wieder auf der Burg waren, hatte man Hermanns Leiche bereits weggebracht. Was genau geschehen war und vor allem, wie es so weit kommen konnte, wusste niemand mit letzter Gewissheit zu sagen. Aber plötzlich konnte man manche Stimme hören, die davon sprach, daß Hermann ja schon immer einen Hang zu unberechenbaren, einige sagten sogar wahnwitzigen Handlungen hatte. Aus dem obersten Fenster des hohen Turms hatte er ein Seil herabgelassen, oben befestigt und unten mit einem dicken Knoten versehen; das hing wohl an die zehn Meter herunter. Daran war er in der schwindelerregenden Höhe hinabgeklettert, über dem Felsen, der tief unten kalt und schroff ruhte. Es gab keine Zeugen, und er hatte vorher niemandem etwas gesagt. Das Seil hinab muss es allem Anschein nach leicht gegangen sein, was man sich vielleicht noch erklären konnte. Auch hatte Hermann, wie man wusste, keinerlei Höhenangst. Aber der Weg zurück am Seil hinauf, der einzige, der ihm gegeben war, muss ihm zu schwer gefallen und zum Verhängnis geworden sein. Ob er aus Mutwillen oder aus Leichtsinn zuerst bis zu dem Knoten sich hinab gelassen hatte oder vielleicht nur bis zur Hälfte gekommen war, blieb ungeklärt. In jedem Fall hatten ihn seine Kräfte verlassen, er war von dem Seil abgestürzt und unten auf dem Felsen aufgeschlagen.

Elisabeth weinte Tag und Nacht, sie hätte ihr eigenes Leben dafür geopfert, wenn dadurch Hermann in seines zurückgekehrt wäre. Aber er kam nicht wieder. Man beerdigte ihn am Landgrafenhof in der Stadt, und die Trauerfeier war noch nicht im Gange, als darüber gemunkelt wurde, ob dem Jungen ein Begräbnis mit dem heiligen Sakrament zugestanden werden könne, wenn sein Tod vielleicht kein Unfall war, sondern von eigener Hand herbeigeführt worden sei. Der alte Landgraf donnerte nur einmal mit Bärenstimme und außer sich vor Zorn in das boshafte Geflüster drein, und in seinen Augen konnte man Tränen sehen, aber danach herrschte Ruhe, wie sie für den Augenblick angemessen war. Man ersparte Elisabeth die Zeremonie, sie hatte sich vorher an Hermanns Sarg allein und still von ihm verabschiedet.

Gertrud von Flossenburg, jene Bußschwester, die Hermann seinerzeit über das Hochzeitsorakel ausgefragt hatte, spielte dem Landgrafen ein paar Informationen zu, nach denen sie angeblich wüsste, daß es zwischen dem unglücklichen Hermann und Elisabeth zu einer geheimen Absprache gekommen war, nach welcher Elisabeth von dem Jungen eine Art Mutprobe verlangt hätte zum Beweis seiner Eignung als ihr zukünftiger Gemahl. Und damit ihrer frevelhaften Forderung nicht genug, sie habe ihm auch noch mit Ächtung und Verweigerung gedroht, wenn er darauf nicht einginge. Der Landgraf konnte nicht anders, als die Vorwürfe zur Sprache zu bringen, auch um dem verlorenen Sohn und sich den Frieden zu geben.

Elisabeth brach ohnmächtig zusammen, als sie mit den Lügen dieser Frau konfrontiert wurde. Schon ihr erster Anblick, ihre fürchterlich hagere Gestalt und ihr totenbleiches Gesicht mit den tief in ihren Höhlen lauernden Augen hatten Elisabeth vor Schreck erstarren lassen. Der Landgraf zeigte sich unerbittlich und sie musste gleich, als sie sich erholt hatte, Rede und Antwort stehen. Aber was sollte sie sagen? Was wollte der alte Hermann von ihr hören? Sie zitterte bloß am ganzen Körper. Britta wollte ihr helfen und mischte sich ein, aber man verbot ihr das Wort. Da geschah etwas Seltsames. Ludwig, welcher bei dem Begräbnis anwesend war, trat ein und erklärte, er habe mit seinem Bruder Hermann darum gewettet, wer es wage, sich über einem Abgrund am Seil hinabzulassen und wieder hochzuziehen, Hermann habe dafür offenbar seine Geschicklichkeit erprobt.

Gertrud wandte ein, daß, wenngleich es eine Übung war, es doch äußerst verwunderlich sei, wie Hermann sie ganz ohne jede Hilfe ausgeführt habe, zumal wenn sie dazu diente, dem Bruder seine Überlegenheit vorab zu demonstrieren. Sie strengte sich so sehr an, Elisabeth zu verleumden, daß sie noch weitere Argumente ins Feld führen wollte, als der alte Landgraf sie unterbrach und Ludwig fragte, wann diese Wette abgemacht worden wäre. Und da geschah eine zweite Merkwürdigkeit: als Ludwig daraufhin erwiderte, dies sei in Reinhardsbrunn geschehen, wo auch er für ein paar Tage geweilt hatte, da bekam des alten Landgrafen Gesicht einen Ausdruck, wie wenn es für einen Moment versteinert ist und das Blut in seinen Adern versiegt, dann fragte er zur allgemeinen Verblüffung der Anwesenden "Was für ein Reinhardsbrunn?"

Auch wenn Elisabeth mit Ludwig später nie über diesen Vorfall sprach, so deutete sie ihn im Nachhinein als eine der ersten untrüglichen Ankündigungen jenes furchtbaren Dämons, der den Grafen gegen Ende seines Lebens in seine Gewalt brachte. Und in Ludwigs fassungslosem Blick, den er ihr zuwarf, konnte sie seine Befürchtung ablesen, der Verlust des Sohnes würde dem Vater die Seele zerreißen, so sehr hing er an ihm.

Ludwig schaffte es, daß der Bruder ohne üble Nachrede ins Reich der Seligen verabschiedet werden konnte, und zugleich wurde Elisabeth von jedem Verdacht gereinigt. Ludwig reiste bald nach Weißensee ab, er und Elisabeth wechselten diesmal nur wenige Worte. Erst etliche Wochen später sahen sie sich wieder.

Auf der Wartburg wurden einige bauliche Veränderungen vorgenommen, und so zog Elisabeth mit ihren getreuen Mädchen und Frauen auf die Creuzburg, die hoch auf dem Hügel über einer Biegung der Werra lag und wo es ihr bald ebenso, und was den wunderhübschen Garten betraf, sogar noch besser gefiel als am bisherigen Ort. Kleine Parzellen waren mit niedrigen Buchsbaumhecken eingefasst, wo Kräuter aller Herkunft und für jeden Zweck, ob in der Küche oder für die Heilkunde, wuchsen. Die meisten waren ziemlich unscheinbar, einige strömten einen aromatischen Duft aus, und andere hatten niedliche Blüten, die man erst aus der Nähe richtig bestaunen konnte. Es gab an einer Seite einen Rosenhag, wo eine besondere Sorte an Holzgittern emporrankte. Jemand sagte ihr, diese Rosen wären mit den heimkehrenden Kreuzfahrern aus der Levante gekommen, wo sie an einem bestimmten Ort gezüchtet werden.

Weiter hinten stand ein Kastanienbaum, welchem vor vielen Jahren die Krone abgebrochen war (manche sagten durch Blitzeinschlag) und der eigentlich danach gefällt werden sollte, was man aber Gott weiß warum unterlassen hatte, und die Baumkrone hatte im Laufe der Zeit eine ganz eigentümliche Form angenommen, die im Sommer wirklich das buchstäbliche Blätterdach bildete, in dessen Schatten Elisabeth so gern verweilte. An einer Ecke des Gartens war in der Mauer ein kleiner Durchschlupf, und dahinter führte eine schmale Steintreppe hinunter fast bis zum Rand des Dorfs, das an dem einen Flussufer lag. Dieser Durchgang konnte natürlich verriegelt und verrammelt werden, wenn der Burg und ihren Bewohnern Gefahr drohte, und auch die Treppe konnte man dann angeblich unbegehbar machen, obwohl Elisabeth niemanden fand, der ihr erklären konnte, wie das geschieht.

Eines Tages tauchte zu Elisabeths Überraschung das Mädchen auf, mit dem sie seinerzeit in Eisenach hinter der Bäckerei Kling gespielt und mit dem sie sich angefreundet hatte. Was sie denn hierher führte, fragte Elisabeth, und die andere erwiderte in wichtigem Ton, das habe zwei Gründe: zum einen will sie Elisabeth besuchen, nachdem sie erfahren hat, daß sie sich hier aufhält; und zum anderen hat sie hier im Ort Verwandte. Übrigens sei sie zu Pferde hergekommen. Als sie auf der Wartburg nach ihr gefragt und gesehen hat, daß Elisabeth nicht da ist, hat der alte Gregor ihr das Pferdchen Salto gegeben, das ihr ganz prima gehorcht und mit dem sie für den Weg bloß eine gute Stunde braucht. Elisabeth freute sich auch, Salto wiederzusehen, und im ersten Moment war sie sogar ein bisschen eifersüchtig, daß sich das liebe Tier so mir nichts dir nichts mit ihr anfreundet.

Elisabeth nahm sie an die Hand und zeigte ihr alles, und sie besuchten auch die Verwandten, eine Familie mit unzähligen Kindern jedes Alters, von denen ständig zwei oder drei krank waren. Es gab unter ihnen auch einen Jungen, den man den Finkenmichel nannte, wegen seiner schrecklich hohen Stimme und weil er auch meistens nichts weiter von sich gab als irgendwelche Laute, die einem Vogelzwitschern ähnelten.

Aber er konnte herrliche Grimassen schneiden, daß man annehmen musste, er sei nicht mit einem, sondern mit vielen verschiedenen Gesichtern auf die Welt gekommen, die er abwechselnd aufsetzte, und man wollte sich bei seinem Anblick ausschütten vor Lachen. Außerdem war er so mager und gelenkig, daß er Arme und Beine auf das erstaunlichste verrenken konnte. Der Finkenmichel gab immer regelrechte Vorstellungen, bei denen man ihm Beifall klatschte, und seine Mutter sagte einmal zu Elisabeth, sie befürchte, die Zigeuner, wenn sie hier durch ziehen, könnten ihn mitnehmen, weil sie so einen Spaßmacher für Geld vor den Leuten auftreten ließen.

An manchen Tagen fühlte sich Elisabeth sehr allein, oder sie fand keine Ruhe und wäre am liebsten fortgelaufen, irgendwohin, nur damit sie spürte, wie sie vorwärtskommt. Sie blieb lange wach und schaute nach der untergehenden Sonne, und wenn längst alles dunkel war, träumte sie immer noch mit offenen Augen vor sich hin. Dann wieder erwachte sie frühmorgens noch vor Tagesanbruch, stand auf, kämmte sich lange das Haar und wartete auf die Morgendämmerung und darauf, daß die ersten Strahlen über dem Horizont hervorbrechen und das gleisende Licht ihre Stirn und Wangen erwärmt.

"Britta", sagte sie und versuchte, ihre Schwermut und Langeweile mit frischer Miene zu verscheuchen, "sing' mir etwas vor." "Etwas Lustiges oder etwas Trauriges?" Elisabeth überlegte. "Gibt es ein Lied, das weder dies noch jenes ist?" Und mit gespielter Bekümmerung und beinahe kichernd kläglich fügte sie hinzu "Ach Britta, mich verlangt nach einem geheimnisvollen Lied, das meine arme Seele den ganzen Tag lang beschäftigen wird." "Nun denn", erwiderte Britta und hub an und sang das Lied von dem Reiter am Tor, und wenn Elisabeth auch nicht gänzlich verstand, wovon es handelte, meinte sie doch im Nachhinein, Britta hatte wohl genau das richtige getroffen.


Es zog ein Reiter zum Tore hinaus,
Ade!
Feins Liebchen schaute zum Fenster hinaus,
Ade!
Und wenn es denn soll geschieden sein,
So reich' mir dein goldenes Ringelein,
Ade! Ade! Ade!

Es scheidet der Liebste zur falschen Stund,
Ade!
Es macht mir der Abschied das Herze wund,
Ade!
Schickt er einen Gruß von ferne her,
Wenn er nur bald wieder bei mir wär'
Ade! Ade! Ade!

Und der uns scheidet, das ist der Tod,
Ade!
Er scheidet so manches Mägdelein rot,
Ade!
Sie wär' doch geworden der süße Leib,
Der Liebe entzückender Zeitvertreib,
Ade! Ade! Ade!

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Tag der Veröffentlichung: 15.07.2010

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