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Punkt 12 Uhr. Wie jeden Mittag saß Karl an dem kleinen Esstisch am Fenster. Blütenweiße Tischdecke. Exakt ausgerichtetes Besteck. Vor sich einen Teller mit einem Fertiggericht. Da es Dienstag war, gab es Gulasch mit Spätzle. Längst nicht vergleichbar mit dem Essen, das seine Mutter früher für ihn gekocht hatte. Aber nach all den Jahren hatte er sich an den faden, künstlichen Geschmack der Gerichte gewöhnt. Wie an die Tatsache, dass sie in Wirklichkeit nie so aussahen wie auf der Verpackung vorgegaukelt. Das sogenannte Gulasch war immer noch besser als die Königsberger Klopse, die er sich mittwochs erwärmte. Oder das Bami Goreng, das es donnerstags gab. Nur an jedem Samstag ließ er sich was liefern, das dem Gaumen mehr Freude bereitete. Letztes Wochenende hatte er sich beim Fischhändler Brathering mit Hausmacher-Kartoffelsalat bestellt. Ein wahrer Festschmaus war das gewesen.

Seit fast genau fünfzehn Jahren hatte er die Wohnung, in der er sein ganzes bisheriges Leben verbracht hatte, nicht mehr verlassen. Ließ sich alles, was er brauchte, anliefern. Als ES begann, hatte er immer wieder versucht, sich zu überwinden, die Haustür geöffnet, ein paar Mal gar das Treppenhaus betreten. Doch stets bekam er einen Migräneanfall, die Welt verschwamm vor seinen Augen. Sein Puls schnellte auf 180 Schläge, sein Körper schüttete Stresshormone aus. Heftig atmend hatte er sich umgewandt, war zurück in die Wohnung getaumelt und hatte rasch die Tür geschlossen. Irgendwann hatte er die Versuche eingestellt, sich seinem Schicksal ergeben. ES besaß auch einen medizinischen Namen: Agoraphobie. Er hatte viel darüber gelesen, ES beschränkte seine Welt auf die 75 Quadratmeter, die er sein Heim nannte. Nun, immerhin hatte dieses einen gewissen Altbaucharme, unbestritten. Beste Lage, mit Blick auf die Gärten.

Die erste Panikattacke hatte er hier in der Wohnung, damals noch die seiner Mutter. Er war 53 Jahre alt gewesen, hatte als Sekretär im Kreischorverband gearbeitet, in dem sie als erste Sopranistin gefeiert wurde. Dann hatte er sie morgens gefunden. In ihrem Bett. Kreidebleich, mit leerem Blick und leicht geöffneten, bläulichen Lippen. Einen ganzen Tag hatte er neben ihr auf der Matratze gesessen und sie angestarrt. Der Tod hatte ihr den allerletzten Rest Charme geraubt. Was blieb, war wie ein Haus ohne Möbel.

Im Hintergrund sprach die angenehme Stimme einer Nachrichtensprecherin zu ihm aus der Ministereoanlage, während er aß. Demonstrationen in Hongkong gegen Chinas Sicherheitsgesetz. Unruhen in den USA. Der Terror des IS in Syrien. Die Corona-Pandemie. Herrje, eine Mund-Nasen-Maske brauchte er nun wirklich nicht. Und erst das Gejammer der Leute über die Isolation. Für ihn hatte sich durch die Coronakrise rein gar nichts geändert. Aber wenn er sich die Nachrichten so anhörte, fühlte es sich drinnen besser an.

Er spießte die letzten Spätzle auf und schob sie sich in den Mund. Aufgegessen. Bist ein braver Junge, morgen scheint die Sonne, hörte er seine Mutter sagen. Sie war eine herrische, nervtötende Person gewesen, aber wenn sie zudem auch noch schlecht gelaunt war, hatte er stets das Gefühl gehabt, als streckte sie hundert unsichtbare, aber extrem aufdringliche Finger aus, die sich ihm schwer auf die Schulter legten, so dass er automatisch kleiner wurde. Dennoch, manchmal vermisste er sie und ihre geträllerten Tonleitern.

Karl schlurfte ins Bad, klappte die Klobrille hoch. Sohnemann, du sollst doch im Sitzen urinieren. Pfui! Tja, Mutter, macht aber mehr Spaß im Stehen. Er genoss das Plätschern, blickte aus dem winzigen Badfenster, dem Hoffensterchen, wie sie es immer genannt hatte. Öffne das Hoffensterchen, wenn du dein großes Geschäft verrichtet hast. Wehe, wenn er vergessen hatte, zu lüften. Ihre Tiraden waren berüchtigt. Mutter hasste schlechte Gerüche, war selbst immer von einer Wolke teuren Parfums umgeben gewesen, von dessen Intensität er Kopfschmerzen bekommen hatte.

Er senkte die Augen, während sich seine Blase leerte. Hinter dem Klosett huschten zwei glänzende Silberfischchen vorbei, er sah ihnen interessiert zu. War ihm doch egal, dass man sagte, sie tauchten nur dort auf, wo es nicht sonderlich sauber und hygienisch war. Wen störten sie denn? Diese 300 Millionen Jahre alten Urinsekten. Mich jedenfalls nicht. Eigentlich mochte er alle Arten von Tieren. Lieber als die Menschen. Sie wollten nichts von ihm. Drängten einem keine Gespräche auf. Man konnte sie stundenlang anschauen, sich an ihnen erfreuen, ohne dass sie blöde Fragen stellten, weshalb man sie beobachtete.

Karl spülte, zog seinen Reißverschluss hoch und wusch sich sorgfältig die Hände mit viel Seife. Braver Junge ... Leider fiel sein Blick in den Spiegel über dem Waschbecken. Er schluckte, wie immer, wenn er sich mit seinem Äußeren konfrontiert sah. Mit diesem großen, hageren Mann, der sich bewegte, als könnte er jeden Augenblick wie eine defekte Stehleiter zusammenklappen, schlimmere Tränensäcke hatte als Horst Tappert alias Derrick. Mutters Lieblingssendung. Wie ein Siebzigjähriger hatte er schon vor zwanzig Jahren ausgesehen.


Er tappte zurück ins Wohnzimmer, sank auf seinen Platz am Fenster. Die Sonne stand hoch am Himmel, der blau wie ein Rotkehlchenei war, er spürte die Wärme der Strahlen durch die Scheibe. Wie jeden Tag nach dem Mittagessen beobachtete er die Gärten. Reglos, mit unbewegtem Gesicht, tasteten seine Augen die Sträucher, die Rasenfläche und die Bäume ab. Es gab so viel zu entdecken! Im Laufe der Jahre hatte sich Karl zu einem passablen Ornithologen und Entomologen entwickelt. Auch wenn er sein umfangreiches Wissen über Vögel und Insekten mit niemand anderem als dem Kreuzworträtsel teilte, verspürte er einen gewissen Stolz.

Er griff nach dem Kleineren der beiden Feldstecher auf der Fensterbank und sah hindurch, stellte scharf. Der mächtigste Baum im Garten war eine alte Rotzeder, die ihre besten Jahre hinter sich hatte. Genau wie er. Vielleicht mochte er sie deshalb so gerne. Ihren knorrigen Stamm, die lebensbaumartigen Zweige. Seit einer Woche lebte ein Vogelpaar in der Zeder. Hatte mit Sorgfalt ein Nest gebaut, auf dem es abwechselnd saß und brütete. Erst hatte er die Vögel für einfache Finken gehalten, doch bei genauerer Betrachtung Zweifel bekommen und im Lexikon und den Vogelbestimmungsbüchern nachgeblättert. Unglaublich, eine Sensation! Aufregung hatte ihn erfasst, denn er war sich sicher, dass es sich um Zwergelstern, die Lepidopygia nana, handelte, beheimatet auf der Insel Madagaskar. Wie waren sie in diesen Garten gelangt? Waren sie einem Züchter entflogen? Jetzt war es Sommer. Aber was würde aus ihnen im Winter werden? Karl hatte sich überwunden und zum Hörer gegriffen, den Naturschutzbund angerufen. Zum Glück hatte man ihn ernst genommen, eine junge Frau war vorbeigekommen. Er hatte sie einlassen und aus seinem Fenster, auch durch sein Fernglas gucken lassen müssen, aber sie hatte seine Vermutung bestätigt, teilte seine Begeisterung und hatte versprochen, sie würden sich kümmern.

Da war es, das Zwergelsternweibchen auf seinem Nest. Karl betrachtete es über eine Stunde durch den Feldstecher, ließ sich nicht von den anderen Vögeln oder Schmetterlingen im Garten ablenken. Doch was war das? Er ließ das Fernglas sinken, sein Herz begann zu rasen. Zwei Männer in leuchtenden Westen, deren Aufdrucke sie als Landschaftsgärtner auswiesen. Mit einer großen Trittleiter. Beide hielten Geräte in der Hand. Karl kniff die Augen. Wie hieß sie noch, diese Riesenschere, die Gärtner benutzten ... Baumentaster, jawohl. Und der andere, der hatte ... oh Gott, das war eine Kettensäge! Himmel, was hatten die Kerle vor? Jetzt bauten sie die Leiter auf, an seiner Rotzeder, der eine, der mit dem Baumentaster in der Pranke, machte sich daran, sie zu erklimmen, war nur noch wenige Meter von dem Vogelnest entfernt. Karl schluckte, erblasste. Ich muss was tun!

Durchatmen. Sei nicht so eine Memme, Junge, herrschte Mutter ihn an. Er schloss die Augen, dachte an die gefährdeten Zwergelstern, spürte plötzlich einen Adrenalinstoß, einen von der guten Sorte. Einen von der Sorte, die ihn furchtlos machten und bewirkten, dass er alles schaffen konnte.

So rasch erhob er sich, dass der Stuhl umkippte. Er riss das Fenster auf. »Runter da! Gehen Sie sofort da weg! In der Rotzeder brütet ein Zwergelsternpaar!« Er hörte seiner heiseren Stimme zu, als gehörte sie jemand anderem. Der Typ auf der Leiter und der andere drehten sich zu ihm um, sahen nach oben zum Fenster. »Der Baum ist marode, eine Gefahr für die umstehenden Häuser.«

Karl lehnte sich weiter aus dem Fenster, wischte diese Bemerkung beiseite, mit einer heftigen, harten Handbewegung, als würde er in eiskalter Erde graben. »Haben Sie mich nicht verstanden? Eine äußerst seltene Vogelart brütet in dem Baum, verziehen Sie sich, augenblicklich, oder ich rufe den Naturschutzbund an!«

»Hat alles seine Richtigkeit, wurde geprüft, wir machen nur unsere Arbeit.« Der Kerl wandte sich ab und stieg die Leiter empor.

Karl krampfte seine Hände an das Fensterbrett. Atmete schwer. Dann griff er zum Telefon, rief den Naturschutzbund an, seine Stimme überschlug sich fast, dann legte er auf. Bis die hier sind, ist es zu spät. Er eilte zur Haustür. Blies mehrfach die Luft durch die Lippen, dann zog er sie auf. Schwankte, als er in das kühle Treppenhaus sah. Schweiß brach ihm aus. Dann stellte er sich vor, wie das Vogelweibchen sich auf das Nest duckte, oder es gar verließ, weil dieser Mann sich ihm näherte. Das brachte ihn dazu, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Die Wände kamen auf ihn zu.

Sämtliches Blut schien ihm aus dem Kopf zu weichen. Schwindelig und einer Ohnmacht nahe, hielt er sich am Treppengeländer fest, wankte die Treppe hinunter, vergaß fast zu atmen.

Die Vögel, der Baum, die Vögel, der Baum ... leierte er das Mantra, das ihm die nötige Kraft verlieh. Er zitterte, zog die Eingangstür auf, der Geruch des Gartens überwältigte ihn fast. Noch ein paar Schritte, an den Büschen vorbei, nicht hinfallen. Das Grün verschwamm vor seinen Augen, seine Hausschuhe stolperten über den Rasen. Atemnot.

Da waren sie. Rotzedernzweige lagen am Boden, ein weiterer segelte gerade herab. »Kommen Sie da runter!«, brachte Karl noch hervor, dann wurde es schwarz um ihn.


Er erwachte auf seiner Couch. Das Gesicht der jungen Frau vom Naturschutzbund beugte sich über ihn. Karl zuckte zurück. »Gott-sei-Dank, da sind Sie wieder. Ich hätte beinahe einen Krankenwagen gerufen.« Aber ich habe die ganzen Bücher über die Phobie gesehen, fuhr sie in Gedanken fort. Sie lächelte ihn mitfühlend an. »Die Elstern ... der Baum ... « Seine Stimme war nur ein Krächzen, er wollte sich aufrichten, konnte nicht.
»Alles geregelt. Dank Ihres Einsatzes. Die vom Umweltbetrieb sind wieder abgezogen. Standen bei Ihnen, als ich eintraf. Der eine hat sie sogar hochgetragen. Zum Glück war Ihre Haustür offen.«

Karl erschauerte beim Gedanken, wie fremde Hände ihn berührt hatten. Brust und Kehle zogen sich zusammen, doch sein Atem ging ruhig. »Geht es Ihnen besser? Möchten Sie ein Glas Wasser? Kann ich jemanden für Sie anrufen?« Karl schüttelte den Kopf. »Gehen Sie bitte und schließen Sie die Tür«, flüsterte er. Die Frau zögerte, sah aus, als wollte sie noch etwas sagen. Doch sie nickte ihm nur traurig zu, griff nach ihrer Tasche und ging.

Karl wartete einen Moment, horchte in sich hinein, ob er sich sicher fühlte, ehe er sich aufsetzte und zum Fenster schritt. Es sah fast aus wie vorher. Da lagen nur die paar Zedernäste, wie ausgerupfte Federn. Er griff zum Fernglas. Atmete erleichtert aus, als er das Elsterchen auf dem Gelege erblickte.

Da war sie wieder, diese laute, summende Stille, sie legte sich beruhigend auf seine Trommelfelle.

Drinnen ist besser.

 

Impressum

Texte: Ursula Kollasch
Bildmaterialien: canva
Cover: Ursula Kollasch
Tag der Veröffentlichung: 30.07.2020

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Folgende Wörter mussten in dieser Geschichte zum August-Wettbewerb der Gruppe "Gemeinsam" vorkommen: Altbaucharme, Brathering, Baumentaster, Hoffensterchen, Ministereoanlage, Kreischorverband, Zwergelstern, Rotzeder, Urinsekten

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