Jeder, der dieses Buch liest, soll wissen, dass ich meinen Großvater nicht nur viel zu verdanken habe, sondern auch inständig geliebt habe.
Ja, er war mehr der Typ Haudegen und nicht gerade zart beseitet, sondern eher knorrig und kantig, aber wie ich oft auch von seinen Patienten hörte, geradeaus, rechtschaffend, immer hilfbereit - und ein echter Westfale!
Er war mein großer Schutzengel und fürsorglicher Opa, der nicht Opa, sondern Hans genannt werden wollte. Ich habe ihn bewundert, aber auch immer wieder mal sehr kritisch beurteilt. Als pubertierende Enkelin war er mir einige Jahre ziemlich suspekt wegen seiner rechten Gesinnung - das nahm ich ihm übel. Aber heute ist mir klar, das war nur eine Seite von ihm.
Punkt zwölf Uhr mittags wurde bei uns gegessen, selten, dass es mal vorher oder später wurde. War das Mittagsmahl nicht rechtzeitig angerichtet, erhob sich Hans, mein Großvater von seinem Platz am Schreibtisch, stiefelte stumm in die Küche, um den Küchentisch herum, zurück ins Esszimmer und setzte sich dort demonstrativ auf seinen Platz. Das wirkte auf alle Anwesenden wie ein unüberhörbarer Gong: Es ist Mittagszeit! Der Doktor hat Hunger!
Weißer Damast, absolut fleckenfrei, das stets frisch geputzte WMF Silberbesteck und das Alltagsgeschirr mit blaugoldenem Rand. Sonn- und feiertags wurde es dann etwas vornehmer und mit dem Jugendstilgeschirr von Rosenthal* gedeckt.
* Geschirr von Rosenthal, erstaunlich, denn in der NS-Zeit wurde der Katholik Rosenthal wegen seiner jüdischen Abstammung gemieden und dann aus dem Unternehmen verdrängt.
Die Sitzordnung war vorgegeben: vier Personen um den ovalen Esstisch, der Hund natürlich unterm Tisch. Tag für Tag das gleiche Procedere. Die gefüllten Schüsseln oder Platten wurden herumgereicht, gewartet, bis sich alle bedient hatten, dann durfte gegessen werden. Geredet wurde nicht, nur wenn jemand einen Nachschlag haben wollte, ansonsten wurde nur mit den Augen gesprochen. Hatte mein Großvater blendende Laune, gab er beim Mokka danach schon mal irgendeine Story aus dem Krankenhaus oder der Praxis zum Besten.
Weil es so selten war … eine kleine Geschichte von ihm fällt mir da sofort wieder ein. Er erzählte, dass er im Krankenhaus einem kleinen Kind das gebrochene Nasenbein hat richten müssen.
Meine Mutter fragte, war das ein Junge oder ein Mädchen? Hans schaute irritiert und antwortete: „Das weiß ich doch nicht, es hatte doch nichts an …!“
Meine Mutter grinste sich eins: „Wie, nichts an, dann…!“
„Na ja, nur so‘n Hemdchen vom Krankenhaus!“
Dann durfte auch mal gelacht werden …
Waren alle satt, räumte meine Mutter zusammen mit dem Dienstmädchen (so nannte man früher eine Haushaltsangestellte) das Geschirr wieder ab. Hans trank dann noch einen Cognac und verschwand in seinem Zimmer, um sich auszuruhen. Pünktlich um halb drei stand er wieder auf der Matte, trank den vorbereiteten Kaffee ohne Milch und Zucker und ging danach runter in die Praxis zu seinen Patienten.
Ausnahmen von dieser strengen Ordnungsorder gab es nur mittwochs, am Wochenende und natürlich an Feiertagen, wenn keine Praxis war.
So erlebte ich Tag für Tag die Rituale, nur unterbrochen von den Ferienzeiten, die ich entweder bei meiner Großmutter in Dortmund oder bei meinem Vater in Hamburg oder Berlin verbrachte. Dort, vor allem bei meinem Vater, ging es in jeglicher Hinsicht wesentlich lockerer zu, es wurde auch bei Tisch miteinander geredet, gewitzelt und gelacht.
Irgendwann habe ich mal mit meinem Vater KG über diesen Unterschied gesprochen, der darauf mit dem Satz antwortete: „Das kannst Du einem alten Preußen nicht übelnehmen, die sind halt so erzogen und gedrillt worden!“
***
Dank des Geschichtsunterrichts in der Schule wusste ich dann auch bald, wie das so in der Zeit mit den Preußen war und stellte für mich fest, dass einige Verhaltensweisen meines Großvaters durchaus in diese Zeit passten.
So ab 1958/59 landeten wir im Geschichtsunterricht dann unweigerlich auch im sogenannten Dritten Reich. Und dann wurde es erst richtig interessant – für mich! Nicht für meine Familie.
Nun ist man ja bekanntlich im pubertierenden Alter von 15 oder 16 Jahren meist kein Ausbund von Gehorsam und Friedfertigkeit, sondern eher zickig und auf Krawall gebürstet. So auch ich!
Unser Geschichtslehrer, Herr Böcking, war einer aus der jüngeren Generation, der das Glück hatte, kurz vor der Kapitulation nicht mehr eingezogen zu werden – im Gegensatz zu meinem Vater, der mit 17 noch antreten musste und durch einen Schulterdurchschuss oft große Schwierigkeiten hatte, seine Karriere als Pianist zu halten, aber später zu seinem Leidwesen doch aufgeben musste – meinen fast gleichaltrigen Stiefvater Klaus, hatte es noch härter getroffen, er hatte mit gerade mal 18 Jahren seinen rechten Arm und sein linkes Bein bis zum Knie an der Front eingebüßt und musste lebenslang Prothesen tragen.
Auch wenn ich ihn nicht leiden konnte, ich sah und spürte dennoch, dass es ihm oft nicht gut ging und er Schmerzen hatte, zumal immer mal wieder Wundbrand am vernarbten, wohl sehr empfindlichen Ende des Stumpfes aufflackerte und einige Male im Krankenhaus versorgt werden musste...
Aber Fragen wurden nicht beantwortet – es war nicht zu übersehen, dass er litt, aber es gab keine vernünftige Antwort auf meine anfängliche Neugier und irgendwann hörte ich dann auf, zu fragen.
Zuhause war alles, was das Thema Krieg betraf tabu, den gab es allenfalls mal verbal mit- und untereinander. Aber ich war durch den Geschichtsunterricht so richtig neugierig geworden, wollte nun endlich einiges wissen und scheute mich auch nicht, meist ausgerechnet beim Mittagessen, das Kriegsbeil auszugraben.
Mein Großvater Hans hatte, außer diversen längst verblassten Schmissen im Gesicht, die er sich während seiner studentischen Mensur, also in einer schlagenden Verbindung, eingehandelt hatte, rechts einen seltsamen Daumen, der wie platt geklopft aussah.
Das schien mir damals wohl am unverfänglichsten und so fragte ich ihn beim Mittagessen –
„Haaans …, wie ist denn das mit Deinem Daumen da passiert?“
Meine Mutter grinste von einem Ohr zum anderen, Klaus fixierte mit unbeweglicher Miene die Kartoffeln auf seinen Teller und Hans gab sich offensichtlich Mühe, locker zu bleiben und meinte: „Das ist im ersten Weltkrieg passiert!“
Das kam mir komisch vor: „Du hast doch mal gesagt, dass Du damals Assistenzarzt in einem Lazarett warst, wurde da auch geschossen?“
Meine Mutter grinste nicht mehr, sondern gluckste lachend: „Dein Großvater ist vom Pferd gefallen und … „
„Also, wenn Du das schon erzählst, dann aber bitte richtig!", fuhr er dazwischen, "also, mein Pferd ist beim Galopp über eine Baumwurzel gestolpert, ich landete auf dem gefrorenen Waldboden, das folgende Pferd konnte auf dem Eis nicht so schnell ausweichen und stand dann mit einem seiner Hufe auf meiner Hand und vor allem dem Daumen und der war dann eben platt!“
Der Geschichtsunterricht geriet irgendwie aus den Fugen, dachte ich und fragte: „Und wie war das dann im Zweiten Weltkrieg? Wo warst Du da?“
„Was, wann … natürlich da, wo die Leute wieder zusammengeflickt werden mussten!“
Danach erhob er sich und begab sich zum Mittagsschläfchen in sein Zimmer. Die Audienz war beendet.
Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass meine Mutter einen seltsam warnenden Blick draufhatte, der normalerweise bedeutete: „Hör auf damit!“ – mit was auch immer! Ihre Augen konnten Bände spechen ...
So wurde mein allererster Versuch, meine Neugier zu stillen, ziemlich rasch im Keime erstickt. Aber ich wusste ja inzwischen nur zu gut: all das, worüber nicht gesprochen werden darf ... ist besonders spannend!
***
Als wir im Dezember 1949 von Berlin nach Werne übersiedelten, war ja noch die Mutter unseres jetzigen Hausmädchens Inge im Dienst und da ich mich bei ihr immer ganz besonders wohlgefühlt hatte, beschloss ich, sie beim nächsten Besuch mal etwas gründlicher zu befragen. Doch auch das brachte nicht viel, da Hans mit Grete, seiner neuen Liebe, erst nach Kriegsende von Dortmund nach Werne zog und dort seine neue HNO-Praxis eröffnete.
Trotzdem habe ich immer mal wieder nachgehakt und geforscht. Durch Zufall entdeckte ich eines Tages ja im Wartezimmer der Praxis den großen alten Schrank voll mit Büchern von Karl May und den vielen medizinischen Fachbüchern und Atlanten, denen ich u.a. auch meine Aufklärung in Sachen „Liebe machen“ verdankte. Und siehe da: ich fand noch mehr! Nämlich Orden und jede Menge Auszeichnungen:
Alle möglichen Urkunden für sportliche Leistungen, das EK 1 und EK 2 und stapelweise Auszeichnungen aus der Zeit des 1. und 2. Weltkriegs. Unterlagen aus seinen Studienzeiten, die Approbation als Arzt, eine Rettungsmedaille (Lippe)* und diverse Couleurbänder* von Marburg, der schlagenden Verbindung, in der er wohl während seiner Studentenzeit war.
Auch wenn ich damals nicht genau wusste, was das alles zu bedeuten hatte, kam mir vieles sehr martialisch vor und ich war mir sicher, Hans hat in den Kriegszeiten kräftig mitgemischt! Und natürlich dachte ich, wer solche Auszeichnungen bekommt, der war pro Hitler – ganz klar.
Ich bewegte mich damals wirklich in einem Wechselbad der Gefühle: ja, ich liebte meinen Großvater Hans, auch wenn er ab und zu ein Knurrhahn war, aber er bedeutete mir sehr viel und war ein absoluter Garant gegen zu intensive Übergriffe meines Stiefvaters. Ich war mir absolut sicher, dass ich nur ein Wort zu Hans hätte sagen müssen und Klaus wäre achtkantig aus dem Haus geflogen … und ich denke, das wusste der auch!
Mit meiner minimalen Ausbeute zum Thema Hitler und Weltkrieg war ich sehr unzufrieden und sagte es im Unterricht auch unserem Geschichtslehrer.
Herr Böcking rief mich anschließend in der Pause zu sich und erklärte mir: ich solle lieber nicht mehr so viel fragen, es sei nun mal eine ungute dreckige Zeit gewesen, in der es fast nur ein Mitmachen gab, wenn man seinen Kopf behalten wollte. Und mein Großvater habe ja sicher als Mediziner, selbst als überzeugter Nazi, keine Menschen ans Messer geliefert, sondern immerhin im Lazarett wieder zusammengeflickt. Und bei meinem Vater und Stiefvater könnte ich mir absolut sicher sein, dass es für sie keine Ehre war, für Hitlers Wahnideen so verletzt worden zu sein.
Damit gab ich mich zunächst auch zufrieden, denn mir war inzwischen auch klar, dass da nichts mehr zu ‚holen‘ war und ich besser den Mund halten sollte, bevor die Stimmung in Ärger umschlagen würde...
***
Meine Neugier verblasste mit den Jahren im allgemeinen Werdegang der persönlichen Ereignisse und erwachte erst im September 1973 wieder, als mein Großvater schon sehr krank war und seine Pflegerin – eine der früheren Sprechstundenhilfen – für zwei Wochen zu ihren Eltern fahren musste.
Meine Mutter war bereits neun Jahre zuvor verstorben, mein Stiefvater hatte wieder geheiratet und wohnte mit seiner neuen Frau Marlies und seinen beiden Kindern im Obergeschoss unseres Hauses.
Ich fuhr also mit meiner zweijährigen Tochter Katja von Sindelfingen nach Werne, mein Sohn blieb in dieser Zeit in der Obhut einer Freundin, da er ja auch bald wieder zur Schule musste.
Hans freute sich offensichtlich über mein Kommen, seine Augen strahlten förmlich – als er allerdings meine noch sehr kleine Tochter sah, stellte ich fest, dass ich versäumt hatte, ihn vorher über ihre körperliche Behinderung zu informieren.
Das bereute ich genau in diesem Moment!
„Oh Gott, die wäre von Hitler gleich vergast worden!“, stieß er hervor, setzte sich auf seinen Schreibtischstuhl, starrte mein Kind, seine Urenkelin an und weinte.
Das Weinen rührte mich zwar ein wenig, aber mein Zorn war größer: „Wenn Du den Anblick nicht ertragen kannst, fahre ich gleich wieder zurück …“ knurrte ich wütend, nahm mein fröhlich brabbelndes Kind auf den Arm und ging mit ihr in den Garten.
Ich beruhigte mich zwar schnell wieder, zumal mir klar war, dass ich den alten Herrn wohl besser hätte vorwarnen müssen – aber … da war sie mit einem Schlag wieder da, diese Horrorgesinnung der Rechten …
Da sich der Gesundheitszustand meines Großvaters von Tag zu Tag verschlechterte, er sich aber weigerte, ins Krankenhaus zu gehen, bat ich die neue Frau meines Stiefvaters, eine ehemalige Krankenschwester, sich einige Stunden um Hans zu kümmern, damit ich in Ruhe meine Tochter nach Würzburg zu ihrer Oma bringen konnte. Vorbereitet hatte ich alles, zeigte ihr noch, wann welche Tabletten gegeben werden mussten, wo der Wodka stand, den er jede Stunde verlangte, um seine Schmerzen zu betäuben – Fortalidon und diverse Schlafmittel allein zeigten nämlich keine ausreichende Wirkung mehr - und fuhr los.
Das Telefon in Würzburg klingelte um kurz nach 19 Uhr. Hans hatte es geschafft. ‚Als hätte er verhindern wollen, dass ich es hautnah miterleben muss‘, dachte ich nur.
In seinem Testament hatte er verfügt, dass auf der – von ihm bereits skizzierten - Todesanzeige beide Auszeichnungen EK 1 und EK 2 sowie die Rettungsmedaille (Lippe) - vermerkt und mit ins Grab gelegt werden sollen!
Ich habe ihm seinen Wunsch natürlich erfüllt und ihm zusätzlich das vor vielen Jahren von mir wohl übersehene Buch „Mein Kampf“ - von Hitler signiert, noch dazu gelegt.
PS.: Damals dachte ich: damit sei das Thema nicht nur in meiner Familie, sondern generell ein für alle Mal in Deutschland erledigt! Aber zu meinem Entsetzen - da habe mich wohl leider geirrt…
***
Die Rettungs-Medaille zeigt das lippische Wappenschild - darüber die Fürstenkrone. WOLDEMAR FÜRST ZUR LIPPE.
EK 1 und EK 2
Studentenverbindung Marburg
Texte: Gitta Rübsaat
Bildmaterialien: Eigene aus dem Familienalbum
Cover: Gitta Rübsaat
Tag der Veröffentlichung: 01.09.2019
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