Die stummen Geschwister.
Martha stieg langsam und ächzend die schmale Treppe hinauf in den ersten Stock, in den Händen ein Tablett mit dem Mittagessen für den Bruder. Ihre alten Gelenke wollten nicht mehr so recht.
Sie klopfte an die Zimmertüre ihres Bruders, dreimal kurz, das vergaß sie nie, stellte das Tablett auf den Boden und schlurfte seufzend nach unten.
Bevor sie das Ende der Treppe erreicht hatte, öffnete oben Heinrich die Türe und nahm wortlos das Tablett herein.
Das Essen schlang er schnell hinunter, essen musste man, auch wenn man es lieber der Schwester an den Kopf geworfen hätte.
Kurz darauf stellte er das leere Geschirr wieder in den Flur, stolperte laut die Treppe hinunter und schlug donnert die Haustüre hinter sich zu.
Mit kleinen, schnellen, fast hüpfenden Schritten eilte er zu seiner Arbeitsstelle, einer kleinen Bank, die ihn seit seiner Berufstätigkeit beschäftigte.
Nicht zur Kundenbetreuung sondern in einem, abseits der Schalter liegendem Büro, wo er ungesehen seinen kaufmännischen Aufgaben nachkam.
Er hatte einen hellen Kopf und arbeitete zur allgemeinen Zufriedenheit.
Nur er kannte das Wort „Zufriedenheit“ nicht.
Jeden Morgen, an welchem er aufwachte, sah er sein Elend, ein Elend, dass er seiner Schwester Martha zu verdanken hatte.
Nach mehreren Töchtern war er als letzter, nun endlich als der ersehnte Sohn, auf die Welt gekommen.
Alle verwöhnten ihn maßlos und herzten und küssten diesen wunderschönen Knaben.
Doch dann geschah das Unfassliche: die älteste Schwester Martha, die ihn jeden Abend die Treppe hinauf ins Bett trug, ließ ihn fallen. Er hatte unbedingt auf ihren Schultern sitzen wollen. Wie der Sturz geschehen war, konnten beide nicht mehr nachvollziehen.
Heinrich stürzte von ganz oben die Stufen hinab und verletzte sich schwer.
Wochenlang kämpften die Ärzte um sein Leben.
„Hätten sie mich doch verrecken lassen!“ schrie er viele Male, „ dann würde ich für mein restliches Leben nicht als Krüppel existieren!“
So aber schlich er nun mit einem Buckel herum, wurde immer unleidlicher und tyrannisierte seine ganze Umgebung.
Mit seiner Schwester, die es als ihre verdiente Strafe ansah, ihr ganzes Leben lang ausschließlich für ihn dazu sein, sprach er nie wieder ein Wort.
Im Laufe der Jahre hatte Martha sich auch abgewöhnt ihn anzusprechen, nie hätte er ihr Antwort gegeben oder sie nur angesehen.
Er kam zum Schlafen und Wäschewechseln nach Hause.
Das Frühstück und das Mittagessen stellte ihm Martha vor die Zimmertür. Das Abendessen nahm er stets im Wirtshaus ein.
Dorthin ging er allabendlich, spendierte Runde um Runde, torkelte zu später Stunde heimwärts und fiel betrunken ins Bett.
So lebten die beiden Geschwister, bis zu ihrem Tode, trist und freudlos nebeneinander.
Heinrich starb im Alter von nur 59 Jahren, seine Schwester Martha überlebte ihn zehn Jahre.
Auf dem großen Familiengrab liegen sie nun nebeneinander – stumm wie zeitlebens.
Nachwort:
Einer der Söhne meiner Urgroßmutter heiratete eine der Schwestern von Martha und lebte mit seiner Frau in diesem Haus über viele Jahre. Er erzählte uns bei seinen Besuchen immer wieder von den Beiden, die seine Schwägerin und sein Schwager waren. Er und seine Frau konnten eine Versöhnung der Geschwister nie erreichen!
Tag der Veröffentlichung: 01.08.2010
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