Ich schreibe diese Zeilen an niemand Bestimmten. Soll sie lesen, wer will. Aber wer sie liest, der möge bitte meinen Wunsch erfüllen und sie weder meiner Freundin, noch meiner Mutter zukommen lassen. Der schon gar nicht, bitte!
Grau, dunkelgrau ist der Tag heute angebrochen. Durch die Gitterstäbe vor meinem Fenster finden die spärlichen Lichtstrahlen kaum Durchlass. Bald wird der Schließer die Tür aufsperren und das Frühstück bringen. Ich werde ihn schon von weitem kommen hören, denn in diesem Trakt sitzt zurzeit niemand außer mir. Er schlurft und scheppert immer mit seinen Schlüsseln, als wolle er mich dezent aufwecken. Er bräuchte das nicht, obwohl er es wahrscheinlich gut meint. Ein netter Kerl eigentlich, aber …
Wird es ein Henkersfrühstück werden, oder sowie immer? Mir ist das egal. Ich werde sowieso nichts essen können, denn mein letzter Tag ist angebrochen. Und wenn sich dann irgendwann heute die Zellentür erneut knarrend öffnet, muss ich der Realität ins Auge blicken. Ich habe keine Wahl, das Grauen wartet auf mich.
Ja, ich habe die Zeit in dieser Zelle verdient. Ich bin kein Justizopfer, ich stehe zu meiner Tat. Ich habe sie begangen und muss die Konsequenzen tragen. Aber ich habe vorher nicht bedacht, dass die Zeit in diesem Raum irgendwann abgelaufen sein wird. Ich habe nicht berücksichtigt, dass unausweichlich dieser letzte Tag anbrechen wird. Ich sollte ihn genießen, so gut es geht und so lange dieser Tag dauern wird. Den Frieden genießen, die Ruhe.
Es klingt vielleicht verrückt, aber ich habe diese Zelle in mein Herz geschlossen, es war okay, das Essen war super, sogar einen Fernseher hatte ich.
Ich weiß nicht, wie es in anderen Staaten ist. Kalifornien? Alcatraz ist ja schon lange geschlossen, in Texas habe sie seit 1976 unglaubliche 552 Menschen hingerichtet, in Maryland nur 5. Ist das ein Trost? Machen die einen Unterschied zwischen Einheimischen Schwarzen und Weißen, oder zwischen Einheimischen und Touristen? Ich bin ja auch ein Tourist, ein weißer Mann aus good old Germany. Und wer entscheidet, wie hingerichtet wird? Vielleicht ist Vergasung bei Deutschen tabu, vielleicht auch nicht. Der E-Stuhl, ein Relikt aus dem Streit zwischen Gleichstrompapst Edison und dem Wechselstromer Nicola Tesla – brizzel-brazzel, oder der Galgen, wer weiß? Und in China oder Japan? Ich habe gestern im Fernsehen gesehen, dass sie dort nach zwanzig Jahren Haft den Chef der Aum Shihryo-Sekte und sechs seiner Jünger hingerichtet habe, aber sie haben nicht gesagt, wie. Ist ja auch egal, Wie komme ich jetzt nur auf solche Gedanken?
Ich sitze ja nicht in Japan im Knast oder bei Trump, Kim oder Xi. Aber ich weiß, wer heute irgendwann nach dem Frühstück auf mich wartet. Ich verkrampfe mich schon bei dem Gedanken! Hilf, Herr! Wenn die Tür hinter mir ins Schloss kracht, werden sie Arm in Arm dastehen – meine Freundin und meine Mutter!
Siebenundvierzig Jahre bin ich jetzt alt, und ich habe immer bei Mutti gewohnt, und ich habe mir vor einem Jahr Henriette, die Tochter der Freundin meiner Mutter als Freundin und baldige Braut aufschwatzen lassen. Ohgottohgott, ich bin so schwach.
Ja, ich sitze hier zu Recht. Ich bin wissentlich und mit voller Absicht ohne diese Abzockervignette in die Schweiz gefahren, ich habe bewusst in diesem kleinen Kanton mehrfach die Höchstgeschwindigkeit überschritten, und ich habe die nach Deutschland zugestellte Strafe nicht bezahlt. 700 Franken. Und dann bin ich mit voller Absicht noch mal durch diesen Kanton gebrettert, habe mich schnappen lassen und die Strafe wieder nicht bezahlt. Und da haben sie mich endlich zu sieben Tagen Knast verdonnert. Hurra, hurra! Ich wusste ja, dass in dieser alten Burg, die zeitweilig als Gefängnis dient, fast nie jemand einsitzt.
Endlich Ruhe, endlich kein Gequengel, kein Vorwürfe, kein Bekochen und kein Bemuttern mehr! Und ich schwöre: Hier ist es wirklich wie in einem Hotelzimmer!
Aber jetzt der Horror! Mein letzter Tag. Was mache ich dann?
Da, Schauder! Ich höre Franz schon schlüsselklappernd mit dem Frühstück heranschlurfen!
Aber … vielleicht hilft er mir? Vielleicht kann er mich durch eine Hintertür oder einen Geheimgang entlassen, vielleicht in irgendein Kloster vermitteln, in eine Einsiedelei, bloß nicht wieder an Mutti und Henriette ausliefern! Ich werde ihn auf Knien anbetteln, ich glaube er versteht mich …
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Tag der Veröffentlichung: 08.07.2018
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