Cover

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Das ist es.

Das ist, worauf es ankommt.

Wenn man zuerst darüber nachdenkt,

Geht man anders an Dinge heran.

Man stellt andere Fragen.

Wem wird dies helfen?

Wird es das Leben verbessern?

Gibt es einen wirklichen Grund dafür? *

 

 

 

Mmmn. Saugutes Zeug.

Saranda Jones nahm noch einen Schluck und lehnte sich zurück. Wo war der Wein nur her? Gekauft hatte sie ihn nicht, und wenn ihn ihr jemand geschenkt hatte, war es schon so lange her, dass sie sich nicht mehr daran erinnern konnte. Sie hatte die Flasche im hintersten Eck ihres Vorratsschrankes gefunden, als sie etwas Alkoholisches suchte. Irgendetwas. Jahrelang musste sie dort geschlummert haben; es war ein Wunder, dass ihr Inhalt noch so gut schmeckte. Aber woher ist der Wein nur? Saranda beugte sich wieder vor, nahm die Flasche in die Hand und studierte das Etikett.

Ein Orwell. Hm. Sagt mir nichts, wahrscheinlich ein Italiener wie ein Orvieto oder so. Aber der Jahrgang! Wahnsinn! Ein 1984er Orwell! Der Wein ist fast fünfzig Jahre alt, viel älter, als ich. Er muss ein Vermögen wert sein, und ich schütte ihn einfach so in mich hinein!

So einfach stimmte natürlich nicht. Saranda glaubte, einen triftigen Grund zu haben, um sich zu betrinken. Trotz vollen Einsatzes von morgens früh bis spät in die Nacht hinein hatte ihre computerbasierte Routinebeurteilung wieder nicht gereicht für die ihrer Meinung nach längst fällige Beförderung. Und nun, nach einem weiteren Schluck Wein, fielen ihr noch viel mehr Gründe ein: ihr Chef, der Job selbst, die Firma, ihr unbefriedigendes Privatleben – alles. Was war nur los mit ihr? Es konnte gar nicht sein, dass sie unzufrieden war. Das, was sie immer gehasst hatte, waren die Nörgler, die ewigen Besserwisser, die Schlechtreder. Das Leben war doch wunderbar, so, wie es war. Die Lebensbedingungen waren gut, die Sicherheitsstandards hoch, es gab keine herumlungernden Arbeitslosen, keine Banden auf den Straßen wie früher. Aber sie konnte sich eigentlich nicht so gut an früher erinnern, wollte es auch nicht. Warum auch? Sie liebte ihre Arbeit als Systemanalytikerin trotz der langen Arbeitszeiten. Was hätte sie auch mit mehr Freizeit anfangen sollen? Ihr wäre höchstens langweilig geworden. Ihr Leben war doch perfekt. Die kleine Wohnung passte wie angegossen, an einem Partner hatte sie zurzeit gar kein Interesse und ihr Freundeskreis entsprach genau den Analysen. Und das war richtig; sie konnte keinen Fehler entdecken - und sie musste es wissen. Denn sie hatte die Algorithmen mit entwickelt, mit deren Hilfe Systeme beurteilt, analysiert, beeinflusst und optimiert werden konnten. Ihr jetziger Job war es, sie immer weiter zu treiben, besser, treffgenauer zu machen. Exakter geht immer und immer und immer.

Die Systeme, deren Analyse Saranda Jones' Aufgabe war, waren keine technischen Prozesse, keine Automatensteuerungen oder Fertigungssystematiken, sondern biochemische Abläufe in biologischen Systemen. Genauer gesagt: Die Systeme, mit denen sie sich beschäftigte, waren Menschen.

Jeder Organismus ist nichts weiter, als ein kybernetisches System. Zwar ein sehr komplexes, oft scheinbar widersprüchliches Geflecht aus Sensoren, Rezeptoren, Steuerungen, das über simple Reiz-Reaktions-Schemata weit hinausgeht, aber letztendlich handelt es sich um nichts anderes, als um ergebnisgesteuerte Prozessketten, bei der die Herstellung von 'States' durch 'Events' und umgekehrt jederzeit möglich sind. In den letzten Jahren war die Landkarte, mit deren Hilfe komplexe biochemische Verknüpfungen anschaulich dargestellt werden konnten – die biochemical pathways - und auf der man sehen konnte, wie der kleinste Eingriff etwa beim Zitronensäurezyklus auf ein weit entferntes Enzymsystem wirkt, geradezu radikal erweitert worden. Und Tag für Tag wurde sie detaillierter, die weißen Flecken verschwanden mehr und mehr.

Saranda Jones war keine Biochemikerin. Sie sah in den biochemical pathways nur das, was sie ihrer Meinung nach waren: Schaltpläne. Schaltpläne, nach denen das System Mensch funktionierte. Die Eingabeknöpfe waren die fünf Sinne des Systems, und man musste die Inputs nur so gestalten, dass im Inneren die gewünschten Reaktionen stattfanden. Wie das Ganze funktionierte, war ihr egal. Sie musste das System nur als Black Box betrachten und analysieren, wie diese Black Box auf verschiedene Reize reagierte. Sie war mit dieser Vorgehensweise nicht allein. Ob die Black Box aus MOS-FETs, Dioden, Flip-Flops und NAND-Gattern bestand und Computer hieß, oder aus Releasinghormonen, Na-K-Pumpen und Myelinscheiden und Mensch hieß, machte keinen Unterschied. Wen interessierte schon die Hardware? Das einzig Wichtige war die Software. Das Programm. Es bestand kaum ein Unterschied zwischen einem mit Plaque verstopften Alzheimergehirn und einer zugemüllten Registry. Beides hatte man inzwischen ausgemerzt. Wie hieß die alte Computerfirma noch mal? Makrohard? Egal. Diese konkurrierenden, kleinen Firmen, die nur ihren Profit im Kopf hatten, gab es nicht mehr. Nachdem die Kartellbehörde FTC als systemirrelevant befunden und abgeschafft worden war, hatten die US-Datenkonzerne unter dem Druck der 'Märkte' fusioniert oder wurden abgewickelt. Es gab nur noch die Firma, die CommPany, und das war gut so. Alles ist besser geworden. Alles. Saranda hatte gehört, dass es irgendwo in Afrika noch lausige Gegenden geben sollte, in denen Krieg herrschte, aber wo oder was war Afrika, und wen interessierte das, außer den Schlechtredern?

Saranda schenkte sich noch einen Schluck '84er Orwell ein und räkelte sich entspannt auf ihrem Sofa. Ja, ich kleines Rädchen in der Firma habe auch mein Scherflein dazu beigetragen, die Welt schöner, heiler, lebenswerter zu machen. Jawohl. Sie musste nur an ihre persönliche Situation denken. Eine kurze Eingabe von Schlüsselbegriffen, Prioritäten und persönlichen Vorlieben, e voilà – sie hatte die zu ihr passende Traumwohnung. Alle ihre Marginaldaten waren fest im Cloud-System gespeichert und konnten für alle Problemlösungen und personalspezifischen Modulationsanfragen von den Dienstrechnern abgefragt werden, und die ergebnisgesteuerte Prozesskette spuckte die Lösung aus. Was konnte daran falsch sein? Nicht umsonst war das Datenzentrum in Utah inzwischen auf eine Kapazität von achthundert Yottabytes gewachsen.

Eine 8 mit 26 Nullen! Das ist doch toll, oder? So geht das heute!

Furchtbar muss die Zeit gewesen sein, in der man mit seinen Problemen alleine dastand. Ein unüberschaubares Angebot an Waren, Behausungen, Dienstleistungen, Fortbewegungsmitteln und Entertainmentangeboten, aus denen man auswählen musste; eine Aufgabe, an der das menschliche Wesen ständig scheiterte. Zwar gab es das Phänomen, dass sich gegen jede Logik sogenannte Moden durchsetzten. Plötzlich wurde etwas 'in' oder 'it', und es war verblüffend, wie rasant sich völlig aberwitziges Zeug über den Erdball verbreitete - schneller als jeder Virus. Zum Beispiel die Sache mit der 'Footwear', die von Italien ausging. Es dauerte gerade mal vier Tage, bis auch in Tokio die Schaufenster voll waren und die Frauen dort mit Schuhen herumhumpelten, bei denen die Absätze vorn waren. Es war unbequem, mörderisch für die Gelenke und sah scheiße aus, aber es war stylisch. That's the way, we do it!

Und in Parkplatznotstandsgebieten kauften Männer panzerspähwagenähnliche Fahrzeuge, die äußerlich für Wüstenpisten geeignet, aber im Großstadtdschungel einfach nur blöde waren oder stellten Bildschirme in ihre kleine Wohnungen, für die man eigentlich Augen wie ein Pferd brauchte. Seitlich. Der Einkauf nutzloser, Ressourcen fressender Wegwerfgüter wurde zum Lifestyle hoch-stylisiert und durch hirnzersetzende Werbesprüche in einem degenerierten 'Neusprech' ständig am Rotieren gehalten. Come in and find out und sichere dir einen Café-to- go in Helga's Backshop. Jesus!

Aber diese Goldgräberzeit der Verbraucherverblödung war vorbei. Welche Energie war damit vergeudet worden, welche ökonomischen und ökologischen Verwerfungen waren entstanden!

Saranda Jones wurde es plötzlich unbehaglich zumute. Wie, verdammt noch mal, komme ich auf solche Gedanken? Wer hat mir denn solchen Unsinn in den Kopf gesetzt? Woher soll ich denn das alles plötzlich wissen? Ich erinnere mich an Dinge, die ich gar nicht wissen kann! Unruhig rutschte sie auf ihrem Sofa hin und her. Aber die seltsamen Gedanken oder Erinnerungen wollten nicht aus ihrem Kopf weichen. Noch ein Schluck Wein half auch nichts. Im Gegenteil.

Ähnlich einem der Historienfilme, die der Sender CommPanyTV regelmäßig ausstrahlte, wurde sie an Ereignisse erinnert, von denen sie nie geahnt hätte, dass sie sich jemals dafür interessiert hatte. Berichte über Regierungsabteilungen, die es längst nicht mehr gab, wie die NSA. Über sogenannte Whistleblower wie William Binney, J. Kirk Wiebe oder Thomas Drake – alte Säcke, die ihr Geld mit der Entwicklung von Programmen wie XKeyscore, Thin Thread oder Prism verdient hatten und dann im Rentenalter davon faselten, dass die USA sich zum Reich des Bösen wandeln würden. Verdammte Verräter! Oder der von völlig korrupten Medien als Skandal hochstilisierte Fall des Nestbeschmutzers Snowden. Abgestürzt über dem Atlantik auf dem Flug in irgend so eine südamerikanische Bananenrepublik.

"Skandal! Politischer Mord!", hatten sofort die üblichen Verschwörungstheoretiker geplärrt. Aber bei einer Fluggesellschaft wie Aero Express Del Ecuador hätten doch auch bei Snowden alle Fehlerlämpchen blinken müssen. Dumm gelaufen. Und die Geschäfte liefen weiter wie immer. Als dieser Bart Riester, ein Schlechtreder der alten Schule, einmal die Bilanzen der alten Netzgiganten Facebook, Google, Yahoo und Konsorten, welche angeblich ihre astronomischen Gewinne und Shareholder Values aus Werbung generierten, untersuchte und ein krasses Missverhältnis feststellte, ging das allen am Allerwertesten vorbei Um diese Gewinne zu erklären, hätte jeder einzelne, verdammte, unwichtige Produzent dieses Planeten über 25% seines Umsatzes für Werbung im damaligen Internet ausgeben müssen – eine betriebwirtschaftliche Absurdität. Interessierte aber kein Schwein. Und als bekannt wurde, dass die alte NSA und ihre Förderer im Senat den FISA durchwinkte, den Foreign Intelligent Surveillance Act, ein Gesetz, das mittels 11 geheimer Richter jeden Überwachungsantrag genehmigte, und als klar war, dass - laut New York Times - dadurch ein paralleles Oberstes Gericht entstanden war, dessen Macht immer größer wurde, interessierte das … auch niemand. Die User twitterten munter weiter, stellten die Babyfotos ihrer Enkel freudig jedem Pädophilennetz zur Verfügung und wunderten sich nicht, dass ihre Jobsuche erfolglos war, weil auch Personalchefs im www surften. Nee, isch han do nix zu vaheemlischn!

Schlagartig änderte sich das, als China mit einem Mal auch von Regierungsvertretern statt als verlängerte Werkbank und Absatzmarkt auch als potentielle Gefahr erkannt worden war. Für die Umwelt, für den Weltfrieden und vor allem für die westliche Wirtschaft. Und zu diesem Zeitpunkt wurden Fähigkeiten gefragt, die Leute wie Saranda Jones hatten. Mit modifizierten Methoden der Werbebranche und der Abwehrdienste analysierten sie Abhängigkeitsstrukturen, marktwirtschaftliche Relevanzen und wirtschaftliche Parameter. Und sie kamen zu dem seltsamerweise überraschenden Schluss, dass es knapp vor Zwölf war. Und wieder war es dieser Bart Riester, der, anstatt die ständig wachsende Ausfuhrzahlen nur quantitativ zu registrieren, auch die Frage nach der Qualität stellte. Und es stellte sich heraus, dass einige Technologieexporte aus China inzwischen absolut den Höchststandart erreichten, dass aber der Hauptteil des Exports aus billigen, schlechten und zudem völlig wertlosen Produkten wie Einmalbohrmaschinen, Werbekugelschreibern, Schlüsselanhängern und Einkaufswagenchips bestand. Riester hatte nachgerechnet, dass jeder Bürger seines Landes im Besitz von mindestens 198 Chinakulis sein müsste, aber das hatte bis dahin auch kein Schwein interessiert.

Aber plötzlich wurde das ein Thema. Den Manipulationsgiganten wurde durch Whistleblower nachgewiesen, dass Riester mit dem Verdacht Recht gehabt hatte, dass der Löwenanteil ihrer Einnahmen tatsächlich nicht aus Werbung, sondern durch Querfinanzierung aus dubiosen Geheimdienstkanälen kam, und so kam eins zum andern. Die Firma, die CommPany Inc. entstand. Und die drohende Übermacht Chinas wurde eingedämmt, indem die Menschen dazu gebracht wurden, völlig nutzloses Zeug einfach nicht mehr zu kaufen. Und plötzlich war China wieder auf das geschrumpft, was es war: ein Entwicklungsland, das sich wieder um seine Menschen und seine Umwelt kümmern könnte, statt um das Wohlergehen einer Kaderkapitalistenclique. Könnte.

Herrgott, warum zweifle ich daran?, dachte Saranda Jones. Wir haben doch unser System in all diese rückständigen Länder exportiert, jetzt geht es denen doch prima, alles gut! Klassische Win-Win-Situation, oder etwa nicht? Und ich habe daran mitgearbeitet! Das hatte sie wirklich, denn erst durch die Entwicklung der Systematischen Biozentrischen Systemanalyse SBS wurde der jetzige Zustand ermöglicht.

Saranda Jones kippte noch etwas Wein in ihr Glas und trat auf den winzigen Balkon hinaus. Wie friedlich lag doch die Stadt unter ihr da! Sie winkte den Nachbarn zu, die sie zwar nicht kannte, die aber dümmlich zurück winkten. Dümmlich? Warum dümmlich? Die sind doch nur nett, oder? Saranda fühlte sich etwas seltsam. Was für Gedanken habe ich nur? Die Nachbarn leben, wie sie wollen, sie haben genau das Leben, das zu ihnen passt, CommPany hat dafür gesorgt, warum sollten sie dümmlich sein? Es ist doch nicht dumm, sich helfen zu lassen, von jemandem, der es besser weiß! Merde! Was war es doch früher für ein Zirkus etwa mit der Partnerwahl. Das Prinzip von Trial and Error. Wenn's mal geklappt hat, dann war's doch reiner Zufall und Glück!  Heute ging man zu der CommPany-Vertretung um die Ecke, gab die Antworten auf ein paar Fragen ein, bekam den Transponderhelm übergestülpt und erhielt nach ein paar Sekunden eine Kandidatenliste, auf der ganz oben der Typ mit der höchsten Kompatibilitätszahl stand. Das war vorausschauend, denn sonst hätte man wieder eine erhöhte Wahl-Qual gehabt.

Saranda hatte das Prozedere auch schon mehrfach durchlaufen, aber immer das Ergebnis UNTIMELY erhalten. Und immer war sie erst etwas angefressen gewesen, hatte aber, als sie in sich hineingehorcht hatte, erkannt, dass es wirklich immer die falsche Zeit gewesen war, sich um einen Partner zu bemühen. Das System hatte Recht gehabt, hatte perfekt funktioniert. Na ja, irgendwann versuche ich es noch mal, hatte sie immer gedacht, das CommPany-System weiß halt einfach, was gut für mich ist.

Doch heute war alles anders. Saranda Jones spürte eine gewisse Wut in sich aufsteigen. Konnte es sein, dass das CommPany-System nicht das tat, was gut für Miss Jones war, sondern gut für die Firma CommPany? Was für ein blöder Gedanke. Was soll an der Firma falsch sein? Ich bin ein Teil von ihr, wir wollen doch nur das Beste für die Menschen, für die Gesellschaft. Ich nehm' lieber noch'n Schluck, Herrgott, die Flasche ist bald leer.

Sie kippte das Glas hinunter wie ein Säufer seinen Fusel und war frustriert. Warum, zum Teufel, dachte sie heute über Dinge nach, die völlig irreal, inakzeptabel, systemschädigend waren? Und laaaangweilig, laaaangweilig. War der verdammte Wein daran schuld? Nein, dafür schmeckte er zu gut. Aber er setzte etwas frei.

Es gab Pfade, geheime Wege, über verdorbene, verwerfliche Programmpfade, die tief in die Vergangenheit führten, in kryptische Höhlen im Netz, die den Reinigungsaktionen entgangen waren, in Refugien, in denen sich elende Renegatencliquen tummelten, und ihr zersetzendes Wissen teilten, immer im Schatten der Spürhunde, aber fast vergessen. In diesen Fluchtburgen wurden Sprachrelikte vor der Verfolgung bewahrt, die es im Zeitalter des 'Neusprech' erst ermöglichten, Ängste zu formulieren, Missstände zu benennen, Anklagen zu erheben und Alternativen zu entwickeln. Und nach einem letzten Glas 1984er Orwell fand Saranda Jones den Weg dahin. Als Systemanalytikerin konnte sie den Rückschluss von biologischen Systemen zu datentechnischen ziehen, und in den Archiven der Netzkrypten fand sie Antworten auf ihre seltsamen Fragen. Sie erfuhr von der Datensammelwut der früheren Regierungen, las von Demonstrationen gegen eine simple Volkszählung im Alten Europa, sie fand exotische Plattformen, die lustige Namen trugen wie Facebook, Twitter, Xing, Tumblr und andere, und sie erkannte, wie die Vertrauensseligkeit von den Betreiberfirmen gnadenlos ausgenutzt wurde. Demgegenüber stand nur die großäugige Naivität in den Augen der User, auch als sie von den Überwachungsaktionen durch FBI, MAD, CIA, GRU, NSA, DIS etc. erfuhren. Saranda Jones überschlug im Geiste, wie viele Kombinationen es aus drei Buchstaben des Alphabets gab und stellte kopfschüttelnd fest, dass es für jede dieser unzähligen Konstellationen einen passenden Geheimdienst gegeben hatte. Die Gründung der CommPany hatte damit aufgeräumt. Scheinbar. Verwirrt war sie entgegen ihrer Überzeugung darüber, wie gedankenlos, wie vertrauenselig, wie phantasielos die gewöhnlichen Menschen waren. Und gleichzeitig war sie erschrocken über die Dummheit der Führerschichten, ihre Abwehrraketenstellungen, ihre Fabriken, ihre Kommunikationskanäle, ihre Atomkraftwerke an das Netz zu binden, das jeder Hinterhofhacker knacken konnte. Und das weltweit. Seltsam. Die Firma, die CommPany, hat dieses System schließlich übernommen und perfektioniert. Schon vor 20 Jahren hat sie erkannt, dass Daten die Schlüssel zu allem sind. Und mit Einführung der Smart-Familie war man den entscheidenden Schritt weiter gekommen. Die Rückkanäle waren das Geheimnis.

"Na ja," riefen die Hersteller und Betreiber der Smartphones und Smart-TVs mit Krokodilstränen in den Augen, "das ist ja nur zum Nutzen des Kunden. Es ist doch toll, dass wir sein Verhalten analysieren und unsere Dienste an ihn anpassen können. Ja, auch wenn das Gerät ausgeschaltet ist. Wenn man zuerst darüber nachdenkt, geht man anders an Dinge heran. Wir glauben nicht an Zufälle. Wir sind für alle da. Das ist es, worauf es ankommt. Immer!"

Und Saranda erkannte in dem Geschwätz ihre Chefs wieder. Und sich selbst. Ihre eigene Arbeit wäre ja sinnlos, wenn sie keine Rückkanäle nutzen könnte, wenn sie ihren Kunden nicht zu einem Zugang zu deren Kunden verhelfen würde. Sinnlose Milliarden, wie sie früher für Werbung verpulvert wurde. Und dann erkannte sie die Manipulationsgefahr, die in der Arbeit der CommPany steckte. Sie las, dass schon 1975 der Senator Frank Church davor warnte, dass die NSA die Infrastruktur für einen totalitären Staat schaffen könnte. Und dann schlug die Erkenntnis wie ein Blitz in ihr Gehirn: Die CommPany ist die Evolution der NSA. NSA 3.0. Das Reich des Bösen ist Wirklichkeit. Und Snowden war ein Held.

Saranda wurde müde. Sehr müde. Ich bin nur ein kleines Rädchen, dachte sie, aber ich muss, ich werde daran arbeiten, dem Wahnsinn ein Ende zu bereiten. Ich weiß noch nicht… ich werd' schon… morgen… ich muss erst mal schlafen…

Die Flasche Orwell war leer. Saranda Jones schaltete den Computer ab, legte sich aufs Bett und schlief sofort ein.

 

 

 

Anfang des neuen Jahrtausends konnte man Schlafforscher durch nichts so sehr in Verlegenheit bringen, wie mit der Frage, wofür Schlaf überhaupt notwendig sei. Zellen brauchen keinen Schlaf. Und die Erklärung, dass die innere Uhr des Menschen nicht exakt mit dem Tag-Nacht-Rhythmus der Erde abgeglichen ist und im Schlaf immer wieder synchronisiert werden muss, deutete eher auf Alientheorien eines Erich von Däniken hin.

Im Jahre 2030 waren die Erkenntnisse auch aufgrund der neuen Regierungsform meilenweit fortgeschritten. Querschnittsgelähmte konnten mit reiner Willenskraft ihren Rollstuhl lenken, über Elektroden konnten Träume aufgezeichnet und auf Sichtgeräten abgespielt werden, die Sprachsteuerung gewisser Geräte war längst durch Gedankensteuerung abgelöst. Saranda Jones wusste das alles. Aber in einer Art von kognitiver Demenz hatte sie übersehen, dass Rückkanäle niemals Einbahnstrassen sind. Und während sie schlief wurden bei ihr wie bei Milliarden anderer Menschen kapazitiv ihre Gedankeninhalte abgegriffen, über die allgegenwärtigen Smartgeräte an die Server weitergeleitet, analysiert, geordnet und neu strukturiert in die biochemical pathways der Gehirnstrukturen rückgespeist.

 

Wie jeden Tag wachte Saranda Jones erfrischt auf, wunderte sich, dass sie angezogen war, betrachtete kopfschüttelnd die leere Weinflasche und warf sie auf dem Weg zur Dusche in den Recyclingschacht.

Ein neuer Tag. Sie freute sich auf die Arbeit.

Alles war gut.

 

 

Wir glauben nicht an Zufälle.

Oder Glückstreffer.

Wir nehmen uns viel Zeit

Für einige besondere Dinge.

Wir signieren unsere Arbeit.

Man mag es selten lesen

Aber man kann es immer spüren.

Das ist unsere Unterschrift.

Und sie sagt alles. *

 

* Apple, California

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Impressum

Texte: Bert Rieser
Bildmaterialien: Bert Rieser
Tag der Veröffentlichung: 30.07.2013

Alle Rechte vorbehalten

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