"Sei jeden Tag stärker als deine stärkste Ausrede."
Der Karlsruher Philosoph Peter Sloterdijk nannte den Menschen das vertikale Wesen, das sich selbst (und andere) stets wesenhaft transzendiere, ueberschreite, überwinde, d. h. übertreffen müsse. "Du musst dein Leben ändern", denn du musst nicht stehen bleiben, sondern ein ständig (moralisch) besserer Mensch werden oder wenigstens ein besserer Mahematiker oder Schriftsteller oder ...
Kapitalismus ist nur die falsche Übertragung der geistigen Konkurrenz auf die wirtschaftliche Sphäre oder umgekehrt. Gewöhnlich fördert er leider die menschliche Rivalität gerade dort, wo sie nicht herrschen sollte, und hemmt sie dort, wo sie am Platz wäre. Wir sollten nicht rivalisieren müssen, um leben zu können, sondern leben, um miteinander nicht nur um die Gunst der Schönen statt der Mächtigen zu wetteifern. Wenn man sagt, einer sei besser als der andere, meint man die Moral oder gewisse Geschicklichkeiten. In Wirklichkeit nennt das, was landläufig Moral geschimpft wird, eigentlich nur die unerläßlichsten Rahmenbedingungen eines jedes fairen Wettkampfes unter Menschen um den Ruhm. „Wenn die Menschen den Ruhm nicht liebten, hätten sie weder Verstand noch Tugend, ihn zu verdienen“, sagte Vauvenargues. Wie läßt sich das Spiel sinnvoll zu Ende bringen, solange dem Teilnehmer das Leben oder der Besitz oder der Lebenspartner von den Mitspielern oder Zuschauern genommen zu werden droht? Die Zehn Gebote der biblischen Schrift sind die notwendigen Spielregeln, deren Einhaltung im wohlverstandenen Interesse jedes siegeswilligen Mitspielers liegt.
Ob nun sozialistisch oder nicht, die Kapitalismuskritik entzündet sich auch daran, daß vielen Menschen die Vision einer agonalen Gesellschaft eher ein Alptraum als eine Utopie ist. Das Schlimme aber ist nicht, daß die geistige Welt eine permanente Olympiade, sondern daß sie ein verdeckter materieller Existenzkampf ist, wie Marx ja gezeigt hatte. Man tut so, als gehe es um den Sieg der besseren Idee, wo es in Wirklichkeit nur um den Sieg ihrer materiellen Nutzungsrechte geht. Kurz : der Amateurstatus des geistigen Ringens verlangt keine Dilettanten, sondern motivierte Mitspieler, die für geistige Arbeit und nicht von geistiger Arbeit leben. Ein Verlierer dieses Kräftemessens sollte nicht um seine materielle Existenz bangen müssen, sondern der Reiche seines Reichtums ohne den Ruhm nicht froh werden können. Gibt es Naturrecht des Stärkeren oder des Schwächeren?
Daß es gleichgültig sei, auf welchem Feld gesiegt werde, ist der große Irrtum unserer Zeit. Wichtig ist weniger der Sieg über Rivalen in einer beliebigen Disziplin als der Sieg jener Disziplin, in der ein Sieg am meisten lohnen würde, über alle anderen Disziplinen. Wer einen ehrenvollen Frieden mit sich schließen will, muß einen gerechten Krieg gegen den führen, der einen faulen Frieden mit sich schließt. Wer sich selbst gefunden hat, wie es heißt, hat aber sein Ziel nicht schon erreicht, sondern erst die richtige Zielscheibe aufgestellt. Das Ich ist eine Gottesgabe, das Selbst eine Lebensaufgabe. Das „wahre Selbst“ wird nicht am Fließband hergestellt und wächst nicht auf Bäumen. Wenn es kein Witz ist, ist es eine Rekordmarke und kein Ruhekissen.
Wer nichts anderes von sich will, als was andere von ihm wollen, ist deshalb noch nicht der, der er sein könnte, aber um bei sich selbst anzukommen, genügt es kaum, anderen nicht zu folgen. Um zu werden, der ich bin, muß ich den zerstören, der ich bin, verlangt das Selbstbestimmungsparadox. Wo der Mensch genau jenes Wesen ist, das mehr ist als er selbst, da muß ich mich ablehnen, um mich mit mir anfreunden zu können, und mich selbst übertreffen, um mich ganz zu erreichen. „Man ist man selbst“, sagt Heidegger: Um zu werden wie andere, jeder ein anderer, genügt es, sich gehenzulassen.
Nicht jeder Masochismus ist deshalb schon Selbstgesetzgebung, aber eine Selbstbestimmung, ohne unter dem Joch des eigenen Gesetzes Blut und Wasser zu schwitzen, ist Heuchelei. „Freiheit ist Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit“, sagte Kant nicht, um den Leuten ihren Spaß zu nehmen, sondern weil sie fremdbestimmt leben, sobald sie sich von ihren Trieben treiben lassen. Wenn der Mensch kein Mittel für andere ist, ist er ein Mittel für sich selbst, und er ist Selbstzweck, sobald er sich als Instrument seiner selbst vergeudet. Wer das soziale Plansoll verweigert, hat deshalb noch keinen eigenen kategorischen Imperativ erfunden.
Wer den Mehrwert nur am Arbeitsplatz erarbeitet und nur dort mehr aus sich macht, als seine Arbeitskraft zu reproduzieren, muß begreifen, daß die Wiederaneignung des abgeschöpften Mehrwerts noch keine Selbstverwirklichung ist, sondern nur eine ihrer möglichen Voraussetzungen. Was Sportler mit ihren Körpern machen, machen Intellektuelle mit ihren Köpfen : sie beuten sich selbst für sich selbst aus und sind deshalb die utopischen Prototypen des Menschen unter heute möglichen Bedingungen. Der Mensch ist soviel wert wie der Mehrwert, den er aus sich macht, und seine Menschenwürde besteht in dem, was er aus sich machen »würde«, wenn er könnte. Wer für sich nicht das Äußerste aus sich herausholt, wird nie wissen, was er ist. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, ja, aber ich kann mich nur lieben als den, der sich haßt?
Der Mensch findet sich vor als Fabrikat seiner Eltern, Lehrer, Chefs, Erbanlagen und Milieus, aber ich bin das, was mich noch trennt von dem, was auf dem Spezialgebiet meiner konkurrenzlosen Unverwechselbarkeit noch möglich ist. Das Nerven- und Immunsystem dient dazu, das Eigene vom Fremden zu unterscheiden und das eine nicht mit dem anderen zu verwechseln. Kein anderer sein heißt, unnachsichtig mit mir gegen mich selbst zu wüten. Wer sich zärtlich so hinnimmt, wie er ist, hat schon denen pariert, die ihn so gemacht haben. Ich kann mich nur akzeptieren als den, der sich nicht akzeptiert, und akzeptiere nicht den, der sich selbst akzeptiert. Wer mehr von sich verlangt, als von ihm verlangt wird, bestraft sich, wenn er sein Plansoll unterschreitet, und scheitert lieber am Unerreich-baren, als das Mögliche zu erreichen. Ist Autonomie nur als Auto-Aggression möglich? Mit anderen Worten: Die Teilnahme muß frei bleiben, und wer die Siegeschance nicht mit dem Verlustrisiko bezahlen will, sollte dafür nicht materiell bestraft sein.
Es geht um freien und chancengleichen Zugang nicht zu einem kommunikativen Diskurs, wie Habermas möchte, sondern zu einem dissonanten Konkurrenzkampf. Es war nicht ihre Schuld, daß die altgriechischen Sophisten ihre Redegewalt auf dem freien Markt der Ideen verkaufen mußten, um leben und nachdenken zu können. Die materiell Abgesicherten haben gut reden von objektiven Behauptungen; die materiell Abhängigen sprechen von subjektiver Selbstbehauptung. Jede Behauptung ist Selbstbehauptung und geistige Enthauptung des Kontrahenten. Nietzsches Philosophie des Machtwillens war die überkompensatorische Kopfgeburt des erfolglosen Außenseiters, der »hors de concours« lief. Das Paradox besteht also darin, daß der edle Wettstreit erst beginnen kann, wenn die mörderische »Leistungsgesellschaft« aufgehoben sein wird. Das gesellschaftliche Leben ist noch kein Ritterturnier, sondern nur ein materieller Existenzkampf, der sich auch geistiger Waffen bedient.
Wenn die Existenzphilosophen sagen, der Mensch sei eine Transzendenz und sein Wesen bestehe darin, sich selbst zu »überschreiten«, dann läßt sich das auch so verstehen, daß er nicht leben kann, ohne seine Mitmenschen in bestimmten »Disziplinen« zu »übertreffen«. Er ist das Wesen, das Rekordmarken hinausschiebt. Der Kampf gegen die Überquantifizierung der modernen Welt hat auch seine regressive Seite, wenn in der höheren Qualität keine wirkliche Überlegenheit verteidigt wird. Unter der Maske des Miteinander spiele ein geheimes Gegeneinander, erkannte Heidegger als Kennzeichen des Man. Man arbeite »eigentlich« gegeneinander, wenn man sich miteinander verbrüdere. Aber das existenzielle »Sich-vorweg-sein« Heideggers ist eigentlich auch nur ein Sich-hervor-tun seiner »Jemeinigkeit«. Das existenzielle »Sein-können« deutet auf Potenz, die bloße Möglichkeit auf reales Vermögen. Das menschliche Dasein sei das, „was es in seiner Unbezüglichkeit je selbst ist.“
Das Individuum differenziert sich aus der Masse seines Verbandes nicht heraus, indem es sich als Individuum unter anderen erkennt, sondern indem es andere Mitglieder seines Vereins übertrifft − in Disziplinen, die diese Mitglieder zusammengeführt haben. Dieser Wettkampf zerstört nicht, sondern schafft erst die mögliche Solidarität, denn Gemeinsamkeit, die keine symbiotische Zwangsintegration ist, setzt ausdifferenzierte Individuen voraus, die gemeinsame Interessen an gerechten Bedingungen ihrer Auseinandersetzungen entwickeln könnten. Der Sieger ist eine Klasse für sich, ohne seine Klasse zu verraten. Er fühlt sich schon heute als Anwalt einer besseren Solidarität von morgen. An dem Ort, den er erreicht hat, ist er einsame Spitze, und »Ort« bedeutet etymologisch »Speerspitze«. Der Mensch ist ein potentes Potential, ein abgeschwächtes Ebenbild der göttlichen Allmacht. Selbst das klassische Ideal einer »harmonischen Entfaltung aller Kräfte« kann nicht ganz vergessen machen, daß Kräfte sich messen, Wirkungen zu erzeugen und Geschichte zu beschleunigen. Der Mensch ist also das Wesen, das sich selbst übertrifft?
Heideggers »Grundbefindlichkeit der Angst« läßt sich nicht nur mit Adorno als Klaustrophobie lesen, sondern auch als Rivalitäts- und Prüfungsangst, von anderen überholt zu werden. „Man“ überholt einander, aber »ich je selbst in meinem jemeinigen Da-sein« sei mir selbst und allen anderen »immer schon voraus«. Heideggers berühmtes »Vorlaufen zum Tode« bezahlt die Siegeschance mit dem Todesrisiko, und das »eigentliche Ganz-sein-können« gehe aufs Ganz(heitlich)e. Das Endspiel hat sein Finale.
Die Grund-Lage des menschlichen Daseins ist die ja jederzeit mögliche Niederlage − gegen andere Existenzen oder Naturgewalten, citius, altius, for-tius. Wer springt am höchsten und weitesten aus dem Ur-sprung heraus, welcher Lebenslauf läuft am schnellsten und ist »immer schon« am Ziel? Welcher »Entwurf« wirft den Speer am weitesten, trifft ins Schwarze und ins Tor? Hier entsteht zwanglos die Frage nach den sozialen Startchancen und den Wettbewerbsverzerrungen dieses Glücksrittertums.
Benjamin hat daran erinnert, daß Kunstwerke ein-ander eifersüchtig ausschließen, verdrängen und nicht gelten lassen. Sie lassen sich nur mit Gewalt unter das Dach eines Museums zusammenzwängen und führen einen gnadenlosen Vernichtungskrieg gegeneinander. Wer da das Höchstleistungsprinzip und die Ausscheidungskämpfe ganz abschafft, hebt Künste und Wissenschaften selbst auf. Ein mittelmäßiges Kunstwerk ist auch schon ein mißlungenes, und guter Wille genügt nicht. Der Kapitalismus jenseits des Industrialismus, jenseits der oralen Einverleibung, der Verdauung von Rohstoffen und des analen Ausstoßes von Waren, ist das schöpferische Prinzip selbst, wenn wir von der materiellen Produktion zur geistigen Kreation übergehen.
Vielleicht ist der Mensch weniger ein Rollenspieler auf der sozialen Bühne, wie die Soziologen meinen, als ein Wettkämpfer in der sozialen Arena. Das Rollenspiel des Schwächeren ist die Fortsetzung des Wettkampfs mit anderen Mitteln. Was einander nicht tritt, tritt immer noch gegeneinander an, ohne materielle Vorteile und Rücksichten, Ring frei für neue Runden! Das Interesse am Sieg gilt ganz zu Unrecht als unzulässige Verquickung von persönlichen mit sachlichen Interessen. Es kann mir gar nicht um mich selbst gehen, wenn es nicht gegen andere um die Sache geht, um die es mir nicht gehen kann, wenn es nicht gegen andere um mich selbst geht : Wie will ein Künstler anerkannt sein, dessen Narzißmus nicht den Narzißmus seiner Bewunderer befriedigt?
Menschen haben keine Flügel und wollen einander überflügeln. Jeder Ehrgeizige sucht das Feld, auf dem er sich vor Mitbewerbern auszeichnen kann, und die wichtigsten Wettkämpfe wären solche um die Disziplin, in der ein Sieg ein Sieg wäre über die Sieger in anderen Sportarten. Ein kaum noch ernstgenommener philosophischer Grundtopos besagt, daß der Sieger im Denksport der Sieger über die Sieger aller Sportarten ist. Und niemand kann auf allen Ebenen zugleich gegen alle anderen antreten. Um den Rücken freizuhaben für ihre Spielchen, haben die Menschen immer einige Betätigungsfelder ausdrücklich vom Wettkampf freigehalten und gleichsam rivalitär neutralisiert.
Die Zivilisation besteht darin, daß das Geistesleben ein Wettkampf ist, aber nicht auf Leben und Tod. Theorien haben den unleugbaren Vorteil, daß sie keine Menschen, sondern nur Ideen vernichten, hat Wissenschaftstheoretiker Popper ausdrücklich hervorgehoben. Der geistige Sieger, wenn er einer ist, verhält sich zum Besiegten nicht wie der Herr zum Knecht. Wann wird endlich eine Gesellschaft favorisiert, in der Frauen nicht nur die Sieger sozialer Showdowns und Männer nicht nur die Siegerinnen von Mißwahlen favorisieren? Demokratien stellen Foren für alle zur Verfügung. Es kommt nicht darauf an, das geistige Leben erst zu einem geistigen Überlebenskampf zu machen, sondern zu erkennen, daß es das immer schon war. Und wo man nicht siegen kann, Goethe hat es gewußt, muß man sich in die Liebe und Bewunderung des Überlegenen flüchten. Die Menschen unterscheiden sich nicht zuletzt darin, daß die einen lieber beneidet, die anderen lieber bewundert werden wollen.
Thomas Mann hat es gewußt: die Blonden des Nordens beneiden die Brünetten des Südens, und diese bewundern jene. Wer einen Menschen bewundert, macht ihn zu einem Wunder an Geschicklichkeit oder bestaunt sein schicksalhaftes Naturell. Wunder heben Selbstverständlichkeiten auf. Bewunderung ist neidlose Freude an der anerkannten Überlegenheit anderer, während das Ressentiment an anderen herabsetzt, was es selbst nicht kann und weil es das nicht kann, was es insgeheim doch liebend gern können würde.
Tag der Veröffentlichung: 25.09.2024
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