Cover

Introduction und Inhalt

 

Elvi Mad

 

 

Lucia – The Tempest

Yesterday don't matter because it's gone

 

 

Erzählung

 

 

"O, wonder! How many goodly creatures are there here!
How beautious mankind is! O brave new world
That has such people in't!"

Miranda in „The Tempest“ von Shakespeare

 

Lucia, Germanistikprofessorinnen, fasziniert Ruby einen Studenten. Es kommt zu persönlichem Kontakt. Die Nähe zu Shakespears Sturm und Beethovens Appassionata sind nicht zu verkennen. Wie es sich gestaltet, erzählt die Geschichte. Was ich genau gesagt habe, weiß ich gar nicht mehr, jedenfalls hatte Lucia es so interpretiert, als ob ich jetzt ins Bett gehen würde. Sie griff nach meinem Unterarm, hielt ihn fest und blickte mich tief an. „Ruby, du willst mich für die Nacht allein lassen?“ fragte sie besorgt. Ich wusste gar nichts, ich konn­te auch nicht antworten, überfahren kam ich mir vor. Natürlich, zusammen mit Lucia ins Bett. Welchen größeren Wunsch hätte ich haben können, aber das hatte so fern gelegen, dass ich nicht einmal davon zu träumen gewagt hatte. „Du hast keine Lust, das wir die Nacht zusammen verbringen? Traust dich nicht, mein Liebster, oder was?“ fragte Lucia, weil ich mit meiner Reaktion so lange auf mich warten ließ. Ich sagte auch jetzt nichts. „Du musst ganz stark sein, Ruby, nicht wahr?“ meinte Lucia, als wir dicht aneinander im Bett lagen. „Ich werde alles tun, was in meinen Kräften steht.“ reagierte ich scherzend. Lucia stieß mich zurück: „Ach, Ruby, lass das, ich meine doch nur, dass du nicht so schnell schlapp machen solltest. Quatsch, ich meine überhaupt nichts.“ „Ich würde ja drei Tage und drei Nächte ohne Unterbrechung koitieren, nur die Biologie hat meine Genitalen für so lange Zeiten nicht eingerichtet.“ kommentierte ich. „Sooh, das möchtest du? Für wie lange Zeit sind sie denn eingerichtet?“ erkundigte sich Lucia. „Lucia, ich glaube, das wird nix mit uns, wir sind viel zu albern.“ „Ah ja, der Akt der menschlichen Kopulation ist eine ernsthafte Angelegenheit und erfordert höchste Konzentration, nicht war?“ äußerte Lucia ihre Vermutung. „Nein, Blödsinn.“ ich darauf. „Was erfordert er dann?“ wollte Lucia wissen. „Dass wir Lust dazu haben.“ erklärte ich. „Und die haben wir nicht?“ vermutete Lucia „Nein, wir haben jetzt Lust, Quatsch und Blödsinn zu machen.“ so sah ich es. „Ruby, ich habe dich für sehr einfühlsam gehalten, und das bist du auch, das weiß ich.“ Welche Stürme sich sonst noch ereigneten, und was Lucia darüber hinaus noch alles wusste, vor allem aber, was ihre Bekanntschaft mit Ruby im Weiteren bewirkte, ist in der Erzählung dargestellt.

 

 

Lucia - The Tempest - Inhalt

 

Lucia - The Tempest 3

Visionen 3

Oh crazy new world 5

Antigone 6

Emotional hochwertig 9

Gigolo oder graue Maus 11

Elaine und Schönheit 12

In Ismenes Welt 16

Schöne Menschen und enthusiastisches Leben 17

Keine Fesseln mehr 19

Apfelstrudel 20

Semesterferien 22

Mutterliebe 24

Germanistenkongress 25

Ruby, du willst mich allein lassen? 26

In einem anderen Land 29

Antigonia angelica 32

Dein geliebtes Haar, Lucia 33

Esther Jüdin 34

Blumen meiner frühen Kindheit 36

Halt dich an deiner Liebe fest 38

Gewohnheit nicht verlieren 40

Claudia 42

Semesterabschluss 43

Verborgene Menschlichkeit 44

Fluten meines Lebensstroms 45

Troika der schönen Menschen 46

Hätte Shakespeare uns gekannt 47

 

 

Lucia - The Tempest - Visionen

„O Wunder! Was für ein feines Geschöpf gibt es hier! Wie schön ist das menschliche Geschlecht! O schöne neue Welt, die solche Leute hat!“. Ähnlich wie ich musste Shakespeare empfunden haben, als er in 'The Tempest' die er­staunte Miranda dies ausrufen ließ, und Ludwig van Beethoven seine Apassio­nata komponierte. Miranda sah allerdings mehrere feine Ge­schöpfe, bei mir war es nur eine Frau. Bestimmt konnte ich mich ihrer Aura ge­genüber nicht verschließen. Unsinn, gefallen hatte sie mir allerdings schon vom ersten Mo­ment an. Sie war offen und aufgeschlossen, widersprach dem vorge­fassten Bild einer nüchternen, ernsten, eher trüben Wissenschaftlerin. Eine Aura? Ja, so et­was Ähnliches musste sie für mich wohl verbreiten. Vorher kannte ich sie nur aus dem Vorlesungsverzeichnis und einem Buch von ihr, das mir gut gefallen hatte. Häufig gab es etwas zu lachen im Seminar. Höchst un­gewöhnlich war das und lag nicht daran, dass die Studentinnen und Studenten hier besonders witzig gewesen wären. Frau Professor Dr. Strehlow verbreitete eine Atmosphä­re und erzeugte ein Flair, das dieses Klima nicht nur ermöglich­te, sondern för­derte und provozierte. Im Anschluss an das Seminar fanden im­mer noch end­los Gespräche statt. Die Atmosphäre war nicht nur offen und ver­trauensvoll, sondern ganz offensichtlich mochten sich die Kommilitoninnen und Kommilito­nen in diesem Seminar auch untereinander besser leiden. Das di­stanzierte Ver­halten fehlte in der sonst üblichen Form. Irgendjemand hatte vorgeschlagen, sich doch mal außerhalb, abends beim Bier oder Wein zu tref­fen. Nach Befra­gung wollten fast alle teilnehmen. Ein Raum in einer nahegele­genen Gaststätte wurde reserviert, in der, wie Frau Strehlow es nannte, unser 'Mittelball' statt­finden sollte. Irgendjemand sprach Frau Strehlows neues Buch an. „Ach, wis­sen sie,“ meinte die, „darüber können wir doch an der Uni reden. Jetzt würde ich viel lieber hören, was es zum Beispiel aus Frau Bergmanns Lie­besleben für neue Geschichten zu berichten gibt.“ Die Kommilitonin Bergmann grinste, viel­leicht zunächst ein wenig verlegen, reagierte dann aber: „Nix Neu­es, wie das in der Liebe so ist. Immer das Gleiche. Man kennt die Männer ja.“ Ihre Intonation und Sprachmelodie sorgten für den ersten Lacherfolg. Den ganzen Abend rede­te man über Beziehungen, Liebe, das Verhalten und die ab­sonderlichen Seins­weisen von Männern und Frauen. Es wurde unendlich viel gelacht, als ob die meisten schon mit einem bibberndem Zwerchfell hergekom­men wären. Nach­dem schon viele gegangen waren, wurde der Kreis intimer. Lucia, wir redeten uns längst alle mit Vornamen an, Lucia hieß die Professorin, war der Ansicht, dass ihr solche Abende außerordentlich gefielen. „Ich erlebe Menschen gern la­chen. Beim Lachen zeigen sie viel mehr von sich, öffnen sich viel weiter als in Gesprächen, haben mehr Vertrauen, sind dir näher.“ meinte sie. „Ich weiß nicht, ob das immer stimmt. Manche Menschen lachen doch ent­setzlich. Da hörst du ihre ganze Verklemmtheit und Borniertheit wiehern.“ wi­dersprach ich, obwohl ich bei allem, was Lucia sagte, am liebsten bewundernd: „Ja, wie schön.“ erklärt hätte. Nur hätte sich das weniger auf den Inhalt als darauf, sie sprechend zu erleben, bezogen. „Mein Lachen hört sich auch an wie verklemm­tes Ziegengemecker?“ wollte sie scherzend von mir wissen. Was sollte ich denn sagen? „Dein Lachen erscheint mir, als ob ein Engel freudig seinen Goldmund öffnete und verführerische Klänge intonierte.“ etwa? So empfand ich es zwar, doch ich wehrte nur ab. „Aber du hast schon Recht.“ erklärte Lucia, „Am wun­dervollsten, natürlichsten und ehrlichsten ist das Lachen von Kindern. Bei Stu­dentinnen und Studenten ist es meistens auch noch ziemlich frei und offen di­rekt, aber bei vielen verbitterten und vermurksten Erwachsenen da kann die Seele gar nicht mehr richtig lachen. Da bewegt sich nur noch die entsprechen­de Muskulatur, aber das Herz freut sich nicht.“ Lucias Herz würde immer in freudiger Stimmung schwingen. Dessen war ich mir sicher. Auf die Idee, Lucia als schön zu bezeichnen, käme man nicht. Über das Alter, indem man Frauen für attraktiv hält, war sie längst hinaus. Ihr Gesicht war auch nicht rundlich, lieblich sondern viel zu markant und zeigte beim Lachen und Sprechen Falten. Natürlich konnte ich das sehen und beschreiben, trotzdem war sie für mich die schöne Frau an sich. So ein Unsinn. Ich sollte es so verstehen, als ob ich in ei­ner Ausstellung gewesen sei und ein Bild gesehen hätte, das mich besonders faszinierte. Vergessen würde ich das auch nicht, aber es wäre am nächsten Tag vorbei und würde mich nicht weiter berühren. Bedürfnisse nach schönen Frau­en und Liebe kannte ich im Moment nicht. Ich liebte Claudia und sie mich. Wir waren glücklich mit unserer Liebe, niemals würde ich daran etwas stören las­sen. Was wollte diese verrückte Frau Strehlow in mir? Für sie gab es keinen Platz. Abgesehen davon war es ja auch völlig illusorisch. Wer war diese Frau Strehlow denn überhaupt? Lucia war bestimmt verheiratet, hatte Kinder oder war lesbisch und mochte gar keine Männer. Das wusste ich ja alles nicht. So fleißig, wie die anderen Studentinnen und Studenten ihr Privatleben zum Bes­ten gegeben hatten, so konsequent hatte Lucia über ihr eigenes geschwiegen. Ob sie mich wohl nett fand, sich das überhaupt gefragt hatte? Ein bewertendes Bild machst du dir ja bei jedem, mit dem du sprichst. Wie das Bild von mir wohl bei ihr aussah? Bestimmt ein Allerweltsstudent, den sie am nächsten Mor­gen vergessen hatte. Ich musste ja auch noch ein Referat halten. So viel brachte ich gar nicht zustande, wie ich da gern reingelegt hätte. Eine kleine Semidissertation sollte es werden. Verrückt war ich, typisch Mann, will als großer Wissenschaftler reüssieren, sich hervortun, bewundert werden, aber das wollte ich doch überhaupt nicht. Sie sollte empfinden, dass ich nett bin, dass sie mich mag, aber was ich dazu ins Referat schreiben musste, wollte mir überhaupt nicht einfallen. Jedenfalls hatte ich einen Grund, sie vorher noch einmal etwas zu fragen. Ich war völlig daneben, so etwas Irrsinniges konnte bei mir eigentlich nicht geschehen. Ich freute mich auf das Seminar, ich freute mich, Lucia sprechend zu erleben, ich freute mich, sie fragen zu können, ich hatte mich doch offensichtlich verliebt in diese mir unbekannte Lucia. Wie ein Teenymädchen von einem ihrer Lehrer schwärmt, so kam ich mir vor. Warum ich Claudia liebte, wusste ich gar nicht. Wir waren uns nur immer näher ge­kommen, waren einfach immer mehr beieinander geblieben, bis wir meinten, dass diese Welt uns ständig zusammen sehen wolle. Selbstverständlich war es, dass wir zusammen gehörten. Verliebt, ja, das sind wir jetzt auch noch, kön­nen es oft gar nicht abwarten, dass der oder die andere kommt, haben Sehn­sucht nacheinander. Aber diese Reaktion bei Lucia, das war verrückt. Ich hatte doch Visionen, sie musste doch in mir irgendwelche Traum- oder Wunschbilder wecken, nur ich konnte überhaupt keine benennen. Ich empfand mich einfach glücklich in ihrer Anwesenheit.

 

Oh crazy new world

Meine Eltern bilden auch heute noch für mich ein Nest, und voraussichtlich wird es immer so bleiben. Ein Erbe meiner Mutter ist es bestimmt, der Wunsch, Glück zu empfinden. Das Kind gehörte ihr, ganz ohne Frage, das ist bis heute so, aber dass es ihren Mann erfreute, sich mit mir zu beschäftigten, machte sie glücklich. Sie empfand es bestimmt auch als Anerkennung für sich selbst. Sie spürt in allem das Glück und genießt das Leben. Keineswegs hat Materielles Bedeutung, allenfalls ästhetische Gesichtspunkte, die den Blick verwöhnen. Und Lucia? Absolut gefiel sie mir ästhetisch, und darüber hinaus hatte sie auch noch einen wunderschönen Po, der nicht nur anderen, sondern offensichtlich auch ihr selbst gefiel. In ihrem Alter beginnen die Körper der Frauen sich in eine Richtung zu verändern, die ihnen meistens selbst nicht gefällt. Im Gesicht war das bei Lucia mit den Falten sicher nicht anders, aber um ihren Po hätte sie jede junge Frau beneidet. Selbstverständlich gefiel Lucia das, sonst würde sie nicht so hautenge jeansähnliche Hosen tragen. Dazu nur ein schwarzes Blouson, damit ihr knackiger Po auch niemandem verborgen bleiben konnte. Als Professorin in ihrem Alter, welch ungewöhnliche Marotte. Man wusste ja nie, aber dass sie übermässige erotische Gelüste dazu trieben, konnte ich mir kaum vorstellen. Mir gefiel ihr Po auch, nur hatte er mit meinen Empfindungen für Lucia nichts zu tun. Ich hatte ihre Rückansicht erst viel später kennenge­lernt. „Ist noch was, Ruby?“ fragte Lucia freundlich mit sanfter Stimme. Meine Frage war ein Fake, die Antwort war mir längst bekannt, aber wie schmeichelte es meinem Empfinden, es von Lucia erklärt zu bekommen. Ich hatte sie wohl angestarrt. Die ganze Welt sollte sie mir erklären. Bei meinem Vater war es auch so. Ihm konnte ich endlos zuhören, er war für mich die Welt und erklärte sie mir. Ich habe mich schon als Kind oft gefragt, wer ich für ihn wohl bin. Ich trage nicht nur seine Gene in mir, in seiner Psyche muss mir ein riesiger Raum gehören. Ich verehrte meinen Vater und liebte ihn innig, trotzdem gefielen mir Lucias Erklärungen noch besser. Sie sprach Gefühle an, zu denen mein Vater keinen Zugang hatte. Nur wollte ich das doch überhaupt nicht. Mit Claudia be­rieten wir darüber, wie man Gefühle ändern oder wieder los werden könne. Wir sprachen allgemein hauptsächlich über Phobien und Dergleichen. Von meiner konkreten Situation erzählte ich nichts, das war mir zu peinlich. Eine Lucia Phobie entwickeln, das wäre ein sicherer Weg, aber wenn es schon äußerst schwer ist, eine vorhandene Phobie wieder los zu werden, ist es so gut wie ausgeschlossen, sich gezielt eine aneignen zu können. Ich würde eben mit ei­ner unerfüllten Liebe leben müssen. Da gab es ja viele Leidensgenossinnen und -genossen. Nur was liebte ich denn überhaupt? Eine Frau, die ich gar nicht kannte. Es musste ein Geist oder ein Gespenst in mir sein, dass sich weder meinem Blick noch meinem Bewusstsein offenbarte. Vielleicht war Lucias Er­scheinungsbild nur eine Chimäre, hinter der sich eine gute Fee verbarg, die ich zwar nicht erkennen, deren Anwesenheit ich aber spüren konnte. Oder verkör­perte sie eher eine Sphinx, die mir ein unlösbares Rätsel aufgab? Es war abso­lut lächerlich, und ich schämte mich vor mir selbst, dass ich mich davon ein­nehmen ließ. Nicht oh brave new world sondern oh crazy new world, nicht oh schöne, sondern oh verrückte neue Welt.


Ich müsste mehr arbeiten, etwas anderes machen, vielleicht sogar etwas ande­res studieren, dann hätte ich keine Zeit mehr, an Lucia zu denken. Meinen Kopf würde etwas anderes füllen, oder ich würde sie eventuell gar nicht mehr se­hen. Studieren könnte ich alles. Mein Abizeugnis war ziemlich gut und meine Interessen sind vielfältig. „Es ist zum Kotzen.“ hatte ein Professor geklagt, „Viele schöne Romane und Gedichte haben sie gelesen und meinen da müssten sie Germanistik studieren. Aber Germanistik ist eine Wissenschaft und kein Le­sezirkel oder Buchclub.“ So war es bei mir nicht. Ich hatte zuerst überlegt, Theaterwissenschaften zu studieren, aber da sagten mir die beruflichen Per­spektiven weniger zu. Das Drama verband mich mit der Sprache und nicht erst mit der deutschen. Mein Großvater sei als Kind häufig in einem Dorf auf dem Bauernhof gewesen. Wie ganz anders die Welt sich dort gestaltete, habe ihn fasziniert. Seinen Freunden in der Stadt habe er auch diese Faszination vermit­teln wollen, aber wenn er von Meta dem Pferd erzählte, hätten sie sich nur die Pferde aus ihren Bilderbüchern vorstellen können. „Du kannst nichts Neues, kannst Geschichte nicht erzählen, der andere versteht nur das, was sowieso schon in seinem Kopf ist.“ habe mein Großvater gesagt. Nicht viel anders sah es mein Vater. Folglich mussten wir alles selbst erleben.


Antigone

Wir hatten uns über die Lust der Menschen, sich darzustellen und über die Lust anderen zuzuschauen unterhalten, hatten über die Anfänge des Theaters ge­sprochen und waren auf das griechische Theater gekommen. Nach vielen Dis­kussionen und Beratungen, war es unerlässlich geworden, unsere nächste Er­kundungsreise nach Griechenland und Kleinasien zu starten.Wir machten häufi­ger derartige Erkundungsreisen. Mutter sah es zwar differenzierter als mein Großvater, war der Ansicht, dass durchaus auch Neues im eigenen Kopf entste­hen könne, und wusste dazu auch eine Beispielgeschichte ihrer Großmutter, aber selbstverständlich fuhr Mutter immer mit. Ihr gefiel es selbst, und außer­dem konnten mein Vater und ich auf sie nicht verzichten. Meine Eltern waren beide sehr neugierig. Vater suchte nach neuen Erkenntnissen und Mutter such­te nach dem Glück. Der Erkenntnisfaktor lag bei unseren Reisen in der Obhut meines Vaters, während Mutter für den Lustfaktor zuständig war. Alle Reisen empfand ich als äußerst spannend, aufschlussreich und beglückend, aber die Fahrt zu den griechischen Theatern sorgte für die beeindruckendsten und am tiefsten betroffen machenden Erfahrungen. Vielleicht weil ich in meinem Alter jetzt mehr verstand, aber es war ein Kompendium von Eindrücken, das mich erfüllte. Allein schon diese phänomenalen Bauwerke von vor zweitausend Jah­ren, vielleicht unseren großen Fußballarenen vergleichbar, aber wie müssen wir Banausen uns da schämen. Ehrfürchtig betrachtete ich die riesigen Ränge, wenn ich an die Menschen dachte, die sie damals unter größten Mühen für Theateraufführungen schufen. Ein anderes Phänomen, dessen ich mir erst in Griechenland bewusst wurde, bildete der weiße Marmor. Wir waren schon in Florenz und Rom gewesen, ich hatte ja nicht wenige Marmorstatuen gesehen, aber vielleicht Wahrnehmungs- und Empfindungsabe erst jetzt so weit entwickelt, dass ich die Faszination spüren konnte, die weißer Marmor auf mich ausübte. Als Sinnbild für das Klassische, Reine, Edle empfand ich ihn. Die hehren Hellenen, denen vor zweitausend Jahren das Theater so außerordentlich wichtig war, mussten aus weißem Marmor geschaffen sein, und die Götter Griechenlands hatten ihnen, wie der schönen Galatea Pygmalions, das Leben eingehaucht. „Du brauchst keine Schande mehr zu tragen, Iokaste.“ sagte ich zu meiner Mutter, „Ich bin dir untreu geworden.“ Ihre von einem Grinsen untermalten fragenden Augen vermuteten wohl, ich hätte mich endlich in ein griechisches Mädchen verliebt. „Ja, Antigone heißt sie, aber es ist nicht unsere Tochter, sondern das Kind von Sophokles.“ Dass die meisten meiner Mitschülerinnen und Mitschüler in der Pubertät ihre Eltern nur noch zum Kotzen fanden, konnte ich so für mich nicht nachvollziehen. Ich brauchte meinen Vater doch für das, was mir das Wichtigste war, und zusätzlich mochte ich ihn äußerst gern. Meine Mutter war immer mein Liebstes gewesen. Schmusen, zärtlich sein, alle menschlichen Verhaltensweisen, die mit Liebe und Zuneigung zusammenhingen, betrafen meine Mutter. Darüber hinaus war sie eine Frau, die ich als Mensch bewunderte. Welchen Anlass gab es, mich außer zum Spielen und Ähnlichem mit Jenny und Corinna zu befassen, wenn ich eine so wundervolle Freundin wie Mutter hatte. Als ich von ihr träumte und sexuelle Fantasien mich bewegten, kam es mir allerdings doch leicht sonderbar vor, und ich informierte mich. „Mutter, ich bin krank. Ich habe einen psychischen Schaden. Ich muss zum Therapeuten.“ erklärte ich ihr eines Tages unvermittelt in der Küche. Ihre großen fragenden Augen waren von einem zweifelnden Lächeln begleitet. „Ich liebe dich. Ja, es ist eindeutig so, dass ich dich liebe.“ erläuterte ich näher. Während sie sich noch bog vor Lachen, umschlang und drückte sie mich. „Das ist nicht krank, Ruby, das ist das Wunderschönste, was ich von dir hören kann. Deine Iokaste freut sich und wird sich niemals vor Schande umbringen. Nur heiraten werde ich meinen kleinen Ödipus trotzdem nicht. Wir scherzten noch ein wenig, und ich erklärte mich näher. Mutter zeigte mir auf, wie und wodurch sich das ändern würde, ganz anders als Freud. Wir konnten offen darüber sprechen. Mutter nahm mich schon ernst, aber wir hatten auch Lust, darüber zu scherzen. Ich hatte keinen Ödipuskomplex, sondern war Ödipus Rex, und Vater versicherte mir, dass er nicht, wie die alten Griechen in solchen Fällen, gedenke seinen Sohn umzubringen. Ob ich wirklich einen Ödipuskomplex hatte, weiß ich gar nicht, vielleicht in Ansätzen, aber sonst war es wohl mehr ein Spiel. Nur jetzt liebte ich Antigone. Als ich in der Orchestra des Theaters von Epidauros in der Argolis stand, empfand ich sie neben mir, spürte wie sie Sophokles Tragödie spielte. Trotzdem sah ich sie anders, erlebte sie heute. Nicht um eine Entscheidung zwischen den Gesetzen des Königs oder der Götter ging es. Nicht die in den Büchern aufgeschriebenen sind die Gesetze unseres Königs heute. Der Common Sense, Volkes Meinung, der Mainstream ist unser König, der bestimmt, was allgemein so üblich ist, wie man zu denken und zu handeln hat, was von einem erwartet wird. Daran fühlen wir uns fast zwanghaft gebunden, daran würde sich auch Ismene heute orientieren, tun was man so tut, weil es alle so machen. Nur Antigone nicht. Sie steht für die Menschlichkeit und setzt sich offen dafür ein, trotz härtester Konsequenzen. Sie kann nicht der Menschlichkeit zuwider handeln. „Deine neue Göttin, deine Madonna?“ wollte Mutter wissen. „Offensichtlich brauchen die Menschen neben einem, der alles weiß und kann, der alles lenkt und dirigiert, einem Gott, auch so etwas wie das Bild einer großen, gütigen Mutter, die huldvoll ist und allen hilft. Meine Antigone hat aber keinen Strahlenkranz und keinen Glorienschein, und prächtige bunte Kleider trägt sie auch nicht. Sie ist schlicht und edel, aus weißem Marmor ist sie geformt und wird lebendig, wenn dein Blick sie erkennen will und dazu in der Lage ist. Sie ist das Menschliche, das jede und jeder in sich trägt, sie ist die Lust, die oder den anderen zu akzeptieren und anzuerkennen, verstehen zu wollen, ihn oder sie zu achten, wie sich selbst, sie stellt die Grundlage für die Lust der Menschen, andere zu lieben dar. Nur viele können das bei sich nicht mehr erkennen, denken und handeln wie Ismene, kennen ihre wirklichen Gefühle und Bedürfnisse nicht mehr und sind zu blind, um Antigone sehen zu können.“ erläuterte ich. „Du hast mal gesagt: „Alles hat eine Farbe, alles hat einen Klang, und alles hat eine Geschichte.“ Eine schöne Geschichte zu Epidauros ist die Geschichte von Antigone, sie gefällt mir, nur sie lebt in deinem Kopf. Meinst du nicht auch, dass du als Mann dir mal eine Antigone wünschen wirst, die aus Fleisch und Blut besteht und nicht aus weißem Marmor?“ vermutete Mutter. Eine lapidare Geschichte, die ich gerade mal so erfunden hatte und vergessen hätte, wenn wir wieder nach Hause kämen, war es keinesfalls. Es hatte mich schon tief beeindruckt und beeinflusste auch später mein Verständnis und meine Betrachtung anderer Menschen. Nur der Alltag wollte, dass ich ständig etwas zu regulieren, zu lernen und zu arbeiten hatte. Selbst als Claudia und ich uns kennenlernten, erschien Antigone nicht in meinen Gedanken. Wir hatten uns öfter getroffen, weil wir gemeinsam ein Referat übernommen hatten. Aber wir trafen uns einfach immer weiter, obwohl das Referat längst gehalten war. Warum wurde nie gefragt. Immer mehr machten wir gemeinsam, nicht nur Kino und Konzertbesuche, bis wir fast alles zusammen machten. „Du, Ruby, sag mal,“ setzte Claudia an einem Freitagabend an, „ist dir eigentlich schon mal aufgefallen, dass es sich bei mir um ein Wesen unsere Spezies in femininer Form handelt?“ Meine breiten Lippen und mein stummes Lachen verbargen, was mir blitzartig durch den Kopf lief. Wenn es mir jemand anders von sich erzählen würde, hätte ich es nicht geglaubt, aber wenn ich es selbst erlebe, nehme ich es noch nicht einmal wahr. Vielleicht verfügte ich ja neben meinem Ödipuskomplex auch über ein Inzesttabu in Bezug auf Claudia. „Oder gehörst du zu der Sorte von Männern, die Frauen gegenüber kein Begehren entwickeln können?“ wollte Claudia weiter wissen. Wir benötigten das ganze Wochenende, um unverbrüchlich festzustellen, dass Zuneigung, Liebe und sexuelle Lust hervorragend miteinander harmonieren, sich wundervoll ergänzen und ein verstärktes gemeinsames Erlebnis bewirken können. Jetzt wussten wir's und alles ohne Antigone, obwohl sie doch eigentlich meine Liebste war. Sie war eine Göttin der Unterwelt. Umgeben war ich von Kreons Vasallen. Ismene und ihre Kompagnons hatten alles okkupiert, überwucherten das Denken und Handeln der Menschen um mich herum. Wie die Schlingpflanzen des Regenwaldes umgarnten und erwürgten sie es.


Emotional hochwertig

Ich war doch ein erwachsener Mann und wusste, was ich zu tun hatte. Wegen dieser Professorin Strehlow mein Studium ändern? So alberne Kinderflausen kämen mir nicht mehr in den Sinn. Trotzdem belegte ich zwei Veranstaltungen bei ihr. Als sie den Seminarraum betrat, sah Lucia mich. „Kommst du anschlie­ßend mal, bitte, zu mir, Ruby.“ sagte sie, bevor sie das Seminar begrüßte. Ob ihr aus dem letzten Semester noch etwas eingefallen war? Jedenfalls hatte sie in den Ferien meinen Namen nicht vergessen. Ich musste ja auch jedes mal er­klären, warum ich 'Ruby Tuesday' und nicht Rupert hieß. Ein sehr ehrenwerter, angesehener und äußerst gebildeter Mann sei mein Urgroßvater gewesen, hat­te meine Mutter mal erklärt. Mehr brauchte ich nicht zu wissen. Die Peinlichkeit einer Diskussion darüber, wie man seinem geliebten Kind so etwas antun kann, und es Rupert nennen, wollte ich meinen Eltern und mir selbst ersparen, zumal mich ja auch niemand so nannte. Für alle, die mich beim Namen nennen woll­ten, war ich stets nur Ruby, der Edelstein gewesen. Was Lucia wohl von mir wollte? „Was machst du hier? Weshalb besuchst du dieses Seminar?“ herrschte sie mich forsch aber doch mit lächelnden Zügen um ihren Mund an. Ich ver­suchte zu erklären, warum ich das Thema des Seminars als wichtig erachte, während Lucias Augen und Mund sagten: „Muss ich das ertragen und mir so einen Stuss anhören?“. „Du willst also sagen, wenn der Kollege Lempert das Seminar selbst gehalten, und ich nicht für ihn eingesprungen wäre, hättest du das Seminar über Eichendorff auch besucht?“ fragte Lucia und hob die Augen­brauen an. Einfach lügen und „Ja“ sagen, das ging jetzt nicht. Aber was denn? Ich druckste rum. „Lucia, ich finde, deine Veranstaltungen sind intellektuell und emotional äußerst hochwertig. Es ist eine Freude, deine Vorlesungen und Se­minare zu besuchen.“ erklärte ich. Mit Lucias grinsend, skeptischen Blicken wurde ich gemustert. „Ist ja eigentlich ein Kompliment, nicht wahr? Nur das emotional hochwertige verstehe ich nicht ganz. Das musst du mir nochmal er­läutern. Aber jetzt geht es nicht. Ich bin schon spät dran. Der nächste Termin wartet auf mich. Wie wär's am Freitag um drei? Bei mir im Büro oder lieber in der Cafeteria? Da können wir uns bedienen lassen.“ schlug Lucia vor. Oh je, was sollte ich dazu denn erklären? „Lucia, mir gefällt es so gut, ich fühle mich einfach wohl bei dir. Meine gesamte Gefühlslage wird um mehrere Level ange­hoben, wenn ich dich erblicke, dich sprechen höre und sehe, den Klang deiner göttlichen Worte erlebe?“ so etwas in der Richtung vielleicht? Oder sollte ich sagen: „Ein Licht bist du für mich, Lucia, seine Wärme spüre ich, und seinen strahlenden Glanz kann ich leuchten sehen, aber die Flamme selbst darf ich nicht erkennen.“. 'Emotional hochwertig', was für ein Unfug, wie konnte ich so etwas sagen? „Es gefällt mir bei dir.“ würde ich trivial, lapidar erklären und kein Wort mehr. Lucia wollte davon aber gar nichts wissen, als wir uns am Frei­tag um drei in der Cafeteria trafen. Sie gab eine Posse, die sie heute erlebt hatte, zum besten. Vom Theater sprach sie, wegen meines Referats und eines kurzen Gesprächs beim sogenannten Mittelball damals, wusste sie, dass es mich interessierte. „Bei den Griechen waren die Theateraufführungen sicher absolute Straßenfeger. Wegen der damaligen Bevölkerungsdichte kann doch niemand zu Hause geblieben sein, wenn man so riesige Theater benötigte.“ meinte ich. „Das ist vorbei, der Film hat eben gesiegt.“ Lucia dazu. „Das kannst du doch nicht vergleichen. Das ist doch wie der Unterschied zwischen Liebe machen und einen Pornofilm anschauen.“ sah ich es. „Alle Filme sind also nur so ähnlich wie Pornos, meinst du das?“ wollte Lucia grinsend wissen. „Na, so direkt will ich das ja gar nicht sagen, aber es sind zwei völlig unterschiedliche Metiers. Die Filmemacher sind Illusionskünstler. Alles sind zusammengeklebte, kurze, tausendmal wiederholte Aufnahmeszenen vom Set. Du erlebst die Menschen selbst niemals wirklich.“ argumentierte ich. „Trotzdem lieben die Leute es mehr als das Theater.“ meinte Lucia. „Aber ist das denn nicht entsetzlich. Die Menschen befassen sich lieber mit dem Fake als mit der Wirklichkeit. Die interessiert sie nicht. Sich damit zu beschäftigen und ernste Fragen zu stellen, ist mühsam und unbequem. Sie ziehen die Oberfläche vor und das nicht nur beim Film.“ lautete meine Ansicht. „Du denkst immer sehr tiefgreifend und beschäftigst dich ständig mit den letzten Fragen, nicht wahr?“ wollte Lucia schon lachend wissen. „Ja, ständig quäle ich mich mit metaphysischen Problemen, mache mir Gedanken über das Hiersein, das Sosein, das Dasein, vor allem aber über das Glücklichsein.“ versuchte ich zu scherzen. „Das Glück ist immer da, du musst ihm nur die Tore öffnen, musst es hereinlassen, musst dein Herz weit machen.“ erklärte Lucia. „Das glaube ich auch. Du musst es nur sehen und erkennen können, nicht wahr, dann kannst du es spüren. Viel Geld, ein tolles Auto, gute Zensuren sind bestimmt angenehm, aber Glück zu empfinden hat immer mit anderen Menschen zu tun.“ bestätigte ich Lucia. „Wenn du einen großen Lottogewinn erzielst, hast du also kein Glück gehabt?“ fragte sie provozierend mit schelmischem Grinsen. „Natürlich, aber das ist eine andere Konnotation von Glück. Was dich glücklich empfinden lässt, ist ein tiefes, wirkliches, menschliches Gefühl, Materielles ist da völlig irrelevant. Ich habe oft über meine Mutter gespöttelt, gesagt, sie sei hedonistisch glücksbesessen. Heute sehe ich das völlig anders. Sie wollte zum Beispiel immer genau wissen, worüber mein Vater und ich diskutiert hatten. Die Inhalte interessierten sie aber kaum. Wenn sie unser Gespräch betrachtete, ließen ihre breit gezogenen Lippen freundliche Grübchen in die Wangen formen und ihre Augen sagten, dass ihr Herz lachte. Sie hatte uns beide und unsere Beziehung gesehen, die Worte waren da fast überflüssig. Sie hatte das Glück erkannt. Glücksgefühle kommen nur zwischen Menschen untereinander auf.“ lautete meine Ansicht. „Und deine Hormone? Was machen die zur Zeit? Sind sie damit beschäftigt, dich Glücksgefühle empfinden zu lassen?“ fragte Lucia breit grinsend. Was hatte das zu bedeuten? Ich antwortete zunächst auch nur mit einem Grinsen. Was ich alles genau dort hineinlegen wollte, war mir selbst nicht richtig bewusst. Freundlich war es schon, aber es sollte auch mokant, überhebliche Ansichten zum Ausdruck bringen, ebenso dass ich derartig provozierende Fragen doch nicht zu beantworten gedenke. „Und bei dir selbst, wie ist es denn bei dir? Bist du zur Zeit glücklich?“ antwortete ich schließlich mit einer Gegenfrage. Lucia antwortete ganz selbstverständlich: „Ich denke, schon. Die Woche ist zu Ende. Ich fühle mich frei, unbeschwert, locker, und gleich werde ich Elaine, meine Freundin, besuchen. Ein glückliches Gefühl, daran zu denken, aber mit uns ist es doch jetzt auch ganz nett, oder? Heute Abend werde ich mit Elaine ins Konzert gehen, Klavierkonzert, ist zwar nicht mit Boris Berezovsky, aber die junge Pianistin soll auch gerade mit Liszt hervorragend sein. Da hast du schon Recht, es gemeinsam mit Elaine genießen zu können, verdoppelt das Glück, aber Musik kann auch allein das Empfinden glücklicher Gefühle bewirken. Meinst du nicht auch?“ „Doch, doch, das sehe ich auch so. Wenn deine Augen etwas sehen, das ihnen außergewöhnlich gefällt, empfindest du auch glücklich, nicht wahr?“ antwortete ich. „Ja, alle Sinnes- beziehungsweise Wahrnehmungsorgane können dich separat beglücken, dir Sinnenfreuden bereiten.“ erklärte Lucia lachend. „Das alles überbietende ist aber der Sozialsinn. Er hat kein spezielles Sinnesorgan. Alle anderen Sinne wirken zusammen und lassen ihn die stärksten emotionalen Empfindungen entwickeln.“ ergänzte ich. „Ja, die Liebe meinst du, nicht wahr?“ Lucia dazu. „Würde es dich denn glücklich machen, unser Gespräch über Glücklichsein zu erweitern und zu vertiefen, oder auch über anderes von den letzten Dingen zu sprechen? Am Freitag um drei, eine halbe Stunde beim Kaffee, das ist doch ganz nett, oder?“ fragte sie. „Ja, Lucia, selbstverständlich, nichts würde mich glücklicher machen als das.“ so äußerte ich mich allerdings nicht, sondern nickte nur freundlich lächelnd Zustimmung.


Gigolo oder graue Maus

Wie nach einer starken sportlichen Anstrengung, brauchten jetzt meine Gedan­ken Zeit zum Luftholen. Es war ja nichts geschehen. Ich hätte mich in gleicher weise und den gleichen Worten mit einer Kommilitonin unterhalten können. Dann hätte ich es für Smalltalk gehalten, jetzt glich es einem Hochamt im hei­ligen Dom beglückender, menschlicher Kommunikation. Nicht Lucias Worte, sondern sie zu erleben, sie ausschließlich für mich in offenem Gespräch zu er­leben, war die tief beeindruckende Erfahrung, die sich wie eine nicht wieder zu löschende Dokumentation in mein Gedächtnis eingrub. Beglückt empfand ich mich ohne Zweifel, aber das gesamt Geschehen komplizierte mein unlösbares Rätsel zusätzlich. Was wollte diese Frau Strehlow eigentlich von mir? Die von mir so bezeichneten 'emotional hochwertigen' Veranstaltungen hatten den An­lass gegeben, nur davon war mit keinem Wort gesprochen worden. Vergessen hatte Lucia es bestimmt nicht. Wahrscheinlich wollte sie nicht das hören, von dem ich meinte, dass es für ihre Ohren geeignet sei. Nur indirekt waren wir ja auch nicht darauf gekommen. Wir hatten geplaudert. Das eine ergab das Nächste. Hatte sie mich intensiver betrachtet, als meinen Worten gelauscht, hatte vieles von mir erkannt, worüber gar nicht gesprochen worden war? Na­türlich hatte ich Lucia auch intensiv wahrzunehmen versucht, aber es ging mir nicht darum, sie tief erkennen zu können, ihre psychischen Baupläne zu ver­stehen. Sie war keine starre Maschine und auch kein festes Haus. Einem Fluss oder See glich sie eher, und ich erfreute mich daran, ihre immer neuen Wellen zu betrachten und mit meinen Visionen und Assoziationen interpretierend zu genießen. Unser Gespräch konnte ich nicht mit dem Bild einer Zustandsbe­schreibung fassen. Es war ein Austausch, und da hatte Lucia schon Recht, dass dieser Austausch nach Fortsetzung verlangte.


Lucias Gedanken hätte ich schon gern gelesen. Was interessierte diese Profes­sorin ein ihr fast unbekannter Student. Ein Jux, eine l'art pour l'art Spielerei zum Wochenende? Nein, so etwas würde Lucia nicht machen. Ernst war sie si­cher, aber auch tiefgreifend humorvoll. Sie liebte es nicht nur andere lachen zu sehen, sie lachte auch gern selbst. Ausgeglichen, durch und durch harmonisch wirkte sie auf mich. Ein glückliches Leben würde sie haben, dessen war ich mir sicher. Aber was hatte ich damit zu tun, der no name Ruby? In das Alter, in dem man Frauen nachsagt, Lust auf junge Männer zu haben, würde sie sicher bald kommen. Nein, so ein Unsinn. Wie konnte ich nur so etwas denken, dass Lucia in mir den Gigolo sähe. Vielleicht hatte sie in mir ja auch etwas gesehen, wie ich es in ihr sah. Nur was sollte man denn an und in mir oder um mich se­hen? Für mich selbst verfügte ich zwar über ein blühendes Ego, aber in den Augen der anderen sah man mich sicher als graue Maus, üblicher Durchschnitt, wie all die anderen auch. Allerdings musste Claudia in mir doch auch wohl et­was erkannt haben. Sie hat es mir aber nicht gesagt. Vielleicht hat sie auch nichts erkannt, sondern nur gespürt. Ich freute mich auf den nächsten Kaffee mit Lucia. Warum? Das konnte ich auch nicht erkennen, nur spüren. Claudia hatte ich nichts von meinem Treffen mit Lucia erzählt. Warum auch? Ich be­richtete ihr doch nicht jedes mal, wenn ich einen Kaffee getrunken hatte. Dass es mir auch etwas anderes bedeutete, war ja ausschließlich meine Interpretati­on. Was hätte ich Claudia denn auch erzählen sollen? Sie damit langweilen, was Lucia gesagt hatte? Das andere verstand ich ja selbst nicht.


Elaine und Schönheit

Wir kamen im gleichen Moment in die Cafeteria, gingen aufeinander zu, gaben uns aber nicht die Hand. Wie abgesprochen fassten wir uns an die Oberarme und begrüßten uns französisch. Warum das? C’est comme ça ici, eine Erklärung gab es nicht. „Du bist mit deiner Freundin Elaine im Konzert gewesen, wie hat's euch gefallen?“ erkundigte ich mich. „Prächtig, das ist immer glanzvoll.“ laute­te Lucias knappe Antwort. „Was, Liszt oder der Konzertbesuch mit Elaine?“ fragte ich nach. „Ja, stimmt, beides eigentlich. Ich finde Liszt fantastisch und Elaine nicht weniger.“ erklärte Lucia lachend. „Besuchst du keine Konzerte mit klassischer Musik?“ wollte Lucia wissen. „Doch schon, aber leider nur selten. Ich habe keine Konzertfreundin.“ antwortete ich. „Keine Freundin? Hast keine Freundin?“ fragte Lucia leicht ungläubig. „Doch, hab ich, aber bei klassischer Musik hat sie einige Verwachsungen. Unverständlich, in Opern geht sie gern.“ meinte ich dazu. „Singt sie denn auch selbst gern?“ erkundigte sich Lucia. „Nein, nur schon mal, wenn ihr gerade danach ist, wie bei jedem Menschen. Singst du denn zu Hause?“ wollte ich von Lucia wissen. Lucia lachte auf. „Sollte ich eigentlich, du hast Recht, es ist Balsam für die Psyche, nicht wahr? Warum tue ich es nicht? Eine lustige Vorstellung.“ reagierte Lucia. „Bei der Arbeit, frü­her haben die Frauen immer bei der Arbeit gesungen.“ kommentierte ich. „Weil sie die Qualen und Mühen der Arbeit ohne Singen nicht ertragen konnten.“ wusste Lucia. „Solche Qualen und Mühen erleidest du nicht, dass sie nur mit Singen zu ertragen wären, oder?“ fragte ich grinsend nach. Lucia überlegte mit schelmischem Gesicht. „Nein, ich suche immer das, was mich glücklich sein lässt, wobei ich mich wohlfühle. Bestimmt ein bisschen wie deine Mutter.“ er­klärte sie dann. „Ja, das merkt man an der Uni. Mit dir ist es anders als mit den gewöhnlichen Dozenten. Das sehen sie alle so. Und nachmittags besuchst du zu deiner Erbauung Elaine.“ scherzte ich, „Hast du noch mehrere Freundin­nen?“ „Ja.“ antwortete Lucia knapp und fragte mich: „Bei dir, wie sieht es da aus? Hast du viele Freundinnen und Freunde?“ „Vielleicht neben meiner Freun­din vier weitere, zwei Männer und zwei Frauen, die ich als Freunde bezeichnen würde.“ erklärte ich. „Ich weiß nicht, mir bedeutet das gar nicht so viel, mit den Freunden. Nein, nein, so wollte ich das gar nicht sagen, und so meine ich das auch nicht. Zu einem anderen Menschen ein engeres, vertrauensvolleres Verhältnis zu haben, ist immer ein sehr hohes Gut, auch für mich. Es ist nur so, ich kenne Jenny, Corinna, Lola und Robby zu gut, habe sie häufig erlebt und habe jeweils ein festes Bild von ihnen. Das ist sofort präsent, wenn ich an jemanden denke oder mich mit ihm treffe. Ich weiß sofort wer Jenny oder Rob­by ist. Meine Augen zeigen mir das Bild, zeigen mir, was ich sehen will, zeigen mir, was ich gut kenne. Ist das nicht langweilig? Aber so ist es immer. Von mei­ner Mutter habe ich gewiss auch ein Bild, aber das nehme ich gar nicht wahr. Im Vordergrund steht die Spannung, die Erwartung des Unbekannten, das sich ereignen wird. Die Begegnung, der Austausch ist das Spannende und nicht ein bestehendes, bekanntes Bild.“ erklärte ich. Lucia ließ ihren Blick im Cafeteria­rund schweifen, nuckelte an ihrem Espressotässchen, fuhr sich mit dem Zeige­finger unter der Nase her und meinte mich anschauend: „Du hast gesagt, dass du deine Freunde gut kennst und sie vielleicht gut leiden magst, aber deine Mutter, die liebst du. Wie sieht denn eigentlich dein Bild aus, das du von mir hast?“ Ich lachte stumm und erklärte dann lapidar: „Ich bin dabei es zu ma­len.“ Lucias Grinsen dazu sagte: „Ich weiß, dass du lügst.“ „Kannst du das denn nachempfinden? Zeigt sich dir bei Elaine auch deine bekannte Vorstellung von ihr, die immer sofort da ist, wenn ihr euch trefft?“ wollte ich wissen. „Ich kann sehr gut nachempfinden, was du sagst. Es ist ja nicht bloß bei Freunden so, dass dich deine Augen nur das sehen lassen, was du sehen willst. Bekann­tes wiederzuerkennen, vermittelt untergründig auch ein Gefühl von Bestäti­gung und Sicherheit. Du kennst dich aus, brauchst keine Angst vor Neuem, Unbekannten, Ungewissen zu haben. Aber bei Elaine zeigt sich mir immer das Bild eines Engels.“ sagte es und ließ uns beide lachen. Meine Augen glichen be­stimmt einem großen Fragezeichen. „Ruby, mit Elaine und mir das ist eine lan­ge, sehr ungewöhnliche Geschichte. Ich glaube, sie ist zu privat und zu intim, als dass ich sie dir erzählen könnte. Ich befürchte auch, ich kann es nicht so erklären, dass ein anderer, ein Fremder es verstehen würde. Nimm es einfach so, dass wir ein besonderes, gemeinsames Erlebnis hatten, und uns seitdem zutiefst verbunden sind.“ erklärte Lucia. „Soll ich lieber von Jenny und Corinna erzählen, mit ihnen fühle ich mich auch zutiefst verbunden?“ fragte ich grin­send mit spöttischem Unterton. „Ehemalige Freundinnen von dir?“ vermutete Lucia. „Nein, meine Freundinnen sind sie eigentlich gar nicht, eher meine Halb­schwestern. Als Kinder haben wir immer zusammen gespielt. Sie kamen stän­dig zu uns und gehörten in gewisser Hinsicht zur Familie. Sie kamen immer, auch heute noch. Dabei spielt es gar keine Rolle, ob ich zu Hause bin oder nicht. Du und Elaine, kennt ihr euch auch schon so lange?“ fragte ich nach. Ob die Theke der Cafeteria etwas zu vermitteln wusste, jedenfalls starrte Lucia dort hin. „Also gut,“ erklärte sie, als sie ihren Kopf wieder zu mir wandte, „Mit Lea habe ich zusammen studiert. Wir waren eng befreundet, mochten uns gut leiden, haben vieles gemeinsam gemacht und uns in allem gegenseitig unter­stützt. Eines Tages meinte sie, es passe nicht, dass ich nicht auch dazu gehöre. Dazu gehören, das waren vier Frauen, die miteinander befreundet waren. Freundinnen, hatte Charlotte mal gemeint, sei ein viel zu nichtssagendes, oberflächliches Wort. Ihre Gemeinschaft habe für die Frauen eher die Funktion, wie eine Familie sie für die Kinder habe. Sie seien also eher Schwestern als bloß Freundinnen. Das sehe ich ebenso und könnte es dir erläutern. Ab und zu trifft sich der gesamte Weiberclan der fünf Frauen, das heißt dann Plenum. Meistens beginnt es am Nachmittag mit Kaffeetrinken und endet kurz nach dem Abendbrot. Wir hatten uns bei Charlotte getroffen, und nach dem Abend­brot kam ein fürchterlicher Sturm auf. Der Himmel wurde völlig schwarz, und sofort blitzte es. Du weißt, dass dir nichts geschehen kann, aber diese grellen Blitze mit ihren direkt folgenden, knallenden, scheppernden Donnern erschre­cken dich bei diesen apokalyptischen Zuständen doch jedes mal. „Ihr könnt doch bei diesem Wetter nicht mehr fahren. Ihr werdet hier schlafen.“ erklärte Charlotte apodiktisch. Vorher hatten wir schon unsere albernen Minuten, das kommt manchmal vor, und jetzt bei diesem beängstigenden Gewitter sollte Verrücktes wahrscheinlich die Furcht bewältigen helfen. Wir zogen uns sofort bis auf Hemd und Slip aus und legten uns in Charlottes Ehebett. Charlotte kam selbst auch dazu. Eng aneinander gequetscht lagen die fünf Sardinenfrauen in einem Ehebett. Jedes mal, wenn es wieder einen gefährlich zuckenden Blitz mit peitschendem Donnerknall gab, griff man automatisch zur Nachbarin. Ganz tie­fe Wurzel hat das bestimmt, das Kind, das sich bei Angst an die schützende Mutter krallt. Neben mir lag Elaine. Wie einem Kumpel tatschte ich ihr nach ei­nem überstandenen Blitz-Donner-Intermezzo auf die Schulter. Peinlich, wie konnte ich mich ihr gegenüber zu einer so trivialen Geste hinreißen lassen. Ich drehte mich zu ihr, wollte mich entschuldigen, aber ich brachte kein einziges Wort heraus. Wir blickten uns nur gegenseitig in die Augen. Deine Blicke neh­men nicht nur Gesehenes auf, sie sind selbst aktiv, interaktiv, bewirken etwas in der anderen. In Elaines Augen sah ich sie ganz nackt, ich meine, alles, von dem du erzählt hast, die Erfahrungen, das Gewesene, die dein Bild formen, fehlte. Es kam mir vor, als ob ich die pure Elaine sähe, nur den wirklichen Men­schen, der Elaine selbst ausmacht. Das ist Elaine, alles andere sind ihre Klei­der, dachte ich. In einem Trance ähnlichen Zustand hatte ich sie gesehen. Be­nommen, sprachlos und still war ich, als ob ich eine Erscheinung gehabt hätte. Dass Elaine ebenso in mir etwas anderes, Ungewohntes gesehen haben muss­te, war mir trotz meines eigenen Zustandes nicht entgangen. Sobald sich das Unwetter ein wenig gelegt hatte, fuhren Elaine und ich als erste nach Hause. Wir konnten nicht warten. Am nächsten Tag haben wir uns getroffen. Elaine hatte Ähnliches erlebt. Seitdem können wir uns nicht mehr wie vorher sehen, wir sind füreinander andere Menschen geworden. Ich sage immer scherzhaft: „Ich habe Elaines Engel gesehen.“, aber völlig lächerlich ist das ja gar nicht.“ Direkt etwas dazu sagen konnte ich nicht, und Lucia schwieg auch. Wir saßen schon länger als eine halbe Stunde zusammen. „Soll ich uns noch einen Kaffee holen?“ unterbrach ich die Stille. „Wie schön ist das menschliche Geschlecht!“ erklärte ich, als ich mich mit dem neuen Kaffee gesetzt hatte. „Was meinst du?“ fragte Lucia lächelnd. „Shakespeare, „The Tempest“ ist das. Ich stelle mir vor, so ähnlich werdet ihr euch auch erkannt haben, aber schon während des Sturms.“ antwortete ich. Habt ihr denn auch die Appassionata gehört, Beetho­vens Version von „The Tempest“. Alles hat doch auch einen Klang, aber Beethovens Sinfonie ist nicht erlösend und befreiend. „Ihr nehmt euch beide jetzt anders war, die frühere Elaine und Lucia gibt es für euch beide nicht mehr, aber hat es denn auch Auswirkungen auf euer übriges Leben gehabt?“ „Oh je, und wie. Elaine hat sich inzwischen von ihrem Mann getrennt. Sie hatte vorher schon mal moniert, dass er so sehr der Oberfläche verhaftet sei. Jetzt wurde es bedeutsamer, und nach und nach konnte Elaine es immer weniger ertragen. Verstehen kann mein Mann es auch nicht. Er sagt ich sei lesbisch, auch wenn Elaine und ich nicht miteinander ins Bett gehen. Ich würde Elaine mehr lieben als ihn. Wie kann man so etwas sagen? Kann man Liebe messen? Gibt es ein Amorometer, auf dem man ablesen könnte, wie stark die Liebe ist? Jede Liebe, ja sogar jede zwischenmenschliche Beziehung ist doch anders, ist einzigartig, Wiederholungen gibt es da nicht.“ erläuterte Lucia, „Aber es ist schon so, dass ich zu Elaine meine intensivste menschliche Beziehung habe, etwas Stärkeres kann es nicht geben. Aber ich habe auch nach und nach mein eigenes Leben vollständig verändert, das ist für mich äußerst bedeutsam.“ „Darf ich wissen in welcher Hinsicht?“ fragte ich nach. „Ja, ich war immer total ehrgeizig. Mir sollte keiner überlegen sein, vor allem keine Jungs und Männer, zum schwachen Ge­schlecht wollte ich niemals gehören. Die Herrschaft der Männer sollte für mich nicht gelten, ich wollte die Stärkste sein. Das hatte ich mir ganz früh in der Schule schon angewöhnt, später brauchte ich gar nicht mehr daran zu denken, ich handelte intuitiv so. Ganz schön dämlich, nicht wahr? Durch die Begegnung zwischen Elaine und mir ist mir deutlich geworden, dass der Mensch etwas an­deres ist. Das Schöne an ihm, seine Menschlichkeit will nicht Sieger im Kampf gegen andere sein. Beides ist unvereinbar, widerspricht sich. Die Freude, das Glück in der Gemeinsamkeit zu entdecken und es zu fördern, das macht das Wesentliche des Menschen aus, darin liegt das Göttliche in ihm.“ erklärte Lucia. „Das Menschliche.“ wand ich ein. „Du hast Recht, das Menschliche, das ihn über sich selbst erhebt, ihn zum Engel werden lässt.“ bestätigte mich Lucia. „Jeder trägt es in sich, und dir bereitet es Freude, es entdecken und fördern zu können, ist es so? Das ist deine schöne, neue Welt, in der du das Schöne, das Menschliche in den Menschen erkennst?“ fragte ich. „Ja, genau, Elaine ist zum Beispiel für mich die allerschönste Frau der Welt. Und du, findest du mich denn schön? Gefalle ich dir?“ wollte Lucia von mir wissen. Für einen kurzen Moment war ich konsterniert, dann musste ich laut lachen, stand auf und ging zu ihr. Mit einem: „Oh, Lucia, wunderschön finde ich dich.“ umarmte ich sie und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Leicht verwundert schmunzelte sie. „Aber, Lucia, das ist doch völlig unerheblich für unsere Beziehung, wie ich dein äußeres Er­scheinungsbild finde. Dafür ist doch anderes von Bedeutung.“ erklärte ich, ob­wohl es nicht völlig meiner ehrlichen Überzeugung entsprach. „Das ist nicht richtig, was du sagst, Ruby.“ korrigierte mich Lucia. Ob du jemanden für schön hältst, unterliegt ausschließlich deiner völlig subjektiven Einschätzung. Maße oder sonstige ästhetische Kriterien spielen dabei für dich persönlich überhaupt keine Rolle. Menschen, zu denen du ein positives Verhältnis hast, Menschen, die du magst, die du für gute Mensch hältst, empfindest du auch als schöne Menschen. Der gute Mensch gefällt nicht nur deiner Seele, sondern wird auch für dein Auge schön. So war es gewiss auch bei Shakespeares Miranda, sie hat das Gute in den Menschen erkannt und ihre Schönheit bewundert.“ „Und ein schöner Po, zeugt der auch von einem guten Menschen?“ fragte ich verschmitzt lächelnd provokant. Lucia schwieg, schelmisch blickte ihre Mimik, und sie lach­te stumm. „Absolut,“ begann sie dann keck lächelnd, „als Mann bist du geblen­det. Du denkst nur an den erotischen Aspekt. Bei Menschen ist der Körper der Frau ästhetischer als der des Mannes. Das hat die Evolution eben so gewollt. Männer haben keine bunten Federn. Es sind doch einfach ästhetische Aspekte die für den schönen Po einer Frau sprechen. Praxiteles und die anderen griechi­sche Bildhauer, haben allen Frauenstatuen schöne Hintern verpasst. Das soll­test du alter Grieche doch wissen.“ „Ja, stimmt, es gibt sogar eine Aphrodite Kallipygos, Aphrodite mit dem schönen Hintern. Du siehst dich als Lucia Kalli­pygos, nicht wahr? Durchaus zu Recht, finde ich.“ meinte ich dazu. „Du bist nur blöd, Ruby. Machst dich lustig. Wenn es mir gefällt, reicht das nicht? Lass mich doch.“ Ich bekam mich gar nicht wieder ein. Wie ein leicht trotziges Schulmädchen hatte sie sich behauptet. Ich hätte sie umarmen und endlos küssen können. Lucia sah es offensichtlich ebenso und lachte auch. „Komm mal her, Ruby.“ forderte sie mich auf, in dem Sesselchen neben ihr Platz zu nehmen. „Ich glaube, du bist ein guter Mensch. Wenn du lachst, kannst du es nicht verbergen. Du musst mir noch ganz viel von dir erzählen. Da ist noch sehr vieles, was ich nicht kenne. Ich mag dich. Du bist mir gleich zu Anfang aufgefallen. Nicht durch das, was du inhaltlich gesagt hast. Ich habe gespürt, dass du etwas Ungewöhnliches birgst. Der erste gemeinsame Kaffee war ein Versuch. Was es ist, weiß ich zwar immer noch nicht, aber du wirst mir helfen, es herauszufinden, nicht wahr?“ sagte sie und strich mir liebevoll, sanft über die Wange.


In Ismenes Welt

Leichte Schleier von Nebeldunst glitten über die stille Haut des Sees. In und vor meinen Gedanken blockierten undurchlässige Nebelbänke meine Orientie­rung. Ich ging spazieren, suchte Kontemplation, wollte innere Einkehr halten, zu mir selbst finden. Was ich mit Lucia erlebt hatte, passte nicht in meinen All­tag. Hatte es sich auf einem anderen Stern abgespielt? Aber interstellare We­sen waren uns nicht erschienen, ganz real hier bei uns hatte es sich ereignet, in unserer Cafeteria, mit meiner Professorin, die mir eigentlich fremd war, doch das stimmte ja jetzt nicht mehr. Ich hatte Lucia in den Bereichen meiner Per­sönlichkeit getroffen, in denen ich mich viel zu selten bewegte, da wo meine wirklichen Gefühle zu Hause waren, wo auch Antigone lebte, und zu der Isme­nes Gesellen keinen Zutritt hatten. Verkümmert wäre dieses Haus meines Egos beinahe, weil ich fast nur noch in der technologisierten Alltagswelt zu Hause war. Vorlesungen, Seminare, Übungen besuchen, dafür lesen und für Klausuren und Referate arbeiten, na, und dann natürlich auch einkaufen, putzen Wäsche waschen, abends wurde oft gekocht. Bis jetzt schaffte ich es noch, bis zum Abend mit allem fertig zu sein. Und dann? Dann geschah nichts Besonderes, auch das Übliche. Mal besuchten wir eine Veranstaltung, einen Vortrag, und ab und zu gingen wir ins Theater oder in die Oper. Ich hörte gern in meinem neu­en DAB+ Radio Konzerte, und Claudia störte mich dabei, liebte es zu spielen und zu schmusen. Immer das Gleiche, in dreißig Jahren hätten unsere Tage genauso verlaufen können, nur wäre ich dann statt zur Uni zu meinem Arbeit­geber gegangen. Dabei ist kein Tag wie der andere, jeder Tag ist neu und an­ders, nur das konnte ich nicht mehr sehen. So wollte ich nicht leben, und so hatte ich auch früher zu Hause nicht gelebt. Wenn ich alleine gewesen wäre, hätte ich es vielleicht gemerkt, hätte es mich gestört, aber die Gemeinsamkeit mit Claudia versüßte mir die Tage, alles war gut. Blind war ich für das, was ich eigentlich hätte sehen müssen.


Schöne Menschen und enthusiastisches Leben

Als wir uns am Freitag trafen, flüsterte ich Lucia ins Ohr: „Salut, ma cher Kalli­pyga.“ „Lass das! Ich mag das nicht. Und dann von dir, Ruby. Wie kommst du dazu?“ Lucia leicht ärgerlich. Umfänglich, in einem Redeschwall mit tausend Worten entschuldigte ich mich und versprach, dass irgendwelche Bemerkungen zu ihrem besagten Körperteil nie wieder über meine Lippen kommen würden. Lucia schaute dem amüsiert grinsend zu. „Brems dich, Ruby, es ist gut. Der Schmerz in deinem Herzen, mich unangenehm berührt zu haben, wird sowieso nie vergehen. Aber, ich habe nichts gehört, Ruby. Vergiss es, es ist nichts ge­schehen.“ erklärte Lucia mit einem Lächeln. „Du hast es verstanden, was ich dir von Elaine und mir erzählt habe, kannst es nachvollziehen, nicht war? Be­schäftigt es dich denn auch, denkst du auch darüber nach?“ wollte sie wissen. „Natürlich, ich pflichte dir auch bei, in dem, was du zu dem ästhetischen Aspekt von Menschlichkeit gesagt hast, aber ein guter Mensch? Ich bin kein guter Mensch und möchte es auch nicht sein. Das ist doch ein Begriff mit mo­ralisch, religiösen Wurzeln. Die schlechten Menschen sind des Satans, und die guten führen ein gottgefälliges Leben. Sie tun Gutes, geben den Bedürftigen und wollen allen helfen, um ins Himmelreich zu kommen. Das ist dumm und naiv. Lächerliche Figuren sind sie. Dass Menschen sogar in den Kulturnationen noch hungern müssen und in Armut leben, ist eine Frage unserer Gesell­schaftsorganisation und wird kein bisschen durch milde Gaben der guten Men­schen verändert.“ verdeutlichte ich meine Ansicht. Lucia hatte mir aufmerksam zugehört und mich intensiv betrachtet. „Ruby, du wolltest mir widersprechen, aber das hast du gar nicht getan.“ sagte sie sanft, „Die Gutmenschen von de­nen du gesprochen hast, sind mir auch höchst zuwider. Sie sind keine guten Menschen, naiv und verlogen sind sie, das sehe ich auch so. Könnte es nicht auch andere Kriterien geben, nach denen man Denken und Handeln von Men­schen bewertet, als die auf naiver humanistisch-religiöser Sicht basierenden? Einfach zu fragen, wie du unabhängig von deinen Rollenerwartungen deine wirklichen menschlichen Bedürfnisse und Gefühle lebst und verwirklichst, ob du ein intensiv lebender Mensch bist, der sich involviert, der enthusiastisch lebt, aufgeschlossen ist für Neues, das nicht er selbst ist, der es wünscht, kritisiert zu werden, ein Mensch, der ein volles, menschliches Leben führt, den sehe ich als guten Menschen. Der verkörpert sein Menschsein so umfänglich und voll­wertig wie möglich. Kann es besseres geben? So sehe ich die guten, die schö­nen Menschen.“ schloss Lucia. Wir schwiegen und lächelten uns nur an. Ich legte meine Hand auf Lucias Handrücken, wollte sie spüren an ihrer Hand, die auf dem Tisch lag und erklärte fast weinerlich: „Aber, Lucia, das tue ich doch fast alles überhaupt nicht.“ Ich erklärte ihr, wie mein Leben verlief, wie sich die Tage wiederholten, erzählte ihr von meinem Alltagstrott. Lucia blickte mir in die Augen, nahm meine Hand und drückte sie. „Du hast von deinen Freunden ein Bild, hast du gesagt.“ begann sie, „Von allem machst du dir vor deinem inneren Auge Bilder. Du siehst auch, wie ein Student, ein Germanistikstudent lebt, wie er seine Tage verbringt, nur dein Bild ist nicht von dir, du hast es nicht aus dir, von deinen eigenen Bedürfnissen, Wünschen und Gefühlen kreiert, es gehört dir nicht. Um eine billige Kopie handelt es sich, die man allgemein so herumreicht, und du hast sie übernommen, hast sie dir zu eigen gemacht, sagst: „So sieht mein Leben aus.“. Nur du bist es gar nicht. Es ist nicht dein Leben, du lebst nach einer vorgegebenen Schablone der Allgemeinheit. Du wirst dich daran gewöhnen und auch in anderen Bereichen so verfahren. Von dem wirklichen Ruby selbst wirst du bald nichts mehr finden können.“ „Es ist schon so, dass ich es einfach habe laufen lassen. Zunächst ist es mir überhaupt nicht bewusst geworden, sah es so, als ob ich das machte, was eben erforderlich sei. In gewisser weise ist es auch heute noch so, aber ich sehe den Unterschied zu früher, als ich noch zu Hause lebte. Die Schule, das war mein notwendiger Halbtagsjob, aber das Zentrum meines Lebens lag zu Hause. Wir bestimmten und machten, was wir für richtig hielten, wie es unseren Bedürfnissen entsprach. Ein selbstbestimmtes Leben war es. Heute bin ich in Ismenes Welt zu Hause. Sicher liegt es auch daran, dass sich mir überhaupt kein Licht zeigt, was ich denn wie anders gestalten könnte.“ erläuterte ich. „Einmal hast du es schon anders gemacht, eimal bist du ausgebrochen aus deinem Trott, hast getan, was deinen Bedürfnissen entsprach und nicht allgemein als notwendige Anforderung galt.“ wusste Lucia. Sie musste es mir verdeutlichen. „Was hat dich veranlasst, das Eichendorffseminar zu besuchen? Die üblichen, allgemeinen Anforderungen können es nicht gewesen sein. Es ist deiner höchst persönlichen, ureigenen Motivation entsprungen, und die Gründe werden mit Sicherheit nur ganz direkt in dir persönlich zu finden sein. Aber was ist Ismenes Welt, in der du zu leben glaubst?“ erkundigte sich Lucia. Ich erzählte ihr von meinem Erlebnis in Griechenland. „In einer Erscheinung habe ich die Menschlichkeit nicht gesehen, aber eine Vision war es schon, wie sich mir die Menschlichkeit in der Gestalt von Antigone zeigte. Ästhetisch edel war sie auch, schlicht aus weißem Marmor und wurde nicht durch die Götter Griechenlands zum Leben erweckt, sondern lebt in jeder und jedem von uns, der die Menschlichkeit erkennen kann. Gestorben ist Antigone nie. In dir und Elaine wird sie außergewöhnlich lebendig sein, denke ich.“ berichtete ich. Wir schwiegen, schauten in die Cafeteria, sahen uns wieder an und lächelten nachdenkend, bis Lucia sagte: „Vielleicht sind der Engel in Elaine und Antigone ähnliche oder sogar die gleichen Wesen. Du hast es genauso erkannt. Ist es nicht möglich, dass ich so etwas Ähnliches in dir gespürt haben könnte, dass ich unbewusst gemerkt hätte, dass du einer von uns bist, dass du zu uns gehörst, zu mir und Elaine. Nur du verschleuderst deine Erfahrung mit Antigone, machst nichts daraus, integrierst sie nicht in dein Leben, lässt sie welken und verkümmern. Ich weiß nicht, was du in mir siehst, aber offensichtlich verspürst du doch auch etwas. Dass du Lust hattest mich, einen anderen Menschen im Seminar zu erleben, ist diese Intention nicht auch unter Mitwirkung Antigones entstanden. Bei allem was du tust, solltest du dich immer von Antigone motivieren lassen, dich nach dem Menschlichkeitsfaktor fragen, schau, wie es dich selbst betrifft. Natürlich wird es einiges geben, bei dem du schlicht pauken musst und keine Möglichkeit zur Selbstverwirklichung besteht, aber bei allem anderen solltest du dich immer fragen, wo betrifft mich das persönlich, wo möchte ich mich engagieren, nicht nur meine Pflicht erfüllen und unbeteiligt zuhören, sondern wie kann ich es involviert selbst leben. Dann wird die Welt anders für dich aussehen. Dann wirst du an keinem Tag der von gestern sein. Du hast an jedem Tag aktiv gelebt, etwas erlebt, geliebte, gelitten, dich gefreut. Jeden Tag wirst du ein anderer sein, jeden Tag wirst du neu erleben. Wiederholungen gibt es dann nicht mehr für dich. Jetzt hast du dich Ismenes Truppen ohnmächtig ergeben, der selbstbestimmt lebende Ruby wird sie jeden Tag und in allem immer wieder besiegen.“ Glücklich und wonnevoll starrte ich Lucia an. Der Engel in Lucia musste es gewesen sein, der mit mir gesprochen hatte. Bilder von Szenen aus einem anderen Leben sah ich. Ohne Antigone würde ich nichts mehr unternehmen. Sie begleitete mich stets in welchen Zusammenhängen ich mich auch immer bewegte, selbst beim Einkaufen war sie präsent. Schutz bot sie mir vor den gierigen Krallen des Denkens und Handelns wie man es so macht, wie es alle tun. „Du bist auch eine Nonkonformistin, nicht wahr, aber deine Widerspenstigkeit spüre ich gar nicht.“ meinte ich. „Die ergibt sich, wenn du versuchst, den wirklichen Menschen Ruby zu entdecken, wirst du gefühlsbetonter leben, das Glück zu erkennen versuchen. Das schützt dich wie einen Panzer. Dich gegen anderes zu wehren, im Kampf dagegen zu siegen, wird nicht deine zentrale Intention sein.“ Lucia darauf. Als wir uns verabschiedeten, wollten wir offensichtlich alle Emotionen unseres Gespräches in die Umarmung legen. Es dauerte und wir drückten uns kräftig aneinander. Im Gespräch waren wir uns viel näher gekommen, ob wir es jetzt auch körperlich besiegeln wollten. Wir nahmen unsere Köpfe zurück und blickten uns mit wohlig lächelnder Mimik in die Augen. Weder von Lucia noch von mir ging eine Initiative aus. Es geschah einfach, als ob es geschehen müsse, dass unsere Lippen sich zum Küssen trafen. Unsere Augen, die von Lucias Engel und meiner Antigone, werden es unter sich ausgemacht haben.


Keine Fesseln mehr

Ich empfand mich glücklich in ihrer Anwesenheit und wusste nicht warum. So hatte es sich mir dargestellt, als ich Lucia noch gar nicht kannte. Vielleicht ver­mittelte mir mein Unbewusstes diese Glücksempfindungen, weil es in Lucia An­tigone gesehen hatte. Meine Gefühle waren darüber informiert, nur mein Be­wusstsein kannte die Wörter und die Grammatik nicht, in der es sich äußerte, konnte die Bemerkungen meines Unbewussten nicht verstehen. Lucia vermute­te ja auch Ähnliches für sich, eventuell gemerkt zu haben, dass ich zu ihnen gehöre, zu ihr und Elaine, zu den dreien, die es erkannt hatten: „Wie schön ist das menschliche Geschlecht!“. Was auch immer meinem Unbewussten erschie­nen war, zumindest war es von Anfang an etwas, das uns verband und nicht nur exaltierte Spinnereien von mir waren. Ich hatte zunächst versucht, es als Lucias freundliche Aufgeschlossenheit zu deuten, ihr menschliches Verständnis, mit dem sie im Gespräch allen begegnete, statt die Rolle der Professorin her­auszukehren. Dass da auch etwas anderes war, hatte ich nicht erst gemerkt, als sie es ausdrücklich benannte. Diese selbstverständliche Vertrautheit, die unter uns von Anfang an existierte, konnte eigentlich nur unter langjährigen Bekannten aufkommen. Jetzt sollte ich dazu gehören, zu den drei Rittern der Tafelrunde, die die Menschlichkeit verehrten. Nicht Lancelot, Parzival oder Tristan hießen sie, sondern Lucia, Elaine und Ruby. Mein Geheimnis? Nein ich wollte es ja leben, es sollte mein Leben dominierend gestalten, aber es Claudia erzählen? Die Beziehung zu Lucia fand auf einer anderen Wolke statt. Ich liebte Claudia, aber sie war der erdverbundenen Alltagsrealität verhaftet. Wenn ich es ihr erzählte, würde sie es nicht verstehen und für gefährliche Träumerei halten, aber Ruby Tuesday wollte nicht mehr an so so ein Leben wie bisher gefesselt sein.


„He just can't be chained
To a life where nothing's gained
And nothing's lost, but such a cost.
"There's no time to lose", I heard Lucia say
"You gotta catch your dreams before they run away"
Dying all the time
Lose your dreams and you may lose your mind.“



Apfelstrudel

Gute Bekannte waren wir nicht mehr, dass wir zu Freunden geworden waren, musste nicht ausdrücklich gesagt werden. Der Kuss zur Begrüßung am Freitag war zwischen Lucia und mir selbstverständlich. Sie fuhr mir durchs Haar und gab mir lachend einen Stups auf die Nasenspitze. „Hast du manchmal an mich gedacht?“ wollte Lucia von mir wissen, „Elaine und ich, wir denken oft an die andere.“ „Lucia, woran soll ich sonst denken. Unsere Gespräche bewegen mich zutiefst. Sie wühlen mich auf, sprechen den wirklichen Ruby in mir an, machen ihn wieder lebendig. Es war höchste Zeit, bevor ich mich ganz verloren hätte. Antigone bist du für mich, ich kannte sie nur in meinen Gedanken und Träu­men, aber du lebst sie jeden Tag. Es lässt mich Glück empfinden, wenn ich daran denke, mit dir zusammen sein zu können.“ antwortete ich ihr. In Lucias Mimik lag ein wenig Wonne, ein wenig Zufriedenheit und ein wenig Glück. „Lass mich doch einfach von dir wissen, was du machst, ob sich für dich schon etwas verändert hat.“ bat Lucia. „Ich mache jetzt nichts mehr ohne Antigone, sie begleitet mich ständig, ist mein Schutzengel oder einfach nur mein Engel. Immer ist sie bei mir, selbst beim Müll rausbringen, aber da gibt es so wenig Handlungsmöglichkeiten für sie.“ erklärte ich scherzend. „Ich werde am Sonn­tag einen Kuchen backen. Da freue ich mich jetzt schon drauf. Apfelstrudel, magst du Apfelstrudel? Soll ich dir am Dienstag ein Stück mitbringen?“ fragte Lucia. Ich signalisierte nur durch meine Mimik freudige Zustimmung. „Aber nein, du musst ihn warm essen. Natürlich geht es auch kalt, aber das passt nicht, ist viel zu schade. Soll ich dich einfach einladen?“ überlegte Lucia kurz, „Ja, natürlich, warum denn nicht? Nur ich backe ihn bei Elaine, da sind wir un­ter uns. Elaine fragen müsste ich allerdings schon. Dann kannst du sie auch kennenlernen. Willst du?“ Kann es in dieser Welt Gründe geben, weshalb ich das nicht gewollt haben sollte? Natürlich war Elaine einverstanden, und Lucia würde ihr wohl einiges erklärt haben. Wenn du an klangliche Äußerungen von Engeln denkst, fallen dir zunächst die Engelschöre ein. In brausenden Gesän­gen sollen sie laut schallend die Herrlichkeit Gottes preisen. In der Unterhal­tung zwischen Lucia und Elaine war davon aber überhaupt nichts zu spüren. Sie sprachen schon mit voller Stimme, aber an der Untergrenze üblicher Laut­stärke. Ihre Sätze bestanden nur aus wenigen Worten, und wegen Sprachme­lodie und Rhythmus konnte man nicht mit Sicherheit sagen, ob es nicht doch eher der Kategorie Gesang zuzurechnen sei. Ich fand meine Art zu sprechen keineswegs grob, harsch und trivial, jetzt, bei Elaine und Lucia, kam es mir al­lerdings schon so vor. Bei den beiden handelte es sich eben um die Kommuni­kationsweise unter Engeln, und da musste ich mich erst noch eingewöhnen. Vieles, was sie nicht in Worte fassten, teilten sie sich durch die Kommunikation ihrer Augen mit, ob ich das auch bald verstehen würde? Müsste ich schon, wenn ich als vollwertiges Mitglied des Triumvirats gelten sollte. Elaine lobte Lu­cias Apfelstrudel: „Ein Kunstwerk ist er. In allen Cafés von Wien kannst du su­chen, so einen Apfelstrudel wie Lucias wirst du nirgendwo finden. Sie backt einfach den besten Apfelstrudel der Welt.“ „Ist es dann nicht viel zu schade, ihn zwischen seinen Zähnen zu zermahlen und ihn den Verdauungsorganen zu­zuführen?“ gab ich zu bedenken. „Aber wenn du das volle gustatorische Glück dieses lukullischen Backwerks erleben willst, musst du es schon mit deinen Ge­schmackspapillen in Verbindung bringen.“ klärte mich Elaine auf. „Und du bist sicher, dass ich auch keinen Orgasmus dabei bekomme?“ wollte ich mich ver­gewissern. Eine untergründige Bereitschaft zu lachen war immer vorhanden, auch als Lucia etwas dazu erzählt hatte, wie sie über jahrelange Verbesse­rungsversuche, letztendlich zu diesem ultimativen Apfelstrudel gefunden hatte, wurde immer wieder gelacht. „Ach, Ruby, er ist so sexistisch.“ stöhnte Lucia auf, um wieder Anlass zum Lachen zu geben, aber Elaine hatte Klärungsbedarf. „Nein, nein, Ruby ist ganz lieb, aber mein Hintern gefällt ihm schon.“ erläuterte Lucia. „Dir selbst doch auch.“ bemerkte Elaine erstaunt. „Ja, aber Ruby ist ein Mann. Nur eventuell hat er's noch gar nicht bemerkt, dass ich eine Frau bin. Seine Freundin musste es ihm auch extra sagen. Meinst du ich sollte es ihm auch mal sagen oder doch lieber nicht?“ wollte Lucia geklärt haben. „Sag's ihm nicht, Lucia, das stürzt ihn ins Verderben.“ wusste Elaine zur Heiterkeit beizu­tragen. Glücklich waren wir, übermütig glücklich, Kindern nicht unähnlich. Der Apfelstrudel schmeckte in der Tat fantastisch, aber unsere Glücksgefühle verur­sachte er nicht. Jetzt gehörte ich dazu, zum Kreis der drei schönen Menschen, die ihre Menschlichkeit, ihren Engel erkannt hatten, nach dieser Inauguration mit Apfelstrudel. „Yesterday don't matter because it's gone.“ singen die Stones von Ruby Tuesday, nichts anderes galt für Ruby Sander auch. Eine Wohlfühlat­mosphäre verspürte ich. Wie durch milde Strahlen einer sanften Sonne er­wärmten wir unsere Gefühle gegenseitig. Wir suchten die Nähe der anderen, und in Gefühlen und Gedanken waren wir uns eng verbunden. Wie gern hätte ich Lucia zärtlich berührt, wünschte mir, dass sie mich berührte. Fasziniert war ich damals von der mir unverständlichen Vision, ich glaube, jetzt liebte ich sie.

Elaine berichtete von ihren Veränderungen als Direktorin beim Regierungsprä­sidenten. Die Behörde zu einer anderen Firma umgestalten, das sei ihr nicht gelungen, aber die Quintessenz ihrer Ausführungen lautete: „Wenn du dich veränderst, verändert sich deine Welt für dich.“ Mich interessierte ihre Bezie­hung zu den drei anderen Frauen ihres Freundinnenkreises. „Lucy und Charlot­te waren die Urmütter unseres Clans. Sie waren schon seit der Grundschule di­cke Freundinnen. Später lernten sie Lea und mich kennen, die auch eine sehr enge Freundschaft verband. So entstand aus den Freundschaften eine Vierer­frauenbande. Es war unglaublich, Charlotte und Lucy konnten sich die herbsten Dinge sagen, aber sie konnten es nicht als verletzend empfinden. Uns wurde deutlich, dass niemals eine der beiden die andere beurteilte oder bewertete. Wenn sie sich etwas nicht erklären konnten, fragten sie nach. In der Regel wurde es ein sehr langes Gespräch, wobei der Anlass hinterher gar keine Rolle mehr spielte. Es war eher ein Duett, in dem man sich gegenseitig erlebte und tief verstand. Charlotte und Lucy hatten es sich so angewöhnt und verfuhren intuitiv so, Lea und ich hielten es für ein großartiges Prinzip gegenseitigen Ak­zeptierens und Verstehens. Das erlebst du draußen auch nirgendwo. Wir haben zwar nicht unsere Engel gesehen, aber du weißt, dass du für jede andere ein wundervoller, grenzenlos akzeptierter Mensch bist. Das ist so wertvoll, wie kaum eine andere Beziehung sein kann.“ erläuterte Elaine. „Ja, zum Beispiel: „Lucia, du hast die Sahne vergessen. Wie kannst du nur?“ hatte Charlotte mit mir geschimpft. Charlotte ist eine Domina und Lucy eine Hexe. Das denkt kei­ne, aber sagen kann man es. Sagen können wir alles, verletzen können wir die andere nicht. Unsere Freundschaft bildet eine Schutzhaut, die uns füreinander unverletzlich macht. Worte, die sie wie giftige Pfeile hätten durchdringen kön­nen, prallen wie Gummispielzeug an ihr ab. Dass ich die Sahne vergessen hat­te, interessierte Charlotte nicht. Dass ich eine ziemliche Schlampe sei, wenn ich so etwas vergäße, dachte sie mit Sicherheit nicht. Zu urteilen hatten wir uns abgewöhnt. Im Urteil sprichst immer du, äußerst du deine Ansichten und Vorstellungen, sie entsprechen nie dem, was die andere denkt oder tut. Dein Urteil sagt nur, dass du die andere nicht verstanden hast. Das zu erfahren macht die Kommunikation interessant. Wenn Charlotte die vergessene Sahne interessierte, würde sie mich fragen. Sie würde nicht nur den kausalen Grund verbal erfahren, sondern mich erleben, wie ich sprach, wie ich es sagte, wie ich es darstellte. Sie würde viel mehr von mir selbst erfahren als dieses Unbedeu­tende über die Sahne. Nicht die Sahne ist das Interessante, sondern du. Das spürst du, wenn die andere Gefallen daran hat, dich und dein Schauspiel zu er­leben. Es reizt dich, sie selbst zu sehen, sie zu erleben und zu erfahren. Endlos kann das Gespräch aus nichtigem Anlass werden. Die Sahne ist längst verges­sen, aber die andere ist dir um vieles vertrauter geworden und näher gekom­men.“ verdeutlichte es Lucia an einem Beispiel. „Uns allen bedeuten die Erfah­rungen unserer Freundschaft auch im übrigen Alltag sehr viel. In der Kommu­nikation nehmen wir Menschen anders wahr. Wir respektieren und akzeptieren das Andere in ihnen, das ist uns selbstverständlich.“ ergänzte Elaine. „Ich den­ke auch, dass es sich nur auf dieser Basis ereignen konnte, wie Elaine und ich uns gesehen haben.“ fügte Lucia hinzu.


Semesterferien

Am Freitag trafen Lucia und ich uns wieder zum Kaffee, auf der Basis von Freunden oder eher von Verliebten. Wie sollte man das genau unterscheiden, jedenfalls gab es zur Begrüßung einen intensiven Kuss. „Es war nicht, als ob hätte, Lucia hat Ruby wirklich geküsst. Wird er jetzt auch im Blütenschimmer von ihr träumen?“ wollte Lucia wissen „Na gut, vielleicht auch träumen, aber ich glaube, dass Himmel und Erde viel lieber wirklich beieinander gewesen wä­ren, als von dem anderen zu träumen, wie Eichendorff es meinte. Weit ausge­spannt hat meine Seele ihre Flügel schon, aber sie fliegt nicht nach Haus. Sie umkreist Lucia und Ruby lieber.“ lautete meine Antwort. „Es ist ja auch noch keine Mondnacht, sondern Freitagnachmittag.“ kommentierte Lucia. Wir spra­chen über unsere Pläne für die Semesterferien. Lucia wollte für eine Woche ihre Schwester besuchen, aber sonst bleibe sie zu Hause. Sie habe so viel zu arbeiten und könne sich einen größeren Urlaub nicht leisten. Ich wollte auch zu Hause bleiben, wollte mich intensiv auf's nächste Semester vorbereiten, genau überprüfen was ich warum belegen würde, wollte mich schon inhaltlich damit auseinandersetzen. „Ruby, wenn ich dir in irgendeiner Form dabei helfen kann, wirst du dich melden, ja? Es wäre eine Freude für mich.“ bot mir Lucia an. „Wie gern würde ich dir auch irgendwo durch helfen, nur ich habe ja gar keine Mög­lichkeiten.“ bedauerte ich. „Du hilfst mir sehr. Stell dir vor, es hätte unsere Kaf­feegespräche nie gegeben, um wie vieles ärmer wäre ich.“ Lucia darauf. „Wer­den wir die lange Zeit der Semesterferien ohne gemeinsamen Kaffee überleben können?“ wollte ich wissen. „Warum sollten wir? Wenn du oder ich dringenden Bedarf verspüren, werden wir Kontakt aufnehmen und uns in einem Kaffee treffen.“ lautete Lucias Ansicht. Lucia bedeckte ihre Augen mit der rechten Hand, hielt sie so. „Sag mal, Ruby,“ begann sie, als sie die Hand wieder runter nahm, „hast du dir eigentlich mal Gedanken darüber gemacht, was wir hier tun?“ „Lucia, ich dachte, von dir eine Erklärung dafür bekommen zu können.“ reagierte ich, aber ich wusste auch gar nicht, woran sie eigentlich genau dach­te. „Ich meine, wir haben uns einfach immer nur getroffen, aber es hat sich doch weiterentwickelt. Zu Anfang fanden wir uns ganz nett, aber mittlerweile ist es so, dass ich dich sehr, sehr mag, und bei dir ist es, meiner Ansicht nach, bestimmt nicht anders. Du hast aber eine Freundin, die du liebst, und ich bin verheiratet. Siehst du eine Zukunftsperspektive für uns? Wie sähe sie denn aus, was stellst du dir vor?“ fragte Lucia. Genauer hatte ich das noch gar nicht wissen wollen. Die Beziehung zu Lucia betraf mein Innerstes, betraf mich im Kern, sie galt mir als Bedeutsamstes, damit wollte ich leben, sie war essentiell für mich, wie auch immer sich alles andere gestalten würde. „Lucia, zu der Be­ziehung zwischen dir und deinem Mann kann ich natürlich nichts sagen, nur was sich zwischen dir und mir entwickelt hat, findet für mich in anderen Sphä­ren statt, es ereignet sich auf einer anderen Wolke als das andere Erd- und All­tagsverbundene. Das eine stört nicht das andere, wir treffen uns in einem an­deren Land, in einer anderen Welt.“ erläuterte ich meine Ansicht. Lucia sinnier­te. „Ein schönes Bild, getrennte Ebenen also, nur ich fürchte, sie werden sich irgendwann berühren.“ kommentierte Lucia.


Nach dem Begrüßungskuss beim Kaffee in den Ferien musste ich Lucia leise et­was vorsingen:


„Zweitausend Stunden hab ich gewartet
Ich hab sie alle gezählt und verflucht
Ich hab getrunken
Geraucht und gebetet
Hab dich flussauf- und flussabwärts gesucht
Doch jetzt bist du da, Lucia, bist da.“


Lucia lachte, und wir mussten die Begrüßung wiederholen. „Junimond, ist das. Von Rio Reiser. Nur da geht’s ein bisschen anders. Seine Freundin kommt näm­lich nicht wieder.“ erklärte ich. „Ich weiß auch etwas für Ruby Tuesday.“ sagte Lucia:


„Still I'm gonna miss you
the whole long time,
miss you, my dear Ruby”


„Sind auch nur ein bisschen original die Stones, aber ein wenig passend muss man sich alles eben machen, oder?“ bemerkte Lucia. Verliebte? Das wahr­scheinlich auch, aber absolut Vertraute waren wir uns. Nebeneinander saßen wir im Café auf einer Couch und mussten gegenseitig unsere Hände befühlen, als ob wir sie auch schon zweitausend Stunden vermisst hätten. Alle unwichti­gen Nebensächlichkeiten waren interessant, weil die oder der andere sie er­zählte. Ich berichtete, von dem, was ich bereits für's nächste Semester geplant hatte. Es waren nur einige Veranstaltungen, aber es weitete sich aus zu einer Studienberatung für mein ganzes Germanistikstudium, wie ich sie mir nicht kompetenter hätte wünschen können. Nicht weniges sah ich jetzt mit anderen Augen und auch zu einigen Dozenten erfuhr ich etwas, das mir ohne Lucia ver­borgen geblieben wäre. Nicht nur Antigone, sondern auch Lucias Rat würde mich auf dem weiteren Weg des Studiums begleiten. Lucia berichtete von ei­nem Germanistenkongress der im nächsten Semester stattfinden würde. Sie müsse auch einen Vortrag halten und an den anderen Tagen Arbeitsgruppen betreuen. Ich erkundigte mich nach den Themen. „Für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ist der Kongress. Die Grundlagen der deutschen Sprache will man offensichtlich mal wieder neu strukturieren. Nichts wird geschehen. Hinterher wird alles wie vorher sein, nur es tut gut, sich mal wieder getroffen und darüber gesprochen zu haben.“ erklärte Lucia. Ich wollte Näheres wissen und fragte nach. „Komm doch mit.“ sagte Lucia, „Studenten werden zwar nicht eingeladen, aber ich könnte dich ja zu meinem Promotionsstudenten erklären.“ Welche Ehre, ich im Kreis der hehren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft­ler. Spannend fände ich es schon. Ich erkundigte mich noch genauer, und Lucia fragte mich, ob ich wolle, dann müsse sie mich anmelden.


Mutterliebe

Wir trafen uns noch zweimal in den Ferien, einfach so, weil die Zeit, die andere oder den anderen nicht zu sehen, sonst zu lang geworden wäre. Lucia erzählte etwas von ihrer Schwester, und ich wusste immer noch lustige Begebenheiten von unseren Erkundungsreisen zu berichten. Meine Eltern machten es jetzt auch noch und nahmen Corinna mit, die ja mittlerweile auch studierte. Meine Mutter hatte mich mal gefragt, ob ich nicht mitfahren wolle. Ein wenig verfüh­rerisch war es schon, aber die Zeit war für mich vorbei. Zurück wollte ich nicht. Wie früher wäre es sowieso nicht gewesen, die Reise wäre ja nicht aus unserer gemeinsamen Beschäftigung erwachsen, sondern entspräche jetzt eher einer gemeinsamen Urlaubsreise. Ich wollte mein eigens Leben, jetzt und heute und nicht Nachgemachtes von früher wiederbeleben, auch wenn es damals noch so schön war. Meine Mutter hätte ich allerdings schon mal gern wieder länger erlebt als an den kurzen, relativ hektischen Besuchen zum Wochenende. Ich hatte schon mal überlegt, ob ich in Lucia nicht einen Ersatz für meine Mutter gesehen hätte. Auch ohne Ödipuskomplex hatte sie für mich das Bild einer Frau geprägt, die ich begehrenswert fand, und in die ich mich verlieben könnte. Enthusiastisch lebte sie, äußerst gefühlsbetont und immer aufgeschlossen. Wegen ihr kamen auch die Mädchen so gern zu uns, sie fühlten sich akzeptiert und anerkannt und liebten Mutters Lust, zu scherzen. Meine Sozialisation und das Erleben meiner Mutter bildeten gewiss auch die Grundlage dafür, wie sich für mich das Bild von Antigone entwickelte. Es entsprach meinem Geschmack von einer wundervollen Frau. Diese Ebene war es gewiss auch, auf der Lucia mir gefiel und gefallen konnte, der Unterschied zu meiner Mutter zeigte sich allerdings nicht nur äußerlich. Meine Mutter war groß und schlank, hatte schwarze Haare, jünger erschien sie allerdings durch ihre Halbponnyfrisur. Lucia war viel kleiner und insgesamt kompakter. Wenn ihre schwarze, enge Kleidung auch nicht mit dem Habitus der anderen distinguierten Damen an der Uni konform ging, sondern man sie eher zu den Jüngeren zählte, zeigten ihre glatten, halblangen Haare doch keine Art von Extravaganz in der Frisur. Enthusiastisch und gefühlsbetont gestaltete sie ihr Leben gewiss, und auch in ihrer Lust zu Freude und Lachen, wies sie Affinitäten zu meiner Mutter auf, trotzdem war sie ein ganz anderer Typ. Lucias Erfahrungen in engagiertem Studieren und Forschen fehlten meiner Mutter. Mir vermittelten sie bei Lucia eine enorme Tiefgründigkeit, die ich in dieser Form bei meiner Mutter nicht sehen konnte. Auch wenn meine Sozialisation zu Hause die Basis für mein Antigonebild gebildet hatte, in meiner Mutter konnte ich sie nicht erkennen. Mein Leben, mein eigenes Leben verband ich jetzt mit Lucia. Keineswegs gestalteten sich unsere Treffen so, dass wir uns nur Tagesneuigkeiten und Sonstiges in launigen Worten erzählten, den oder die andere dabei betrachtend in Wonne schmolzen. Verliebt spielen war uns beiden wesensfremd, auch wenn wir uns gerne öfter zärtlich berührten. Wir unterhielten uns zum Beispiel über neue Bücher, oder sprachen über den Ingborg-Bachmann-Preis und einige seiner Preisträgerinnen und Preisträger oder diskutierten über eine Theaterinszenierung, die wir zwar beide nicht erlebt hatten, aber aus Rezensionen kannten.


Germanistenkongress

Auch in der Uni begrüßten wir uns jetzt immer mit Umarmung und Kuss, wenn wir uns trafen. Wie andere es sahen, was sie dachten und tratschen würden, interessierte Lucia nicht. Etikette, Umgangs- und Verhaltensnormen, diese Wörter waren ihr ein Graus. „Es ist gewiss so, dass vieles nicht einfach schlecht und falsch ist, aber sie sind ein Codex derer, die du als Ismenes Bande be­zeichnest. Du musst es wollen, es muss dir entsprechen, das ist entscheidend und nicht stupide fragen, ob es sich ziemt und die Allgemeinheit es goutiert.“ erläuterte Lucia, „Stell dir vor, wir würden uns gern umarmen und küssen, las­sen es aber bleiben, weil es nicht die feine Art ist. Wären wir nicht jämmerliche Figuren?“ Lucia hatte noch Probleme mit meiner Anmeldung. „Dass Esther (so hieß Lucias Sekretärin) es ihnen erklärt, reicht nicht. Ich sollte es sogar noch schriftlich begründen. Da bin ich böse geworden. Ist eben kein Medizinerkongress, der von einer Pharmafirma gesponsert wird. Dann wollten sie dich auch noch in einem anderen Hotel unterbringen. Eine Änderung sei nachträglich nicht mehr möglich, dann ging's aber doch.“ berichtete Lucia zum Kongress. Sie zeigte mir das Skript ihres Vortrags und fragte mich, was ich davon hielte. „Großartig, es ist wissenschaftlich höchst aktuell, und man kann dich persönlich auch darin erkennen.“ lautete meine Einschätzung. Als Lucia es beim Kongress vortrug, gab es Beifall. Das war durchaus nicht üblich. Lucias breites Grinsen strahlte Zufriedenheit und Genugtuung aus. Erst beim Kaffee konnten wir wieder miteinander sprechen, vorher musste sie sich noch mit allen möglichen Leuten unterhalten. Ich kannte sie nicht, Lucia erklärte mir später öfter, um welche Germanistikkoryphäen es sich handelte. „Kam da jetzt ein wenig die alte Lucia durch, die stolz darauf ist, besonders gut zu sei.“ fragte ich sie auf den Vortrag bezogen. „Ruby, was willst du? Dir gefällt es, wenn die anderen sagen: „Das ist alles Mist, was der Ruby macht.“? Das findet auch deine Psyche auf die Dauer überhaupt nicht gut. Du brauchst es ja nicht zu verkennen und falsch zu bewerten. Niemand wird mich für den Vortrag lieben, aber ohne Anerkennung kommt keiner aus. Jede und jeden erfreut es, wenn du spürst, dass die Zuhörer dir in ihren Gedanken Fleißkärtchen verteilen. Das wird bei dir kein bisschen anders sein, da bin ich absolut sicher.“ reagierte Lucia. „Ich weiß nicht, ich habe die Schule überhaupt nicht gemocht, die Art des Lernens war mir zuwider und viele üblichen Umgangsformen nicht weniger. Trotzdem wollte ich immer gute Zensuren haben. Aber nicht, um vor den anderen zu glänzen, von ihnen Anerkennung zu bekommen. Wenn meine Arbeit herausgestellt wurde, weil sie die beste war, berührte mich das eher unangenehm. Für mich war es immer so: „Du weißt es und kannst es, oder du kannst es nicht.“. Nur du kannst es nicht, darf es nicht geben, das hat in der Schule böse Folgen. Befriedigend empfand ich als eklige Zensur. Es hieß für mich: „Du hättest es fast gewusst haben können.“ Nur für mich selbst habe ich mich bemüht, wollte mir beweisen, dass ich es kann.“ erklärte ich dazu. „Ruby, so ganz glaube ich dir das nicht.“ zweifelte Lucia, „Du lebst nicht allein. Wie du dich selbst siehst, dich einschätzt und bewertest, dein Selbstbild ist ohne das Fremdbild, dass du bei anderen vermutest nicht denkbar. Es ist Teil deiner Kommunikation mit der dich umgebenden Welt. Deine Selbsteinschätzung und dein Selbstwertgefühl ist keine Statue, die du losgelöst von allem selbst modelliert hast. Wie du von anderen eingeschätzt wirst, ist für jeden bedeutend, das fragst du dich bei allem und nicht nur die Frau, wenn sie ihr neues Kleid vorführt.“


Ruby, du willst mich allein lassen?

Nach dem Abendbrot setzten wir uns in die schweren Polster der Lounge und suchten einen Wein aus. „Jetzt erleben wir uns mal in anderem Zusammen­hang als an der Uni, ich finde es wundervoll, wir sollten öfter mal etwas zu­sammen machen.“ fiel mir ein. „Ja, mit deiner Freundin hast du immer etwas zusammen gemacht, bis es nicht mehr anders ging, nicht wahr?“ bemerkte Lu­cia und lachte, „Ist das denn bei früheren Freundinnen auch so gewesen, dass du ihr anderes Geschlecht gar nicht wahrgenommen hast?“ wollte Lucia wis­sen. „Ach, ich habe überhaupt keine andere Freundinnen gehabt. Ich bin zu wählerisch, so sehe ich das. Was du gesagt hast zur Schönheit, und welches Bild man von dem Menschen hat, trifft auf mich voll zu. Fast alle Männer finden Frauen mit ebenmäßigen, harmonischen Gesichtszügen schön und begehrens­wert. Mir sagt das nichts, es ist hohl und leer. Für mich sind die Assoziationen, die ich mit dem Gesicht verbinde, entscheidend. Aber dabei kannst du ja auch völlig daneben liegen, du musst die Frau schon näher kennenlernen. Und das habe ich eben nicht, ich habe aber auch nicht danach gesucht, war immer be­schäftigt.“ antwortete ich lachend. „Und in welche Richtung gehen deine Asso­ziationen, hast du ein klares Bild, dem eine Frau entsprechen müsste, die dich interessieren könnte?“ wollte Lucia wissen. „Ja und nein, Ödipus hin oder her, aber meine Wünsche sind schon stark geprägt vom Verhalten und der Lebens­weise, die ich bei meiner Mutter so schätze. Ja, ich halte sie einfach für eine bewundernswerte Frau. Damals sah sie ja auch noch jünger aus, und in der Pubertät habe ich mir vorgestellt, sie sei zwei Klassen über mir. Das war das Großartigste, ich hatte die tollste Freundin der ganzen Schule.“ berichtete ich und ließ uns lachen. „Und ich, habe ich auch Ähnlichkeiten mit deiner Mutter, oder hast du in mir auch die Frau nicht erkannt?“ spöttelte Lucia. „Ich verstehe mich doch selbst nicht, Lucia. Bei Jenny und Corinna zum Beispiel, bin ich nie auf den Gedanken gekommen, dass es sich um begehrenswerte Frauen han­deln könnte. Ebenso bei Claudias Freundinnen kann ich mir nicht vorstellen, dass sich ein erotisches Verlangen entwickeln würde. Aber du, du warst für mich vom ersten Moment an die absolute Frau. Es war ja alles völlig illusorisch, aber du wecktest in mir sofort Sehnsüchte, die ich nicht kannte. Sonderbare psychische Konstruktionen, nicht wahr? Gewisse Affinitäten im Verhalten gibt es bei dir zu meiner Mutter bestimmt, auch wenn ihr völlig unterschiedlich aus­seht und euch auch sonst gravierend unterscheidet.“ erklärte ich. „Hast dich also doch in deine Mami verliebt.“ provozierte mich Lucia. „Nein, nein nein, hör auf, Lucia! Lass das!“ wehrte ich mich. „Ich weiß nicht was es war, aber an meine Mutter habe ich bei dir nie gedacht. Indirekt wird es natürlich schon in gewisser weise damit zusammenhängen. Letztendlich wird mir nur das gefallen und mich bewegen können, was ich mir in meiner Sozialisation angeeignet habe, und du passt eben genau zu mir, gefällst mir mehr als denkbar und ent­sprichst meinen Wunschvorstellungen über alle möglichen Erwartungen und Hoffnungen hinaus. Ja, Lucia, es macht mich glücklich, wie meine Mutter es nie könnte. Aber wie ist es denn bei dir? Hast du irgendwelche Männerbilder, de­nen ich entspreche?“ wollte ich erfahren. „Das ist in der Tat ganz sonderbar, Ruby. Dein erster Blick taxiert immer die oder den anderen als potentielle Ge­schlechtspartner. Das machst du auch, nur deine Freundinnen werden da of­fensichtlich durchgefallen sein. Dann verhältst du dich als Frau gegenüber dem Mann oder als Mann gegenüber der Frau, du spielst deine Rolle und siehst die oder den anderen so. Das schafft eine gewisse Art von Distanz, und diese Ge­schlechterrollendistanz bleibt immer bestehen, du kannst sie nicht vorsätzlich aufheben. Bei dir muss das anders gewesen sein, jedenfalls habe ich den Mann in dir nicht wahrgenommen. Als ob sich Kinder im Kindergarten träfen, so kam es mir eher vor. Woran es liegen könnte weiß ich nicht. Natürlich ist mir klar dass du ein Mann bist, aber in die gewohnten weisen, wie ich mich Männern gegenüber verhalte, kannst du nie mehr hinein kommen. Du bist eben ein an­derer Mann für mich, ein Mann, wie ich ihn mir nicht ausdenken und vorstellen konnte, und den ich über die Maßen liebe.“ Dass es dazu einer Umarmung mit intensivem Kuss bedurfte, versteht sich von selbst. „Und dein Mann ...“ begann ich, aber Lucia unterbrach mich sofort. „Ruby, nicht doch! Wir sitzen jetzt hier beieinander. Lass uns nur schöne Worte zu uns sprechen und von uns erzählen. Andere interessieren uns nicht, es geht doch nur um uns.“ „Ja natürlich, lass die Liebesworte, Gedichte, Liebkosungen aus deinen Fügeln rauschen, mein Engel.“ reagierte ich. „Rose Ausländer, „Der Engel in dir“ ist das, nicht wahr?“ fragte Lucia. „Ja, und er freut sich über dein Licht, aber ich denke, darüber freue ich mich noch viel mehr, und meine Schritte engelwärts lenken, mache ich doch auch schon längst, oder?“ antwortete ich. Die Flasche Wein war zur Neige gegangen. Eine weitere bestellen, nein, es war ja auch schon spät ge­worden. Was ich genau gesagt habe, weiß ich gar nicht mehr, jedenfalls hatte Lucia es so interpretiert, als ob ich jetzt ins Bett gehen würde. Sie griff nach meinem Unterarm, hielt ihn fest und blickte mich tief an. „Ruby, du willst mich für die Nacht allein lassen?“ fragte sie besorgt. Ich wusste gar nichts, ich konn­te auch nicht antworten, überfahren kam ich mir vor. Natürlich, zusammen mit Lucia ins Bett. Welchen größeren Wunsch hätte ich haben können, aber das hatte so fern gelegen, dass ich nicht einmal davon zu träumen gewagt hatte. „Du hast keine Lust, das wir die Nacht zusammen verbringen? Traust dich nicht, mein Liebster, oder was?“ fragte Lucia, weil ich mit meiner Reaktion so lange auf mich warten ließ. Ich sagte auch jetzt nichts. Wir waren aufgestan­den, ich umfing Lucia und drückte sie heftig. Mein Kopf lag an ihren Haaren, und meine Augen begannen sich zu befeuchten. Warum? Vor Glück, vor Weh­mut oder was? Ich weiß es nicht. Etwas Ähnliches hatte ich noch nie erlebt. Ich würde mir eine Antigone aus Fleisch und Blut wünschen, hatte meine Mutter gesagt, aber sie war mir geschenkt worden, war zu mir gekommen, weil sie mich wollte, war der Engel, der mir geschickt war und mir ein Licht angezündet hatte.


„Du musst ganz stark sein, Ruby, nicht wahr?“ meinte Lucia, als wir dicht an­einander im Bett lagen. „Ich werde alles tun, was in meinen Kräften steht.“ reagierte ich scherzend. Lucia stieß mich zurück: „Ach, Ruby, lass das, ich mei­ne doch nur, dass du nicht so schnell schlapp machen solltest. Quatsch, ich meine überhaupt nichts.“ „Ich würde ja drei Tage und drei Nächte ohne Unter­brechung koitieren, nur die Biologie hat meine Genitalen für so lange Zeiten nicht eingerichtet.“ kommentierte ich. „Sooh, das möchtest du? Für wie lange Zeit sind sie denn eingerichtet?“ erkundigte sich Lucia. „Lucia, ich glaube, das wird nix mit uns, wir sind viel zu albern.“ „Ah ja, der Akt der menschlichen Ko­pulation ist eine ernsthafte Angelegenheit und erfordert höchste Konzentration, nicht war?“ äußerte Lucia ihre Vermutung. „Nein, Blödsinn.“ ich darauf. „Was erfordert er dann?“ wollte Lucia wissen. „Dass wir Lust dazu haben.“ erklärte ich. „Und die haben wir nicht?“ vermutete Lucia „Nein, wir haben jetzt Lust, Quatsch und Blödsinn zu machen.“ so sah ich es. „Ruby, ich habe dich für sehr einfühlsam gehalten, und das bist du auch, das weiß ich. Die Nacht mit dir ver­bringen wollte ich nicht, damit wir zusammen mal kurz ficken können. Das vielleicht auch, aber ich habe mich auf ein beglückendes, gemeinsames Erleb­nis gefreut. Für mich hat es schon begonnen. Herrlich fühlt es sich an, dass wir beide ganz natürlich im Bett liegen, gegenseitig unsere Körper, unsere Haut spüren. Ist das nicht allein schon Glück? Mir kommt es jedenfalls so vor, als ob ich leicht high wäre. Du willst mir doch nicht erzählen, dass es dich völlig unberührt lässt. Wenn wir Lust haben, ein wenig übermütig zu spielen, lass es uns doch tun. Bestimmt bekommen wir später auch Lust auf etwas anderes, dann machen wir eben das. Bist du so damit einverstanden?“ fragte Lucia. Als wir miteinander geschlafen hatten, wollte ich mich entschuldigen, weil ich offensichtlich doch zu früh schlapp gemacht hatte und Lucia ein Orgasmus versagt geblieben war. Nur ich konnte kein Wort sagen. Die Art wie ich mit „Lucia“ begann, ließ sie wohl vermuten, worauf es hinauslaufen sollte. „Hältst du wohl die Klappe!“ herrschte sie mich an, „Kein Wort will ich hören. Du bist der wundervollste Liebhaber, den es gibt, und kein Wort mehr.“ Das Glück zerreden ist nicht schwer. Auch wenn es unseren tatsächlichen Körperausmaßen widersprach, gefühlt kamen wir uns vor wie Flundern. Natürlich nicht mit der trüben grauen Fischhaut, unserer Mimik und unserem Körpergefühl nach glichen wir eher badenden Sonnen. Unsere gegenseitigen Betastungen führten dazu, das Lucia sich auf den Bauch legte, und ich ihr den Rücken streicheln sollte. Ihr Po, ich durfte ja nichts dazu sagen, aber ich hatte auch gar nicht mehr daran gedacht. Jetzt konnte ich ihn natürlich nicht übersehen. Ich streichelte, küsste und liebkoste ich ihn zärtlich, was mit der Zeit dazu führte, dass wir nochmal miteinander schliefen. Jetzt bekam Lucia auch einen Orgasmus. Sie glänzte mich an und küsste mich immer wieder. Ohne ein Wort zu sprechen lagen wir eng verschlungen und schliefen so auch bald ein.


In einem anderen Land

Die Nacht hatte uns verändert, wir waren uns andere geworden. Vorher waren wir uns in unseren Seelen tief verbunden, jetzt gehörte ich zu Lucia und sie zu mir. Bei jeder Verhaltensäußerung wurde es deutlich. Auch wenn wir der An­sicht waren, dass es unter uns keine Geschlechterrollendistanz gebe, ein Mini­mum an Distanz gibt es doch, auch unter den engsten Familienmitgliedern. Lu­cia und ich schienen diese Distanz in der letzten Nacht getilgt zu haben. Ich empfand mich vorher schon Lucia außergewöhnlich tief verbunden, jetzt war sie ein Teil von mir. Ich war nicht der Engel, der über ihre Finsternis weinen würde, mich würden ihre Schmerzen selbst quälen. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich einem anderen Menschen so nah, so eng verbunden gefühlt, eine völlig neue Erfahrung menschlicher Gemeinsamkeit. Unsere Kommunikati­on hatte sich in dieser Nacht auch verändert, nicht unähnlich der zwischen Lu­cia und Elaine, wenige Worte begleitet von einem verständnisvollen, wissenden Lächeln. Wir wussten eben, was uns verband, und die Blicke unserer Augen wussten es auch. Natürlich nahm ich an der Arbeitsgruppe teil, die Lucia be­treute. Diese Diskussion, herrlich, so hätte ich mir alle Seminare gewünscht. Die Atmosphäre gefiel mir zwar bei uns an der Uni besser, aber die Beiträge der einzelnen Teilnehmerinnen und Teilnehmer lagen auf einem Niveau, wie es unter Studenten nicht möglich war. Den ganzen Tag hätte ich zuhören können. Lucia hatte zur Einführung einige Worte gesagt, anschließend diskutierte man. Manchmal schaute Lucia zu mir, und wir schenkten uns ein Lächeln. Es gab Mo­mente, in denen schien sie nicht völlig konzentriert, aber außer mir fiel es wohl niemandem auf. Lucia überspielte es geschickt. Beim Abendbrot meinte sie: „Ruby, sollten wir das nicht vielleicht einfach so stehen lassen, es als wunder­vollen Schatz bewahren?“ Ich verstand nicht. „Ja, ich meine, es bei einmal be­wenden lassen. Wiederholen können wir es sowieso nicht. Unsere Nacht wird es so nur einmal geben. So bewahren wir sie als etwas ganz Besonderes.“ er­läuterte Lucia. Das musste ich erst zu begreifen versuchen. „Dass wir es nicht wiederholen können ist doch klar. Den Eindruck, den du auf mich gemacht hast, als ich dich zum ersten mal sah, konnte ich ebenso nie wiederholen, auch wenn er noch so faszinierend war. Aber wer wollte es auch wiederholen? Du hast selbst gesagt: „An keinem Tag wirst du der von gestern sein.“ Werden wir etwa die Lucia und der Ruby sein, die gestern Abend zusammen ins Bett ge­gangen sind? Nicht nur wir haben uns verändert, unsere Beziehung hat sich verändert. Es wird eine ganz neue Geschichte sein, die wir erleben werden.“ laute meine Ansicht. Lucia überlegte. „Und außerdem werden meine Gedanken so von Sehnsucht gequält sein, dass sie mich nicht schlafen lassen wollen, wenn ich weiß, dass du im gleichen Haus allein in einem anderen Zimmer liegst.“ fügte ich hinzu. Lucia lächelte. „Da bin ich mir nicht sicher, ob das bei mir nicht so ähnlich sein wird. Alles Quatsch, wir werden zusammen sein, wenn wir es können, nicht wahr? Warum sollten wir uns das versagen?“ hatte Lucia sich entschieden. Nach dem Abendbrot ließen wir uns eine Flasche von dem gleichen Hermitage auf's Zimmer bringen, wie wir ihn gestern Abend getrun­ken hatten. Lucias Engel und meine Antigone verlangten eben für ihr Zusam­men sein etwas Edles. Ein billiger Wein hätte alles verderben können, so muss­te es Lucia wohl sehen. Wir saßen angezogen auf dem Bett, nippten an dem Wein und Lucias Fingerkuppen betasteten meinen Hals. „Weiß du,“ begann sie, „an der Entscheidung, ob dir jemand gefällt, sind alle deine Sinne beteiligt, der Geruchssinn ganz besonders, aber deine Haut ist so sanft und weich, fast wie bei einem Baby.“ Ich musste vor Lachen mein Glas wegstellen. „Lucia, ich weiß nicht, woran das liegt. Vielleicht habe ich zu wenig männliche Hormone, die sie derb, grob und schrundig machen. Ich habe ja auch keine Haare auf der Brust. Würde dich das denn animieren?“ fragte ich. Jetzt lachte Lucia sich schief. „Ruby, ich finde alles ganz komisch mit uns. Was wir auch immer tun, ich erle­be es als völlig neu, keinerlei Gedanken an bisherige Erfahrungen, was ich bis­lang erlebt habe, taucht in keinen Assoziationen auf. Du hast Recht, es wird sich in einem anderen Land abspielen, und da bin ich manchmal ganz jung. Wie fünfundzwanzig empfinde ich mich und wenn ich mich freue, komme ich mir vor wie ein Kind.“ erklärte Lucia. „Es wird so sein, wie Elaine sagt. Unsere Liebe verändert uns und damit auch die Welt, von der wir uns umgeben sehen. Sie lässt uns offen, frei, lebendig und jung empfinden. Vielleicht ein bisschen wie im Paradies. Aber nein, das ist ein schlechtes Bild. Davon wird nur erzählt, dass sie ein materiell sorgenfreies Leben hatten, aber ob Adam und Eva sich geliebt haben, weiß keiner. Wahrscheinlich eher nicht. Wenn sie ein Herz und eine Seele gewesen wären, hätte man es im Buch der Religion, die die Liebe sein will, bestimmt aufgeschrieben. Eva war nur deshalb da, damit Adam nicht allein sein musste. So ist das doch bei uns aber nicht, oder?“ fragte ich. Als Antwort wurde ich umgeworfen und gekitzelt. „Kannst also doch ein böser Mann sein, aber das gestatten auch Engel nicht, merk dir das.“ kommentierte Lucia ihre Strafaktion. Wir kamen dadurch zum Schmusen, Streicheln und Zärtlichsein. Als die Kleider störten, zogen wir uns aus. Wir empfanden es ge­nauso wundervoll wie gestern, auch wenn wir heute nicht die von gestern wa­ren. „Schon wieder?“ fragte Lucia erstaunt beim Streicheln. Ich musste lachen. „Lucia, wir werden doch nichts tun, was du nicht möchtest.“ erklärte ich. „Doch, doch, nein, nein, ich mein ja nur, jeden Abend?“ reagierte Lucia leicht verwirrt. „Lucia, wenn wir es möchten, können wir es auch morgens, mittags und nachmittags tun. Das ist doch unsere Entscheidung.“ bemerkte ich. „Oh je, aber du hast schon Recht. Wie kann es dazu allgemeine Vorstellungen geben? Für alles gibt es sie, selbst für das höchst individuelle, persönliche Bedürfnis. Alles sollst du nachmachen. Ja, sogar worüber du dich wie zu freuen hast. Vor­gegebene Gefühle sollst du nachmachen.“ kommentierte Lucia. „Aber manch­mal ist Nachmachen doch auch ganz gut.“ meinte ich mit leicht spöttischem Unterton, „Zum Beispiel Fahrradfahren, man hat's mir vorgemacht, ich hab es nachgemacht und kann für mein Leben lang Fahrradfahren.“ „Ja, und Autofah­ren auch und vieles andere mehr. Es ist ein Prinzip menschlichen Lernens. Und dann machen sie immer mehr nach, machen nur noch nach. Man kann ihnen vormachen, was man will, alles machen sie nach. Wer sie selbst sind, und was sie selbst wollen, das wissen sie gar nicht mehr, alles nur nachgemacht, nach­gemachtes Leben.“ ergänzte Lucia. „Schon, aber wie ist das denn mit der Liebe zwischen Frau und Mann. Ist das auch nachgemacht, oder handelt es sich da­bei um eine Eigenkreation der Selbstverwirklichung?“ wollte ich schon lachend wissen und bekam mich nicht mehr ein, als Lucia versuchte mich im Kampf zu besiegen. Sie gab sich alle Mühe, nur ich hatte mich ja schon ergeben und lag lachend auf dem Rücken. In eine Kampfposition konnte mich Lucia zwar nicht bringen, aber ihre intensiven körperlichen Bemühungen führten schließlich dazu, dass wir uns liebten. Fünfundzwanzig? Lucia musste viel jünger sein. Sie konnte nicht nur übermütig vor Glück sein, in der Liebe musste sie die Appas­sionata persönlich sein. „Mir kommt das immer vor wie eine große Oper. Hast du auch solche Assoziationen?“ wollte sie anschließend von mir wissen. „Nein, ich weiß gar nicht, welche Assoziationen ich dabei habe. Ich müsste mal auf­passen.“ reagierte ich lachend. „Na ja, Ouvertüre, Duette und Arien, alles kommt vor, nur die Rezitative fehlen. Und zum Höhepunkt sing der Chor in vielstimmigem, donnerndem Furioso.“ erläuterte sie. „Du bist verrückt, Lucia.“ vermutete ich lachend, „Hast du bei anderer Musik auch sexuelle Vorstellun­gen?“ „Ich nicht, aber die Komponisten bestimmt. Sind doch alles sublimierte Libido Regungen. Schau mal der Beethoven, der hat doch sogar bei seiner Missa bestimmt mehrfache Orgasmen gehabt. Wahrscheinlich nicht konkret, aber emotional doch auf jeden Fall.“ wusste Lucia. „Ruby, sag mal, was meinst du, kann es sein, dass man irgendetwas nachholen möchte, was man in seiner Kindheit nicht erlebt hat?“ fragte Lucia. „Was meinst du konkret?“ erkundigte ich mich. „Bei Lea ist mir das zum ersten mal aufgefallen. Ich mochte sie äu­ßerst gern. Sie war milder, weicher, senstiver. Für mich selbst konnte ich es da­mals noch keinesfalls zulassen, aber bei Lea gefiel es mir, als ob ich ein Bedürf­nis danach hätte. Ich war immer herb, cool und kämpferisch, das andere fehlte mir nicht, ich habe es verabscheut. Alles Süßliche, Liebliche, Spielerische war mir zuwider. So wollte ich mich sehen, das andere durfte es in meiner Person nicht geben. Ich habe auch erst mit Lea gelernt Musik zu hören, anders zu hö­ren, genießen zu können. Glaubst du, dass es mir im Grunde doch gefehlt hat, und ich jetzt manches nachholen möchte, vielleicht mal ein kleines dummes Mädchen sein, oder so?“ erläuterte Lucia und lachte. „Ein kleines dummes Mädchen wirst du sicher nicht mehr zu sein brauchen, aber bei dem anderen weiß ich nicht. Wärme, Geborgenheit und Zuneigung braucht doch jeder Mensch. Ich denke alle suchen es, du hast es dir nur nicht gestattet. Der abso­lute Kämpfer ist einsam. Du wirst wahrscheinlich durch deine veränderte Sicht­weise nicht nur erkannt haben, dass du jetzt nicht mehr so leben willst, son­dern dass auch in deiner Entwicklung vieles dem nicht entsprach. Jetzt hast du die Sicherheit und Freiheit manches nachholen zu können.“ so interpretierte ich es. „Ja, mit und bei dir fühle ich mich frei und sicher. Aber du brauchst kei­ne Angst zu haben, dass ich morgen anfange, mit Puppen zu spielen, die habe ich nämlich auch nicht gehabt.“ Lucia dazu. „Ich denke, du hast mit neunzehn oder zwanzig nicht die Liebe gehabt, wie du sie wolltest. Das musst du jetzt nachholen.“ vermutete ich und bekam einen Knuff dafür. „Ich wollte die Größte und Stärkste sein, dabei habe ich nicht einmal gewusst, wer ich wirklich war und konnte mich selbst gar nicht leben. Jetzt kann ich es mir sogar erlauben, Lust daran zu haben, schwach zu sein. Meine Eltern, die dummen Hühner, wa­ren immer stolz auf ihr starkes Mädchen.“ erklärte Lucia. Wir lagen wonnig vereint aneinander und schmusten noch, bis uns allmählich der Schlaf umfing.


Antigonia angelica

„Viereinhalb Tage und vier Nächte warst du jetzt nicht zu Hause, Ruby. Wo bist du gewesen?“ wollte Lucia auf der Rückfahrt von mir wissen. Ich erinnerte mich an die Poltergeräusche der Eisenbahnen in meiner Kindheit. In Griechen­land gab es sogar immer noch den Klack beim Übergang auf die nächste Schie­ne. „Kann es sein, dass ich auf der größten Erkundungsreise meines Lebens war?“ mutmaßte ich. „Nein, eine Forschungsreise war es, bei der wir Kontinen­te entdeckt haben, von deren Existenz wir vorher nichts wussten.“ „Und mein Vortrag und die Arbeitsgruppen auf welchem Kontinent fanden die statt? Ich dachte, wir wären auf einem Kongress gewesen. Nur Abends waren wir in ei­nem anderen Land.“ „Du hast Recht. Der Kongress war materiell und terrest­risch, er hat sich in dieser Welt in Mannheim abgespielt, die Abende und die Nächte haben wir in unserem Land gelebt.“ bestätigte ich Lucia. „Weißt du, wo unser Land liegt? Kennst du auch seinen Namen?“ fragte Lucia nach. Der Zug surrte unangenehm, hin und wieder gab es eine Lautsprecherdurchsage. Ob er auch wohl irgendwann die Ankunft in unserem Land ankündigen würde. Be­stimmt nicht, denn ich vermutete: „Lucia, auf dieser Erde kann es doch nicht angesiedelt sein, oder? Ich denke eher es liegt auf einer Insel weit draußen im Orbit, wo es für alle Einflüsse dieser Welt unerreichbar ist. Die Sphärenklänge sind so stark, dass ich seinen Namen gar nicht verstehen kann. Ist es möglich, dass es schlicht „Unser Land“ heißt?“ „Nein, nein, das könnte ja jeder sagen. Es wird schon einen konkreten Namen haben. Wenn Antigone dort zu Hause ist, heißt es vielleicht „Antigonien“?“ schätzte Lucia. „Und der Engel? Er wohnt doch ebenso da. „Antigonia angelica“ wird es heißen, das engelgleiche Antigo­nien.“ schlug ich vor und lachte. „Genau so wird es heißen.“ stimmte Lucia zu, „Und „Antigonia angelica“ wird die freieste Republik überhaupt sein, freier als es sie in unseren irdischen Gefilden geben kann. Bei aller Freiheit und einem stark selbstbestimmten Leben, wirst du dich doch immer in gewisser weise an bestimmte Konventionen gebunden fühlen. Das ist ja auch vernünftig und in Ordnung, nur in unserem Land, gemeinsam mit dir, bin ich frei, absolut frei. Ich kann tun und lassen, was ich will. Ich kann tanzen, lieben, arbeiten, sin­gen, Blödsinn machen, Übergeschnappt sein, Purzelbäume schlagen und noch vieles mehr, so wie es es mir gerade gefällt, der einzige der zuschaut ist mein Engel. Das bin ich und in dir ist er auch . Unser gemeinsames Erlebnis zwi­schen Elaine und mir liegt ja schon vier Jahre zurück. Ich bin frei, unbeschwert und glücklich dadurch geworden, aber zusammen mit dir erfahre ich mehr. Da gibt es noch eine größere Freiheit in Regionen meiner Psyche, die ich bislang nicht kannte. Ich konnte sie mir gar nicht denken und wünschen, es gab nichts, mit dem ich irgendwelche Vorstellungen entwickeln konnte. Du musst Recht haben, das kann sich nur in anderen Sphären ereignen, Gebundenheit an das Terrestrische ließe so etwas niemals zu.“ Was aus uns und unserem Land in Zukunft würde, wussten wir nicht, als wir beim Abschied auseinander­gingen. Wir hatten nur ausgemacht, dass sein lokaler Bezugspunkt nicht mehr Freitagnachmittag in der Cafeteria zu finden sein sollte, sondern am Mittwoch bei Lucia im Büro. Sie hatte nachmittags keine Veranstaltungen mehr und Esther hatte auch Mittwochsnachmittags frei.


Claudia hatte ich immer noch nichts gesagt. Ich suchte nach Gründen, warum nicht. Für uns habe sich ja nichts verändert, meinte ich. Lucia sei eben eine andere Ebene, die sie nicht tangiere, wollte ich mir vormachen. Meine Bezie­hung zu Lucia konnte doch nicht ohne Auswirkungen für meinen Alltag sein. Ich arbeite mehr und häufig auch abends noch. Es war mir ja wichtig, aber an­dererseits hatte auch das bloße Zusammensein mit Claudia stark an Reiz verlo­ren. Ich nahm wahr, dass es mir oft nicht mehr viel gab und meine Gedanken woanders waren. Bemerkt hatte Claudia es schon. Sie hatte gefragt, ob etwas nicht in Ordnung sei, ich hätte mich verändert. Ich müsste es ihr sagen, aber ich traute mich nicht, versteckte mich hinter der Begründung, ihr nicht weh tun zu wollen. Mich selbst belügen konnte ich also doch noch.


Dein geliebtes Haar, Lucia

Großartige Begrüßungszeremonien, als ob wir uns nach langer Trennung wie­dersähen, brauchten wir nicht mehr. Ein gehaltvoller Kuss mit kleiner Umar­mung, mehr nicht, dafür aber ein Blickwechsel, der so etwas wie einen Bezie­hungsorgasmus vermittelte. Ob wir Antigone oder den Engel sahen, ich kann es nicht sagen, „Wir beide sind die Wissenden.“ sprach der Blick. Lucia wollte ihre Haare verändern. Diese Frisur passe nicht mehr zu ihr. „Lucia, ich finde al­les wunderschön. Ich liebe dich so, wie du jetzt bist, dein schwarzes Outfit von den Schuhen bis zum Hals, dein Gesicht und deine blonden Haare, wie sie jetzt sind. Wenn du sie veränderst, ob ich dich dann auch noch lieben könnte, weiß ich nicht.“ lautete meine Ansicht. Dafür wurde mir ins Ohr gebissen. Ich schrie zwar laut, aber die Hilfs- und Rettungsdienste sahen sich offensichtlich nicht herausgefordert, jedenfalls stürmten sie nicht das Büro. „Die Lucia, zu der diese Haare gehören, gibt es nicht mehr. Die strenge, robuste, harte Frau ist in mir gestorben. Zu ihr passten die glatten, konturlosen Haare, aber jetzt bin ich lebendig und da stört mich diese Frisur, die gar keine ist.“ erläuterte Lucia. „Dein geliebtes Haar, Lucia. Für mich gehört es zu dir, es ist ein Teil von dir, von meiner schönen Lucia. Als Engel müsstest du dir die Haare lang wachsen lassen und Locken reinlegen. Alle Engel haben langes, blondes, lockiges Haar.“ schlug ich vor. „Nein goldenes, aus Rauschgold ist ihr Haar.“ widersprach Lucia. „Das ist ja nur zu Weihnachten so, ansonsten tragen sie wie Elfen, Feen und Nymphen auch ihr langes, blondes Haar offen, mit Locken, und hier an der Uni würde man dich dann sogar noch für eine Rocker Lady halten.“ wusste ich es besser. „Schau mal, wie fändest da das?“ fragte Lucia mich und zeigte mir im Internet eine Kurzhaarfrisur. „Nein, Lucia, bitte, nicht das.“ stöhnte ich auf. „Lucia, mir gefällst du so wirklich gut, aber wenn du schon etwas ändern willst, solltest du es auf keinen Fall noch strenger machen.“ Sie lächelte und überlegte. „Du hast Recht, im Grunde wäre das gar keine Veränderung, es entspräche genauso meiner alten Mentalität wie jetzt auch. Das war schon immer so, als Kind schon, etwas Weites, Lockeres mochte ich nicht, das passte nicht zu mir. Alles musste immer straff und eng und gradlinig sein. Ich war ja in der Schule in allen Fächern ganz gut, Naturwissenschaften lagen mir sehr, nur Literatur bildete eine sonderbare Ausnahme. Fontane, Kleist und Heine waren ja angesehene Schriftsteller, die durfte man ja lesen, nur weshalb ich sie gierig verschlang, habe ich mich nie gefragt. Die Antwort hätte ich wahrscheinlich sowieso nicht gewusst, oder sie wäre gelogen gewesen. Wahrscheinlich habe ich mit den wundervollen Romanen, Erzählungen und Gedichten alles Mögliche kompensiert. Aber selbst mein Studium habe ich streng rational begründet. Dabei war Literatur das einzige, was mich tiefgreifend emotional bewegte, nur das durfte ich selbst nicht wissen. Immer streng und ordentlich und dabei so verlogen. Aber es sitzt tief, ganz tief und ist sehr früh entstanden. Einfach ablegen und vergessen kann ich das nicht. Luftige Kleider mit glockigen Röcken werde ich niemals tragen können, das brächte mich um.“ erläuterte Lucia ihre Genese. „Und ins Konzert und in die Oper, gehst du da auch in engen Hosen?“ erkundigte ich mich schelmisch. „Nein, nein, Kleider habe ich schon, aber auch eng und keine wehenden Röcke.“ antwortete Lucia und lachte. „Ich würde vorschlagen, du lässt dein Haar ein wenig wachsen und dann gehst du zum Coiffeur und lässt dir etwas zeigen, was möglichst locker, burschikos wirkt und auf jeden Fall mehr Volumen hat.“ lautete meine Empfehlung. „Im Grunde hast du Recht, Ruby, ich müsste mal über meinen Schatten springen, mich mal überwinden, wenn ich auch mein Aussehen der anpassen wollte, dich ich wirklich selbst heute bin.“ stimmte Lucia mir zu.


Esther Jüdin

Eine unvorhergesehene Konferenz war anberaumt worden, bei der Lucia nicht fehlen durfte. „Ich kann überhaupt nicht abschätzen, wie lange es dauern wird. Warten? Ich glaube das bringt es nicht.“ erklärte Lucia. „Wir können uns ja, wie gewohnt, am Freitag um drei treffen.“ schlug ich vor. „Ja, dann aber bei mir im Büro, nicht wahr?“ stimmte Lucia zu. Ich fragte Esther, ob sie direkt nach Hause müsse, oder noch Lust auf einen Kaffee habe. Wir begaben uns ge­meinsam in die Cafeteria. Als wir mit unserem Kaffee Platz genommen hatten, erklärte Esther sofort: „Übrigens, ich bin Jüdin. Ich sag's am Besten gleich, dann weißt du Bescheid.“ Verwundert schmunzelte ich und fragte erstaunt: „Aha, muss ich das wissen?“ „Na ja, es ist schon besser, wenn man es gleich weiß, sonst sagt jemand, wenn er es erst später erfährt: „Oh je, eine Jüdin, das hätte ich doch lieber nicht gewollt.““ begründete es Esther. „Ja, ist das so? Und weshalb will man keine Frau, die eine Jüdin ist?“ fragte ich halb lachend. Ernst bleiben konnte ich nicht, dafür war es zu kurios. „Ist doch logo, wenn wir beide Kinder kriegen, sind deine Kinderchen alles kleine Jidden.“ wurde ich auf­geklärt. „Ach ja? Ich kann mich gar nicht erinnern, vielleicht habe ich auch et­was überhört, aber so weit ich weiß ging's bei uns nur ums Kaffee trinken. Von Kinder machen war da doch nicht die Rede, oder?“ deutete ich. „Natürlich nicht, aber für spätere Entwicklungen weiß man am besten von Anfang an Be­scheid.“ Esther darauf. „Esther, es wird keine spätere Entwicklung zwischen uns geben. Es geht nur um's Kaffee trinken hier und jetzt. Und das hätte ich mit je­dem anderen auch tun können.“ erklärte ich dazu. „Na jetzt schummelst'e aber. Ein bisschen gern magst du mich doch schon. Das habe ich genau er­kannt. Als du mich fragtest, sagten deine Augen: „Bitte, bitte, Esther komm mit.““ wusste Esther und brachte mich schrecklich zum Lachen. „Ja, ja, meine Augen, die sagen manchmal Sachen, aber unabhängig davon mag ich dich schon, Esther.“ sagte ich. Ich selbst kannte sie ja nur von wenigen Worten, die wir mal gewechselt hatten, aber Lucia war begeistert. „Ich hatte gedacht, eine nette Sekretärin zu bekommen, aber ein wundervoller Mensch ist mir ge­schenkt worden.“ hatte Lucia sich mal über Esther geäußert. „Ruby, ich habe das ja nur gesagt, weil ich in Wirklichkeit eigentlich gar keine Jüdin sein will. Aber die Juden sind alles absolute Rassisten. Einmal Jüdin, immer Jüdin, weil angeblich jüdisches Blut in meinen Adern fließt, da ich eine jiddische Mamme habe. Dabei glaube ich an gar keinen Gott, nicht an Jahwe, Allah, Buddha oder sonst wen. Spielt alles keine Rolle. Ich könnte konfessionslos, atheistisch, anti­jüdisch, diabolisch oder was auch immer in meine Papiere schreiben lassen, völlig nutzlos. Eine Blutwäsche könnte ich durchführen, absolut unerheblich, ich bin und bleibe Jüdin. Das ist ein Verstoß gegen die Menschenwürde. Ich glaube nicht an ihre Geschichten mit der Erschaffung der Welt und dem Para­dies. Alle Völker denken sich irgendetwas aus, um das zu erklären, was sie nicht verstehen, und das glauben sie dann eben. Wenn es wirklich so etwas ge­ben sollte, wie einen Gott, dann könnten wir armen Würmchen es sowieso nicht erkennen. So einen kindischen Zirkus, wie die Juden aufgeschrieben ha­ben, würde er bestimmt nicht veranstalten. Wenn es einen geben sollte, kann ich ihn sowieso nicht erkennen. Was soll's also? Das einzige Wesen, das ich er­kenne und das nicht von dieser Welt sein kann, ist Lucia.“ erklärte Esther und lachte. „Da stimmen wir überein, Esther, das sehe ich nicht viel anders.“ stimmte ich zu. „Sie hat dich sehr gern, und du liebst sie auch, nicht wahr? Das ist sehr gut.“ konstatierte Esther. „Warum ist das sehr gut?“ wollte ich es näher wissen. „Ruby!“ bekam ich leicht vorwurfsvoll zu hören, „Ist das denn nicht immer gut, wenn zwei Menschen sich lieben, aber ich glaube, für Lucia ist es besonders gut. Ich kenne dich ja kaum, aber ich schätze, das du jemand sein könntest, der sie in allem gut versteht. Das hat Lucia wirklich verdient.“ Offensichtlich schien Esther etwas zu wissen, das mir unbekannt war. „Wir werden gut auf Lucia aufpassen, damit ihr nichts zustoßen kann.“ schlug Esther vor. Ich war natürlich einverstanden. Esthers Begründung lautete: „Die Welt ist nicht liebevoll und menschenfreundlich, sie birgt viel Unheil und Feindschaft.“


Wir trafen uns am Freitag. Mir fielen Lucias blonde Haare auf. Sonst hatte ich sie gar nicht bewusst wahrgenommen. Am nächsten Mittwoch führten mich meine Blicke immer wieder zu Lucias blondem Haar. „Wunderschön, dein blon­des Haar, Lucia.“ dachte ich. Ob ich es mal einfach berühren sollte. Abends beim Kongress hatte ich ihr das Haar verwuselt, wie konnte ich nur. Jetzt be­wunderte ich sie einzeln, die dünnen, goldenen Fädchen, die Lucias Kopfhaut geschaffen hatte. Bei jedem Treffen schienen Lucias glatten, blonden Haare schöner und sakrosankter zu werden. Lucia, das war ihr schönes, blondes Haar. Ich stellte mir vor, sie käme vom Frisör und erwartete, dass ich ihre neue Fri­sur bewundern würde. Das hätte ich nicht gekonnt, nur klagen und weinen. Lu­cias wundervolles, glattes, blondes Haar, die schönste Frisur der Welt, gäbe es nicht mehr. „Ruby, du drehst durch. Ganz ordinäre platte Haare sind das. Kein Mensch der Welt wird darin etwas Besonderes sehen.“ sagte ich mir vor, aber es half nichts, meine Wahrnehmung und mein Empfinden ließen sich davon nicht beeinflussen. Lucia lachte sich tot, als ich es ihr erzählte. „Wenn du mei­ne Haare so wundervoll findet, und sie dir so viel bedeuten, könnte ich dir ja einen Gefallen tun. Ich mache es dir zum Geschenk für Weihnachten, dass ich meine Haare nicht verändere. Aber ich vermute, du fetischisierst da etwas, misst ihnen eine Bedeutung zu, die sie gar nicht haben.“ erklärte Lucia „Ich weiß es doch auch nicht. Es gehört zu dem Bild, als ich dich kennengelernt habe, obwohl mir deine Haare gar nicht aufgefallen sind.“ meinte ich dazu. „Ruby, wie kannst du so reden? Dein erstes Bild von mir ist dir heilig, daran darf ich nichts verändern, obwohl alles mir gehört. So siehst du das? Ob ich morgen grüne Röcke und blaue Blusen trüge und mir die Haare lila färben lie­ße, was soll das denn mit unserer Beziehung zu tun haben? Kannst du mir das mal verraten?“ schimpfte Lucia. „Du hast Recht, ich bin verrückt, nicht wahr.“ bestätigte ich Lucia. In der nächsten Woche berichtete sie: „Ich habe es Elaine erzählt. Die hat sich schief gelacht und gemeint, du müsstest mal zum Onkel Doktor.“ „Du hast ja Recht, aber anfassen, lass es mich noch mal abfassen.“ bat ich. „Ruby, du spinnst. Fass mein Haar an, wann immer du willst, du tust es doch auch, und mach nicht so einen Zirkus.“ Lucia darauf spöttisch.


Blumen meiner frühen Kindheit

Wir überlegten für Weihnachten. Sich etwas schenken und was dann? „Gott hat der Welt seinen Sohn geschenkt, deshalb feiern wir's ja, den Erlöser. Fühlst du dich Weihnachten auch manchmal erlöst?“ wollte Lucia wissen. „Warum hast du der Welt denn eigentlich keine kleinen Erlöser geschenkt?“ fragte ich sie. „Ich hab's dir ja schon mal erklärt, welche Einstellung ich zu Kindern hatte. Heute fänd ich es sehr schön, Kinder aufwachsen zu erleben. Alles hat sich verändert, ich bin eben ein anderer Mensch geworden.“ erklärte Lucia. „Ich glaube dir ja, und du hast ja auch nicht wenig erläutert, dass sich bei dir sehr vieles verän­dert hat, aber ein anderer Mensch? Das kann ich mir nicht vorstellen. Du, das ist doch deine Geschichte. Die wird immer bleiben, da kannst du doch nicht nachträglich etwas dran verändern oder löschen.“ zweifelte ich. „Das denke ich auch. Du kannst nicht sagen: „Mein Leben bis jetzt das war nix. Ich geb's mal zurück und versuche ein anderes. Natürlich bleibt deine Geschichte, nur sie ist keine abgeschlossene Zustandsbeschreibung. Heute und jeden Tag entwickelt sie sich weiter. Sie ist der Prozess deines Lebens, ist Bewegung, Austausch jetzt und immer. Du stehst ja nicht daneben und schaust zu, du selbst spielst die Hauptrolle, du entscheidest, wie sich er Prozess entwickelt, und da kannst du schon nach und nach soviel anderes Erfahren, anderes Erleben gestalten, andere Denkweisen entwickeln, dass du sagen kannst: „Die Lucia von früher bin ich nicht mehr, zu einem völlig anderen Menschen habe ich mich weiterent­wickelt.““ erläuterte Lucia ihre Sicht. „Ich stimme dir ja zu, Lucia, nur es gibt doch auch Altes, früh Angelegtes, fest Verwurzeltes, das so stark mit dir ver­bunden ist, dass du es nicht einfach durch einen rationalen Beschluss ändern kannst. Du kennst es doch selbst bei deiner Auffassung von Bekleidung.“ er­gänzte ich. „Das denke ich auch. Es wird vieles in deinem Unbewussten geben, auf das du gar keinen Zugriff hast.


„In dir
alles Sichtbare
und
das unendlich Unsichtbare“


Rose Ausländer beschreibt es so. Ich weiß es ja nicht, aber könnte es nicht auch sein, dass meine kämpferische Einstellung, viel weniger dem Kampf ge­gen potentiell Stärkere galt, sondern vielmehr ein Kampf gegen mich selbst war, gegen die, die ich eigentlich wäre und gern sein würde, aber nicht sein durfte, weil ich dann schwach und unterlegen war. In der Schule hat es ja auch erst angefangen. Aus der Zeit vorher kann ich mich an Ähnliches nicht erin­nern. Ich weiß das nicht, meine Eltern haben erzählt, dass ich jeden Tag mit ei­nem kleinen Jungen aus dem Nachbarhaus gespielt hätte. Dann sei die Familie fortgezogen und ich sei für längere Zeit ungenießbar gewesen. Vielleicht gab es in meiner frühen Kindheit keinen Bedarf, mich durchsetzen zu müssen. Viel­leicht hat sich bei meiner Gehirnentwicklung diese Vorstellung der Welt in mir organisch festgelegt. Womöglich erscheinst du mir als jemand aus dieser Welt, als der kleine Junge aus dem Nachbarhaus, den mein Bewusstsein gar nicht mehr kennt. Es könnte ja sein, dass ich mir mit ihm ein Leben wünsche, wie ich es nicht erst jetzt kenne, sondern wie ich im Grunde immer war. Nur war ich durch mein bisheriges Leben nicht stark, sondern in meinem Panzer gefan­gen. Und jetzt hoffe ich, mit dir die bunten Blumen meiner frühen Kindheit in allen Farben des Regenbogens neu zum Leuchten bringen zu können.“ entwarf Lucia ein Bild. „Du siehst es so, dass wir uns nicht aus einem früheren Leben, sondern aus deinen frühesten Kindertagen kennen. Nur umgezogen sind wir nicht.“ versuchte ich zu scherzen. „Achte auf deine Ohren, mein Liebster, du weißt genau, was ich meine. Dein Traum von Antigone wird sich auch nicht im Theater von Epidauros ad hoc aus dem Nichts entwickelt haben. Ganz viel von dir, deinen Wünschen, deinen Träumen, deinen Sehnsüchten wird darin ste­cken, die Geister deines Unsichtbaren werden deine Vorstellung mit geformt haben. Antigone, das bist du selbst, und das macht dich so außerordentlich lie­benswert.“ warnte mich Lucia. Wir beschenkten uns immer nicht nur am 25. Dezember, Lucia schenkte sich Ruby, und Ruby schenkte sich Lucia, das war Erlösung in absoluter Reinheit.


Halt dich an deiner Liebe fest

Weihnachten war das Größte, die Menschen konnten Kriege führen, sich ge­genseitig hassen und quälen, missachten und streiten, aber Weihnachten stell­te einen weltweiten Sentimentalitätsorgasmus dar. Warum? Im Grunde war es für fast alle ziemlich irrelevant. Man war übereingekommen, dass man sich am 25. Dezember freuen wolle. Es war Winter. Grässlich, Schnee, Regen, Eis, und Kälte dominierten die Tage. Mitte Januar bekam ich am Montagmorgen eine SMS: „Bitte, komme um 16°° Uhr ins Büro. Dringend. Esther“. Wie konnte sie mich so auf die Folter spannen. Was sollte ich denn die ganze Zeit machen? Mir immer wieder erklären, dass ich bis dahin ruhig bleiben solle. Erraten könne ich sowieso nichts. Sollte ich Lucia mal anzurufen versuchen? Nein, ich würde warten. Mit ernster, herber Mine begrüßte mich Lucia, als ich ins Büro kam. So hatte ich sie noch nie wahrgenommen. Es gab auch keine Umarmung. Lucia nahm meine Hand, legte sie zwischen beide Hände von sich und drückte sie. Das Begrüßungslächeln wirkte eher aufgesetzt. Ich bekam Angst. Aber was sollte geschehen sein. Alle irrsinnigen Möglichkeiten liefen mir rasend schnell durch meine Gedanken. Es hatte gedauert, bis wir nebeneinander auf der Couch saßen. „Lucia“ sagte ich nur als Aufforderung an sie, sich zu erklären. „Du kannst mir auch nicht helfen, Ruby.“ brachte sie als erstes hervor und kurz darauf: „Natürlich, wenn nicht du, wer dann.“ „Weiß du, Ruby, es kommt mir manchmal vor, als ob ich durchdrehen könnte. Im Moment sehe ich alles so und fünf Minuten später genau umgekehrt.“ sagte sie. Ich wollte sie ja nicht gerne unterbrechen, aber Lucia erklärte nichts. „Lucia, was ist geschehen? Er­kläre es so, dass ich es verstehe.“ bat ich sie. „Es ist unglaublich,“ begann sie wieder, „nein, es ist so, Rolf hat eine Freundin. Er hat es mir gestern gesagt. Gesagt hat er es mir gar nicht, ich musste es ihm nach und nach aus der Nase ziehen. Unsere Liebe, das war natürlich in meiner alten Zeit, wir passten da­mals schon recht gut zueinander. Nur ich habe mich verändert und Rolf nicht. Er hat nichts verstanden und wollte es auch nicht verstehen. Aber wir haben uns gegenseitig geachtet, uns gegenseitig vertraut. Wir hatten ja schließlich auch eine lange gemeinsame Geschichte mit vielen liebevollen, intimen Erfah­rungen. Das gegenseitige Vertrauen ist doch etwas Gemeinsames zwischen beiden, aber Rolf verfügt einfach allein darüber. „Für mich gilt es nicht mehr.“ sagt er sich, „Wenn du mir weiter vertraust, ist das deine Dummheit.“ Er ver­fügt über mein Vertrauen, verfügt über mich. Wenn du über einen Fremden verfügst, ist das menschenunwürdig, wenn Rolf es mir, seiner deklarierten Liebsten gegenüber tut, ist das ein Verbrechen. Er hat mein Vertrauen und mich missbraucht. So etwas kann dieser Mensch, und dann auch noch Rolf, mit mir doch nicht machen. Er achtet mich nicht, sondern geht mit mir um, als ob ich der letzte Dreck wäre. Das muss ich mir doch nicht gefallen lassen.“ Genau, das brauchte sich eine Lucia doch nicht gefallen zu lassen und von einem Mann erst Recht nicht. Ich konnte direkt gar nichts sagen, legte meinen Arm um Lu­cia und drückte sie. „Ich habe ihn sofort rausgeworfen.“ sagte Lucia und konn­te schon wieder lächeln, „Na, fast schon. Er sagte, dass er natürlich ausziehen werde und fragte, wie lange er denn noch bleiben könne. Ich fühlte mich so entsetzlich gekränkt, war so erbost, dass ich Mühe hatte, die Contenance zu wahren. Sein Anblick würde mich kränken, habe ich gesagt, auch jetzt schon. Er war erschrocken, und meinte, zuerst mal mit seiner Freundin sprechen zu müssen. Woraufhin ich erklärte, man könne auch gut in Hotels übernachten. Dann bin ich zu Elaine gefahren, und wir haben erst mal zusammen geweint. Rolf ist nicht mehr da. Er kommt nur tagsüber und holt sich, was er braucht. Kannst du dir so etwas vorstellen, von Sonntag auf Montag?“ Ich war nur sprachlos, von der Beziehung zwischen Rolf und Lucia wusste ich ja nichts. Dass da nicht die großartige Liebe und Freude herrschte, dachte ich mir aller­dings schon. „Mit Elaine zusammen zu sein, hat dir erst mal über den stärksten Schmerz hinweg geholfen?“ fragte ich nach. „Ja, es tut einfach gut, mit jeman­dem zusammen zu sein, von dem du weißt, dass du ihm absolut vertrauen kannst. Aber das habe ich von Rolf ja auch gedacht. Und das Schlimme ist, ob­wohl ich weiß, was er mir angetan hat, ich kann ihn innerlich nicht einfach nur beschimpfen und verteufeln, ihn als menschenverachtendes Monster sehen. Ich will mit ihm nichts mehr zu tun haben, aber ich kann mich nicht gegen das Bild wehren, auf dem ich ihn im Grunde für einen achtbaren Menschen halte.“ erklärte Lucia. „Ich kenne Rolf ja nicht, aber das ist er doch auch sicher gewe­sen, so hast du ihn doch erfahren. Diese Erfahrung bleibt auch, du wirst sie nicht auslöschen können. Und ein achtbarer Mensch, wer ist das im Grunde nicht?“ meinte ich dazu. „Denkst du, jeder könnte irgendwann und irgendwie dazu kommen, so etwas zu tun wie Rolf? Auch Elaine und du? Müsste ich even­tuell damit rechnen? Dauerhaft verlässliches Vertrauen ist immer Dummheit? Vertrauen kann es nur temporär hier und jetzt geben?“ verzweifelte Lucia. „Lu­cia, ich kenne nicht jeden Menschen und ich kann auch nicht die Zukunft weis­sagen. Nur ich halte es bei mir für unmöglich und für Elaine sehe ich es nicht anders. „Hör auf mich, und glaube mir, Augen zu vertraue mir!“ singt die Schlange Kaa, um Mogli im Dschungelbuch zu benebeln. Es ist verführerisch, wir wünschen es uns, vertrauen zu können, nur leider ist es oft Dummheit, die missbraucht wird. Rudyard Kipling, der Autor selbst sagt: „Vertraue nur dir selbst.“. Vielleicht hat er auch böse Erfahrungen gemacht, aber was wäre un­sere Liebe, wenn wir nicht sicher wären, uns gegenseitig vertrauen zu kön­nen.“ erklärte ich. „Natürlich vertrauen wir uns, Ruby, absolut. Da hat Rolf kei­nen Zugriff drauf. Aber es ist so entwürdigend und demütigend, das Schlimms­te, was ich in meinem Leben erfahren habe. Warum muss ich das mit mir ge­schehen lassen?“ fragte sich Lucia. „Weil du eine kleine, schwache Frau bist und dich nicht wehren kannst.“ spottete ich, „Unsinn, überall kommt es vor, das Vertrauen missbraucht wird, der eine oder die eine sich ehrverletzendes Verhalten gefallen lassen muss, nur ist das Gewäsch, es wird dir in keiner wei­se helfen. Ich will dir helfen, nur wenn du eine Wunde hast, wirst du die Schmerzen mit schönen Worten nicht vertreiben können. Du bist verletzt, ge­kränkt, gedemütigt, enttäuscht und missbraucht. Ich kann es nicht durch schö­ne Worte ungeschehen machen und dir die Schmerzen nehmen. Es ist dir ge­schehen und du wirst es ertragen müssen. Nur, Lucia, das bist nicht du, du bist nicht deine Schmerzen, du bist viel, viel mehr, außerordentlich viel Wundervol­les mehr, du das ist vor allem auch deine Liebe. Bei allem Schmerz, solltest du das nie vergessen.


„Du bist verzweifelt, gekränkt, deine Würde verletzt,
wenn der Bruch des Vertrauens dich nicht schlafen lässt,
und all die Lügen geben Dir den Rest:
Halt dich an deiner Liebe fest.“


Lucia lachte. „Wunderschön, Ruby. Was ist das?“ fragte sie. Ich erklärte, dass es eine gemeinsame Kreation von Rio Reiser und mir sei und sang es ihr jetzt vor. Dafür gab es eine dicke Umarmung mit Streicheln und Küssen, als ob aller Schmerz schon verschwunden sei, oder war es der erste Versuch, sich an der Liebe festzuhalten? „Lucia, ich möchte so gern helfen. Was auch immer eine Hilfe für dich sein könnte, sag es mir.“ erklärte ich. Lucia überlegte. „Du möch­test gern etwas tun, nicht wahr. Aber was will man da machen? Es ist mein Problem, mit dem ich fertig werden muss. Doch, ja, mir fällt etwas ein. Wäre es dir möglich, heute Abend kurz zu mir zu kommen. Wir würden ein Glas Wein zusammen trinken, ich hätte dich gesehen, wir hätten miteinander gesprochen, und mit deinem Bild würde ich gut einschlafen können. Es würde die martern­den Grübeleien vertreiben. An meiner Liebe festhaltend würde ich einschlafen, verstehst du?“ sagte sie und lachte. Natürlich käme ich am Abend zu Lucia. Auf dem Weg nach Hause, ging mir einiges durch den Kopf. Jetzt wäre es völlig fehl am Platze, aber irgendwann würde ich es doch mal ansprechen wollen. Machte Lucia denn nicht etwas Ähnliches wie ihr Mann Rolf? Wahrscheinlich war das etwas völlig anderes. Fragen, um verstehen zu können und nicht zu urteilen, lautete das Prinzip der befreundeten Frauen untereinander. Galt das nur bei den Frauen oder auch für andere Menschen? Lucia hatte bei Rolf nur geurteilt, dass sie ihn auch mal nach seiner Motivation oder sonst etwas gefragt hätte, davon hatte ich nichts gehört.


Gewohnheit nicht verlieren

Stumme Begrüßung am Abend. Lucia blickte nicht gerade als ob sie zu singen, tanzen, jubilieren gedächte, aber ihre Mimik war geformt von lächelnden, glücksbehauchten Zügen freundlicher Sanftheit. Von Ärger, Ernst, Wut und Trauer keine Spur. Bei der Begrüßungsumarmung strich sie mir mit den Knö­cheln der geballten rechten Hand über's Rückgrad rauf und runter. In den Ver­zeichnissen der Begrüßungsritualien ist eine derartige Geste nicht genannt und gedeutet. Was Lucia damit und ihrem gleichzeitigen, verschmitzten Lächeln sa­gen wollte, verstand ich trotzdem, obwohl es mehrere Interpretationsmöglich­keiten geben könnte. Eine symbolische Aufforderung zum Tanz, oder einfach die Übermittlung des Kribbelns der Freude? Alles verarbeitet und überwunden haben? Das konnte nicht sein. „Du fühlst dich gut im Moment?“ konstatierte ich leicht fragend. „Soll ich den ganzen Tag nur Grübeln und mir bittere Zähren entlocken? Du hast schon Recht Ruby, da ist auch noch anderes. Was gesche­hen ist passt zum grellen Licht des Tages, hart, gleißend und schneidend kann es sein. Jetzt ist eine Kerze angezündet, und wenn ich weiß, dass du kommst, durchströmt mich die Freude auf die Milde der warmen Liebe am Abend.“ sah Lucia es. Sie nahm Wein und Gläser mit. Wir setzten uns in ihr Zimmer, wo sie bis gerade gearbeitet hatte. Der Lichtkegel ihrer Schreibtischlampe ließ den größten Teil des Raumes im Dämmerlicht. Zu erleben, wie Lucia nur uns sah, sich kitzlig freute und Lust auf uns beide hatte, verwunderte mich zwar, aber leichter und angenehmer hätte sie es mir nicht machen können. Ich hatte da­mit gerechnet, Worte des Trostes und des Mitleidens finden zu müssen, aber offensichtlich trafen sich die Liebenden, als ob alles andere nicht geschehen wäre. Umgekehrt nebeneinander saßen wir hinter Lucias Schreibtisch und be­spielten uns sanft mit den Fingern. „Hat der Fluss deines Lebens sein altes Bett jetzt völlig verlassen?“ fragte ich. „Könnte man vielleicht sagen, nicht wahr, aber die Metapher gefällt mir so nicht.“ Lucia darauf. „Oder sind alte Bäume in der Allee deines Lebensweges gefällt worden?“ schlug ich vor. „Nein, Ruby, so erst Recht nicht.“ protestierte Lucia lachend, „Kein Weg, das Leben ist niemals wie ein Weg, den du abzuschreiten hast. Fluss ist schon ganz gut. Nur der Fluss deines Lebens verändert sich ständig in allem, auch an seinen Ufern. Ein neues Bett braucht er nicht. Du kennst Goethe „Dauer im Wechsel“? Da heißt es:


„Gleich mit jedem Regengusse
Ändert sich dein holdes Tal,
Ach, und in dem selben Flusse
Schwimmst du nicht zum zweiten mal.“


Als einen Teil des Prozesses sehe ich es, in dem sich immer alles verändert,nur hat es jetzt eruptive Umgestaltungen des gesamten 'holden Tales' gegeben.“ sah es Lucia. „Nicht wenige befestigen das Ufer und wollen den Fluss ihres Le­bens in ein starres, von ihnen geformtes Bett zwängen.“ kommentierte ich. „In der Tat, ob ich ihn frei sprudeln lassen konnte, dessen bin ich mir auch nicht so sicher. Sagen: „Es ergibt keinen Sinn mehr, lass es uns beenden.“ wie Elaine, das konnte ich nicht. Die Gemeinsamkeit von Rolf und mir, das war mein Le­ben. Auch wenn es bitter war, erfahren zu müssen, dass sich nichts mehr wei­terentwickelte und Änderungsversuche zwecklos waren, das ist eben dein Le­ben, du wirst damit umzugehen haben. Wir achteten und vertrauten uns ja, und Erinnerungen waren ja auch nicht bedeutungslos. In anderen Zusammen­hängen hätte ich ein ähnlich strukturiertes Verhalten niemals zugelassen, un­denkbar. Ob meine Argumente, dass wir unser Zusammenleben so perpetuie­ren müssten, nicht vorgeschobene Gründe waren, um eine Gewohnheit nicht zu verlieren. Das kann auch schmerzen, und davor kannst du große Angst ha­ben. Jetzt hat Rolf durch sein Handeln den Knoten zerschlagen und alle Fragen überflüssig gemacht. Eigentlich könnte ich doch jetzt froh sein und mich frei fühlen, mein Empfinden will das aber im Moment noch gar nicht realisieren.“ erläuterte Lucia. Ich touchierte sanft streichend die Innenseite von Lucias Un­terarm, der auf der Lehne ihres Schreibtischsessels lag. Sie machte ihre Augen ganz klein und ihre Mimik nahm Züge an, die der eines grinsenden Kätzchens nicht unähnlich waren. „Ruby!“ sagte sie nur. „Lass das sein.“ gehörte be­stimmt nicht zu dem, was sie ausgelassen hatte. „So zarte Haut hast du hier, sonderbar, wo doch eine Schlagader so dicht darunter liegt. Wenn ich ein chi­nesischer Arzt wäre, würde ich die unzähligen Variationen des Pulsschlages kennen und könnte dein Befinden diagnostizieren, vor allem, ob mit der Har­monie bei dir alles stimmig wäre.“ erklärte ich. „Ich glaube zur Zeit schon. Sie sucht den Gleichklang auch mit dir und gibt mir den Traum, wie harmonisch es sein könnte, wenn du heute Nacht bei mir bliebst. Aber das machen wir nicht, oder?“ fragte Lucia. „Mhm“ lehnte ich es auch ab. „Wenn die Blumen aus dei­nen frühen Kindertagen wieder blühen, und ein Junge namens Ruby sie in allen Farben des Regenbogens zum Leuchten bringen wird, dann werden wir beisam­men sein. Das wird bestimmt schon bald so sein.“ „Du hast Recht. Unsere Lie­be war immer aus dem Glück geboren, und das soll sie auch bleiben, nicht wahr?“ stimmte Lucia mir zu.


Claudia

Nachdem ich Lucia zum dritten mal am Abend kurz besucht hatte, musste ich unbedingt Claudia informieren. Am Freitagabend wollten wir etwas besprechen. Du möchtest davon laufen, wenn du das Freundlichkeiten und liebe Worte er­wartende lächelnde Gesicht siehst und weißt was du sagen willst. Ich habe Claudia erzählt, wie es sich entwickelt hatte. Sie hat endlos gefragt. Natürlich war sie enttäuscht und traurig, aber es gab keinen einzigen Vorwurf an mich. 'Vertrauen gebrochen' das Wort fiel nie. Wir vertrauten uns auch jetzt bei der gemeinsamen Bewältigung des Unheils, das über unsere Liebe herein gebro­chen sei. Wir trösteten uns gegenseitig und weinten gemeinsam. Das ganze Wochenende verbrachten wir damit, gingen spazieren oder in's Café. Miteinan­der geschlafen haben wir nicht, aber dass wir zusammen im Bett lagen und uns gegenseitig trösteten, war selbstverständlich. Wie eine böse Eskapade des Schicksals, die unser gemeinsames Leben zerstörte, sah es Claudia. Wenn sie an ihre Zukunft gedacht hätte, sei das immer die Zukunft mit mir gewesen. Et­was anderes habe sie gar nicht denken können, weil wir beide doch zusam­mengehörten. „Wir haben so selbstverständlich zueinander gefunden, als ob es so sein müsse. Ich konnte nur noch uns beide sehen und habe darüber aus dem Auge verloren, dass doch immer jeder für sich ein anderer, eigenständiger Mensch bleibt. Den in mir werde ich jetzt zunächst mal wiederentdecken müs­sen. Alle Bilder brauchen neue Farben. Welche, das werde ich lernen müssen. Trotz allem wirst du mein liebster Mensch bleiben. Du wirst mich doch auch nicht vergessen?“ fragte Claudia. An diesem Wochenende lernte ich eine Clau­dia kennen, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Vielleicht war ich auch nur zu dumm und stupide gewesen, sie erkennen zu können und erkennen zu wollen. Ich habe Claudia nicht verstanden und habe mich auch nicht darum bemüht. Sie kommt aus einfachen Verhältnissen, ihre tiefe Menschlichkeit hat mich in ihrer Nähe wohlfühlen lassen, aber erkannt habe ich sie nicht. Jetzt war sie evident und zeigte mir den wunderbaren Menschen. Nichts haben wir getan, um uns gegenseitig tiefer verstehen zu können, einfach so dahin gelebt. Die intensive gegenseitige Wahrnehmung, wie sie zwischen Lucia und mir selbst­verständlich ist, hatte es zwischen Claudia und mir nie gegeben. Wir hatten immer nur drauf los gelebt, geredetund agiert, wie es alle tun, wie es so üblich ist. Die wundervolle Claudia verursachte mir üble Vorwürfe an mich selbst. An­tigone hatte nicht nur gefehlt, als wir uns kennenlernten, ich hatte ihr auch später nicht die Tür zu unserer Beziehung geöffnet. Wer war ich, dass ich Lucia vorwerfen wollte, sie hätte ihren Mann nicht gefragt. Wir hatten Verschiedenes zu überlegen versucht, aber eine Beziehung zu Lucia und Claudia gleichzeitig, das wollte Claudia nicht, und ich konnte ihre Begründung gut nachvollziehen. Wir müssten beide ausziehen, aber Claudia wollte schon gern wohnen bleiben. Sie wollte eine andere Frau finden, die zu ihr zöge. Bis sie jemanden gefunden habe, würde ich noch wohnen bleiben. Für Claudia war es kein Problem und für mich auch nicht. Waren wir gute Menschen? Claudia bestimmt.


Semesterabschluss

Zum Seminar am Dienstag begrüßten wir uns immer vorher auf dem Flur. Jetzt bat mich Lucia nur kapp: „Anschließend bei mir?“. Es war das letzte Seminar vor den Ferien. Ich hatte in dem Eichendorffseminar sogar ein Referat über­nommen, wollte nicht so dümmlich auf Lucia fixiert erscheinen, zeigen, dass ich mich involviert engagierte. Ein Vergleich zwischen Eichendorffs „Aus dem Leben eines Taugenichts“ und den beiden Filmen, die es darüber gab. Eine Un­menge Arbeit hatte ich mir aufgeladen. Den Taugenichts hatten wir früher mal in der Schule gelesen, besonders interessiert hatte er mich damals nicht, und sonst kannte ich von Eichendorff nur einige Gedichte und Lieder, die man so kennt. Für Romantik hatte ich mich nie interessiert. Jetzt hielt ich Eichendorff für einen großartigen Schriftsteller, und ich wollte mich auch noch mit anderen Romantikern beschäftigen. Lucia war begeistert. Das hätte sie alles nicht ge­wusst. Sie habe durch mein Referat viel gelernt. Am liebsten hätte sie gehört, wenn ich mich selbst in Beziehung zum Taugenichts und Eichendorffs Sichtwei­sen dargestellt hätte, aber das sei dann ein Spezialreferat für sie allein gewe­sen. „Ich hatte ja auch mit Romantik nichts zu tun, und es wird auch nicht mein Schwerpunkt werden. Das Seminar hatte ich nur übernommen, weil es angekündigt war, und der Kollege schon alles ausgearbeitet hatte, aber es hat mich sehr bewegt. Wir haben ja auch öfter über die Sichtweisen von natürli­chem Leben gesprochen. Die Menschen könnten heute viel von den Romanti­kern lernen, aber der Begriff Romantik ist ja im allgemeinen Sprachgebrauch zum Synonym für sentimentalen Kitsch verkommen.“ hatte Lucia erklärt. Esther hatte Kaffee bereitet und sollte sich dazu setzen. „Esther, jetzt könnte es mit dem Kinderchen machen was werden. Meine Freundin hat mich nämlich verlassen.“ erklärte ich scherzend. „Oh je!“ sagte sie nur erschrocken, aber ihre Mimik trug keine traurig, mitleidigen Züge, und Lucia stöhnte auf: „Ruby!“. „Du kommst heute Abend zu mir, nicht wahr? Nein, warum willst du nicht gleich mitkommen?“ fuhr sie fort. Ich konnte völlig entspannt etwas dazu sagen: „Ich habe meiner Freundin Claudia erklärt, dass Lucia und ich uns lie­ben, und dann haben wir ganz in Ruhe beschlossen, dass es das Beste sei, wenn wir uns trennen würden.“ „Habt ihr euch denn gar nicht geliebt?“ wollte Esther wissen. „Ja doch, und das tun wir auch immer noch. Meine Freundin ist eine ganz großartige Frau.“ antwortete ich ihr. „Und du verliebst dich einfach in Lucia?“ bemerkte Esther erstaunt, „Sonderbar.“ fügte sie hinzu. „Du wirst es mir gleich näher erklären, nicht wahr?“ beendete Lucia die Diskussion mit Esther. „Die Arbeit war ja im Prinzip wie immer, und so allzu viel habe ich ja auch nicht mitbekommen, aber für mich war es das spannendste Semester überhaupt.“ gab Esther eine Einschätzung zum Semesterabschluss. Wir lach­ten, und Lucia meinte: „Meine Liebe, es mag ja schön sein, wenn du es bei an­deren mitbekommst, aber die Theatralik erfährst du erst in vollem, spannen­den Umfang, wenn es dich selbst betrifft. Ich habe dir schon so oft gesagt, dass du dich mal um einen Liebsten kümmern solltest.“ „Von dem ich dann hier bei der Arbeit immer träume und alles voller Fehler mache?“ fragte Esther und lachte. „Wir können uns ja den Ruby teilen. Er mag mich auch, hat er gesagt.“ fuhr sie lachend fort. „Die Eltern sind ziemlich konservativ. Realschule würde für ein Mädchen reichen, hätten sie gesagt.“ erklärte Lucia später zu Esther.


Verborgene Menschlichkeit

Ich erzählte Lucia, was sich zugetragen hatte. „Wir müssen unsere Vorstellun­gen vom guten und schönen Menschen ändern, müssen sie ergänzen um die Menschlichkeit die du nicht siehst, weil du zu stupide bist, sie erkennen zu kön­nen, weil sie dir nicht sinnfällig erscheint.“ erklärte ich. Auf Lucias fragende Au­gen hin versuchte ich es zu erläutern: „Ob dir etwas gefällt, ob du es leiden magst, hängt davon ab, in welcher Schicht du aufgewachsen bist, wo und wie deine Sozialisation erfolgte. Das gilt nicht nur für deinen Geschmack, sondern genauso dafür, wie du andere Menschen einschätzt, wie du ihr Verhalten be­wertest, was du in ihnen erkennst, was dich an ihnen interessiert und wie du sie verstehst. Wir mögen uns, Claudia und ich, haben irgendetwas gespürt, aber verstanden und erkannt habe ich sie nicht. Ich habe auch gar nicht da­nach gefragt, war zu dumm und zu verschlafen, ihre tiefe Menschlichkeit wahr­nehmen und erkennen zu können.“ „Was willst du, Ruby? So warst du zu der Zeit. Du ärgerst dich, dass du damals nicht der warst, der du heute bist. So war dein Leben, in Ismenes Welt, wie du es genannt hast. Da kommen Antigo­ne und das Bild der Menschlichkeit nicht vor. Gibt es Nutzloseres als sich dar­über zu ärgern, dass du gestern nicht der warst, der du heute bist. Was soll ich denn sagen: „Es war falsch, was du gemacht hast, Ruby. Tu das nie wieder. Geh hin und sündige fortan nicht mehr.“? So ein Unsinn. Der Fluss deines Le­bens verändert sich, du kannst aber darauf einwirken und das machst du jetzt. Damals hast du als Zuschauer daneben gesessen. Das bist du heute nicht mehr. So etwas könnte dir heute nicht mehr passieren, du bist auch ein ande­rer geworden.“ erklärte Lucia. „Ich denke auch, du versuchst es ja sogar bei allen möglichen, unterschiedlichen Leuten, die du gar nicht kennst, in den Se­minaren, im Grunde bei jeder Kommunikation zu entdecken. Es hilft mir schon, was du gesagt hast, aber mein schlechtes Gewissen Claudia gegenüber ist noch nicht ganz verschwunden.“ erklärte ich. „Und jetzt werdet ihr einfach so weiterleben, wie bislang auch?“ fragte Lucia erstaunt. „Wie die Tage genau aussehen werden, weiß ich auch nicht, nur habe ich große Hochachtung vor Claudia.“ antwortete ich. „Ich habe immer sehr viel zu arbeiten. Im Grunde fast jeden Abend. Auch wenn wir verheiratet waren, haben Rolf und ich ein fast total eigenständiges Leben geführt. Meistens wusste der eine gar nicht, was der andere machte.“ erklärte Lucia. Ich unterbrach sie: „Was erzählst du mir, Lucia, es ist mir völlig schleierhaft, was du mir sagen willst.“ „Na ja, ich wollte nur sagen, dass ich nicht aus der Uni komme, und dann habe ich Feierabend. Mein Alltag sieht nicht so aus wie auf dem Kongress.“ fuhr Lucia fort. „Tut mir leid, aber ich verstehe immer noch nichts. Warum erzählst du das?“ wollte ich geklärt haben. Lucia machte eine Bedenkpause, dann wurde sie deutlicher: „Also Platz ist ja hier genug. Du könntest ja, aber nur wenn du es auch wirklich willst, solange hier wohnen, bis deine Freundin eine neue Mitbewohnerin gefunden hat. Miete brauchtest du hier doch nicht zu zahlen, könntest deine alte Wohnung weiter finanzieren.“ Auf Lucias Vorschlag konnte ich gar nicht schnell antworten. All die Bilder von den möglichen Zuständen, wenn ich mit Lucia zusammen wohnen würde, liefen mir durch den Kopf. Alles unvorstellbare Begebenheiten, alles unfassbare Situationen. „Nein, nein, du brauchst ja nicht. War ja nur ein Vorschlag, und wenn du dich daneben benimmst, schmeiß ich dich sowieso raus.“ erklärte Lucia, weil ich gar nicht reagierte. „Lucia!“ atmete ich auf, „Was für ein Traum. Stell dir vor wir würden …,“ und dann zählte ich alles auf, was wir zusammen machen könnten, und wie wundervoll es sein würde. „Brems dich, Ruby. Es ist für die Zeit in der du Claudia noch die die Wohnung finanzieren musst. Wenn sie morgen jemanden findet, musst du dir auch eine Wohnung suchen.“ kommentierte Lucia. Warum sie jetzt allein und nicht wieder mit jemandem zusammen wohnen wollte, hatte sie nach der Trennung von Rolf ausdrücklich erklärt. Die wonnevollen Tage des goldenen Zeitalters schienen zu beginnen. Trotz viel Arbeit und großer Eigenständigkeit war Lucia eben immer da. Wenn sie auch in ihrem Zimmer saß, und die Tür geschlossen war, lebte sie doch immer in dir. Bei allem, was du machtest, war sie dabei, wenn du wusstest, du brautest im Foyer nur ihren Namen zu rufen, und sie würde dir antworten. Wie ein gemeinsamer Konzertbesuch gestaltete sich das Leben. Die Klänge der Musik nimmt dein Kopf auch für den anderen war. Jetzt war Lucia bei allem mit in meinem Kopf. Den ganzen Tag erlebte ich mit ihr. Im Hotel hatten wir auch gewusst, dass am Freitag unser gemeinsames Leben beendet sein würde, jetzt schnürte es mir die Kehle zu, wenn ich ans Ende dachte. Sehr bald schon trat es ein. Claudia hatte schnell eine Mittbewohnerin gefunden, und bis sie einzog und die Miete überwies, dauerte es auch nur Tage. Ich hätte mich längst um eine Wohnung kümmern müssen, aber offensichtlich hatte sich bei mir eine diesbezügliche Lähmung entwickelt.


Fluten meines Lebensstroms

Als beim Schmusen im Bett die Sprache auf meinen Auszug kam, gab ich, wie schon öfter, die Bekundung von mir: „Ich werde mich mal allmählich kümmern müssen.“ Lucia drehte mich auf den Rücken und stützte sich auf meine Brust. „Ruby!?“ begann sie, dem nach Intonierung und Ausdrucksweise hätte folgen müssen: „Jetzt hör mir mal gut zu, ich habe etwas ganz Wichtiges mit dir zu besprechen.“ Sie fuhr noch mal zärtlich mit ihren Fingern über mein Gesicht. „Die Wasser im Fluss meines Lebens haben sich verändert. Es sind die Ströme aus der süßen, warmen, liebevollen Quelle unseres Zusammenseins hinzuge­kommen. Sie erwärmen den Fluss und lassen seine Wellen lebhaft und glück­lich tanzen. Soll ich das etwa vorsätzlich und absichtlich unterbrechen oder be­enden? Die Fluten meines Lebensstroms würden sich wünschen, dass es auch morgen so sein kann, und übermorgen, und immer und immer wieder, an je­dem Tag soll es so sein. Könntest du das ermöglichen? Würde es mit dem Tanz der Wellen in dem Fluss deines Lebens harmonieren?“ Antworten konnte ich nicht. Fest an mich drücken musste ich Lucia. Unsere Wangen lagen innigstes Empfinden vermittelnd aneinander. Immer wieder mussten wir uns küssen, streicheln, drücken und gegenseitig die Augen sprechen lassen, bis wir uns schließlich liebten. Unser Initiationsritus zum gemeinsamen Leben, unsere Hochzeitsnacht. „Daran zu denken, dass du mich liebst macht ein wundervolles Gefühl, deine Haut zu spüren aber auch. Eine unselige gedankliche Konstruktion ist die Aufteilung des Menschen in Körper, Seele, Geist. Alles in mir liebt dich und sucht deine Liebe. Alles was ich bin, spielt dabei gemeinsam in der Harmonie eines großen Orchesters. Es lässt alles in mir Glück empfinden und mich stark fühlen. Es gibt nichts in Lucia, das daran nicht beteiligt wäre und in harmonischem Gleichklang mitschwingen würde.“ beschrieb Lucia ihr Liebesempfinden. „Dumme, untaugliche Worte sind es, welche die Einheit des Menschen in verschiedene Partitionen segregieren wollen. Ganz besonders trifft es bei der Liebe zu, sie ist nur als Einheit zu sehen, wie ein Traum, nicht wahr?


„Sogar die Sterne
werden sich wundern:
hier haben sich Zwei
zurückverwandelt
in ihren Traum
der sie erwählte.“


Aus Liebe VI von Rose Ausländer ist das.“ bestätigte ich Lucia. „Ja, „Antigonia angelica“ wird jetzt nicht nur im Orbit kreisen, sondern hier bei uns eine De­pendance haben.“ ergänzte Lucia.


Troika der schönen Menschen

Die schönen Tage in Lucias Haus waren nicht so schnell vorbei. Im Gegenteil, sie entwickelten sich. Gemeinsam mit Elaine unternahmen wir jetzt vieles zu dritt. So lernte ich auch Lucias Opernkleid kennen. Wenn sie es nicht angezo­gen hätte, als wir in die Oper wollten, hätte ich es eher für ein Partykleid ge­halten. Elegant war es schon und ebenso ihr Geschmeide, aber dass sie eine Vorliebe für leicht Frivoles haben müsse, auf den Gedanken käme sicher nicht nur ich. Mit ihrer Sprache, ihrem Handeln, ihrer Kommunikation hatte sie ja schon verführerisch auf mich gewirkt. Ich wusste gar nicht, dass mich derarti­ge Reize berühren können, vielleicht eben nur, weil ich sie nicht isoliert wahr­nahm, sondern die Frau, zu der sie gehörten, mehr als gut kannte. Jeden Abend hätte ich mit ihr, bevor wir gemeinsam ins Bett gingen, eine Oper besu­chen können. Wenn wir zusammen schliefen, hatte Lucia Assoziationen zur Oper, vielleicht war es ja in der Oper selbst umgekehrt, hatte sie bei den Colo­raturen von „Non piu mesta“ aus Rossinis „La Cenerentola“ Assoziationen zu emotional passendem Geschehen im Bett. Eine kluge, weise und menschliche Frau, das war Lucia gewiss, aber manche Verhaltensweisen von ihr konnten sie auch sehr jugendlich erscheinen lassen. Vielleicht macht das ja gerade eine weise Frau aus, dass Alter in ihren Gedanken keine Rolle spielt. Ihr Haar hatte Lucia bei allen Wirren und Ereignissen der letzten Zeit völlig vergessen. Jetzt fiel es ihr wieder auf. „Wie eine Hexe sehe ich mittlerweile aus.“ beurteilte sie ihr gut schulterlang gewachsenes Haar. Ich wollte ihr noch raten, sich doch nicht durch derartige Einschätzungen quälen zu lassen. Blondes Haar könne man in jeder Länge tragen, lauteten meine schlauen Worte, aber Lucia ging zum Frisör. Natürlich hegte ich Befürchtungen, aber hatte im Grunde auch keine blasse Ahnung. Als Lucia endlich nach Stunden zurückkam, führte mir ein sonniges Gesicht lachend das Wunder vor. Oben auf dem Kopf war das Haar kurz und verwuselt, wie im „Out of Bed“ Stil an den Seiten und nach hinten wurde es länger und war wellig gelockt. Hinzu kam, dass ihr stumpfes Blond eine leicht silbrig glänzende Patina erhalten hatte. Lucia war zur Schönheit avanciert, und ihr Haar glich einem ästhetischen Kunstwerk. So empfand es auch Elaine, die zwar schwarzes Haar hatte, aber unbedingt den gleichen Zauber-Coiffeur aufsuchen wollte. Elaine war immer öfter bei uns, bald verbrachten wir fast jeden Abend zu dritt, und an den Wochenenden blieb sie nicht selten von Freitags bis Sonntagabend. Ob sie auch zur Mitbürgerin der Republik „Antigonia angelica“ geworden war, darüber haben wir gar nicht gesprochen, aber es musste ja so sein, sonst wäre es bestimmt aufgefallen.


Hätte Shakespeare uns gekannt

„Wie schön ist das menschliche Geschlecht.“ etwas anderes wäre Shakespeare nicht eingefallen, wenn er uns drei damals schon gekannt hätte. Er hätte nicht nur Miranda die Schönheit des menschlichen Geschlechts erkennen lassen, auch seinen anderen Helden und Antihelden hätte er sie nicht vorenthalten können. Wie anders würde sich manches entwickelt haben, wenn Hamlet, Othello und Macbeth ebenfalls die Schönheit des menschlichen Geschlechts er­kannt hätten. Ob Oberon, Titania, Puck und ihre Athener Elfenszene im Som­mernachtstraum auch etwas mit der Schönheit des menschlichen Geschlechts hätten anfangen können, muss allerdings dahingestellt bleiben. Und Beetho­ven? Seine Appassionata wäre nicht als Tragödie im Sturm stecken geblieben. Er hätte den starken Willen zum leuchtenden Sieg geführt, wenn er an uns hät­te denken können, und nicht die leidenschaftlichen Stürme seiner eigenen See­le beschrieben hätte.

 

 

FIN

 

 

 

"O, wonder! How many goodly creatures are there here!
How beautious mankind is! O brave new world
That has such people in't!"

Miranda in „The Tempest“ von Shakespeare

 

Lucia, Germanistikprofessorinnen, fasziniert Ruby einen Studenten. Es kommt zu persönlichem Kontakt. Die Nähe zu Shakespears Sturm und Beethovens Appassionata sind nicht zu verkennen. Wie es sich gestaltet, erzählt die Geschichte. Was ich genau gesagt habe, weiß ich gar nicht mehr, jedenfalls hatte Lucia es so interpretiert, als ob ich jetzt ins Bett gehen würde. Sie griff nach meinem Unterarm, hielt ihn fest und blickte mich tief an. „Ruby, du willst mich für die Nacht allein lassen?“ fragte sie besorgt. Ich wusste gar nichts, ich konn­te auch nicht antworten, überfahren kam ich mir vor. Natürlich, zusammen mit Lucia ins Bett. Welchen größeren Wunsch hätte ich haben können, aber das hatte so fern gelegen, dass ich nicht einmal davon zu träumen gewagt hatte. „Du hast keine Lust, das wir die Nacht zusammen verbringen? Traust dich nicht, mein Liebster, oder was?“ fragte Lucia, weil ich mit meiner Reaktion so lange auf mich warten ließ. Ich sagte auch jetzt nichts. „Du musst ganz stark sein, Ruby, nicht wahr?“ meinte Lucia, als wir dicht aneinander im Bett lagen. „Ich werde alles tun, was in meinen Kräften steht.“ reagierte ich scherzend. Lucia stieß mich zurück: „Ach, Ruby, lass das, ich meine doch nur, dass du nicht so schnell schlapp machen solltest. Quatsch, ich meine überhaupt nichts.“ „Ich würde ja drei Tage und drei Nächte ohne Unterbrechung koitieren, nur die Biologie hat meine Genitalen für so lange Zeiten nicht eingerichtet.“ kommentierte ich. „Sooh, das möchtest du? Für wie lange Zeit sind sie denn eingerichtet?“ erkundigte sich Lucia. „Lucia, ich glaube, das wird nix mit uns, wir sind viel zu albern.“ „Ah ja, der Akt der menschlichen Kopulation ist eine ernsthafte Angelegenheit und erfordert höchste Konzentration, nicht war?“ äußerte Lucia ihre Vermutung. „Nein, Blödsinn.“ ich darauf. „Was erfordert er dann?“ wollte Lucia wissen. „Dass wir Lust dazu haben.“ erklärte ich. „Und die haben wir nicht?“ vermutete Lucia „Nein, wir haben jetzt Lust, Quatsch und Blödsinn zu machen.“ so sah ich es. „Ruby, ich habe dich für sehr einfühlsam gehalten, und das bist du auch, das weiß ich.“ Welche Stürme sich sonst noch ereigneten, und was Lucia darüber hinaus noch alles wusste, vor allem aber, was ihre Bekanntschaft mit Ruby im Weiteren bewirkte, ist in der Erzählung dargestellt.

 

Lucia – The Tempest – Seite 45 von 45

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 29.11.2013

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