Durch den Kampf und die Aktionen des Widerstands gibt es die Chancen zur Veränderung in unserer Welt.
Durch unseren Kampf und unsere Aktionen wird es bald zur Veränderung in der Republik, in unserer Stadt kommen, dachte er.
Durch unseren Kampf und die heute bevorstehende Aktion werden wir den Weg ebnen für das neue Gesetz in unserer Welt.
David war der Sohn des Fischers Manuel Rejas, der in Norddeutschland in einer Reederei und Glasfabrik gearbeitet hatte. Es gab immer wieder karge Jahre, doch die erste Heimat stand viele Jahre nicht zur Wahl. Ehe er ganz ergraute, ein Krebsleiden überstanden hatte und entschied, den Lebensabend und die letzten Tage in Ferreira, an der Küste Portugals zu verbringen, in einer ärmlich geprägten Gemeinde und doch lichtvollen Welt nahe dem Atlantik.
David wollte nicht zurückkehren und mit einem vollen oder dünnen Fischernetz fischen. Er hatte Pläne und Ziele für das Leben in Deutschland, in der Welt, die er kannte und verändern konnte, studierte Rechtswissenschaften und wollte in wenigen Jahren als Rechtsanwalt in einer deutschen Kleinstadt oder Großstadt arbeiten.
Er wollte das eigene Anwaltsbüro möglichst bald betreten, aber es gab viele schwerwiegende Faktoren, die sich gegen das Öffnen des eigenen Büros und den weiteren Weg des Jurastudenten richteten oder aufrichteten. Wie graue, geschützte Mauern oder etliche Barrikaden, die nicht über Nacht errichtet worden waren und nicht in wenigen Tagen des Kampfes und Widerstands niedergerissen werden konnten – trotz der dynamischen, modernen Gesellschaft Deutschlands.
Das größte Hindernis auf dem Weg zum eigenen Anwaltsbüro war ein Gesetz, dass allen Arbeiterkindern der Leibniz Universität, mit den beiden Steinlöwen davor, eine erhebliche finanzielle Last war. Einer gehässigen Benachteiligung glich. Die Gräben, die das Gesetz in ihrer Welt schuf, sagte sich David Rejas, sollten fortgetrieben werden wie Totengräber an solch einem Graben.
Und es ging hier um Würde und Respekt vor dem Volk. Sie waren der Überzeugung, es handelte sich beim existierenden Gesetz um die Schaffung von Bürgern und Menschen erster und zweiter Klasse in dieser demokratischen Republik, für mindestens eine Generation. An diesem Tag in Hannover, dachte David, ging es um dieses die Reichen erhebende und die Arbeiterkinder aussondernde Gesetz.
Alle waren sie mit dem gleichen, naturgegebenen Recht der Würde innerhalb einer Demokratie ausgestattet, ob der Sohn eines Arbeiters, Fischers, Abgeordneten, eines Offiziers, alle wurden sie von einer Mutter geboren, hatten sie Vernunft zum Vergleichen und Aufklären, Fähigkeiten, zwei Hände, die etwas schaffen, aufbauen und sich erheben konnten, ein Herz, ihre Würde.
Wieder dachte er:
Durch unseren Kampf und unsere Aktionen würde es bald zur Veränderung in der Republik und in unserer Stadt kommen.
Durch unseren Kampf und unsere heute bevorstehende Aktion werden wir den Weg ebnen für das neue Gesetz in unserer Welt.
Alle sollten sie die Chance haben in dieser demokratischen Republik den eigenen Weg zu wählen, ein Rechtsanwalt, Arbeiter oder Vorarbeiter, Bürgerrechtler oder gar Parlamentsabgeordneter im Landesparlament oder Staat zu werden. David hatte für die angemessene Abänderung des Gesetzes mit einigen Gefährtinnen und Gefährten eine weitere Aktion vorbereitet.
Denn das Gesetz verhöhnte sie. Der Ideologie dahinter gefiel der Status Quo wie in einer festgefahrenen Schach-Matt-Ausgangssituation. Das Gesetz legte das Fundament für eine Mehrklassengesellschaft und bewahrte dieses Unrecht.
Die Stadt war an diesem Vormittag verschneit. Der Schnee lag auf den Dächern, Autos.
Schneefarbene und matschige Straßen. Sie hatten sich unweit der Löwenstatuen der Leibniz Universität in dicke Mäntel gepackt. Die Gruppe um David stand vor ihrer länger geplanten, wichtigen Aktion, die die Regierenden in der Stadt und im Landesparlament hören sollten, damit das Anwaltsbüro näher kam. Und man später nicht, zurückblickend, diese Jahre als vergeudet und verloren betrachtete. Gar auf magere Fischernetze setzte.
Kurz erinnerte sich David, der die Gruppe in dieser deutschen Stadt anführte bei den Aktionen für ein angemessenes Gesetz hinsichtlich der Arbeiterkinder, an den Bahnhofsplatz vor etwa einem Jahr und an jene Aktion. Damals gab es noch kältere Tage und stärker verschneite Straßen, durch die der Direktor der Leibniz Universität und die Erstsemestler gingen. Schnee, fahle Gesichter, schwere Mäntel und seiner Auffassung nach noch kein bedeutender Schimmer des Durchbruchs oder des Akzeptierens der Protestaktion. Weder durch die Passanten, die sie in jener Nacht informierten noch durch die Regierenden, was natürlich bedeutungsschwerer war. Sie belagerten damals dennoch den Platz an der Ernst-August-Galerie, unweit der thronenden Pferdestatue am Eingang zum Hauptbahnhof dieser Stadt, mit einem riesigen Leuchtstrahler und Banner. Damit die Einwohner und Besucher der Stadt, die Mitglieder des Rathauses und Regierenden über die Aktion und das beabsichtigte Ende der Benachteiligung der Arbeiterkinder redeten, stolperten, während es in der ganzen Nacht schneite, nicht aufgehört hatte zu schneien, für das Auge Himmel, Erde und das moderne Städtebild mit den Straßenbahnen, Cafés, teils dreckigen Dächern vom Schnee überdeckt war.
Und sie den verschneiten Platz bis zur Morgendämmerung belagerten, an ihrem armseligen Lager mit Kaffee und Zigaretten und Bannern ausharrten. Damit man im Regierungsbezirk etwas änderte. Doch noch bedurfte es weiterer Aktionen, denn es hatte bis zu diesem Tage keine Gesetzesänderung gegeben. Doch sie glaubten an ihre Aktionen und eine mögliche Gesetzesänderung: Diese Aktion würde ein Wendepunkt in ihrem Kampf für eine bessere, gerechtere Erziehung und Bildung in Deutschland, die allen zugänglich sein sollte, bedeuten. Denn sie fände in einem Zentrum der politischen Macht dieser Stadt statt, sagte David mit einem noch immer lebhaften, manchmal glühend aufflackernden Eifer in den Augen und im Herzen.
Für die Gerechtigkeit in dieser Gesellschaft, dachte er dann.
Für die Gerechtigkeit in diesem fortschrittlichen Deutschland, in dieser Demokratie, für eine würdevolle, selbstbestimmte Zukunft, die allen ermöglicht wird!
Für die Gerechtigkeit an den Schulen, Universitäten in unserer und in den folgenden Generationen!
An diesem Tag flog der Wind heftiger über den Parkplatz der Universität.
Schneeflocken wirbelten von den Bäumen und der Fläche des gegenüberliegenden ehemals grünen Parks der Universität, ebenso von der Überdachung der Bahnhaltestelle über die Straße zu ihnen.
Der Schnee wirbelte dann mit dem aus der veränderten Richtung herfliegenden Wind von ihnen, vom Platz vor dem Universitätsgebäude und von jener Straßenseite wieder zu den Plätzen und Bäumen der gegenüberliegenden Seite.
Und hinter den eisigen, gefrorenen Flächen und der harten Erde:
Der Kampf gegen das Unrecht in ihrer Welt. Die Aktion und wartenden, unverkäuflichen Banner.
Wegen der gekannten Entbehrungen des Volkes, der Kälte, des Unrechts gegenüber den Arbeiterkindern, der Hürden, den Reichen niemals derart bekannt.
Hunderttausende und mehr Menschen wurden ausgesondert.
In diesem deutschen Bildungssystem fehlt die soziale Gerechtigkeit, zehntausende Arbeiterkinder werden weiterhin durch die Studiengebühren für die Arbeiterfamilien und den beibehaltenen, hohen Hürden ausgesondert. Schluss mit dieser radikalen Auslese, Schluss mit den beleidigenden Gesetzen!
Wir werden diese soziale Auslese niemals akzeptieren, das wache, aufgeklärte Volk wird es nicht! Diese wichtige Aktion wird uns zum neuen Gesetz, zum gerechten System einen Schritt voranbringen!
Es wird und muss viel mehr Ärzte, Doktorinnen, Rechtsanwälte, Journalisten, Lehrer, auch aus der Schicht der Arbeiterkinder geben. Das werden sie nicht verhindern können.
Es verging eine Weile, dann vernahmen sie vom ersten Schlag gegen ihr Vorhaben und bemühten Sieg über die Gruppe an diesem Vormittag. Es hatte etwas Denunziantenhaftes, sagte Ismael, der dünn, von mittelgroßer Statur war, mit kurzgeschorenen, rotbraunen Haaren und ernstem Gesicht.
"Wurde er wirklich festgenommen oder von jemandem verpfiffen?", rief Ismael weiter mit einem aggressiven Schwall, als er es hörte. Er blickte in jedes Gesicht.
"Er wurde festgenommen und sitzt auf der Polizeidienststelle in der Oststadt", erwiderte Esther. Sie war Medizinstudentin, hatte hübsche, hellbraune Augen, doch statt dem Leuchten und der Vorfreude sammelten sich in ihnen jetzt Zweifel, Bedenken, Missmut.
"Von wem hast du gehört, dass er festgenommen wurde?", fragte David.
"Ich hörte es von seiner Schwester", antwortete Esther.
"Du hörtest es von Javiers Schwester am Telefon", vergewisserte sich David.
Esther bejahte.
"Aus welchem Grund nahm ihn die Polizei mit?", fragte Ismael und spuckte auf den Schnee.
"Das sagte sie nicht, weil sie es noch selbst in Erfahrung bringen muss. Aber er sitzt in Gewahrsam."
„Verdammt!", schrie Ismael. "Wieso er? Ausgerechnet dieser gute Kämpfer!"
"Es wird sich sicherlich alles klären und er wird in Zukunft wieder mit uns sein!", sagte der Anführer mit einem Schwall, der jeden Rückschlag überwinden wollte. "Jetzt werden wir nicht mehr komplett sein, aber der Fahrer wird gleich kommen und wir beim mächtigen Zentrum sein", fuhr David fort und nahm seine linke Hand von seiner Baskenmütze.
"Wir hätten ihn gut brauchen können, der würde niemanden verraten", sagte Ismael.
"Er ist aus der Gruppe gerissen, aber wir sind hier und haben unseren Plan und werdens um jeden Preis machen", sagte David mit rauer Stimme.
Die Anderen der Gruppe, Max mit leichter Furcht und gedankenversunken, blickten zu David.
„Er sitzt auf der Dienststelle und wird befragt. Wenn der Fahrer jetzt auf der Straße von einer Polizeistreife festgenommen wird, könnte es für heute vorbei sein“, warf Max ein. Er hatte eine gekrümmte Haltung, der Blick flog schnelllebig über die Gesichter der Anderen, fast ausweichend und dann zeigte er ein fast zufriedenes, gesättigtes Gesicht. "Vielleicht halten sie ihn noch länger fest."
„Wieso sollten sie das, du Schwachkopf? Er steht zu seinem Wort und wird schon herkommen“, schrie Ismael mit offener-aggressiverer Tonart. „Er muss einfach noch pissen, dann steigt er wieder ans Steuer und wird losfahren“, fuhr er mit einem künstlichen Grinsen fort. "Sei nicht so ein kleiner Mann, du bist es jedenfalls, wenn du so redest. Unser altes Mitglied hätte hier anders geredet. Wie ein Mann!"
Die Viertelsekunde, in der Max zu Ismael, dem weiteren Jurastudenten der Gruppe blickte, reichte um beider Wut und Misstrauen zu spüren, wie bei einem Hinterhalt, den man spürte, aber noch nicht offen ansprach.
"Lasst es jetzt. Wir haben unsere Aktion, die um keinen Preis verraten wird!", sagte der Anführer David.
Ismael blickte mit feindseligen Augen zu Max, wollte etwas erwidern, aber sagte nichts und folgte dem Wort Davids. Doch das Misstrauen löste sich nicht aus seinem Gespür.
„Der alte Apparat glaubt, wir akzeptierten alles! Aber wir haben uns organisiert für die nächsten Aktionen! Hier werden wir uns an die Regierenden wenden“, sagte David plötzlich, während er mit dem Finger auf die Stadtkarte zeigte. Ein Kreis, der sich zusammenzog, aber im Gemüt des Rothaarigen nicht komplett und verschworen genug wirkte.
„Hier wird er uns rauslassen. Heute ist ein Tag derjenigen, die nichts verleumden auf dem Weg in ihrem Kampf für eine bessere Zukunft, für eine gerechtere Republik, die nicht die Söhne der Arbeiter verspottet, ihnen nicht ins Gesicht spuckt“, sagte David mit einem ernsten, glühenden, obsessiven Eifer im Gesicht, in den Augen. Er war einer der Gründer der Studentengruppe. Sie hatten ihn auf einem Gruppentreffen mit feierlicher, zeremonieller Art, nach dem Auszählen der Stimmen, zum Anführer gewählt.
Es hatte verschiedene Aktionen in Hannover und im Umland gegeben, unter Davids Führung:
Streiks am Maschsee, die sich für ein neues Gesetz im Landesparlament versammelten, eine Bootaktion auf dem Maschsee selbst mit versinkenden, fast ertrinkenden Leuten, eine Demonstration mit 3000 Menschen und Sprechchören in der Innenstadt, die Lageraktion in der grässlichen Winternacht am Hannoveraner Hauptbahnhof mit dem Schriftbanner "Republik oder Oligarchie? Arm und Reich driften weiter gefährlich auseinander", dann die Erklärungen Davids zur Positionierung der rebellischen Gruppe bei den Pressekundgebungen für das Hannoversche Radio und TV-Kanäle aus ganz Deutschland.
David schob mit verschworenen Pupillen und ernsterem Gesicht seine schwarze Baskenmütze zurück. Er zog seinen Anorak am Hals enger zusammen, der Wind blies heftiger. Man hörte den heftigen Wind stark heulen und über den Platz wirbeln. David blickte zu den Bäumen an der Hauptstraße und der Straßenbahn dahinter, dem verblassten, grünen Park dahinter. Er spürte trotz der Wortlosigkeit, während sie auf den Fahrer gewartet hatten, eine sich steigernde Aufgeregtheit.
„Wenn er kommt", sagte Max dann leise, kaum hörbar. „Und die Aktion überhaupt beginnen kann. Vielleicht soll es nicht sein.“
Wieder wirbelten heftigere, schneidende Dezemberböen an den Platz. David wollte sich an diesem Vormittag mit der Gruppe um Esther, Ismael, Max, Javier und Georg zum Gebäude der Bürgermeisterin aufmachen. Javier war nicht gekommen, vielleicht war er aufgehalten worden, festgenommen worden wegen einer der Polizei zugesteckten Nachricht. Sie hatten keine Nachricht von ihm. Aber bestimmt würde er bald wieder an ihrer Seite kämpfen, denn das hatte er geschworen. Woanders wären sie für ihre Aktionen mit Tritten und Polizeistöcken geschlagen worden, in eine verdreckte Zelle wie ein Tier abgeführt worden, aber sie lebten nicht in einem totalitären Staat, nicht unter einem Regime, und glaubten, dass die Republik ihnen dieses Recht zugestehen musste. Wenngleich David und Esther schon einmal bei einer Aktion in einem Rathaus einer weiter im Norden des Landes gelegenen Kleinstadt in Handschellen abgeführt worden waren, aber jetzt schreckte sie das auch nicht ab.
Es war ihnen äußerst wichtig, dass sie am mächtigen Gebäude der Bürgermeisterin ihre Aktion umsetzten, weil sie es, so sagten sie, für viele in der Stadt und im ganzen Land umsetzen mussten. In dieser Zeit des gesetzlichen Trennens in Arm und Reich, in einen Menschen mit einer besseren Zukunft und einen ohne Zukunft, nicht kampflos bleiben durften und ihre Aktionen etwas verändern würden, auch wenn der Gipfel der Starrheit und Ignoranz und Abwehr vor der Gruppe schier unüberwindbar aufragte.
Auf der Motorhaube studierte David indes jene Karte, die zum majestätischen, offiziellen Platz wies, an dem ihrer Sache sicherlich geholfen werden konnte. Einem beinahe allumfassenden Gerichtsgebäude gleich. Es würde eine wichtige Aktion werden, erklärte David. Die Gruppe wollte in dieser Zeit nicht einer Erniedrigung erliegen. Sie wollten nicht schlechter leben müssen und schlechtere Wege erhalten, weil es ihnen vorgegeben wurde schlechter leben zu müssen. Wir sind zwar nicht in einem richtigen Krieg mit Soldatenheeren wie in den 40ern oder wie die Menschen vor Hundert Jahren, aber dieses Gesetz erschüttert in langer Ernsthaftigkeit unsere Zukunftsvorstellungen, dachte David Rejas. Wir müssen Unbeugsame bleiben.
Eine ihrer Gefährtinnen, Azra, war bei einer Aktion, als sie zu dieser fuhr, ums Leben gekommen, nachdem ein Lastwagen sie auf dem Roller nahe Stadthagen erwischt hatte. Es war zwei Jahre her. Aber auch ihr waren sie es schuldig, dachte David. Es war ein sehr hübsches und engagiertes Mädchen gewesen, der sich der Himmel angenommen hatte. Die Tote war nicht umsonst!
Die Gesichter Davids, Esthers und Ismaels spannten sich wieder in glühenden, verschworenen Zügen, während sie die Strecke und das Vorgehen während der Sitzung besprachen. Sie waren nicht geschlagen worden von der Starrheit des Regierungszentrums in dieser Stadt.
Doch Maxs Blut floss scheinbar durch weiche und harte, bedrängende Schatten der Unentschlossenheit, denn noch verschanzte er sich hinter einer seltsamen Zurückhaltung und Wortlosigkeit.
Manchmal lechzten die Sonnenstrahlen an den Rasenflächen und schimmerten an den Fenstern der Fakultät. Ein Mann mit einem irischen Setter stakte vorüber, sich gegen den heulenden Wind arbeitend, am Himmel die wilden Wolken. Sie warteten auf den Fahrer und der Feuerkopf rechnete vor der Aktion fest mit listigen, verräterischen Wendungen, wie bei einem Hinterhalt, die Abwesenheit seines besten Freundes deutete er als schlechtes Omen …
David blickte unter dem knappen Schirm seiner Baskenmütze flüchtig über die eingetragenen Stadtringe und Querstraßen nahe des angepeilten Vorortes auf der Karte, die er in einer Plastikbox vor dem Wind schätzte. Blickte auf den seltsam, winzigen Punkt: Nahe des verwaltenden, machtvollen Gebäudes, in dem Frau Stetten den Hauptsitz der Verwaltenden und Regierenden in dieser Stadt innehatte. Er ging an die Seite des Odyssee Van. Einige Meter entfernt rauchte Max eine Zigarette. Der Zigarettenqualm wurde vom Wind zerrissen. Unter seinem Arm klemmte ein Plakat. Ein Seil ringelte sich um seine Schulter. Max war abseitig. Ismael ging mit festen Schritten auf David zu, der an der Wagenseite lehnte, mit fast erloschener Zigarette.
"Der Fahrer wird nicht verhaftet worden sein."
"Das darf er nicht. Die Banner und Materialien sind auch bei ihm."
Im Wagen presste Esther das BFA-Banner in einen Pappbehälter. David ignorierte noch immer das armselige, schwerfällige Taumeln Max, weil er ja bislang für die Sache gestritten hatte und nichts verraten hatte … Er wird sich fangen, er ist hergekommen, weil er herkommen wollte. Kein feiger Hund!
David rauchte auf und stieß sich bald vom Wagen ab. Mit der anschwellenden Unruhe in der Gruppe und dem Gedanken an das mächtige Administrationszentrum bekam sein Blick wieder einen entschlosseneren Ausdruck. Seine Augen stachen funkelnd und bestimmt zu den Gesichtern der Gruppe an der Wagenseite. David hatte schwarze, krause Haare, hellbraune Haut, eine leicht gebogene Adlernase und ein Körpermaß von 1, 91 Meter. Ein Sohn portugiesischer Fischer und Fabrikarbeiter, die in den 60er Jahren mit dem Zug aus dem atlantischen Fischerdorf Ferreira zunächst nach Hamburg gereist waren. Nachdem sein Vater, Manuel Rodrigo Rejas, schließlich einen mehrjährigen Job in der Reederei des Hamburger Hafens quittieren musste, waren sie nach Ostwestfalen – nach der Einstellung und dem Beginn der Produktionsarbeit in einer Glasfabrik – gesiedelt. Vor zwei Jahren war sein Vater zurück nach Ferreira, mit einer knappen 800 Euro Rente, ins karge Fischerdorf am atlantischen Ozean zurückgekehrt. Die Erde der Ferne behielt er in seinen Adern, seinem Herzen. David war schon früh ihr Anführer geworden, der die bisherigen Aktionen in der Stadt mit energischem Haupt und Herzen organisierte und anführte.
Bald durchbrach er die Wortlosigkeit, wie eine Einschüchterung.
„Jeder hier will mit dem Protest diese verfluchte Ungerechtigkeit gegen die Arbeiterschicht beenden und die Demokratie nicht den Eliten überlassen“, sagte David. "Heute werden wir etwas Bleibendes dafür tun."
Schönes Leuchten in den Augen Esthers.
„Ich weiß nicht“, erwiderte Max. „Ich weiß es nicht.“
„Wenn wir nicht auf unser Recht verzichten, wird es sich alles ergeben“, sagte David.
„Das muss es, solange niemand aus der Gruppe zum Feigling wird“, spottete Ismael. Seine Augen schnellten abfällig zu Max, der es nur mit einem widerspenstigen Winkelzug an den Lippen wahrnahm, seine Arme vor dem Bauch zusammentat. Doch schon bald blickten sie zur anderen Straßenseite. Denn der Fahrer kam nun am Pissoir der gegenüberliegenden Straßenbaustelle entlang und stellte sich schließlich zur Vierergruppe nahe der Motorhaube. Etwas später würden sie noch Georg Scheer, ein anderes Gruppenmitglied, auf dessen Loyalität sie setzten, in der Nähe des mächtigen Gebäudes treffen. David ging zur rechten Wagentür, wo er nach der beschrifteten Fahne auf der Rückbank im Wagen blickte und schritt zur Gruppe.
"Endlich!"
Auf der Karte zeigte er dem Fahrer, der ihnen einige Banner übergab, bald das Ziel ihres Protestes an und faltete die Karte wieder zusammen.
„Schön, schön“, sagte der Fahrer. "Schön, schön", wiederholte er. David gab dem Mann in bestimmter, sachlicher Art die Order in den Wagen zu steigen. Der Mann glitt hinters Steuer.
„Es wird ernst, Leute.“
„Das muss es, damit wir selber in Zukunft, wie Männer über unsere Zukunft bestimmen."
Schließlich verließen sie den Universitätsbezirk. Nach einer Weile brausten sie an Straßenbahnstationen, Plakaten für ein Jazzfestival nahe der Ernst-August-Galerie und Werbeplakaten der Sozialdemokraten, Liberalen und Konservativen, die an den Baumstämmen klebten, vorüber und das seit über zwei Jahren in der Gruppe befindliche Mitglied Ismael stritt sich kurzweilig mit Max, der bislang nur drei Treffen begleitet hatte. Er ist ’n richtig Loyaler und Mutiger geworden, ein richtig guter Junge geworden, zog ihn Ismael auf. ´n komischer Junge geworden, der Max! Der Eine will, aber wurde von irgendwelchen Bullen gehindert, der Andere sitzt unter uns und will sich raushalten, weil er kein Mann ist, obwohl wir beinahe bei der Bürgermeisterin sind, so ein loyaler und mutiger Gefährte ist der Max geworden!
Um Haaresbreite gerieten sie aneinander und flogen Fäuste.
"Lasst es! Wir brauchen jeden im Regierungsgebäude", gebot ihr Anführer.
Nach mehreren Minuten bogen sie in eine Querstraße ein, an der sich in Reichweite die wuchtigen, klassischen Eingangssäulen des Gebäudes mit der Bürgermeisterin aufrichteten. Der Fahrer drosselte den Motor.
Der Schnee lag auf den Stufen zum mächtigen Gebäude, Dächern, Autos, schneeweiße und wie zugefrorene Seitenstraßen.
David nahm seine Baskenmütze ab und verstaute sie auf der vorderen Ladefläche. Der Andere und Esther schnellten hinaus. Kurzes Gerede. Die dünne Sonne schimmerte auf den Dächern und Isolierflaschen, die sie zurücklegten und in den Fahnen und Filzbannern, die sie mit sich trugen.
Das Team hielt sich an einer erschütterten Höhe, als ob ein schwerer, bedrohlicher Hieb ihren frühen Siegestaumel traf, während Max sich etwas vom Wagen entfernte. David ermahnte sie. Er sprach von ihrem solidarischen Schwur. Er wollte wieder mit bestimmender Geste die Gruppenführung übernehmen, wie auf einem Schiff ein älterer Bruder oder erster Mann, der nun in dieser Stadt, in ihrer Zeit, als Anführer ihrer Gruppe vorstand, ungewiss, wie sich alles entwickeln würde, aber hoffnungsvoll, ungeschlagen, kämpferisch und für eine brüderliche Republik mit gerechteren Gesetzen im System für die Arbeiterschicht kämpfte.
„Das sind nicht unsere Gesetze. Ihre Gesetze sind nicht gerecht und nicht für das breite Volk. Sie sind nicht für die vielen fleißigen, guten und klugen Leute, die zu einer goldenen und würdevollen Zukunft wollen, aber es nicht dürfen. Weil zu viele Hürden auf dem Campus für die Arbeiterkinder aufgestellt worden sind. Vergesst das nicht. Sie sollen nicht nach oben gelangen, weil es einige Kreise nicht wollen. Aber wir wissen, das dieses Gesetz die Gesellschaft teilt, in diejenigen, die in reiche Familien geboren wurden und in jene, die als Arbeiter- und Migrantenkinder, hier etwas mit all ihren Fähigkeiten, Stärken zum Wohl dieses Landes errichten wollen.
Wir wissen, was dieses Gesetz bedeutet und wen es benachteiligt. Niemand soll glauben, er könne uns blenden. Wir werden diese Aktion heute durchführen und das Gesetz wird sich schon bald ändern!“, sagte David entschlossen. Er blickte in die Gesichter der beiden Anderen, während der Schwankende noch immer entfernt an einer Straßenlaterne verharrte. Wieder waren sie zusammen, sagte Esther, wie am eisigen, geselligen 16. Januar vor dem Hauptbahnhof und im Herbst auf dem Maschsee, wo sie aus dem eisigen See ans Ufer schwimmen mussten, und sich danach sehr müde und elend fühlten, mit der schweren, nassen Kleidung, aber nicht aufgegeben hatten.
David blickte von ihnen zu den Säulen des prächtigen Gebäudes. Es imponierte David, auch wenn er es sich klein machen wollte. Aber es bündelte Staatsmacht, Autorität, Souveränität, Hoheit, zudem Freiheit, die Prinzipien der Demokratie, eine Plattform des Diskurses, und die Möglichkeit, die Gesellschaft mit voranzubringen und zu verbessern. Für einige Sekunden fühlte er sich eingeschüchtert und auch die Gründungsmitglieder Esther und Ismael blieben still. Dann dachte David wieder an ihre Sache. Bald würde auch Georg dazustoßen. Sie würden sich nicht unterordnen oder unterwürfig zeigen, sondern das Notwendige einfordern, diese Aktion würde sie schon zum Ziel bringen und bald beginnen.
Bald stakte David zur Straßenecke und schaute kurz, ob er Georg sehen konnte, als Max schon zwischen dünnen, eisigen Straßenlaternen zu ihm kam. David blickte zum raunenden Wimmeln der Wagen und Straßenknoten, dann zu Max. Die schwankende, tatterige Stimme flog her im eisigen Wind.
„Ihr bleibt wirklich hier?“, fragte er.
„Wir bleiben hier“, erwiderte David und blickte in sein von der Kälte und im Wind rötlich gewordenes, gedunsenes, angegangenes Gesicht.
„Die Festnahme war kein gutes Omen. Lasst es uns besser verschieben."
"Wir werden die Aktion heute durchführen."
Keine Antwort.
"Wir werden das Banner ausrollen und werfen auch die ganzen Flugblätter aus, die wir gedruckt haben“, fügte der Anführer hinzu.
Wieder keine Antwort und nach einer halben Minute, während der Wind heftiger durch die Straße heulte und den Schnee mit wirbelte zu ihnen und dem Wagen:
„Was ist wenn Georg wie der Andere auch auf der Dienststelle sitzt - in Handschellen oder in einer Zelle im Polizeigebäude.“
„Das wird er nicht, Junge. Er ist kein Verbrecher und wird bald auf freiem Fuß sein. Hast du gehört! Und wenn wir reingehen, wird auch Georg hier sein und die Flugblätter dabei haben“, unterbrach ihn David mit einem Schwall der Wut gegenüber der Furcht oder List und verräterischen Zunge, dachte David.
„Aber lohnt' s sich wirklich?“
"Die Arbeitersöhne haben ihren Stolz nicht vergessen. Sie wollen später nicht ein Leben lang die Arbeitskarte in einem zehrenden System stempeln“, erklärte David.
„Es wird immer die wenigen Herrschenden und Regierenden geben."
„Wenn die Unbeugsamen es schafften eine moderne Demokratie in Deutschland zu errichten, und die Unbeugsamen es in der Vergangenheit in Europa schafften den Absolutismus im 18. Jahrhundert in Frankreich niederzuringen, die Bastille zu erstürmen, die Bedingungen der Arbeiterschaft durch Kämpfe weit voranzubringen, man die Demokratie gegen den Obrigkeitsstaat erkämpfen konnte und kann in der Welt, dann wird man auch in unserer Zeit diesen Zustand und dieses Gesetz im Bildungssystem abändern können. Wir wollen ein weiteres Gesetz verabschiedet sehen für die Gerechtigkeit und zur Abschaffung der Studiengebühren. Deswegen sind wir hier. Die Gruppe und Hunderttausende glauben fest daran! Damit man eine wirkliche Demokratie schafft, auch im Bildungssystem vorankommt, mit allen Vertretern des Volkes in den führenden Stellen, nicht nur des Establishments und der Alteingesessenen", sagte David mit fester Stimme.
„Es gab immer die Macht und Überlegenheit der Wenigen, ich glaube nicht, dass sich etwas ändern wird.“
„Wenn man in einer Kanzlei arbeiten will, vielleicht am Opernplatz oder in zwei verschiedenen Städten mit einem Partner, seine Mandanten vertreten will, dann gehört der Kampf für eine bessere Gesellschaft in dieser europäischen und deutschen Gesellschaft dazu. Damit jede Studierende und jeder Studierender aus einem ärmeren Elternhaus bis zum Ende des Studiums an der Fakultät bleiben kann, und nicht wegen dem fehlenden Geld, wegen des falschen Systems, wegen der falschen Gesetzen, die großen Träume begraben muss“, sagte David.
"Wir organisieren uns und stehen für die Rechte der Arbeiterkinder ein. Durch dieses Organisieren nehmen wir es aus den Händen der Wenigen und werden ein Gesetz veranlassen, dass den Hochschulzugang nicht an Gelder und den Kontostand der Eltern bindet. Das werden wir einleiten."
Er blickte über sein von der Kälte gezehrtes Gesicht, das nun offener eine Abkehr spiegelte. Davids hellbraune Augen schnellten über das Profil mit dem Baumwollmantel und kurz zum Regierungsgebäude mit den mächtigen Stufen und kurz zur Gruppe, dann wieder zu Max Augen, die eine unverblümte, anmaßende Abkehr und Pessimismus beherbergten. In sich spürte er Wut, die er zurückhielt.
„Ein Gesetz, dass die Arbeiterkinder entlastet, wird es nicht geben", sagte der Andere.
Max drückte den Kragen seines Baumwollmantels zu, nieste, hielt seinen Kopf tiefer im Kragen und verschloss seine Arme diesmal vor der Brust. Sein Gesicht fügte sich zu einem fahlen Dreieck: Einer Dreieinigkeit des Pessimismus, des Zurückziehens und sich Abfindens, ein Feigling. Er ist ja nicht lange dabei. Den Mut gab es aber bei den anderen Gruppenmitgliedern, dachte der Anführer.
„Wir verhandeln trotzdem“, sagte David, "selbst wenn wir nicht sofort das neue Gesetz kriegen, werden wir direkt vor der Bürgermeisterin und den weiteren Landtagsabgeordneten die Aktion durchführen und näher an das neue Gesetz kommen. Das schwöre ich bei Azras Tod! Das sind wir unserer früheren Mitkämpferin, uns selbst, den vielen Betroffenen, dem Prinzip der Gerechtigkeit schuldig."
Seine Augen glühten. Ein falsches Wort, dachte er, und er würde dem Verräter jetzt eine verpassen. Kurz dachte er, vielleicht macht er den Rückzieher nicht wegen eines politischen, gesellschaftlichen Grunds, nicht wegen der Furcht vor einer möglichen Festnahme. Vielleicht will er gegen unser Team und unseren Zusammenhalt arbeiten, wie ein listiges Schwein. Er riss sich zusammen, wollte jetzt nicht den Plan und die besprochenen Phasen ihrer wichtigen Aktion gefährden.
Max war still. Dünne, unbewegte Lippen, nicht standhaltende Augen. In ihm glimmte kurz ein Anflug der Genugtuung, dachte David, aber er wagte nicht mehr zu sagen. David begegnete ihm mit wütend aufblitzenden Augen, aber drehte sich dann zur Gruppe.
Er blickte vom Feigling zum Straßenknoten. Davids Augen kontrollierten den Straßenknoten wie einen Hügelanstieg, an dem die unbeugsame Silhouette Georg Scheers bald auftauchte, wie eines treuen, mutigen Verbündeten vor dem Hauptkampf, nicht den Kampf und Protest fürchtend.
David knöpfte seinen Mantel mit kalten, doch leichteren Händen etwas auf.
„Endlich!", rief er seinerseits mit Genugtuung in der Stimme und im Gesicht. "Selbst die von Kerkern und Henkern gefährdeten Aufklärer und Kämpfer aus dem damaligen, vom König ausgebeuteten Frankreich oder anderer demokratischer Republiken hätten sich heute dieser Aktion angeschlossen und sie sogar geführt“, sagte David lachend und triumphierend.
"Das ist deine Niederlage, nicht die der Gruppe! Und das wegen deiner Feigheit."
Max Augen blitzten auf, er blieb still und blickte wie aus einem ärgerlichen, vorgeführten Gesicht vom Anführer zur Gruppe. Er sagte kein Wort mehr. Davids kurze Verbitterung wurde wieder partisanenhafter, stolz und zuversichtlicher.
Er drehte sich zur Gruppe. Die Gruppe wuchs mit Georg wieder. In der Zwischenzeit hatte die Sitzung im Verwaltungsgebäude längst begonnen und ihre Aktion würde gleich beginnen. David drehte sich vom Anderen ab, kehrte zurück zum Team und Odyssey Wagen, während der Andere über den Bürgersteig der Straße fortging.
Doch ehe er an einen Sieg und den Verlauf der Aktion dachte, spürte David plötzlich eine Glut, die an ihr Vorhaben drängte und nun Furcht vor einem weiteren Verrat, vor dem Auftauchen eines Polizeiwagens und dem Festnehmen weiterer Mitglieder in seine Vorstellungen und Überlegungen zerrte, wie ein eisiger Schauer. Vermutlich hatte der Verräter heute früh ihr festgesetztes Gruppenmitglied an die Polizei verraten, ihn bei einem Telefonat mit schmutzigen, üblen Unterstellungen denunziert. Kurz sah er sich wie an einem verschlingenden Graben. An der anderen Straßenecke hielt er kurz inne.
Nach einer halben Minute erhob er sich wieder, ließ sich nichts anmerken und ging auf die Gruppe zu. Kurz dachte er an die erbärmliche Kälte bei der Winteraktion am Hauptbahnhof, doch die schien bei weitem wohlwollender als die Wendungen in den letzten Stunden, die Festnahme ihres Freundes, Weggefährten und Kameraden, wie Feindseliges und Blitze über den Protestplätzen, eine Hinterlist, die die Durchführung ihrer Aktion ernsthaft bedrohte und sie bezwingen wollte. Beinahe hätte ich diesen Feigling geschlagen, dachte er wieder mit aufwallendem Blut, aber wir haben die Verschworenen, die es zum Ende bringen werden und siegen werden mit einem neuen Gesetz, dachte ihr Anführer dann.
Bald hörte er schon Georgs Stimme.
Er schritt auf ihn zu. Sie umarmten sich und Davids Augen glänzten nach den letzten, ringenden Minuten, mit einem Schwall aus Freude und aufblitzendem Misstrauen. Aber er ist loyal und wird zu uns in allen weiteren Tagen und bei den lauernden Schlägen und Stürmen halten, wie ein Boxer, Ringer, Kämpfer. Wir brauchen ihn, wir brauchen ihn äußerst dringend. Es darf nicht wie mit dem Feigling werden! Das würde die Gruppe vielleicht zerstören. Aber bislang war er ein ehrlicher Weggefährte, Verbündeter und ein loyaler Streiter, ein Kämpfer, der sich gedulden konnte und es nicht verraten durfte, dachte David. Georg war stämmiger als David. Hochgewachsen glich er in seiner Körperlichkeit einem Schwimmer oder Ringer im Freistil. Georg Scheer – Psychologiestudent - gehörte zur Gruppe und jetzt war es angebracht, dass er hinzukam. In der Vergangenheit widersetzten sie sich gemeinsam - ehemals im stärkeren Schwall bei ihren Aktionen am Hannoveraner Hauptbahnhof, im Boot auf dem Maschsee, bei den Protestmärschen in der Georgstraße, -, der ihrer Ansicht nach, widerlichen Ungerechtigkeit gegenüber dem Volk, gegenüber den Millionen, die arbeiteten, jedoch weniger verdienten in der Republik und wollten sich organisieren. Nun war er mehr und mehr froh, dass der Ringer mit ihnen war. Wir brauchen ihn dringend in der erhabenen, wichtigen Sache im Regierungsgebäude!
Endlich konnten sie hineingehen.
„Schön dich zu sehen, Georg. Hast du ’s schnell gefunden?“, klopfte er Georg auf die Schulter.
„Nach der Münzstraße ging es schnell“, antwortete Georg.
Zwei, drei Minuten vergingen, in denen die anderen ihn im Gespräch von der Verhaftung des Freundes am Morgen erzählten, denn Esther hatte mit einer Polizeidienststelle telefoniert und dies tatsächlich in Erfahrung gebracht. Der nähere Grund zur Festnahme wurde nicht geäußert. Dann die Furcht, Mutlosigkeit und Unterwürfigkeit des Anderen. Sie weihten Georg, er war ihr Ringer, ein vor der anstehenden, feierlichen Aktion.
An der Straßenecke kreuzten und hupten Busse, einige Passanten schritten entlang eines Cafés. Georg behielt seinen gefestigten, fast eingeschärften Ausdruck an den Wangen und am Kinn. Er stellte seinen Stiefel auf den eisnassen, teils verdreckten Wagenreifen und schien in der leicht gekrümmten Haltung, mit seiner Statur, trotzdem nicht kleiner zu werden.
"Vermutlich wird er gleich zurückkommen ...“, sagte Georg dann.
„Ach nein, der Schweinehund ist nicht mehr mit uns“, erwiderte Ismael. Mit dem Ring - und Zeigefinger putzte er über das Banner mit dem Schriftzug. "Aber wir haben die Banner und die werden wir ihnen präsentieren!"
„So ist es richtig."
"Wir machen es jetzt, selbst wenn sie uns verklagen wollen“, erwiderte Esther mit einem schwachen Lächeln.
„Eine Generation klagt an, weil das Gesetz unsere Generation, eine breite Arbeiterschicht von den Fakultäten und dem verdienten Brot, vom dem würdevollen, selbstbestimmten, besseren Leben abhält", sagte David mit wieder sich fassender Stimme und blickte ernst in die Gesichter der Gruppe.
Schließlich machten sie sich bereit. David fragte Esther nach dem Banner. Die Medizinstudentin, aus einfachen Verhältnissen stammend, ihre Mutter war Hausfrau, der Vater arbeitete in einem Farbengeschäft, ging zum Wagen, beugte sich zur Rücklehne, streckte sich über einen Korb mit Zigarettenpackungen, Brotproviant, Äpfeln, Kaffeebechern und griff einen der Banner mit den auflehnenden Sätzen aus dem Wageninneren, den sie ihm überreichte. Angespannt und mit fast widerständiger Unbeirrtheit in den Pupillen blickte er über die Front der Windschutzscheibe zum verwaltenden Gebäude ... In der weißen und metallenen Straße schritten sie jetzt tatsächlich zu der wichtigen Regierungsstätte und dem hohen Verwaltungsgebäude.
„Los Leute!“
„Endlichhh!“
Ihre Blicke richteten sich zum mächtigen Gebäude im Vorstadtviertel. Die Gruppe will mit mutigen, stolzen Herzen gegen eine Ungerechtigkeit an den Universitäten und an weiteren Plätzen der Republik einstehen, dachte David, während ihre Schritte hörbar waren.
David ging voran und blickte zwischen den Säulen des Verwaltungsgebäudes zum Haupteingang wie zu einem gewichtigen, erheblichen Tor ihrer Sache.
„Jetzt werden sie es auch hier hören“, sagte David mit dominanter Tonart und dem Schwall des unerschütterten Glaubens an ihre Sache. Seine hellbraunen Augen funkelten, das Blut ihres Anführers floss schneller in den Adern.
„Passt auf eure Banner auf“, sagte die Irin aufgeregt.
Sie kamen näher.
Das Gebäude positionierte sich wie in einer breiten, prächtigen Verwaltungssilhouette und richtete sich auf - mit einem Nachdruck der Stille, Erhabenheit und rigiden Macht, und irgendeiner republikanischen Geschicktheit unter dem graublauen Vormittagshimmel dieser Stadt. Ihre Konturen näherten sich den sauberen, gewichtigen Säulen. Schneller, explosiver Pulsschlag.
Sie gelangten hinein, bald jagten die Blicke zur entscheidenden Stuhlreihe. Wir können etwas für die Arbeiterkinder in dieser Welt erreichen, ihnen sollen keine Türen nach oben verschlossen bleiben!
David gebot: „Noch etwas nach hinten. Los, hierher!“
Die Gruppe schob sich wie eine zusammengewachsene Einheit zu ihm. Die Köpfe der Zuhörer suchte er mit vorsichtigen Blicken ab.
„Gleich Leute!“
Esthers und Georgs Blicke flogen zu David. Am Redepult des Saales erblickten sie die Bürgermeisterin. Noch hielten sie sich mit den Rufen zum Widerstand gegen den unakzeptablen Zustand, der die Reichen des Landes bevormundete, zurück. Neben ihm hielt Georg indes mit nervösen Fingern die Flugblätter bereit.
Am Redepult erläuterte Frau Stetten, eine preußisch ausschauende, blondhaarige Frau mit Zopf, feinem Rollkragenpullover und Blazer, in hallender Stimme etwas zu den beabsichtigten Investitionen in den Bürgerpark jenes Stadtbezirkes, zum möglichen Ausbau des Straßenbahnnetzes und zu den verschiedenen Stadtprojekten.
David entknotete indes einen der breiten, hellgrünen Filzbanner. Das Seil steckte er in seine Jacke. Rasch breitete er das Filzbanner über drei der Stühle wie eine nun leuchtende Flagge der Unbesiegbarkeit und Kampfbereitschaft aus, während Georg den Flaggenrand fasste, und es über den vierten Sitzplatz entfaltete.
Dann hoben sie das Banner an mit dem Schriftzug: "Gleichheit für Arm und Reich auf dem Campus! Weg mit den beleidigenden Gesetzen!" und damit die Rufe, die zur Abänderung der bestehenden Gesetze aufriefen. Und ihr Protestaktion verwirklichten sie endlich:
"Schluss mit den Studiengebühren!! Schluss mit den beleidigenden Gesetzen! Gleichheit für Arm und Reich auf dem Campus!", hallten ihre Sprechchöre der sich Auflehnenden durch den machtvollen, hohen Saal...
Schon im nächsten Moment unterbrach die Bürgermeisterin ihre Rede. Kurzes Chaos und aufkommende Unruhe.
"Bildunnggggg für alllleeee--- Bildung und ein Gesetz für das ganze Volllkkkk!“
Sie riefen, riefen. Wieder durchsiebten sie die Luft.
„Gleichheittt ----- Gleichhheeiiitttt --- für alleee auf dem Campus, und zwar soforrrrrttttt! Wir sindd dieee Stimmee des Voollkesssss! “
Vielleicht wird sie es in den nächsten Wochen aufgreifen und es für die nächsten Jahre etwas bewirken: für neue Gesetze und Machtverhältnisse im Zeichen der Mitbestimmung, Gleichheit, Demokratie, nicht der Klassengesellschaft, der Zweiteilung, der Zurückweisung und Oligarchie, dachte David, schneller atmend. Doch schon entrollte Ismael ein weiteres großartiges Banner mit Esther, welches ebenso lang, gewichtig und leuchtend war wie das erste Banner. Ihre Stimmen echoten und durchkämmten angespannt, etwas verwundet und dringlich den Saal.
“Gleichheittt ----- Gerechtigkeitttttt --- ein Bildungsgesetzzz für das ganze Volllkkkk!“
Sie riefen, riefen. Wieder durchsiebten sie die Luft.
„Gleichheittt ----- Gerechtigkeittt für alleeee --- für alleee auf dem Campus, und zwar soforrrrrttttt! Wir sindd dieee Stimmee des Vollkessss! “
Georg kletterte einige Stufen hinauf und warf die Flugblätter aus. Sie segelten nahe der Bürgerinnen, einiger Parteimitglieder und Verwaltungsvertreter. Flugblätter, die auf die eklatante Auslese an vielen öffentlichen Einrichtungen und Instituten der Republik hinwiesen. Viele Arbeiterkinder seien gehindert worden wegen der Hürde, den Kosten, die viele nicht zahlen konnten - dem zwei teilenden Gesetz in einer modernen Republik … Darauf ein Schriftzug, wie: Die Welt gehört dem freien, herrschenden Volk!
Schluss mit den Studiengebühren und der sozialen Auslese!
Jetzt hören sie uns, dachte David, jene Arbeiterkinder, die ebenso in gut entlohnenden Betrieben und Kanzleien arbeiten wollten. Eine verfluchte, erniedrigende Auslese musste beendet werden! Schon bald sprangen zwei Ordnungskräfte wie Wachhunde her und drängten sie hinaus und bald schritten sie die Stufen hinab und aus dem Gebäude. Ismael und Georg widersetzten sich auch nicht, akzeptierten es, denn ihre Aktion hatten sie durchgeführt. Vor dem Verwaltungsgebäude drohten sie ihnen noch mit einer Anzeige.
Doch bald gingen Esther, David und die Anderen wie siegreiche Kämpfer und mit stolzen, unverkauften Fahnen zurück zum Odyssey Van. Schimmerndes, aufgeregtes Blut. Die Polizei hatte nicht aufgelauert und niemand wurde in einem Wagen abgeführt. Es gab hier keinen Verrat!
Sie waren alle froh.
„Die werden sich gewundert haben“, sagte Georg.
Die anderen verstummten für eine Weile. Noch spürten sie die besonderen Minuten in ihren Knochen, leidenschaftlich, verdichtet.
„Aber vielleicht wird die Bürgermeisterin endlich wirklich behilflich sein und es mit voranbringen“, sagte die Medizinstudentin Esther bald.
„Sie muss verdammt!“, sagte der Ringer.
„Sie muss es gegen das verdorbene Gesetz für die Reichen.“
„Die Aktion wird natürlich nicht reichen“, sagte David nüchtern, gleichsam stolz und etwas müde. Seine Augen ballten dabei wieder einen edlen Sinn, empfand Esther, die sich über den Schimmer einer Grübelei oder lauernden, auszehrenden Angst schoben. Dann gingen sie weiter und erreichten den Odyssey Van am Rand der prächtigen Verwaltungssilhouette. Der Fahrer eilte zu ihnen.
„Ihr seit schon zurück."
„Ja."
"Wie liefs?", erkundigte er sich.
"Es lief ordentlich“, sagte Ismael und zwinkerte ihm zu.
„Soso“, schnalzte der Fahrer mit grinsendem, einfältigem Gesichtsausdruck.
„Es war wirklich ordentlich“, sagte Georg und zwinkerte.
„Schön, schön“, erwiderte der Fahrer. “Hier also hat es euch und die junge, angehende Ärztin Esther hingeführt“, sagte der Mann mit den Schlüsseln und lehnte an den Wagen. "Schön, schön", wiederholte er.
„Er mag dich Esther und wird dich bestimmt auch bei deiner möglichen Praxis nicht im Stich lassen“, sagte Ismael.
Der Fahrer lächelte. Sie gingen zum Wagen. Unter der bleiernen, frischen Gräue des Himmels fuhren sie bald wieder zurück. Schneeweiße Dächer, wieder wirbelnder Schnee in den Straßen, in der Ebene.
Sie steuerten in die Stadt und trennten sich vorerst, ehe der zweite Teil ihrer Aktion angegangen werden sollte; es war eine stolze Fahne in der Welt gehisst worden, die auch am Nachmittag nicht fallen durfte, dachte ihr Anführer.
„Ihr kommt später zum Klagesmarkt“, vergewisserte sich David.
„Ich hab dir zugesagt“, sagte Georg. Er fühlte sich nicht mehr wie in jenen Sekunden, in denen er die Flugblätter im Verwaltungsgebäude und bei den Regierenden bereithielt.
"Dann geht es weiter später am Klagesmarkt."
Bald trennte sich die Gruppe. David fuhr mit der Straßenbahn zum zentralen Kröpcke Station, stieg hinauf zum Platz, der schneeweiß, sonst zumeist von Menschen bevölkert, und jetzt nur wenige Besucher aufwies.
Vor dem Nachmittagsprotest am Klagesmarkt trennten sie sich also. David saß Minuten später in einer Pizzeria, wo er ein Hähnchenbaguette und Tomatensalat aß. Später ging er in ein Cafe, trank einen Espresso. Hörte eine junge Gruppe über den Wechsel des Wetters aus Eisregen, Schnee, Sonne reden, über einen in der Vorwoche abgehaltenen Protestmarsch und Demokratiemarsch am Klagesmarkt für bessere Lohnbedingungen sprechen und dann über die Spiele von Hannover 96 und des Wasserballvereins Waspo mit Gästen aus Kroatien.
Der Espreesso war sehr gut und es war gut, jetzt nicht auszuharren. Er rauchte bald eine Zigarette. WIr haben die erste Aktion am Vormittag gut hingekriegt und das Organisieren und Protesieren und Anmahnen wird sich auszahlen für diese Gesellschaft, dachte er. Es ist der richtige Kampf gegen die so titulierten wenigen Hundert-Euros, die monatlich eingefordert wurden für den Universitätsbesuch, über Zigtausend Schicksale und Lebenspläne der Arbeiterkinder richteten - wie ein falscher Richter, strafend über vergangene, diese und weitere Generationen von Arbeiterkindern ...
Für die Gerechtigkeit in dieser Gesellschaft, dachte er wieder wie einen Psalm aussprechend in Gedanken.
Für die Gerechtigkeit in diesem fortschrittlichen Deutschland, in dieser Demokratie, für eine würdevolle, selbstbestimmte Zukunft, die allen ermöglicht wird!
Für die Gerechtigkeit an den Schulen, Universitäten in unserer und in den folgenden Generationen!
Es wird und muss viel mehr Ärzte, Doktorinnen, Rechtsanwälte, Journalisten, Lehrer, auch aus der Schicht der Arbeiterkinder geben. Das werden sie nicht verhindern können.
Bald schnappte der Kellner die Kaffeetasse und David ging aus dem Cafe Solin.
Dann machte sich David auf den Weg entlang der Wettenannahmeläden, Cafes, Warenhäuser, Bratwurstbuden, Dönerimbisse und vorüber am irischen Pub zum Klagesmarkt. Der zweite Protest an diesem Tag wartete, wenngleich er die Vormittagsaktion bei der Bürgermeisterin nicht an Wichtigkeit übertrumpfte, dachte David, denn sie brauchten diese Aktionen, beide Aktionen gegen die Abschottung der Oberschicht und Burg der Ignoranz, gegen die entstandenen Mauern, und gegen die sich ausweitenden, schattigen Gräben, Oligarchien und Zweiklassengesellschaft.
Dann kam er an. Eine Polizeieskorte mit Motorrädern hielt sich auf dem oberen Platzbereich des Areals vor einem grün-weißen Bulli bereit. Weitere Eskorten würden später einige Querstraßen abriegeln. Bald gab es auf dem Weg zum Klagesmarkt an einer Straßenecke vor einem Weingeschäft eine Streitigkeit zwischen der Polizei und den Teilnehmern der angemeldeten Demonstration. Drei der Demonstranten wurden von der Polizei festgenommen und in einen Polizei-Bulli abgeführt. David erkundigte sich bei einem der motorisierten Polizisten, aber er sagte ihm nicht viel ...
Er dachte an Javier, seinen Weggefährten, der ihm leidtat, in einer Zelle saß. Er würde die Polizei noch vor dem Abend aufsuchen. Schwere Stunden! Dachte an Azra, die umgekommen war und kurz einen Schmerz verspürte. Sie brachte ein großes Opfer.
In den nächsten Minuten beflankten Hunderte Schüler und Studenten den Platz wie den Vorplatz einer römischen Arena. Es war fast fünfzehn Uhr. Der heftige Wind und Schneegestöber kamen manchmal zusammen, der Himmel war durch Regenwolken jetzt dunkelgrau geworden. David war etwas müde und wartete noch auf die anderen Gruppenmitglieder. Der Jurastudent spürte seinen Pulsschlag bald heftiger, noch immer vor einem Plateau der verächtlichen Gesetze, der Entscheidungen und grässlichen Voreingenommenheit der Gesetzgebenden ... Gleich werden Esther, Ismael und Georg, die treuen Weggefährten, kommen, so wie sie heute Vormittag kamen und es nicht verrieten. So wie sie zum Opernplatz kamen und mit beinahe Tausend Leuten marschierten. Die Gruppe hatte sich in ´ner Siebenergruppe im Schnee und einer erbitterten Kälte vor dem Bahnhof der Großstadt an Pfeilern angekettet und kampierte dort in der eisigen, eisigen Witterung und Sternenhelle. Alles unweit der Nachtwandler und ausgelieferten, pikenden Süchtigen, Junkies, der Anarchisten sowie Bettler, Huren und Obdachlosen. Unter dem Eindruck sie lagerten an einem Vorhof des Verfalls, der fürchterlichen Verrohung und Erbarmungslosigkeit.
Bald war Ismael über das Kopfsteinpflaster zwischen anderen Gruppierungen hergeeilt.
„Komm zu uns, Amigo.“ Schnell hisste er über dem aschgrauen, schneeweißen und matschigen Platz die Fahne mit der Demonstrationsschrift, fast wie in einem unverlassenen Chor, in einer schattigen, ehrwürdigen und unbeirrten Hymne, die sich aus einer Bitterkeit und Ungerechtigkeit erhob, dabei flatterten ebenso die Fahnen und Banner fast sehr nahe unter dem Himmel. Sie bevölkerten den Platz. Mit der Zeit waren weitere zum Kern der Unbeugsamen und Unbezwungenen hinzugekommen, die verschiedenen Semestern der Hannoveraner Leibniz Universität angehörten, und erstmals dabei waren: Andrea, sie stammte aus Frankfurt, Finn, Sohn einer Bremerin, Kim, Janis, der aus Saloniki stammte, Katharina aus Stettin, Thomas, Mesut und Heinrich, die in Hannover geboren waren, Azad, der aus Erbil stammte, Sandro, der Georgier, Jan, der Hamburger.
Manchmal flog der Wind wieder heftiger und reißend über den Klagesmarkt. Ein Trommelwirbel prallte wie ein kleiner Donner an den Nabel des Platzes, Schneewirbel, Wut und Widerstand, Unbeugsamkeit und Märsche an diesem Nachmittag, an dieser Protestebene inmitten der modernen, dynamischen Bundesrepublik Deutschland.
Sie marschierten inmitten von Tausenden Protestlern eine Weile und skandierten gegen die Ungerechtigkeit im Bildungssystem und forderten eine Abänderung der bestehenden Gesetze zu den Studiengebühren.
Schließlich scherten sie an einer Ecke mit einem Cafe und einer Polizeidienststelle hinaus.
Die Schneewirbel hatten kurz aufgehört.
"Wenn der kalte, verfluchte Wind jetzt endlich ganz nachlässt“, sagte Esther bald an der ruhigeren, windgeschützten Außenstelle des Protestes.
Dort hatte sie Gelegenheit und informierte ihn zu Javiers Situation, die sie in Erfahrung gebracht hatte:
"Die Schwester Javiers schrieb mir über Whattsapp. Bei ihrem Telefonat mit dem Polizeidezernat erzählten sie von begangenen Strafdelikten Javiers. Er habe nach Aussage des Polizeikommissars gegen Landfriedensbruch, gegen die Vollstreckungsmacht von Beamten randaliert, es hätte Handgreiflichkeiten gegeben. Dazu kämen Aussagen und Vorwürfe von Unbekannt gegen einige aus unserer Gruppe."
Sie zog eine blonde Haarsträhne über ihre kalte Stirn, heftete sie hinters Ohr, während sie David mit hübschen, aufgewühlten und eingeschüchterten Augen anschaute.
„Man hätte Anzeige gegen Javier erstattet, die Polizei sagte, es sei anonym verlaufen", erklärte sie.
Dann streifte David mit wütender Bewegung seine vom Regen durchnässte Baskenmütze vom Kopf und macht einen Schritt unter die Dachtraufe eines kleinen Kaffeeladens. Er spuckte auf den zertretenen Schnee auf der Straße.
"Diese Verräterbastarde!", rief er.
"So wie es aussieht wird es eine scheiß regnerische Woche werden“, sagte er dann nach kurzer Pause und blickte kurz empor, müde und doch unbezwungen, zum wolkenversteinernden Himmel und wieder zu den marschierenden, protestierenden Tausenden.
"Du siehst sie selbst! Auch so eine Anzeige wird uns und die Aktionen nicht aufhalten. Es wird weiter gehen und die Situation wird sich zugunsten der Arbeiterkinder in diesem Land verändern", sagte er beharrlich mit kurz müdem und dann wieder beharrlichem Ausdruck und überzeugtem Glauben.
Vögel tauchten unter den Wolken auf und zogen mit mittelschnellem Flug, vom heftigen Wind angegangen, über den mit Pfützen gesäumten, dreckigen Platz vor ihnen. Die Vögel flogen in auf und abziehenden Bögen über das Getränkezelt, einen Polizei-Bulli und das Dach eines Cafés. Der Regen fiel bald aus einem wolkenverdichteten Himmel, der eisige Wind wirbelte manchmal an den Platz und die Ebene.
Sie verharrten kurz unter dem schützenden Dach ehe sie sich bald wieder in der protestierenden Demonstration einbrachten und zu ihren Weggefährten aufschlossen.
© Deniz C. Kacan
Texte: Denis Civano
Tag der Veröffentlichung: 30.08.2012
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