Weshalb hing Tante Martha so am Leben? Wir wussten es nicht. Wochen, Monate lag sie im Krankenhaus, es ging rapide bergab und die Ärzte hatten sie längst aufgegeben. Und trotzdem starb sie nicht.
Sie kann einfach nicht loslassen, sagte eine der Schwestern zu uns. So etwas gibt es, vielleicht hat sie noch etwas zu erledigen, vielleicht will sie noch von einem geliebten Menschen Abschied nehmen.
Wir waren alle an ihrem Bett, alle, die von der Familie und den wenigen Freunden noch da waren. Wir redeten mit ihr, drückten ihr die kalten geäderten Hände, streichelten ihr Gesicht, befeuchteten ihre Lippen, legten feuchte Tücher auf ihre Stirn. Manchmal reagierte sie mit einem schwachen Lächeln, mit einem Aufblitzen der Augen. Aber meist dämmerte sie dahin, in diesem Schwebezustand zwischen Leben und Tod, der schlimmer war als alles andere.
Tante Martha war immer eine harte Frau. Sie ging mit uns Kindern böse ins Gericht, wenn sie uns bei unseren kindlichen Streichen erwischte, wenn wir uns nicht benahmen wie erwartet, wenn wir am Tisch während des Familienessens laut lachten. Wir alle fürchteten sie, sogar die Erwachsenen. Niemand widersprach ihr, wenn sie ihre Meinung kundtat. Ihren Mann Helmut hatte sie immer an der kurzen Leine. Sie ließ nur ihre Regeln und ihre Meinung gelten, aber auch wenn sie häufig zu streng war, war sie niemals ungerecht. Sie verteilte ihre Launen und Boshaftigkeiten an alle zu gleichen Teilen.
Und nun lag sie hier, fast neunzig Jahre alt, bis ins hohe Alter aktiv und selbstständig, sie hatte ihren Helmut vor zwanzig Jahren verloren und sich nie darüber beklagt. Selbstmitleid war niemals ihr Ding.
Wir hatten eine gute gemeinsame Zeit, sagte sie immer, und alles geht einmal zu Ende. Ich kann mich nicht beklagen. Helmut war immer an meiner Seite, wir waren sehr harmonisch.
Helmut hätte es vermutlich anders gesehen, wenn sie ihn jemals zu Wort hätte kommen lassen. Die Harmonie war nach außen hin, aber wir vermuteten, dass es in der Beziehung zwischen den beiden niemals friedlich abgegangen ist. Fast vierzig Jahre waren sie verheiratet gewesen, hatten es so lange miteinander ausgehalten.
Tante Martha konnte nicht loslassen. Wir besuchten sie, sooft wir es einrichten konnten, und hofften immer auf den Anruf aus dem Krankenhaus, dass sie es endlich überstanden habe. Woran aber hängt sie, grübelten wir, was hält sie noch in dieser Welt?
Einer der Jungs hatte die alten Familienfotos mitgebracht, eine gute Idee, und wir alle haben letzten Sonntag an ihrem Bett gesessen und durch die Alben geblättert, sie so gehalten, dass sie einen Blick darauf werfen konnte. Sie schien einen lichten Moment zu haben, denn sie reagierte auf die Fotos, lächelte, murmelte mühsam etwas, was wir nicht verstanden und eine einsame Träne rann an ihrem Gesicht herunter.
Wir sind alle hier, sagten wir zu Tante Martha, es geht uns gut, du brauchst dich um niemanden mehr Sorgen zu machen. Die Enkel sind versorgt, wir werden dein Haus behalten und deinen Garten pflegen. Wie versprochen, werden wir auch weiterhin für jedes geborene Kind einen Lebensbaum pflanzen. Du kannst in Frieden gehen, Martha, liebste Martha.
Wir fuhren nach Hause und dann, am selben Sonntagabend, erreichte uns der Anruf des Krankenhauses. Tante Martha war friedlich eingeschlafen, hatte einfach aufgehört zu atmen, ihr Herz hatte versagt und sie hatte es nun endlich hinter sich.
Wir waren erleichtert. Ob es die guten Erinnerungen gewesen waren, die wir mit den Fotoalben ausgelöst hatten, den Ausschlag gegeben hatte? Wir hofften es einfach. Wir hatten das Richtige getan. Tante Martha war immer eine schwierige Person gewesen, aber sie war immer jemand gewesen, auf den man sich hatte verlassen können. Sie schimpfte mit dem Enkel, der sich beim Baumklettern die Hose zerrissen hatte, aber sie nähte diesen Riss so perfekt zusammen, dass die Mutter diesen kleinen Unfall nicht einmal bemerkte. Unsere Tante Martha. Nun ist sie endlich wieder mit ihrem Helmut vereint.
***
Die Kinder kommen mich noch immer besuchen. Ich versuche immer, ihnen zu sagen, weshalb ich nicht gehen kann, weshalb es mich so graut, hinüberzugehen. Ich hätte nicht so lange damit warten dürfen, bis mir mein Körper nicht mehr gehorcht, ich hätte es viel früher ansprechen müssen. Ich bin so ein dummes altes Weib. Helmut, wie konnte ich dir das nur all die Jahre antun? Immer habe ich dich bevormundet, als wärst du ein kleiner Schuljunge. Dabei warst du so erfolgreich in deinem Beruf, du hast Karriere gemacht, selbst in den schlechten Zeiten hast du genug Geld mit nach Hause gebracht, die Kinder hast du abgöttisch geliebt und verwöhnt. Und ich habe ständig auf dir herumgehackt und so getan, als könntest du es mir niemals recht machen.
Und erst so spät habe ich meinen Fehler eingesehen. Strenge und Liebe passen sehr wohl zusammen, könnte ich doch nur die Zeit zurückdrehen. Nicht um meiner Willen, nur für Helmut, die Kinder und die ganze Familie.
Wieder waren sie an meinem Bett, haben mir die alten Familienfotos gezeigt, auf denen wir immer alle glücklich und zufrieden aussahen. Gelächelt haben wir für die Kamera. Danach verschwand mein Lächeln, als habe ich es wie ein unnützes Accessoire wieder in meiner Handtasche verschwinden lassen. Und plötzlich ... da steht Helmut! Hinter den großen Enkeln, die ihr Haar schon wieder viel zu lang tragen ... sie sehen ihn nicht, drehen sich nicht zu ihm um, als er mit mir spricht. Er ist so jung wie damals, als wir uns kennengelernt haben, trägt seinen besten Anzug, tadellos geknotete Krawatte, ein akkurat gebügeltes Hemd. Was ist Helmut für ein schmucker Kerl gewesen!
Und was er sagt, beruhigt mich endlich. Ich verstehe, und ich weine, das Einzige, was ich noch kann. Ich fühle, wie die Träne an meiner ausgetrockneten Haut hinunterläuft, im Bezug des Kopfkissens versickert.
Komm zu mir, sagt Helmut, streckt die Arme aus, du hast nichts zu befürchten. Du warst eine gute Ehefrau und eine gute Mutter, bei aller Härte und bei allem Unverständnis. Ich trage es dir nicht nach. Hier holen wir alles nach, machen es einfach besser. Komm zu mir, Martha, liebste Martha, komm einfach zu mir.
Tag der Veröffentlichung: 02.09.2013
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